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Document 52017IE2234

    Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Beitrag der Zivilgesellschaft zur Ausarbeitung einer umfassenden Ernährungspolitik in der EU“ (Initiativstellungnahme)

    ABl. C 129 vom 11.4.2018, p. 18–26 (BG, ES, CS, DA, DE, ET, EL, EN, FR, HR, IT, LV, LT, HU, MT, NL, PL, PT, RO, SK, SL, FI, SV)

    11.4.2018   

    DE

    Amtsblatt der Europäischen Union

    C 129/18


    Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Beitrag der Zivilgesellschaft zur Ausarbeitung einer umfassenden Ernährungspolitik in der EU“

    (Initiativstellungnahme)

    (2018/C 129/04)

    Berichterstatter:

    Peter SCHMIDT

    Beschluss des Plenums

    23.2.2017

    Rechtsgrundlage

    Artikel 29 Absatz 2 der Geschäftsordnung

     

    Initiativstellungnahme

    Zuständige Fachgruppe

    Landwirtschaft, ländliche Entwicklung, Umwelt

    Annahme in der Fachgruppe

    21.11.2017

    Verabschiedung auf der Plenartagung

    6.12.2017

    Plenartagung Nr.

    530

    Ergebnis der Abstimmung

    (Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

    131/3/7

    1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

    1.1.

    Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) bekräftigt seine Forderung nach der Ausarbeitung einer umfassenden Ernährungspolitik in der EU mit dem Ziel, gesunde Ernährungsgewohnheiten aus nachhaltigen Lebensmittelsystemen zu gewährleisten, die Landwirtschaft mit Ernährungs- und Ökosystemleistungen zu verbinden und Versorgungsketten sicherzustellen, mit denen die öffentliche Gesundheit für alle Schichten der Gesellschaft in der EU gewahrt wird. Eine umfassende Ernährungspolitik der EU sollte die Kohärenz zwischen ernährungsbezogenen Politikbereichen verbessern, den Wert von Lebensmitteln wiederherstellen und einen langfristigen Übergang von Lebensmittelproduktivismus und -konsumismus hin zu einem bürgerschaftlichen Ernährungskonzept zu fördern.

    1.2.

    Der derzeitige EU-Politikrahmen eignet sich nicht für den Übergang zu nachhaltigeren Lebensmittelsystemen, um die wirksame Umsetzung der Ziele für nachhaltige Entwicklung der Vereinten Nationen (SDG) sowie die Wahrung des Rechts auf Ernährung und der anderen Menschenrechte zu gewährleisten. Die derzeitigen politischen Strategien mögen bei der Bewältigung einzelner Probleme erfolgreich gewesen sein, garantieren jedoch nicht die kollektive Kohärenz, die zur Bewältigung der künftig erwarteten Herausforderungen zwischen den globalen und EU-Lebensmittelsystemen herrschen muss. Der EWSA betont, dass die bestehenden politischen Instrumente der EU angepasst und harmonisiert werden müssen, um ökologisch, wirtschaftlich und soziokulturell nachhaltige Lebensmittelsysteme sicherzustellen. Der EWSA bekräftigt ferner, dass eine umfassende Ernährungspolitik eine neugestaltete GAP ergänzen und nicht ersetzen sollte (1).

    1.3.

    Nach Ansicht des EWSA bedarf es weiterhin einer Kultur, welche die Bedeutung der Lebensmittel für die Ernährung und die Kultur sowie ihre sozialen und ökologischen Auswirkungen wertschätzt. Hier ist die reiche Palette an Lebensmitteln und regionalen bzw. lokalen Spezialitäten in der EU ein echter Trumpf und sollte daher weiter aufgewertet werden. Im Rahmen einer umfassenden Ernährungspolitik sollten eine zunehmende Wertschätzung von Lebensmitteln seitens der Verbraucher sowie die Vermeidung und Verringerung von Lebensmittelverschwendung gefördert und dazu beigetragen werden, den Preis von Lebensmitteln mit anderen Werten zu reintegrieren und abzustimmen. Insbesondere sollten hierbei faire Preise für die Erzeuger gewährleistet sein, damit die Landwirtschaft rentabel bleibt.

    1.4.

    Der EWSA betont, dass alle Interessenträger in der Lebensmittelversorgungskette eine Rolle bei der Ausarbeitung eines umfassenden Rahmens spielen müssen, um eine gerechte Verteilung entlang der Versorgungskette zu erreichen. Keine Branche ist dazu im Alleingang in der Lage. Eine umfassende Ernährungspolitik erfordert Weichenstellungen in Industrie und Einzelhandel, um die Umstellung der Verbraucher auf Nachhaltigkeit zu beschleunigen. Im Zuge des Übergangs zu nachhaltigen Lebensmittelsystemen müssen sich auch die Verbraucher aktiv für ein solches bürgerschaftliches Ernährungskonzept engagieren. Dies bedeutet auch, dass eine umfassende Ernährungspolitik dafür sorgen muss, dass die europäische Agrar- und Ernährungswirtschaft auf einem Qualitätsniveau verkaufen kann, bei dem ihre Position als bevorzugte Option für die große Mehrheit der Verbraucher unangefochten bleibt.

    1.5.

    Der EWSA begrüßt es, dass immer mehr Initiativen auf regionaler und lokaler Ebene umgesetzt werden, um alternative Lebensmittelsysteme zu fördern. Durch diese Initiativen werden engere Verbindungen zwischen Erzeugern und Verbrauchern, Möglichkeiten für örtliche Unternehmen sowie neue Arbeitsplätze geschaffen, und die Menschen vor Ort haben wieder eine Beziehung zu ihren Lebensmitteln. Außerdem betont der EWSA die Rolle der Städte bei der Entwicklung integrierterer Strategien im Lebensmittelbereich. Eine umfassende Ernährungspolitik sollte auf einer gemeinsame Steuerung auf jeder Ebene — auf lokaler, regionaler, nationaler und europäischer Ebene — aufbauen, diese fördern und ausbauen. Hierdurch würde ein Rahmen geschaffen, damit diese Initiativen unabhängig von ihrem Umfang gedeihen können.

    1.6.

    Der EWSA fordert eine neue intelligente Kennzeichnung nachhaltiger Lebensmittel. Bislang wurde der Schwerpunkt auf den Nährwert und andere gesundheitsbezogene Angaben gelegt, aber der EWSA weist darauf hin, dass zunehmen Besorgnis über das Fehlen von Verbraucherinformationen über die ökologischen und sozialen Auswirkungen von Lebensmitteln geäußert wird. Die Lebensmittelindustrie ist sich bewusst, dass sie ökologische Folgen bis zu einem gewissen Grad abfedern kann, aber im Endeffekt müssen die Verbraucher einbezogen werden und es müssen Informationen bereitgestellt werden.

    1.7.

    Zur Förderung der Schaffung eines umfassenden Rahmens, der die ernährungspolitischen Maßnahmen der EU miteinander verbindet, schlägt der EWSA vor, kurz- oder mittelfristig eine bereichsübergreifende und interinstitutionelle Task Force einzurichten, an der verschiedene Generaldirektionen der Kommission und andere EU-Institutionen beteiligt werden. Diese Task Force wäre für die Ausarbeitung eines Aktionsplans für nachhaltige Lebensmittel verantwortlich, um die EU bei der Umsetzung der Nachhaltigkeitsziele im Lebensmittelbereich zu unterstützen. Der Aktionsplan sollte in einem partizipativen Prozess unter Einbeziehung der Akteure der Lebensmittelversorgungskette, der Zivilgesellschaft und der Wissenschaft ausgearbeitet werden. Der EWSA schlägt vor, einen Raum für die Zivilgesellschaft einzurichten und auszubauen, damit sie in diesen Prozess einbezogen werden und sich aktiv daran beteiligen kann.

    1.8.

    Der EWSA empfiehlt insbesondere, einen „EU-Anzeiger für nachhaltige Lebensmittel“ zu konzipieren, der es ermöglichen würde, die Herausforderungen für die Lebensmittelsysteme mit einem mehrjährigen Ansatz zu bewältigen und so die Angleichung der Maßnahmen auf den verschiedenen Steuerungsebenen zu fördern. Der Anzeiger würde Indikatoren umfassen, mit denen Fortschritte auf dem Weg zur Erreichung der festgelegten Ziele gefördert und überwacht würden.

    1.9.

    Längerfristig und unter Berücksichtigung der Schlussfolgerungen der Task Force ruft der EWSA die Kommission auf, zu prüfen, ob eine spezielle Generaldirektion für Ernährung eingerichtet werden kann, mit der ein klares Zentrum für EU-Verantwortlichkeiten bei ernährungspolitischen Maßnahmen geschaffen würde, von dem Initiativen für Regulierung, Gesetzgebung und ggf. Durchsetzungsmaßnahmen ausgehen könnten. Eine solche Struktur könnte sich in allen EU-Mitgliedstaaten in Form spezieller Ministerien für Ernährung widerspiegeln.

    2.   Einleitung

    2.1.

    Auf Ersuchen des niederländischen Ratsvorsitzes hat der EWSA 2016 eine Sondierungsstellungnahme zum Thema „Nachhaltigere Lebensmittelsysteme“ verfasst. Darin fordert der EWSA eine umfassende Ernährungspolitik, um den Übergang zu nachhaltigeren Lebensmittelsystemen zu fördern und um die Kohärenz zwischen den ernährungspolitischen Zielen (wie nachhaltige Landwirtschaft, gesunde Ernährung, Umweltschutz, fairere Handelsbeziehungen usw.) zu verbessern. Im Zentrum dieser Stellungnahme steht die Empfehlung, dass die Überlegungen und die Vision für einen umfassenden Rahmen weiterentwickelt werden sollen.

    2.2.

    Inzwischen gibt es auch immer mehr Impulse für einen ganzheitlichen Ansatz in der Ernährungspolitik. Die Vereinten Nationen haben ein Aktionsjahrzehnt für Ernährung ausgerufen und damit deutlich gemacht, dass die Lebensmittelsysteme mit Blick auf eine gesündere und ausgewogenere Ernährung neu gestaltet werden müssen. Die Hochrangige Sachverständigengruppe des Ausschusses für Welternährungssicherheit (HLPE) hat diese Notwendigkeit in ihrem Bericht vom September 2017 (2) erneut bekräftigt. Auf EU-Ebene hat der Ausschuss der Regionen unlängst eine Stellungnahme verabschiedet, in der eine umfassende, nachhaltige EU-Lebensmittelpolitik gefordert wird, welche die verschiedenen Politikbereiche mit Bezug zur Ernährung miteinander verbindet. Die Internationale Sachverständigengruppe für nachhaltige Lebensmittelsysteme (IPES Food) hat einen dreijährigen partizipativen Prozess zur Entwicklung einer Vision für eine gemeinsame Ernährungspolitik bis 2018 eingeleitet, an dem Gruppen aus der Wissenschaft, Interessenträger, Organisationen der Zivilgesellschaft und politische Entscheidungsträger beteiligt sind. Bereits jetzt trägt eine Fülle sektorübergreifender Initiativen auf nationaler, regionaler und lokaler Ebene — unter aktiver Beteiligung der Zivilgesellschaft — zur Änderung der europäischen Lebensmittelsysteme bei.

    2.3.

    Nach Auffassung des EWSA ist die Umsetzung der Ziele für nachhaltige Entwicklung in Europa eine wesentliche Triebkraft sowohl für den Übergang zu einem umfassenden Ansatz, der sich über verschiedene Politikbereiche (Landwirtschaft, Gesundheit, Umwelt, Handel und Entwicklung, Innovationen usw.) und Entscheidungsebenen (EU, nationale, lokale Ebene) erstreckt, als auch für mehr Nachhaltigkeit bei der Nahrungsmittelerzeugung und den Ernährungsgewohnheiten. Die derzeitige Debatte über die Gemeinsame Agrarpolitik (GAP) nach 2020 ist auch eine gute Gelegenheit, um die Kohärenz zwischen einer neu gestalteten Agrarpolitik und weiteren ernährungspolitischen Zielen zu gewährleisten (3).

    2.4.

    Einige Mitgliedstaaten (z. B. Finnland, Frankreich, Deutschland, Niederlande und Schweden) ergreifen vermehrt Maßnahmen der Ernährungspolitik mit Blick auf die Bereiche Gesundheit, Umwelt und Nachhaltigkeit. Der EWSA warnt vor einer Situation, in der ein jeweils unterschiedlicher Ansatz in den einzelnen Mitgliedstaaten sich nachteilig auf Verbraucher und Unternehmen auswirken kann. Nach Ansicht des EWSA ist dies ein weiterer Grund für die Forderung nach einem umfassenden Rahmen auf EU-Ebene.

    3.   Diagnose — was im gegenwärtigen politischen Rahmen nicht funktioniert

    3.1.

    Es liegen immer mehr wissenschaftliche Erkenntnisse über die Auswirkungen der Ernährung auf die Gesundheit, die Umwelt und die Gesellschaft als Ganzes vor. Die Ernährungslage, zu deren Bewältigung die GAP geschaffen wurde, ist komplexer geworden. In Europa gibt es keine Engpässe; dieser Erfolg ist auf die GAP und die steigenden Einkommen sowie auf verbesserte Produktionsmethoden in der Landwirtschaft zurückzuführen. Die Beschäftigung im Lebensmittelsektor und die Wertschöpfung haben sich von Land und See auf Fabriken, Einzelhandel und Gastronomie verlagert. Die gesundheitspolitische Agenda wurde — weg vom unzureichenden Verbrauch — ausgeweitet; heute gibt es nach wie vor unangemessene Ernährungsweisen aufgrund sozialer Ungleichheiten und einer „neuen“ Ernährungsarmut, doch überwiegen weit verbreitete nicht übertragbare Krankheiten. Dazu gehören Herzerkrankungen, Schlaganfälle, Diabetes und Fettleibigkeit. Herz-Kreislauf-Erkrankungen verursachen jährlich 1,8 Mio. Todesfälle und somit 37 % aller Todesfälle in der EU (4). Im Jahr 2015 litten fast 49 Mio. Menschen in der EU an Herz-Kreislauf-Erkrankungen.

    3.2.

    Die gesellschaftlichen Tendenzen in Europa haben auch zu großen Veränderungen in puncto Lebensmittel sowie kulinarische Vorlieben und Zubereitungsarten geführt. Seit der Schaffung der GAP haben sich die Verbrauchsmuster und Lebensstile verändert. Der kulinarische Übergang betraf in erster Linie Frauen, da sie früher — und auch heute noch — in ihrem Haushalt oft viel Verantwortung für Lebensmittel übernahmen. Änderungen in der Lebensmitteltechnologie hatten sowohl positive als auch negative soziale Auswirkungen. Die Auswahl mag zwar größer geworden sein, doch Europas vielfältiges und reiches kulturelles Erbe wurde mitunter geschwächt. Mit ihrem umfangreichen Marketingbudget haben die Lebensmittelunternehmen die Verbraucher generell zum Verzehr von äußerst hochverarbeiteten Lebensmitteln animiert. So zeigen etwa die Zahlen der Industrie, dass die Belgier etwa zwei Drittel ihrer Kalorien in Form vorverarbeiteter, verpackter Lebensmittel zu sich nehmen — sogar noch mehr als die Briten (5). Die Gesundheitsämter sind besorgt über den übermäßigen Verzehr verarbeiteter Lebensmittel mit hohem Salz-, Zucker- und Fettgehalt. Diese sind oftmals günstig und daher für Menschen mit niedrigem Einkommen interessant, die bereits weniger gesund als der Durchschnitt sind. Somit trägt die Ernährung zu sozialen Ungleichheiten in Europa bei (6). Während und seit der Großen Rezession war in Europa eine Zunahme karitativer Lebensmittelspenden zu beobachten. Die Bereitstellung einer solchen Nahrungsmittelsoforthilfe darf in Europa jedoch nicht die Bekämpfung sozialer Ungleichheiten ersetzen, die ernährungsbedingte Krankheiten verursachen.

    3.3.

    Die Auswirkungen der Lebensmittelproduktion auf die Umwelt sind dokumentiert und anerkannt. Der Klimawandel ist als Bedrohung anerkannt, und die EU hat das Erreichen der 2015 in Paris vereinbarte Klimarahmenkonvention der Vereinten Nationen stark unterstützt. Die EU hat zudem für bessere Umweltvorschriften und die Vorbeugung gegen Umweltschäden gesorgt, z. B. durch die Wasserrahmenrichtlinie. Dennoch ist der in Europa nachgefragte Geschmack von Lebensmitteln ein treibendes Verbrauchsmuster mit einer immensen versteckten bzw. „eingebetteten“ Wassernutzung, das eine Gefahr für die Mitgliedstaaten bedeutet (7), und einen stärker integrierter Ansatz für Boden, Landwirtschaft und Wasser erfordert (8). Besorgnis erregend ist außerdem, dass die Böden in Europa besonders gefährdet sind. Nach dem Modell der Gemeinsamen Forschungsstelle der EU beeinträchtigt die Bodenerosion durch Wasser 130 Mio. ha der Fläche der EU-27; nahezu 20 % der Fläche ist von einem übermäßigen Bodenverlust von 10 Tonnen/ha/Jahr betroffen (9). Der Verlust an biologischer Vielfalt ist sowohl an Land wie auch auf See zu beobachten, wo die Vielfalt der Bestände Berichten zufolge unter Druck geraten ist (10). Und doch wird den Verbrauchern in den Mitgliedstaaten aus ernährungsphysiologischen Gründen weiterhin zum Verzehr von Fisch geraten, ohne den Umweltfolgen Rechnung zu tragen.

    3.4.

    Wirtschaftlich gesehen wurden die letzten 60 Jahre als Erfolg gewertet. Lebensmittel sind allgegenwärtig. Der durchschnittliche Anteil der Ausgaben der privaten Haushalte für Lebensmittel ist von 30 % auf 15 % gesunken. Die Verbraucherpreise sind durch das Entstehen großer Lebensmittelketten gesunken. Nunmehr stellen aber Ökonomen die Frage, ob die Lebensmittelpreise die tatsächlichen Produktionskosten widerspiegeln oder ob dies für bestimmte Kosten nicht vollständig der Fall ist. Der EWSA nimmt mit Interesse die laufenden Arbeiten der FAO zur Berücksichtigung aller Kosten der Landwirtschaft (11) zur Kenntnis. Das Kräfteungleichgewicht in der Lebensmittelversorgungskette hat ebenfalls zugenommen, was zu unlauteren Handelspraktiken und damit verbundenen Folgen (12) sowie zu einem Rückgang des Anteils an den Verbraucherpreisen geführt hat, der den Landwirten zugute kommt.

    3.5.

    Durch die Tendenz zur Überproduktion sind die Preise gesunken, aber hinzu kommt auch, dass die Lebensmittelverschwendung institutionalisiert wurde. Während die Verbraucher in den Niedriglohnländern der Welt schätzungsweise 8 % der Lebensmittel verschwenden, ist dies in der EU bei ungefähr einem Drittel der eingekauften Lebensmittel der Fall. Nach Schätzungen des von der EU finanzierten Projekts „Fusions“ werden in der EU jährlich 88 Mio. Tonnen Lebensmittel — mit Kosten in Höhe von 143 Mrd. EUR — verschwendet (13). Diese kulturelle Dimension der Lebensmittelverschwendung wird weder durch das Konzept der Kreislaufwirtschaft noch durch den Fahrplan für ein ressourcenschonendes Europa vollständig angegangen, die sehr nützlich sind, um Lebensmittel als materielle Einheit zu behandeln, in denen die Verbraucher und der kulturelle Wert jedoch keine Berücksichtigung finden. Eine Herausforderung für Europa ist die Frage, wie ein neues bürgerschaftliches Ernährungskonzept für Nachhaltigkeit entworfen werden kann.

    3.6.

    Daten und Studien von Wissenschaftlern und der Ernährungswirtschaft haben zu einem besseren Verständnis der Frage beigetragen, wie sich die europäische Agrar- und Ernährungswirtschaft auf Gesellschaft, Umwelt und Gesundheit auswirken. Hieraus ergibt sich insgesamt, dass ein stärker integrierter Ansatz notwendig ist. Die derzeitigen politischen Strategien mögen bei der Bewältigung einzelner Probleme erfolgreich gewesen sein, garantieren jedoch nicht die kollektive Kohärenz, die zur Bewältigung der künftig erwarteten Herausforderungen zwischen den globalen und EU-Lebensmittelsystemen herrschen muss. Maßnahmen in den Politikbereichen mit Bezug zu Lebensmitteln werden weitgehend getrennt voneinander entwickelt und sind oftmals nicht kohärent. Maßnahmen auf verschiedenen Regierungs- und Verwaltungsebenen sind ebenfalls voneinander entkoppelt. Ein Beispiel für die Notwendigkeit eines stärker integrierten Ansatzes ist die Frage, wie die Resistenz gegen antimikrobielle Mittel durch die Verwendung von Antibiotika in der Tierhaltung verbreitet wurde und nun die menschliche Gesundheit gefährdet. Wie wichtig in diesem Zusammenhang eine integrierte ernährungsbezogene Politik ist, hat auch Kommissionsmitglied Andriukaitis unlängst in einer Rede betont. Ein weiteres Beispiel ist der Konflikt zwischen der Landnutzung für die Lebensmittelproduktion und der Landnutzung für die Herstellung von Energie, zur Schaffung von Wohnraum sowie für weitere Zwecke. Die Lebensmittelverschwendung wird teilweise auch durch Effizienzgewinne bei der Produktivität verursacht; es gibt konstante und massive Lebensmittelströme durch das System. Es funktioniert nicht, zur Lösung dieses Problems an das rationale Verbraucherverhalten zu appellieren.

    3.7.

    Würde die EU heute „neugeboren“, würde sie eine umfassende Ernährungspolitik schaffen, die nachhaltige Ernährungsgewohnheiten aus nachhaltigen Lebensmittelsystemen zum Ziel hat (14), die Landwirtschaft mit Ernährungs- und Ökosystemleistungen verbindet und Versorgungsketten sicherstellt, mit denen die öffentliche Gesundheit für alle Schichten in der Gesellschaft der EU gewahrt wird. Die politische Herausforderung besteht jetzt darin, die notwendigen Änderungen auf den Weg zu bringen. In der Vergangenheit ist die EU-Politik durch einen Prozess der demokratischen Veränderung mit einer plötzlichen Änderung aufgrund von Krisen gewachsen, wie im Jahr 2000 im Bereich der Lebensmittelsicherheit sowie im Zeitraum 2013-2015 während des Pferdefleischskandals.

    4.   Die Rolle der Zivilgesellschaft bei der Entwicklung einer nachhaltigen Ernährungspolitik

    4.1.

    Der EWSA stellt fest, dass die neuen strukturellen Herausforderungen, denen sich die EU-Ernährungspolitik gegenüber sieht, von weiten Teilen der europäischen Gesellschaft anerkannt werden. Die EU könnte von ihrer Politik der Anpassung und Reaktion auf Situationen zugunsten eines aktiven Ansatzes abgehen. Der AdR hat in seiner jüngst verabschiedeten Stellungnahme wichtige Präzedenzen gesetzt. Bei Fragen im Zusammenhang mit dem ländlichen Raum sollte dem Entstehen eines neuen Interesses an der Schaffung einer besseren Ernährungspolitik für die Städte und Gemeinden der EU Rechnung getragen werden. Viele europäische Städte beteiligen sich an Maßnahmen im Rahmen von ernährungspolitischen Räten, städtischen Netzwerken für Nachhaltigkeit und/oder Maßnahmen im Zusammenhang mit dem Klimawandel sowie des WHO-Programms „Gesunde Städte“. Die Unterzeichnung des „Mailänder Pakts für urbane Ernährungspolitik“ 2015 spiegelt dieses Interesse wider.

    4.2.

    Jüngst kam es zu mehreren Formen der Umstrukturierung in der Lebensmittelversorgungskette, um die Erzeuger und Verbraucher einander wieder näherzubringen und die Agrar- und Lebensmittelproduktion wieder lokal zu verankern. Hierzu gehören die gemeinschaftsunterstützte Landwirtschaft, kurze Versorgungsketten, alternative Lebensmittelnetzwerke, lokale Bewirtschaftungssysteme und der Direktverkauf. Auch Verbrauchergenossenschaften können einen wichtigen Beitrag leisten, da sie einen engen Bezug zur Bevölkerung vor Ort und eine starke soziale, pädagogische und ökologische Ausrichtung haben. Öffentliche Einrichtungen verfügen über Programme, die auch Teil dieses Prozesses sind, z. B. Programme für die öffentliche Auftragsvergabe für Schulen und Krankenhäuser, die die Bereitstellung lokaler, ökologisch erzeugter Lebensmittel fördern, wie dies etwa in Dänemark und im schwedischen Malmö der Fall ist. Dies passt zu dem EU-Ansatz für eine Kreislaufwirtschaft.

    4.3.

    Durch die Schaffung engerer Verbindungen zwischen Erzeugern und Verbrauchern, stärker lokal verankerte Lebensmittelsysteme sowie von der Basis ausgehende Initiativen könnte ein entscheidender Beitrag zur Förderung eines gesünderen und nachhaltigeren Lebensmittelverbrauchs geleistet werden. Die Beteiligung der Zivilgesellschaft und der Bevölkerung vor Ort stärkt diese Verbindungen, was sich auch in den zahlreichen Initiativen für nachhaltige Lebensmittel in Städten und Gemeinden in ganz Europa widerspiegelt. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist die Politik auf der EU-Ebene jedoch nur schlecht in der Lage, aus diesen Erfahrungen zu lernen, geschweige denn, sie zu unterstützen, wenn sie vielversprechend sind. Durch die Förderung einer umfassenden Ernährungspolitik könnte somit ein Anstoß zur Entwicklung einer gemeinsamen Steuerung dieser Initiativen gegeben werden. Landwirtschaftliche Betriebe passen sich an die Nachfrage auf den Märkten an, unterliegen aber durch die Produktionsweise in der Landwirtschaft bedingten Einschränkungen; ein Wandel in der Produktion braucht Zeit.

    4.4.

    Die Ernährungswirtschaft steht vor großen technischen, finanziellen und sozialen Herausforderungen (15), was sich auch in umfangreichen Investitionsprogrammen für Innovation und technologischen Fortschritt widerspiegelt. In Europa gibt es ca. 289 000 lebensmittelverarbeitende Betriebe, von denen jedoch 3 000 fast die Hälfte des EU-Marktes ausmachen (16). Studien zeigen, dass es für resiliente Ernährungssysteme eines Mixes aus großen und kleinen Agrarbetrieben bedarf. Zwischen Europas größten Lebensmittelkonzernen und dem KMU-Sektor klafft eine tiefe Kluft. Ein soziales Europa könnte hier eine bessere Integration gewährleisten. Die digitale Wirtschaft bietet Chancen für eine engere Verknüpfung zwischen Verbrauchern und Produzenten. Die Wirtschaft begrüßt eine fortschrittliche Führungsrolle in Sachen Nachhaltigkeit und fordert einen klaren Rahmen.

    4.5.

    Die Bürgerinnen und Bürger Europas haben ein klares Interesse daran sicherzustellen, dass ihre Lebensmittel aus nachhaltigen Quellen stammen. Durch Kennzeichnung kann schlichtweg aufgrund der Komplexität des betreffenden Bereichs nicht für Klarheit gesorgt werden. In einer jüngst vorgelegten Studie von Karl Falkenberg wird vorgeschlagen, den Markenkern europäischer Lebensmittel rund um das Thema Nachhaltigkeit zu konzentrieren: „Living well and sharing fairly within the limits of the planet“ (17) (im Rahmen der Grenzen des Planeten gut leben und fair teilen). Dies bedeutet, dass der Schwerpunkt nicht nur auf den Umweltschutz und die Wirtschaft, sondern auch auf soziale Fragen gelegt werden muss. Bestimmte kulturelle Fragen liegen außerhalb des Zuständigkeitsbereichs der EU-Institutionen, etwa das Spannungsverhältnis zwischen bezahlter Arbeit im Ernährungsbereich (in Lebensmittelversorgungsketten) und unbezahlter Arbeit (in den Küchen der Privathaushalte), aber es gibt Elemente des europäischen Ernährungssystems, die von zentraler Bedeutung für das europäische Lebensmittelkonzept (bzw. den Markenkern) sind. Europa ist berühmt für seine kulinarische Vielfalt und die Vielfalt der Erzeugung. Diese müssen nicht nur geschützt, sondern aktiv gestärkt werden. Die Europäischen Gütezeichen (g.g.A., g.U. und g.t.S.) sind nützlich, decken jedoch nur Lebensmittelspezialitäten ab und lassen die Trends in der Massenproduktion von Lebensmitteln unberücksichtigt. Die Anregung von Karl Falkenberg, wonach wir nach Fairness streben sollten, sollte sicherlich auch einen „New Deal“ bei den Löhnen und eine faire Behandlung von Arbeitsmigranten in der europäischen Lebensmittelerzeugung umfassen. Dies sind sensible, aber wichtige Fragen, durch die eine umfassende Ernährungspolitik eine konkrete Unterstützung für den sozialen Frieden in Europa leisten kann.

    4.6.

    Sorgen bereitet Eltern und Gesundheitseinrichtungen insbesondere die ungleiche Verteilung der Investitionen in gezielt an Kinder gerichtete Lebensmittelwerbung. Für die WHO ist dies eine prioritäre Frage, da ein sehr hoher Anteil dieser Werbebotschaften Lebensmittel mit hohem Salz-, Zucker- und Fettgehalt (18) betrifft. Angesichts des Übergangs von traditionellen zu digitalen Medien ist mehr denn je ein umfassendes Konzept gefragt. Im Jahr 2016 wurden alleine in Westeuropa geschätzte 37 Mrd. USD für Lebensmittelwerbung in digitalen Medien ausgegeben (19). Der EWSA weist auf die jüngst von Verbrauchern erhobene Forderung an Lebensmittel- und Einzelhandelsunternehmen hin, ihre Markenmaskottchen künftig nicht mehr für Werbung und Marketingkampagnen für Lebensmittel mit hohem Fett-, Salz- und Zuckergehalt einzusetzen. Bei Ausbleiben angemessener Maßnahmen seitens der Industrie sollten die Regierungen regulatorische Maßnahmen erwägen (20).

    4.7.

    Als 50-Jahres-Ziel für ihre Ernährungspolitik sollte die EU die Förderung des Übergangs vom Lebensmittelkonsumismus („food consumerism“, der von Lebensmittelverschwendung geprägt ist) hin zu einem bürgerschaftlichen Ernährungskonzept („food citizenship“, gekennzeichnet durch Gemeinschaftssinn und Verantwortungsgefühl) anstreben. Im Zuge des Übergangs hin zu einer nachhaltigen Ernährung im Rahmen nachhaltiger Lebensmittelsysteme müssen sich auch die Verbraucher aktiv für ein solches bürgerschaftliches Ernährungskonzept engagieren. Der EWSA bekräftigt seinen Vorschlag, eine europaweite Informations- und Sensibilisierungskampagne über den Wert von Lebensmitteln auf den Weg zu bringen. Dies ist mit Blick auf eine langfristige Änderung des Verbraucherverhaltens erforderlich (21).

    5.   Zukunftsvision — Ziele und Struktur einer umfassenden Ernährungspolitik in der EU

    5.1.

    Die Ernährungspolitik ist eine übergreifende Politik, die den Rahmen für Lebensmittelsysteme aus primärer Erzeugung (Landwirte) über die Produktionsphase (Verarbeitung) bis hin zu den Verbrauchern bereitstellt und unterstützt. Sie zeigt und deckt auf, was oftmals unter der Oberfläche liegt und verdeckt ist. Weil Lebensmittel für so viele Lebensbereiche wie z. B. Bildung, Gesundheit, Umwelt, Handel, soziale Beziehungen und Kultur relevant sind, besteht der Nutzen einer umfassenden Ernährungspolitik darin, dass die Gesellschaft klarstellen kann, was sie will und was sie im Rahmen ihres Lebensmittelsystems erzielen kann. Sie verbindet das, was sonst allzu leicht getrennt wird und fragmentiert bleibt. Die Frage, was und wie wir essen und wie und zu welchen Kosten wir heutzutage Lebensmittel herstellen, hat Konsequenzen für die Zukunft.

    5.2.

    Die Ernährungspolitik wirkt sich erheblich auf die Entwicklung der ländlichen und urbanen Gebiete aus. Sie schafft Arbeitsplätze in allen beteiligten Branchen, etwa in der Landwirtschaft und deren technischer Infrastruktur, in der Lebensmittelverarbeitung, im Transport und Handel, in der Verpackungsindustrie, im Einzelhandel, in der Gastronomie usw.; sie wirkt sich auf den Lebensalltag von Millionen Bürgerinnen und Bürgern der EU aus. So zählt die EU-Lebensmittelbranche 4,25 Mio. Beschäftigte, erwirtschaftet einen Umsatz von 1 098 Mrd. EUR, gibt 2,5 Mrd. EUR für Forschung und Entwicklung aus und erzielt mit dem Handel mit verarbeiteten Lebensmitteln einen Überschuss von 25,2 Mrd. EUR (22). Trotz der wirtschaftlichen Bedeutung, die Lebensmitteln für die EU-Wirtschaft zukommt, gibt es derzeit keine EU-Ernährungspolitik als solche. Die Lebensmittelsysteme werden stattdessen, wie bereits erwähnt, von einer Vielzahl unterschiedlicher politischer Rahmen gestaltet.

    5.3.

    Eine Ernährungspolitik des 21. Jahrhunderts muss eine Vielzahl von Kriterien erfüllen: Lebensmittelqualität (Geschmack, Vergnügen beim Verzehr, Aussehen, Authentizität usw.), Gesundheit (z. B. Sicherheit, Ernährung, Verfügbarkeit, Wissen), Umwelt (CO2, Wasser, Landnutzung, Böden, Biodiversität, Luftqualität, systemische Resilienzen usw.), soziale und kulturelle Werte (z. B. Identität, gleicher Zugang für alle, Vertrauen, Auswahl und Fertigkeiten), vernünftiges Wirtschaften (echter Wettbewerb und faire Erträge, menschenwürdige Arbeit, Internalisierung aller Kosten sowie vernünftige, wettbewerbsfähige Preise) und schließlich verantwortungsvolle Steuerung (demokratische Rechenschaftspflicht, Transparenz, ethische Vorgehensweisen und Nutzung fundierter wissenschaftlicher Erkenntnisse usw.). Alle bestehenden EU-Maßnahmen im Bereich der Ernährungspolitik können aus dem Blickwinkel eines dieser Politikbereiche betrachtet werden.

    5.4.

    Eine umfassende Ernährungspolitik muss resiliente Ökosysteme stärken und sicherstellen, dass alle Interessenträger und Akteure der Lebensmittelversorgungskette sowohl in der EU als auch in Drittstaaten über ein angemessenes Einkommen verfügen. Die Lebensmittelpreise spiegeln nicht die gesamten Produktionskosten wider, und der Großteil der gesundheitlichen, ökologischen und sozialen Kosten wird ausgelagert. Das Streben nach billigeren, „erschwinglicheren“ Lebensmitteln darf nicht zu einer Beeinträchtigung anderer Aspekte und Auswirkungen der Produktion und des Verbrauchs von Lebensmitteln führen. Eine umfassende Ernährungspolitik könnte dazu beitragen, die Lebensmittelpreise zu reintegrieren und wieder an anderen Werten auszurichten.

    5.5.

    Eine umfassende Ernährungspolitik sollte bestehende und neue politische Maßnahmen zusammenführen, mit dem langfristigen Ziel der Schaffung nachhaltiger Lebensmittelsysteme und der Gewährleistung einer gesunden Ernährung. Die bedeutet nicht, dass das Rad neu erfunden und eine gänzlich neue Politik geschaffen werden muss oder der EU neue Zuständigkeiten übertragen werden müssten, denn das Ziel besteht nicht darin, einen einheitlichen Standard vorzuschreiben. Es bedeutet vielmehr die Annahme von Reformen auf EU-Ebene zur Förderung neuer und nachhaltigerer Maßnahmen auf allen Ebenen (der lokalen/kommunalen, regionalen und nationalen sowie der Unternehmensebene) sowie die Ausweitung der Initiativen, die bereits im Gange sind, wodurch für mehr Kohärenz gesorgt wird. Es bedeutet zudem, die Maßnahmen auf der EU-Ebene mit jenen abzustimmen, die besser auf einer anderen Regierungs- und Verwaltungsebene ergriffen werden. So könnten steuerliche Regelungen getroffen werden, die durch Stadtplanung und öffentliche Auftragsvergabe einen besseren Zugang zu gesunden Lebensmitteln gewährleisten und damit auch die lokalen Märkte und die Beschäftigung unterstützen.

    5.6.

    Auf der Grundlage einer umfassenden Ernährungspolitik sollte auch den unlauteren Geschäftspraktiken in Bezug auf Produkte zweierlei bzw. geringerer Qualität ein Ende gesetzt werden, insbesondere der Herstellung und dem Verkauf von Lebensmitteln unterschiedlicher Qualität in identischer Verpackung in den einzelnen Mitgliedstaaten (23).

    5.7.

    Um diese Ziele zu erreichen müssen sowohl die politischen Maßnahmen auf der Angebots- als auch auf der Nachfrageseite aufeinander abgestimmt werden. Dies bedeutet, dass die Verfügbarkeit und Erschwinglichkeit von Lebensmitteln aus nachhaltiger Erzeugung ebenfalls koordiniert werden muss, wobei gewährleistet werden sollte, dass die Verbraucher zunehmend Zugang zu gesunden und wohlschmeckenden Lebensmitteln haben und sich für diese entscheiden können. Es bedarf einer Kombination aus legislativen Änderungen zur Beseitigung rechtlicher Hindernisse und zur Setzung steuerlicher Anreize sowie Verhaltensänderungen aufgrund besserer Information, Bildung und Sensibilisierung von Verbrauchern und Verarbeitern. Hauptziel sind die Sensibilisierung und Unterstützung des Werts von Lebensmitteln auf allen Ebenen sowie die Förderung eines schrittweisen, aber bedeutsamen Wandels. So lässt sich etwa der Salzkonsum am besten langsam, aber systematisch reduzieren, aber es gibt keine Anreize für Unternehmen, ihre Produktrezepturen zu ändern.

    5.8.

    Auf der Angebotsseite ist es entscheidend, dass die in der EU nachhaltig erzeugten Lebensmittel wettbewerbsfähig sind, damit eine umfassende Ernährungspolitik der EU ihre Wirkungen für die europäischen Verbraucher auch tatsächlich entfalten kann. Dies bedeutet, dass die europäische Agrar- und Ernährungswirtschaft in der Lage sein muss, den Verbrauchern Lebensmittel zu Preisen anzubieten, die zusätzliche Kosten für Kriterien wie Nachhaltigkeit, Tierschutz, Lebensmittel- und Ernährungssicherheit mit einschließen, zugleich aber auch eine angemessene Vergütung der Landwirte ermöglichen, um somit ebenfalls ihre Position als bevorzugte Option für die große Mehrheit der Verbraucher zu behaupten.

    5.9.

    Die Umsetzung der Ziele für nachhaltige Entwicklung bildet einen wichtigen Rahmen für ein gemeinsames Handeln im Hinblick auf eine nachhaltige Welternährung bis 2030. Fragen im Zusammenhang mit Lebensmitteln und Landwirtschaft betreffen alle 17 Ziele für nachhaltige Entwicklung. Laut WHO müssen zu zwölf Nachhaltigkeitszielen Maßnahmen im Ernährungsbereich ergriffen werden. Diese Umsetzung setzt naturgemäß kooperative und ganzheitliche Lösungsansätze unter Einbindung verschiedener Abteilungen, Ministerien, Sektoren sowie der gesamten Lebensmittelversorgungskette voraus. Für die EU bietet sich hier eine einmalige Chance, eine europaweite Führungsrolle zu übernehmen.

    5.10.

    Eine umfassende Ernährungspolitik sollte im Hinblick auf die Umsetzung der Nachhaltigkeitsziele verschiedene Ansätze zusammenführen und bestehende Mehrebenen- und sektorübergreifende Konzepte nutzen, um eine noch engere Abstimmung bei der Politikgestaltung zu gewährleisten. Europa erarbeitet Standpunkte zu den einzelnen Säulen des Lebensmittelsystems:

    Landwirtschaft (Reform der GAP (24), beschleunigte Entwicklung nachhaltiger Produktionsmodelle, Generationenwechsel, angemessenes Einkommen für Landwirte, öffentliche Güter für öffentliche Gelder, Tierschutz),

    Ausgewogene territoriale Entwicklung/Entwicklung des ländlichen Raums (Cork 2.0 (25)),

    nachhaltige Verarbeitung (Änderung der Produktrezepturen),

    Kreislaufwirtschaft (26) (Lebensmittelverschwendung, Energieeffizienz),

    nachhaltiger Lebensmittelverbrauch (Ernährungsentscheidungen, die Gesundheit und Umwelt schützen, Vorreiterrolle des Einzelhandels),

    soziale Auswirkungen (gerechte Lohn- und Einkommensverteilung, Sozialschutz),

    kulturelle Auswirkungen (regionale bzw. lokale Identität),

    Gesundheit, Ernährung (gesündere Ernährung, Lebensmittelsicherheit),

    Umweltschutz (Böden (27), Biodiversität, Wasser- und Luftqualität),

    Bildung (Schulbildung, Wert von Lebensmitteln, wie kocht man, was ist gutes Essen),

    Handel, auch internationaler Handel (fairere Handelspraktiken in der Lebensmittelversorgungskette (28), Lebensmittelsouveränität),

    Entwicklung (kohärente Entwicklungspolitik).

    5.11.

    Dieser neue umfassende Ansatz sollte dynamisch sein, Interessenträger aus der gesamten Lebensmittelversorgungskette und allen Bereichen der Zivilgesellschaft einbinden und so eine verantwortungsvolle, transparente „Lebensmitteldemokratie“ gewährleisten.

    5.12.

    Kurz gesagt: Eine umfassende Ernährungspolitik sollte erstens ökologisch, sozial und wirtschaftlich tragfähig sein, zweitens branchenübergreifend und zwischen den einzelnen Steuerungsebenen abgestimmt sein, drittens, inklusiv sein, also alle Gesellschaftsbereiche einschließen und, viertens, für faire Arbeitsbedingungen auf allen Ebenen sorgen.

    6.   Zeitplan — welche Schritte sind notwendig, um eine umfassende Ernährungspolitik zu schaffen?

    6.1.

    In Anlehnung an die Gründerväter des Binnenmarkts, die in den 1950er-Jahren Lebensmittel als Schlüssel für ein besseres und friedlicheres Europa sahen, weist der EWSA heute — 60 Jahre später — auf die Notwendigkeit hin, ein nachhaltigeres Lebensmittelsystem für Europa zu schaffen. Von welchen Seiten Druck ausgeübt wird, ist wohlbekannt und wurde aufgezeigt. Dies muss und wird auf der lokalen und nationalen Ebene angegangen werden. Nichtsdestoweniger muss auch europaweit gehandelt werden.

    6.2.

    Der EWSA schlägt vor, eine bereichsübergreifende und interinstitutionelle Task Force einzurichten, an der verschiedene Generaldirektionen der Kommission und andere EU-Institutionen beteiligt werden, um einen Aktionsplan für Nachhaltigkeit im Lebensmittelbereich zu erarbeiten und die EU bei der Umsetzung der relevanten Nachhaltigkeitsziele umzusetzen. Der Aktionsplan sollte in einem partizipativen Prozess unter Einbeziehung der Akteure der Lebensmittelversorgungskette, der Zivilgesellschaft und der Wissenschaft ausgearbeitet werden.

    6.3.

    Der EWSA ist der Auffassung, dass die Dynamik, die im Zuge der von ihm veranstalteten Anhörungen von Sachverständigen zu diesem Thema entstanden ist, genutzt werden sollte, um einen Raum für die Zivilgesellschaft zu schaffen und zu entwickeln und diese einzubinden und aktiv an diesem Prozess zu beteiligen.

    6.4.

    Die Gemeinsame Forschungsstelle, die GD Forschung und die Forschungsagenturen der Mitgliedstaaten sind aufgefordert, einen „Anzeiger für nachhaltige Lebensmittel“ zu entwickeln, um die Fortschritte bei der Verwirklichung der festgelegten Ziele zu fördern und zu überwachen. Mit Hilfe neuer und bestehender Indikatoren müssen die Nachhaltigkeitsziele im Lebensmittelbereich sowie weitere internationale Ziele (wie z. B. Treibhausgasemissionen) übernommen und auf die europäischen Gegebenheiten umgelegt werden.

    6.5.

    Die Europäische Kommission, das Europäische Parlament und der Rat sind aufgefordert zu prüfen, ob die Errichtung einer eigenen Generaldirektion für Ernährung möglich wäre, die eine bessere Koordinierung der Aufgaben und Verantwortlichkeiten bei allen ernährungsbezogenen Maßnahmen sicherstellen würde — angefangen von einer gemeinsamen Methodologie für die Lebenszyklusanalyse bis hin zu Massendaten aus dem Lebensmittelbereich und nachhaltiger Ernährung. Diese neue Generaldirektion würde den erforderlichen Rahmen für die Priorisierung des Themas „Ernährung“ bieten und die Initiative für Regulierungen, Vorschriften und ggf. Durchsetzungsmaßnahmen ergreifen.

    6.6.

    Es sollte ein neuer Europäischer Rat für Ernährungspolitik eingerichtet werden. Manche Mitgliedstaaten verfügen bereits über derartige Gremien (z. B. in den Niederlanden und das Nordic Food Policy Lab). Ein solches Gremium würde Beratung in Bezug auf den Wandel bieten, den die Wissenschaft im Hinblick auf die Umsetzung der Nachhaltigkeitsziele und des Pariser Klimaschutzabkommens für notwendig hält.

    6.7.

    Die Umstellung auf nachhaltige europäische Lebensmittelsysteme erfordert, dass die Bereiche Gesundheit, Ernährung sowie ökologische und wirtschaftliche Beratung besser integriert werden. Der EWSA spricht sich für die Entwicklung nachhaltiger EU-Ernährungsrichtlinien aus, wobei auf Initiativen aus Deutschland, den Niederlanden, Schweden und Frankreich zurückgegriffen werden sollte, um den Verbrauchern und der Industrie deutlichere Orientierungshilfen in Bezug auf die Frage zu bieten, wie sich eine gesunde Ernährung mit geringeren Umweltauswirkungen bewerkstelligen lässt und falsche umwelt- und gesundheitsbezogene Angaben verhindert werden können, wobei auch kulturellen Präferenzen Rechnung getragen werden muss. Dies sollte sich in einer neuen intelligenten Kennzeichnung nachhaltiger Lebensmittel widerspiegeln.

    Brüssel, den 6. Dezember 2017

    Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

    Georges DASSIS


    (1)  EWSA-Stellungnahme zum Thema „Eine mögliche Umgestaltung der Gemeinsamen Agrarpolitik“, ABl. C 288 vom 31.8.2017, S. 10.

    (2)  HLPE, 2017. Ernährung und Lebensmittelsysteme.

    (3)  Siehe Fußnote 1.

    (4)  http://www.ehnheart.org/cvd-statistics.html.

    (5)  Euromonitor International, Ernährungspass 2017.

    (6)  Oxfam (2015) A Europe for the many, not the few.

    (7)  Z. B. Hoekstra & Mekonnen (2016).

    (8)  OECD (2014).

    (9)  https://www.eea.europa.eu/data-and-maps/indicators/soil-erosion-by-water-1/assessment.

    (10)  https://www.eea.europa.eu/highlights/fish-to-fork-a-need.

    (11)  www.fao.org/nr/sustainability.

    (12)  EWSA-Stellungnahme zum Thema „Unlautere Handelspraktiken zwischen Unternehmen in der Lebensmittelversorgungskette“, ABl. C 34 vom 2.2.2017, S. 130.

    (13)  http://ec.europa.eu/food/safety/food_waste_en.

    (14)  Mason & Lang (2017). Sustainable Diets. Abingdon: Routledge.

    (15)  Freibauer, Mathijs et al. (2011), 3. SCAR-Bericht an die Europäische Kommission.

    (16)  http://www.fooddrinkeurope.eu/publication/data-trends-of-the-european-food-and-drink-industry-2016/.

    (17)  Falkenberg K. (2016); Sustainability Now! A European Vision for Sustainability. EPSC, Ausgabe 18 vom 20. Juli.

    (18)  WHO European Region (2013) http://www.euro.who.int/__data/assets/pdf_file/0019/191125/e96859.pdf.

    (19)  https://www.statista.com/statistics/237928/online-advertising-spending-in-western-europe/.

    (20)  Cartoon characters and food: just for fun?, Strategiepapier des Europäischen Büros der Verbraucherverbände, 2017.

    (21)  Siehe Fußnote 12.

    (22)  http://www.fooddrinkeurope.eu/uploads/publications_documents/Data_and_trends_Interactive_PDF_NEW.pdf.

    (23)  Ergebnisse der Studie der Prager Universität für Chemie und Technologie, 2015 http://www.sehnalova.cz/soubory/rozdily-potravin/Prezentace.pdf.

    (24)  Siehe Fußnote 1.

    (25)  EWSA-Stellungnahme zum Thema „Konkrete Maßnahmen nach der Cork-2.0-Erklärung“, ABl. C 345 vom 13.10.2017, S. 37.

    (26)  EWSA-Stellungnahme zum Thema „Kreislaufwirtschaft“, ABl. C 264 vom 20.7.2016, S. 98.

    (27)  EWSA-Stellungnahme zum Thema „Landnutzung für eine nachhaltige Nahrungsmittelerzeugung und nachhaltige Ökosystemleistungen“, am 18.10.2017 verabschiedet (noch nicht im Amtsblatt veröffentlicht).

    (28)  Siehe Fußnote 12.


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