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Document 52010AE0978

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Kinderarmut und Wohl des Kindes“ (Sondierungsstellungnahme)

ABl. C 44 vom 11.2.2011, p. 34–39 (BG, ES, CS, DA, DE, ET, EL, EN, FR, IT, LV, LT, HU, MT, NL, PL, PT, RO, SK, SL, FI, SV)

11.2.2011   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 44/34


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Kinderarmut und Wohl des Kindes“ (Sondierungsstellungnahme)

2011/C 44/06

Hauptberichterstatterin: Brenda KING

In einem Schreiben vom 28. April 2010 ersuchte Laurette Onkelinx, stellvertretende Ministerpräsidentin und Sozial- und Gesundheitsministerin Belgiens, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union im Namen des künftigen belgischen Ratsvorsitzes um eine Sondierungsstellungnahme zum Thema

„Kinderarmut und Wohl des Kindes“.

Das Präsidium des Ausschusses beauftragte die Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft am 25. Mai 2010 mit der Ausarbeitung dieser Stellungnahme.

Aufgrund der Dringlichkeit der Arbeiten bestellte der Ausschuss auf seiner 464. Plenartagung am 14./15. Juli 2010 (Sitzung vom 14. Juli) Brenda KING zur Hauptberichterstatterin und verabschiedete mit 113 gegen 6 Stimmen bei 14 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1   In Europa sind heute 20 Millionen Kinder von Armut bedroht. Bei Kindern ist der Anteil der in Armut lebenden Menschen sogar noch höher als bei Erwachsenen (20 % gegenüber 16 %), und infolge der Wirtschaftskrise werden wahrscheinlich noch mehr Kinder unter die Armutsgrenze fallen. Schon allein die Tatsache, dass es unter den in der EU lebenden Kindern Armut gibt, zeigt, dass diesen Kindern die elementarsten Grundrechte vorenthalten werden.

1.2   Die Kinderarmut wird, sollte nichts gegen sie unternommen werden, negative Auswirkungen auf den künftigen Wohlstand in der Europäischen Union haben. Um die Ziele der EU-2020-Strategie zu erreichen, brauchen wir gebildete, gesunde und zuversichtliche junge Menschen. Sowohl die hohe Zahl der von Armut bedrohten Kinder als auch das Ausmaß, in dem Armut von einer Generation zur nächsten weitergegeben wird, ist wahrlich ein Armutszeugnis für die gescheiterte europäische Politik zum Schutz der am meisten gefährdeten Gruppen unserer Gesellschaft.

1.3   Kinderarmut und das Wohl des Kindes bilden eine vielschichtige Problematik. Aus einer Reihe von Untersuchungen lässt sich ablesen, dass mehrere Faktoren zu diesen Problemen beitragen, u.a. materielle Deprivation und der fehlende Zugang zu medizinischer Grundversorgung, würdigen Wohnverhältnissen und Bildung. Im Allgemeinen wird davon ausgegangen, dass diese Faktoren miteinander zusammenhängen und voneinander abhängig sind, was bei den Lösungsansätzen zu berücksichtigen ist.

1.4   Armut und Entbehrung bringen Millionen von Kindern um die Chance auf einen möglichst guten Start ins Leben und hemmen ihre persönliche Entwicklung. Sehr oft kann sich ein Eingreifen im frühen Lebensabschnitt des Kindes positiv auf sein restliches Leben auswirken. Deshalb müssen unbedingt geeignete Maßnahmen und Strategien konzipiert werden, um allen Kindern - insbesondere jenen aus den Bevölkerungsgruppen am äußersten Rand unserer Gesellschaft - die Chance auf volle Entfaltung ihres Potenzials zu garantieren, damit sie positiv zur Zukunftsgestaltung beitragen können.

1.5   Wir sind im Europäischen Jahr zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung, weshalb der EWSA das politische Engagement des Rates begrüßt, der die Armutsbekämpfung zu einem der bis 2020 zu erreichenden fünf EU-Kernziele erklärt hat. Konkret lautet das Ziel „Verringerung der Zahl der unter den nationalen Armutsgrenzen lebenden Europäer um 25 %, wodurch 20 Millionen Menschen aus der Armut befreit würden“ (1).

1.6   Der Ausschuss bedauert jedoch, dass die Bekämpfung von Kinderarmut und die Förderung des Wohls des Kindes kein spezifisches Ziel bildet, obgleich dieses Thema auf EU-Ebene und in den Mitgliedstaaten seit dem Jahr 2000 zunehmend politische Beachtung findet, was sich in einem breiten Spektrum von Initiativen niederschlägt.

1.7   Der Ausschuss begrüßt, dass eine der sieben EU-Leitinitiativen die „Europäische Plattform zur Bekämpfung der Armut“ sein wird; sie dient „zur Gewährleistung des sozialen und territorialen Zusammenhalts, damit die Vorteile von Wachstum und Beschäftigung allen zugute kommen, und Menschen, die unter Armut und sozialer Ausgrenzung leiden, in Würde leben und sich aktiv am gesellschaftlichen Leben beteiligen können“.

1.8   Der EWSA empfiehlt nachdrücklich, diese Plattform zum Referenzrahmen für die Beseitigung der Kinderarmut und die Förderung des Wohls des Kindes zu machen und in ihr kinderspezifische mehrdimensionale Ansätze auf der Grundlage der Rechte der Kinder und spezifischer Ziele für Kinder und Familien mit Kindern zu entwickeln.

1.9   Das EU-Netzwerk unabhängiger Sachverständiger für soziale Eingliederung hat besonders auf bestimmte Gruppen von Kindern hingewiesen, die stark von äußerster Armut bedroht sind. Dazu gehören:

i.

in Heimen lebende Kinder oder ehemalige Heimkinder, Straßenkinder, missbrauchte, misshandelte oder vernachlässigte Kinder, Kinder von psychisch kranken Eltern, Kinder in Betreuung, obdachlose Kinder und Kinder, die Opfer von häuslicher Gewalt oder Menschenhandel geworden sind;

ii.

Kinder mit Behinderungen, Kinder aus ethnischen Minderheiten, Roma-Kinder, minderjährige Asylbewerber und Migranten;

iii.

Kinder, die in sehr armen und abgelegenen ländlichen Gebieten leben, in denen viele Einrichtungen der Grundversorgung fehlen, und Kinder in Großsiedlungen am Rande städtischer Ballungsgebiete.

1.10   In der EU-Grundrechtecharta sind auch Bestimmungen über die Rechte der Kinder enthalten. Der EU fällt damit eindeutig der Auftrag zu, Leben, Schutz und Entwicklung der Kinder zu garantieren. Für die schutzbedürftigen Kinder sollte es innerhalb der Europäischen Plattform zur Bekämpfung der Armut eigene Indikatoren und Zielvorgaben geben.

1.11   Der EWSA unterstützt die Forderung nach einer umfassenden Empfehlung der Kommission zum Thema Kinderarmut und Wohl des Kindes, mit der politische Kernziele und Vorgaben festgelegt werden und ein Rahmen für die kontinuierliche Beobachtung, den Erfahrungsaustausch, die Forschung und für vergleichende Berichte geschaffen wird. Dies wird zum Erreichen des EU-2020-Ziels der Armutsbekämpfung beitragen.

2.   Hintergrund

2.1   Seit 2000 ist das Problem der Armut und sozialen Ausgrenzung von Kindern zunehmend zu einem wichtigen Thema für die Methode der offenen Koordinierung im Sozialbereich geworden. Die Problematik stand auch im Mittelpunkt sämtlicher gemeinsamen Berichte über Sozialschutz und soziale Eingliederung (2002-2004). Die europäischen Staats- und Regierungschefs ersuchten die Mitgliedstaaten, „die notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, um Kinderarmut rasch in erheblichem Maße zu verringern und damit allen Kindern unabhängig von ihrer sozialen Herkunft die gleichen Chancen zu bieten“ (2).

2.2   Auf der vom Luxemburger Ratsvorsitz 2005 veranstalteten Konferenz „Den EU-Prozess der sozialen Eingliederung voranbringen“ wurde ausdrücklich dazu aufgerufen, die Belange der Kinder in allen Politikbereichen zu berücksichtigen (children mainstreaming) und zumindest einen Indikator für das Wohl des Kindes auf EU-Ebene zu beschließen. In der 2006 veröffentlichten Mitteilung der Kommission über die Rechte des Kindes wurde der sozialen Eingliederung von Kindern und der Rolle des europäischen Prozesses der sozialen Eingliederung besondere Beachtung geschenkt. Im Januar 2008 wurde ein von der zuständigen EU-Arbeitsgruppe erstellter Bericht über Kinderarmut und Wohlergehen von Kindern in der EU sowie entsprechende Empfehlungen angenommen. Im Ende 2009 vorgelegten Arbeitsdokument der Kommission zur Strategie „Europa 2020“ wurde anerkannt, dass Kinderarmut und soziale Ausgrenzung zu den langfristigen sozialen Herausforderungen in der EU gehören, die sich durch die Finanz- und Wirtschaftskrise weiter verschärft haben. Im März 2010 legte ein Konsortium unter Federführung des TARKI-Instituts für Gesellschaftsforschung seinen im Auftrag der Europäischen Kommission erstellten ausführlichen Bericht über Kinderarmut und Wohlergehen von Kindern in der Europäischen Union vor.

2.3   Der Vertrag von Lissabon von 2009 schreibt die Förderung der Rechte des Kindes ausdrücklich als Ziel der Union fest. Auf der Auftaktveranstaltung zum Europäischen Jahr zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung 2010 erklärte Kommissionspräsident Barroso: „Wir müssen die Armutsrisikoquote für die gesamte Bevölkerung und insbesondere für Kinder und ältere Menschen bis 2020 senken; die gegenwärtigen Zahlen sind einfach nicht hinnehmbar.“ Belgien, das den EU-Ratsvorsitz im zweiten Halbjahr 2010 führt, hat die Bekämpfung von Kinderarmut und die Förderung des Wohls der Kinder zu wichtigen Prioritäten erklärt.

3.   Kinderarmut und Wohl des Kindes in der EU

3.1   Kinderarmut

3.1.1   Die Kinderarmut und das Wohl des Kindes sind in der gesamten Union große Herausforderungen. Das Ausmaß und die Schwere des Problems ist aber von Land zu Land und sogar innerhalb vieler Länder von Region zu Region sehr unterschiedlich. So ergibt sich aus den Gemeinschaftsstatistiken über Einkommen und Lebensbedingungen (EU-SILC) für 2007 folgendes Bild (3):

In der EU sind 20 % aller Kinder von Armut bedroht (4), verglichen mit 16 % der Gesamtbevölkerung. Mit Ausnahme von Dänemark, Deutschland, Estland, Finnland, Slowenien und Zypern ist das Armutsrisiko überall in der EU für Kinder größer als für die Gesamtbevölkerung (in Lettland ist es gleich groß). Das Armutsrisiko für Kinder liegt in zwei Ländern (Bulgarien und Rumänien) bei 30-33 % und in fünf Ländern (Griechenland, Italien, Polen, Spanien und Vereinigtes Königreich) zwischen 23 und 25 %, in fünf anderen Ländern (Dänemark, Finnland, Schweden, Slowenien und Zypern) dahingegen bei 10-12 %.

Diese Informationen sollten um die nationale Armutsgefährdungslücke (5) ergänzt werden, die angibt, wie arm die armen Kinder sind, das heißt das Ausmaß der Armutsgefährdung von Kindern zeigt. Die Armutsgefährdungslücke für Kinder reicht von 13 % in Finnland und 15 % in Frankreich bis 40 % in Rumänien und 44 % in Bulgarien. Das Armutsrisiko nimmt in den meisten Ländern mit steigendem Alter der Kinder zu.

Ein weiterer wichtiger Faktor bei der Betrachtung der Einkommensarmut ist die Dauer, d.h. wie lange Kinder unterhalb der Armutsrisikoschwelle leben müssen. Im bereits erwähnten Bericht des TARKI-Instituts heißt es dazu: „Obgleich das Armutsrisiko bei Kindern in einem bestimmten Jahr Aufschluss darüber gibt, inwieweit sie von Deprivation (materieller Unterversorgung) und sozialer Ausgrenzung bedroht sind, wiegt diese Bedrohung viel schwerer, wenn das Einkommensniveau diese Schwelle mehrere Jahre lang unterschreitet“. In diesem Bericht wird für die 20 EU-Mitgliedstaaten, für die die erforderlichen EU-SILC-Daten vorliegen, der Anteil der Kinder ausgewiesen, die in einem Haushalt lebten, der in jedem der Jahre 2005-2007 armutsgefährdet war. Dieser Anteil reicht von 4-6 % in Finnland, Österreich, Schweden, Slowenien und Zypern bis 13-16 % in Italien, Litauen, Luxemburg, Polen und Portugal.

3.2   Materielle Deprivation

3.2.1   Die EU-Definition für armutsgefährdete Kinder basiert auf der Zahl der in einkommensschwachen Familien lebenden Kinder. Dieser Indikator ist zwar wichtig, aber reicht nicht aus, da er nicht alles erfasst, was ein Kind für einen guten Start ins Leben benötigt. Kinder können in menschenunwürdigen Wohnverhältnissen leben oder sogar obdachlos sein, in verwahrlosten Gegenden wohnen, mit mehr Kriminalität, schlechterer Gesundheit, schlechter Ernährung, einem höheren Risiko von Unfällen und Verletzungen, mehr physischen Misshandlungen und Mobbing in der Schule, beschränkterem Zugang zu sozialen Diensten und Beratungseinrichtungen für Familien, Bildungsbenachteiligung und schlechteren Bildungschancen, mit eingeschränktem oder völlig fehlendem Zugang zu Spielplätzen, Sport- und Freizeiteinrichtungen oder kulturellen Aktivitäten. Bestimmte Kinder sind durch mehrere dieser Faktoren benachteiligt, die bei gehäuftem Auftreten negativ zusammenwirken und einander verstärken können, was die Armut und soziale Ausgrenzung für das Kind noch verschärft und dazu führt, dass diese Probleme häufiger von Generation zu Generation vererbt werden.

3.2.2   Der Anteil der von materieller Deprivation betroffenen Kinder in der EU ist genauso hoch wie der von Armut gefährdeter Kinder (20 %). Bei der materiellen Deprivation gibt es jedoch noch größere Unterschiede zwischen den einzelnen Mitgliedstaaten: Der Anteil der Betroffenen reicht von 4-10 % (in Luxemburg, den drei skandinavischen Mitgliedstaaten, den Niederlanden und Spanien) bis 39-43 % (in Lettland, Polen und Ungarn), 57 % (Rumänien) und 72 % (Bulgarien). Dem steht eine Schwankungsbreite des Armutsrisikos von 10 % bis 33 % gegenüber. Diese große Variation bei der materiellen Deprivation spiegelt die Unterschiede im durchschnittlichen Lebensstandard zwischen und innerhalb verschiedener Mitgliedstaaten wider.

3.2.3   Der Anteil der materiell unterversorgten Kinder liegt bei 46 %, allerdings mit erheblichen Unterschieden: er reicht von 18-28 % (Dänemark, Luxemburg, Niederlande, Schweden und Spanien) bis 72-96 % (Bulgarien, Lettland, Rumänien und Ungarn). Bei Kindern oberhalb der Armutsgefährdungsschwelle liegt dieser Anteil in der EU bei durchschnittlich 13 %. Auch hier gibt es wieder sehr große Unterschiede zwischen den 1-6 % in Dänemark, Luxemburg, den Niederlanden, Schweden und Spanien und den 35-62 % in Bulgarien, Lettland, Rumänien und Ungarn.

3.2.4   Der EWSA empfiehlt, die nationalen Armutsgefährdungsquoten, Armutsgefährdungsschwellen und Anteile der materiell unterversorgten Menschen als zusätzliche Indikatoren aufzunehmen.

3.3   Am stärksten gefährdete Kinder

3.3.1   Alleinerziehende und Großfamilien

3.3.1.1   Kinder von Alleinerziehenden und aus Großfamilien sind praktisch in allen Ländern am stärksten gefährdet. Die Gemeinschaftsstatistiken über Einkommen und Lebensbedingungen (EU-SILC) für 2007 zeigen, dass auf EU-Ebene 34 % der Kinder Alleinerziehender von Armut bedroht sind, wobei dieser Anteil von 17-24 % (Dänemark, Finnland, Schweden) bis 40-45 % (Estland, Irland, Litauen, Luxemburg, Rumänien, Vereinigtes Königreich) und 54 % (Malta) reicht. Bei Kindern aus Großfamilien (Haushalte mit zwei Erwachsenen und drei oder mehr Kindern) liegt das Armutsrisiko in der EU 25 %. Es reicht von 12-15 % (Dänemark, Deutschland, Finnland, Schweden, Slowenien) bis 41-55 % (Italien, Lettland, Portugal, Rumänien) und 71 % (Bulgarien).

3.3.2   Arbeitslosenhaushalte

3.3.2.1   Die EU-Arbeitskräfteerhebung für 2007 zeigt, das 9,4 % der Kinder in Arbeitslosenhaushalten leben, wobei ihr Anteil von 2,2-3,9 % (in Griechenland, Luxemburg, Slowenien und Zypern) bis 12 % in der Belgien, 12,8 % in Bulgarien, 13,9 % in Ungarn und 16,7 % im Vereinigten Königreich reicht (6). Bei diesen Kindern besteht ein sehr hohes durchschnittliches Armutsrisiko (70 %), das in Dänemark und Finnland mit 47-49 % am geringsten und in Bulgarien, Estland, Litauen, Portugal, Rumänien, der Slowakei und Tschechien mit 81-90 % am höchsten ist.

3.3.2.2   Im Hinblick auf die materielle Deprivation kann das Leben in einem Haushalt, in dem niemand in Lohn und Arbeit steht, erhebliche Auswirkungen sowohl auf die derzeitigen als auch auf die künftigen Lebensumstände der Kinder haben. Arbeitslosigkeit wirft nicht nur die Frage möglicher finanzieller Probleme auf; das Fehlen eines arbeitenden Erwachsenen im Haushalt des Kindes kann auch dessen derzeitige oder künftige Chancen auf volle Teilhabe an der Gesellschaft beeinträchtigen.

3.3.3   Von äußerster Armut bedrohte Kinder

3.3.3.1   Das EU-Netzwerk unabhängiger Sachverständiger für soziale Eingliederung hat besonders auf bestimmte Gruppen von Kindern hingewiesen, die stark von großer oder äußerster Armut bedroht sind. Dies geht insbesondere aus den nationalen Aktionsplänen „Eingliederung“ mehrerer Mitgliedstaaten und aus verschiedenen transnationalen Informationsaustauschprojekten hervor. Zu den Risikogruppen gehören Kinder mit Behinderungen, Kinder aus ethnischen Minderheiten (insbesondere Roma-Kinder), minderjährige Asylbewerber und Migranten, missbrauchte, misshandelte oder vernachlässigte Kinder, Kinder von psychisch kranken Eltern, Kinder in Betreuung, obdachlose Kinder und Kinder, die Opfer von häuslicher Gewalt oder Menschenhandel geworden sind; Kinder, die in sehr armen und abgelegenen ländlichen Gebieten leben, in denen viele Einrichtungen der Grundversorgung fehlen, und Kinder in Großsiedlungen am Rande städtischer Ballungsgebiete (7). Aus der 2007 vorgenommenen Untersuchung für die EU geht hervor, dass die Lage von Kindern aus Migrantenfamilien und aus bestimmten ethnischen Minderheiten in den alten Mitgliedstaaten zunehmend Besorgnis erregend ist.

3.4   Langzeitfolgen und generationenübergreifende Armut

3.4.1   Langzeitfolgen

3.4.1.1   Eine wichtige Erkenntnis aus den Gemeinsamen Berichten über Sozialschutz und soziale Eingliederung lautet, dass Kinder, die in Armut aufwachsen, in ihrer Persönlichkeitsentwicklung eingeschränkt werden und unter Langzeitfolgen leiden, die ihre Entwicklung und ihr Wohlergehen in der Kindheit sowie ihre spätere Gesundheit und ihr Wohlbefinden als Erwachsene beeinträchtigen. Sie haben ein höheres Risiko, als Erwachsene unter Armut, Arbeitslosigkeit und sozialer Ausgrenzung zu leiden. Diese Langzeitwirkungen wurden in dem Bericht für 2007 herausgestellt: „In Armut aufwachsende Kinder haben schlechtere Aussichten als besser gestellte Gleichaltrige, die Schulausbildung erfolgreich zu absolvieren, gesund zu bleiben, nicht straffällig zu werden und als junge Erwachsene in den Arbeitsmarkt und die Gesellschaft integriert zu werden“.

3.4.2   Generationenübergreifende Armut

3.4.2.1   Die oft von einer Generation zur nächsten vererbte Armut ist ebenfalls ein in diesem Zusammenhang häufig anzutreffendes Problem. In einer Reihe von Ländern tritt die intergenerationale Übertragung von Armut besonders deutlich in Bezug auf die Bildung zu Tage, was auf Länder sowohl mit hoher als auch mit geringer Kinderarmut und sozialer Ausgrenzung zutrifft. In der Teilstatistik 2005 EU-SILC Modul zur intergenerationalen Übertragung von Benachteiligungen wurde festgestellt, dass sich die Bildungschancen in der Kindheit auf die Wahrscheinlichkeit eines Lebens in Armut im Erwachsenenalter auswirken. Danach hat ein Kind, dessen Eltern nur einen Grundschulabschluss haben, ein 23 Mal höheres Risiko, ohne Abschluss zu bleiben, als ein Kind von Akademikern.

4.   Vergleiche, Beobachtung und Evaluierung

4.1   Eine wichtige Aufgabe, der besondere Beachtung gelten muss, besteht darin, den Vergleich, die Beobachtung und die Evaluierung zu einem zentralen und sichtbaren Element sowohl auf nationaler als auch auf EU-Ebene zu machen.

4.2   Aus diesem Grund empfiehlt der Ausschuss:

ein Verfahren einzuführen, bei dem die Kommission und die Mitgliedstaaten Mittel und Wege ergründen, um die sozialen Ziele der Union auf EU-Ebene besser sichtbar, messbar und greifbar zu machen;

sicherzustellen, dass die Fortschritte bei der Erfüllung der EU-Vorgaben und der einzelstaatlichen Ziele und bei der Verbesserung der Ergebnisse im Rahmen der vereinbarten EU-Indikatoren sorgfältig und regelmäßig überwacht und berichtet werden;

sicherzustellen, dass Peer-Reviews organisiert werden, um die Ergebnisse dieser Beobachtungen und Vergleiche zu diskutieren, damit die einzelnen Mitgliedstaaten und die Kommission voneinander lernen können;

viel strengere Maßstäbe für die Beobachtung und Evaluierung anzulegen, wobei stärker ergebnisorientiert gearbeitet werden sollte, und sicherzustellen, dass regelmäßig eine unabhängige kritische Prüfung der Fortschritte bei der Verwirklichung der Ziele erfolgt. Sinnvollerweise sollten dazu folgende Kernelemente gehören:

in die nationalen Beobachtungs- und Untersuchungssysteme der Mitgliedstaaten sollten regelmäßig gemeinsame Indikatoren aufgenommen werden, um den Prozess des gegenseitigen Lernens zu verbessern;

es gilt, die statistische Kapazität auf EU-, nationaler und subnationaler Ebene zu stärken und sicherzustellen, dass Sozialstatistiken zeitnäher erstellt werden (dazu gehören auch Daten über Kinderarmut und das Wohl des Kindes, die eine Bewertung der Auswirkungen der Finanz- und Wirtschaftskrise in der gesamten EU ermöglichen);

alle Mitgliedstaaten sollten aufgefordert werden, formelle Regelungen für die Einbeziehung zivilgesellschaftlicher Organisationen und unabhängiger Sachverständiger in die kontinuierliche Beobachtung und Beurteilung der Maßnahmen auf dem Gebiet der sozialen Eingliederung zu treffen.

5.   Einrichtung der Europäischen Plattform zur Bekämpfung der Armut

5.1   Die Stärkung der sozialen Dimension der EU und insbesondere die Erfüllung der EU-2020-Ziele wird in erheblichem Maße von der „Europäischen Plattform zur Bekämpfung der Armut“ abhängen, die als Leitinitiative im Rahmen des Europa-2020-Projekts vorgeschlagen wurde.

5.2   Diese Plattform muss zum sichtbaren Symbol des erneuerten sozialen Europas werden. Es muss dafür gesorgt werden, dass alle anderen Bereiche der EU-Politikgestaltung (Maßnahmen auf den Gebieten Wirtschaft, Wettbewerb, Bildung, Migration, Gesundheit, Innovation und Umwelt) zur Erfüllung der sozialen Ziele der Union einschließlich des EU-Ziels der Armutsbekämpfung beitragen, und dabei kommt der Plattform eine zentrale Rolle zu.

5.3   Ein wichtiger Schwerpunkt dabei wird sein, die Fragen eines angemessenen Sozialschutzes, wozu die Bekämpfung von Kinderarmut, die Förderung des Wohls des Kindes und die Rechte der Kinder gehören, in alle relevanten EU-Politikbereiche und -programme und auch in die Strukturfonds umfassend einzubeziehen. Der Plattform für die Armutsbekämpfung kommt dabei die zentrale Aufgabe zu, die Umsetzung des Prozesses zur Abschätzung der sozialen Folgen und den Beitrag anderer Teile des EU-2020-Projekts zur angestrebten Zurückdrängung der Armut zu beobachten und darüber Bericht zu erstatten.

5.4   Bessere Verknüpfung zwischen den EU-Zielen der sozialen Eingliederung und den Zielen der EU-Strukturfonds

5.4.1   Erforderlich ist eine viel größere Übereinstimmung zwischen den Zielen der EU und der Mitgliedstaaten im Bereich der sozialen Eingliederung und dem Einsatz der EU-Strukturfonds. In diesem Zusammenhang muss der Einsatz von Strukturfondsmitteln zu einem Kernelement der nationalen Aktionspläne (Eingliederung) werden. Ein Beispiel dafür war der 2009 unterbreitete Kommissionsvorschlag, den Einsatz von Mitteln des Europäischen Fonds für Regionale Entwicklung (EFRE) für die Förderung von Wohnungsbauvorhaben für marginalisierte Bevölkerungsgruppen in den neuen Mitgliedstaaten zuzulassen. Dieses Beispiel könnte ein wichtiges Signal für die Aufstockung der Mittel für Initiativen auf diesem Gebiet sein.

6.   Empfehlungen des EWSA

6.1   EU-Verpflichtungen im Bereich Kinderarmut und Wohl des Kindes

6.1.1   Angesichts der mit der Europa-2020-Strategie verfolgten Gesamtziele sollte ein schlüssiger Rahmen für die Behandlung der Probleme der Kinderarmut und des Wohls des Kindes entwickelt werden, wobei ein auf Rechten basierender Ansatz zu wählen ist. Es sollte ein besonderes EU-Ziel „Beseitigung der Kinderarmut“ und „Förderung des Wohls des Kindes“ eingeführt werden.

6.2   Angemessene Mittel

6.2.1   Für Familien mit Kindern sollte ein Familienmindesteinkommen eingeführt und über Geldleistungen in Abhängigkeit vom Erwerbstatus der Eltern umgesetzt werden. Finanzielle Unterstützung für alle Kinder könnte durch Steuergutschriften und/oder ein allgemeines Kindergeld garantiert werden.

6.2.2   Das allgemeine Kindergeld für alle ist ein wichtiges Mittel zur Bekämpfung der Kinderarmut; es gewährleistet eine Gesamteffizienz in der Verwaltung, vermeidet die soziale Stigmatisierung und wird im großen Umfang in Anspruch genommen, legt man die 2008 vom Ausschuss für Sozialschutz erstellte Studie zu Grunde.

6.2.3   Bei Kindern in Arbeitslosenhaushalten besteht ein sehr hohes Armutsrisiko, weshalb die Verringerung der Armutslücke bei Arbeitslosenhaushalten und bei trotz einer Beschäftigung von Armut betroffenen Haushalten als Ziel festgelegt werden sollte, um die Stärke der von Kindern erlittenen Armut zu mindern. Die Erwerbstätigkeit von Eltern sollte durch Maßnahmen der aktiven Arbeitsmarktpolitik unterstützt werden. Dafür sollten u.a. in örtlicher Nähe zugängliche und erschwingliche Qualitätsdienstleistungen im Bereich Kinderbetreuung angeboten werden.

6.2.4   Integrative Arbeitsmärkte müssen hochwertige Arbeitsplätze für Eltern bieten. Damit Eltern Zeit mit ihren Kindern verbringen können, müssen sie Beruf und Familie miteinander in Einklang bringen, was durch entsprechende Maßnahmen zu fördern ist.

6.2.5   Um die Vererbung von Armut und Ausgrenzung an die nächste Generation zu unterbinden, müssen die Chancengleichheit für alle durch eine gut konzipierte Sozialpolitik sichergestellt und verstärkte Anstrengungen im Hinblick auf erfolgreiche Schulabschlüsse aller Kinder unternommen werden; dies gilt insbesondere für in äußerster Armut lebende Kinder. Hier müssen die Eingliederungs- und Antidiskriminierungsmaßnahmen auch und vor allem zugunsten von Zuwanderern und ihren Nachkommen sowie von ethnischen Minderheiten intensiviert werden.

6.3   Kleinkindalter

6.3.1   Der EWSA unterstützt die Empfehlung von Eurochild, die Kinderbetreuung so auszubauen, dass sie für alle Kinder und Familien von der vorgeburtlichen Betreuung bis zur Vorschule in einem Gesamtkonzept angeboten wird. Eurochild argumentiert, dass die in Barcelona festgelegten Ziele viele beispielhafte Vorgehensweisen im Bereich frühkindliche Betreuung unberücksichtigt lassen. Der EWSA empfiehlt, dass im Hinblick auf die Barcelona-Ziele gemeinsame EU-Qualitätsstandards für die Kleinkindbetreuung festgelegt werden sollten. Dazu zählt gemäß den Erkenntnissen des „Netzwerks Kinderbetreuung“ der Europäischen Kommission die Betreuung und Erziehung von Kleinkindern. Dies sollte in die Konzipierung und Umsetzung einzelstaatlicher Maßnahmen einfließen, wobei auch Strukturfondsmittel zum Einsatz kommen könnten.

6.4   Gesundheit

6.4.1   Der EWSA empfiehlt, dass die EU-Arbeitsgruppe „Gesundheitsindikatoren“ Indikatoren für Kinder entwickelt, um die Maßnahmen der öffentlichen Gesundheitspolitik und deren Auswirkungen zu überwachen und zu bewerten.

6.4.2   Des Weiteren sollten Indikatoren für die psychische Gesundheit entwickelt werden, insbesondere für eine positive psychische Verfassung und für psychische Erkrankungen.

6.4.3   In der für 2012 erwarteten Mitteilung der Kommission zum Thema gesundheitliche Ungleichheit sollte auch die Gesundheit von Kindern angesprochen werden.

6.5   Wohnbedingungen

6.5.1   Die EU-Mitgliedstaaten sollten die auf der fünften Ministerkonferenz über Umwelt und Gesundheit im März 2010 im Rahmen des Aktionsplans für die Umwelt und die Gesundheit von Kindern in Europa eingegangenen Verpflichtungen und vereinbarten Aktionen umsetzen.

6.5.2   Die Europäische Kommission sollte mit den Mitgliedstaaten einen gemeinsamen Rahmen und gemeinsame Richtlinien für die Messung, Überwachung und Berichterstattung im Bereich Obdachlosigkeit und Ausgrenzung im Wohnungsbereich vereinbaren, wobei den Lebenslagen von Kindern besondere Aufmerksamkeit gelten muss.

6.5.3   Die Europäische Kommission sollte auch weiterhin solche Initiativen in den Mitgliedstaaten und Kandidatenländern unterstützen und finanzieren, die auf die Schließung von Kinderwohnheimen schlechter Qualität und die Bereitstellung entsprechender Alternativen abzielen.

6.6   Schutz vor Gewalt, Missbrauch und Ausbeutung

6.6.1   Die Europäische Kommission sollte mit allen relevanten Interessenträgern prüfen, inwieweit im Bereich Gewalt gegen Kinder, Missbrauch und Ausbeutung von Kindern ein Indikator eingeführt werden kann, der die Fragen der Ermittlung, des Schutzes, der Strafverfolgung und der Prävention abdeckt. Dies würde den Empfehlungen einer 2009 für die Grundrechteagentur erstellten Studie über Indikatoren entsprechen.

6.6.2   Die Mitgliedstaaten sollten eigene Strategien zur Prävention und zum Schutz von Kindern vor jeder Form der Gewalt entwickeln; dafür sollten sie sich auch klare Ziele setzen und Haushaltsmittel bereitstellen sowie auf lokaler Ebene Mechanismen vorsehen, über die Kinder oder Dritte Fälle von Gewalt melden können.

6.7   Auf das Kind ausgerichtete Maßnahmen

6.7.1   Die Kommission sollte eine stärkere Verknüpfung zum Programm des Europarates „Ein Europa für und mit Kindern schaffen“ (Building a Europe for and with Children) herstellen, in dem insbesondere auf die Beteiligung der Kinder Wert gelegt wird.

6.7.2   Die bestehenden vereinbarten Indikatoren zum Einkommen und zur materiellen Deprivation müssen um auf Kinder ausgerichtete Indikatoren erweitert werden. Die Indikatoren sollten die verschiedenen Phasen der Kindheitsentwicklung und die wichtigsten Kriterien widerspiegeln und alle Kindesaltersstufen abdecken. In der Studie von Tarki/Applica werden die Altersstufen 0-5, 6-11, 12-17 und u.a. die Kriterien Einkommen, materielle Deprivation, Bildung, Wohnverhältnisse, Gesundheit, Exposition gegenüber Gefahren und gesellschaftliche Beteiligung vorgeschlagen.

Brüssel, den 14. Juli 2010

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Mario SEPI


(1)  Gemäß EU-Definition gelten als „von Armut bedroht“ jene Menschen, die in einem Haushalt leben, dessen Gesamtäquivalenzeinkommen 60 % unter dem durchschnittlichen nationalen Äquivalenzhaushaltseinkommen liegt (als Äquivalenzskala dient die modifizierte OECD-Skala).

(2)  Schlussfolgerungen des Vorsitzes des Europäischen Rates am 23./24. März 2006 in Brüssel, 7775/1/06 rev. 1, Ziffer 72.

(3)  Siehe dazu die Website des Statistischen Amtes der Europäischen Gemeinschaften Eurostat: http://epp.eurostat.ec.europa.eu/portal/page/portal/statistics/themes.

(4)  „Von Armut bedrohte“ Kinder leben in „von Armut bedrohten“ Haushalten, d.h. in Haushalten, deren Gesamteinkommen unter 60 % des nationalen Medianeinkommens liegt.

(5)  Der „Medianwert der Armutsgefährdungslücke“ (nachstehend Armutsgefährdungslücke) misst die Differenz zwischen dem medianen Äquivalenzeinkommen von Personen unterhalb des Armutsgrenzwertes und dieser Grenze, ausgedrückt in Prozent des Armutsgrenzwertes.

(6)  Siehe dazu die Website von Eurostat: http://epp.eurostat.ec.europa.eu/portal/page/portal/statistics/themes.

(7)  Im Bericht 2007 des EU-Netzwerks unabhängiger Sachverständiger für soziale Eingliederung wird dieses Muster bestätigt und folgende Schlussfolgerung getroffen: „In einer erheblichen Zahl von Ländern stechen zwei Gruppen von Kindern hervor, die besonders stark von großer Armut und sozialer Ausgrenzung gefährdet sind, nämlich Kinder in Heimen bzw. ehemalige Heimkinder und Roma-Kinder. Es gibt aber auch eine Reihe von anderen Fällen, die sehr oft genannt werden: zu Kinderarbeit angehaltene Kinder, Kinder, die Opfer von Gewalt, sexuellem Missbrauch, Menschenhandel oder Drogensucht geworden sind, in die Kriminalität abgeglittene Kinder, Kinder mit einer Behinderung, unbegleitete Minderjährige, Kinder Obdachloser und Straßenkinder.“ (Frazer und Marlier, 2007).


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