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Document 52005AE1064

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Grünbuch über das anzuwendende Recht und die gerichtliche Zuständigkeit in Scheidungssachen (KOM(2005) 82 endg.)

ABl. C 24 vom 31.1.2006, p. 20–24 (ES, CS, DA, DE, ET, EL, EN, FR, IT, LV, LT, HU, NL, PL, PT, SK, SL, FI, SV)

31.1.2006   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 24/20


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Grünbuch über das anzuwendende Recht und die gerichtliche Zuständigkeit in Scheidungssachen“

(KOM(2005) 82 endg.)

(2006/C 24/08)

Die Europäische Kommission beschloss am 14. März 2005, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 262 des EG-Vertrags um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen: „Grünbuch über das anzuwendende Recht und die gerichtliche Zuständigkeit in Scheidungssachen“.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft nahm ihre Stellungnahme am 5. September 2005 an. Berichterstatter war Herr RETUREAU.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 420. Plenartagung am 28./29. September 2005 (Sitzung vom 28. September) mit 161 gegen 4 Stimmen bei 8 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Erläuterung des Kommissionsvorschlags (mit Anmerkungen)

1.1

Die Kommission hat ein Grünbuch vorgelegt, mit dem eine Anhörung zu Zuständigkeit, Kollisionsrecht und gegenseitiger Anerkennung bei „internationalen“ Scheidungen eingeleitet wird; der Anwendungsbereich soll indes auf die Mitgliedstaaten der Union begrenzt sein (es sei darauf hingewiesen, dass in dem Grünbuch zum Erb- und Testamentsrecht ein Ansatz vorgeschlagen wird, bei dem auch Personen und Vermögen in Drittstaaten einbezogen werden).

1.2

Die Materie wird — mittelbar oder unmittelbar — in mehreren internationalen Rechtsquellen behandelt:

Pakte der Vereinten Nationen aus dem Jahr 1966 und die europäischen Konventionen zum Schutz der Menschenrechte, die — unter Androhung der Ungültigkeit einer Ehe — das Recht auf eine freie Eheschließung und das Erfordernis eines freien und vollen Einverständnisses proklamieren;

das Haager Übereinkommen aus dem Jahr 1970 zur gerichtlichen Zuständigkeit, den Zuständigkeitskriterien und der gegenseitigen Anerkennung von Ehescheidungen und Ehetrennungen, das die folgenden Mitgliedstaaten unterzeichnet haben: Dänemark, Estland, Finnland, Lettland, Litauen, Luxemburg und Zypern;

die Verordnung „Brüssel II“ Nr. 2201(2003) über die Zuständigkeit und Anerkennung von Entscheidungen in Ehesachen und betreffend die elterliche Verantwortung in der Europäischen Union, die in Dänemark nicht anwendbar ist und die — mit Ausnahme von Dänemark — an die Stelle des vorgenannten Haager Übereinkommens tritt;

die Übereinkommen zwischen dem Vatikan und Portugal, Spanien, Malta und Italien über die Ehe nach kanonischem Recht, deren Annullierung und die Anerkennung der Entscheidungen der vatikanischen Gerichtshöfe (Zuständigkeit des Gerichts der Römischen Rota für die Annullierung einer nach kanonischem Recht geschlossenen — im Prinzip unauflöslichen — Ehe aus Gründen, die das kanonische Recht zulässt) (1);

bilaterale Abkommen — insbesondere das zwischen Finnland und Schweden geschlossene -, die in den Unterzeichnerstaaten anwendbar bleiben. Einige Mitgliedstaaten haben insbesondere im Hinblick auf die Anerkennung von Eheschließungen und -scheidungen im Ausland auch Abkommen im Bereich des Familienrechts mit Drittstaaten geschlossen;

Die „Opt-In“- und „Opt-Out“-Protokolle zu den Verträgen, nach denen Dänemark ausgenommen wird und das Vereinigte Königreich und Irland entscheiden können, ob sie an Rechtsvorschriften mit Auswirkungen auf das Zivilrecht gebunden sein wollen oder nicht.

1.3

Es wäre müßig, die Komplexität einer Frage zu leugnen, die an spezifische religiöse und kulturelle Besonderheiten anknüpft. Letztere sind im kollektiven Bewusstsein fest verankert, haben zugleich aber — wie das gesamte Familienrecht — seit mehreren Jahrzehnten tief greifende Veränderungen erfahren. Dennoch darf der europäische Gesetzgeber — im europäischen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts sowie angesichts des freien Personenverkehrs — nicht die Augen davor verschließen, dass ein wesentlicher Anteil aller Ehen durch eine Scheidung endet und eine zunehmende Zahl dieser Scheidungen internationale Züge aufweist.

1.4

Die heutige Entwicklung des nationalen Familienrechts basiert im Wesentlichen auf folgenden Begriffen: Demokratie (Gesetzgebungsbefugnis der Parlamente), Freiheit des Einzelnen sowie Gleichheit aller; diese Konzepte sind sowohl auf Gemeinschafts- wie auch auf einzelstaatlicher Ebene Teil der öffentlichen Ordnung. Somit lässt sich im Familienrecht eine Tendenz feststellen, mehr und mehr vertraglich zu regeln (Eheschließungen oder zivilrechtliche Verträge unter Gleichgeschlechtlichen, einvernehmliche Scheidungen, Erbverträge usw.).

1.5

Diese Entwicklung scheint unumkehrbar — auch wenn sie sich mit unterschiedlicher Geschwindigkeit vollzieht. Die kulturelle Prägung mehr oder weniger fest verankerter religiöser Konzeptionen scheint einen Einfluss auf die Geschwindigkeit und inhaltliche Gestaltung der Veränderungen zu haben; letztere können mit Konzeptionen und Regeln in Konflikt geraten, die Ausdruck langer Traditionen sind.

1.6

Was die Rechtsvorschriften zur Ehescheidung und Trennung ohne Auflösung des Ehebandes oder die Voraussetzungen und Folgen der Auflösung einer Ehe betrifft, weist das nationale Recht der Mitgliedstaaten ein breites Spektrum auf, ein Mitgliedstaat (Malta) erkennt eine Ehescheidung überhaupt nicht an. In dem Grünbuch wird daher empfohlen, nicht den Weg der Harmonisierung des materiellen Rechts einzuschlagen, was zu begrüßen ist.

1.7

Es wird vorgeschlagen, bei Scheidungen, die eine internationale (europäische) Komponente aufweisen, in zwei Richtungen gesetzgeberisch tätig zu werden:

bei der zuständigen Gerichtsbarkeit (Festlegung des örtlich zuständigen Gerichts und Anerkennung seiner Entscheidungen in allen Mitgliedstaaten) und

bei der Bestimmung des anwendbaren Rechts durch das zuständige Gericht.

1.8

Da die Vorschriften der Verordnung „Brüssel II“ über die Bestimmung der zuständigen nationalen Gerichtsbarkeit und die gegenseitige Anerkennung von Gerichtsentscheidungen ohne Exequatur-Verfahren in Scheidungssachen bereits anwendbar sind, stellt sich die Frage, ob sie in ihrer derzeitigen Fassung ausreichen; ferner ob ein Land der Vollstreckung eines Urteils, das ein zuständiges Gericht eines anderen Mitgliedstaats unter Anwendung eines unterschiedlichen (und nicht notwendigerweise seines eigenen innerstaatlichen Rechts) gefällt hat, ggf. einen Vorbehalt der innerstaatlichen öffentlichen Ordnung („ordre public“) entgegenhalten kann.

1.9

Ein größeres Problem stellt sich, da die innerstaatlichen Bestimmungen über die Zulässigkeit eines Scheidungsantrags, der einen internationalen Bezug aufweist, stark voneinander abweichen; in machen Fällen ist es sogar möglich, dass ein Scheidungsantrag vor gar keinem Gericht eines Mitgliedstaats zulässig ist. In einer solchen Situation wird den Parteien ihr Anspruch auf rechtliches Gehör verwehrt, was im Widerspruch zu einem Grundrecht steht und folglich nicht hinnehmbar ist.

1.10

Es wäre angezeigt, eine Vorschrift zur Zuständigkeitszuweisung vorzusehen, um den Anspruch auf rechtliches Gehör zu gewährleisten — aber wie sollte diese aussehen?

1.11

Was das anwendbare Recht betrifft, kann es das Scheidungsverfahren bisweilen vereinfachen oder in die Länge ziehen bzw. komplexer, ja sogar angesichts zulässiger Scheidungsgründe oder -voraussetzungen restriktiv gestalten. Ist ausschließlich das Recht des Gerichtsorts anwendbar, könnte dies zu einem „Wettlauf vor Gericht“ führen, wenn nämlich der erste Antragsteller das für sein Begehren günstigste Gericht und nationale Recht wählen kann — dagegen könnte sich der Antragsgegner in seinen Rechten verletzt sehen, da dieses Recht nicht notwendigerweise seinen Erwartungen entspricht, wenn es zum Beispiel keine oder nur wenige Anknüpfungspunkte zu dem Eherecht und der Staatsangehörigkeit der Ehegatten aufweist.

1.12

Sollte folglich die Verweisung an ein anderes zuständiges Gericht zugelassen werden, wenn der Antragsgegner engere oder gleichwertige Anknüpfungspunkte an ein anderes Gericht vorbringt, oder wenn das erste befasste Gericht und das materielle Recht, das dieses bei einem Scheidungsantrag anwendet, nur wenige oder gar keine objektiven Anknüpfungspunkte hat?

1.13

Die Verweisung sollte erfolgen können (es sollte jedoch ein Hin-und-Her-Verweisen von Gericht zu Gericht verhindert werden) und hierüber sollte innerhalb einer angemessen kurzen Frist entschieden werden (Eilverfahren), um Verhaltensweisen zu verhindern, die die Entscheidung in der Sache verzögern können. Die Parteien haben Anspruch auf eine Entscheidung innerhalb angemessener Frist, hierzu gehören auch die Fälle streitiger Scheidungen.

1.14

Im Hinblick auf das anzuwendende Recht wenden die innerstaatlichen Gerichte je nach Einzelfall entweder ihr innerstaatliches Zivilrecht oder das materielle Recht an, das sich nach den Regeln des internationalen Privatrechts ergibt. Die Frage (die in dem Grünbuch nicht aufgeworfen wird), ob das Recht eines Drittstaats (beispielsweise bei Ansprüchen der Ehegatten) zur Anwendung gelangt, ist dagegen dann bedeutsam, wenn mindestens einer der Ehegatten die Staatsangehörigkeit eines Drittstaats besitzt, was in Europa recht häufig vorkommt.

1.15

Der Ausschuss begrüßt die in dem Grünbuch unterbreiteten Arbeitsvorschläge und spricht — falls ein Ehegatte eine europäische Staatsangehörigkeit besitzt — die Empfehlung aus, jedwedes Verweisungsverfahren an Drittstaaten zu vermeiden; und zwar unabhängig davon, welchem Recht die Ehe unterliegt.

1.16

Über die Anerkennung einer Scheidung hinaus sollte auch die Anerkennung der Ungültigerklärung einer Ehe und die Trennung ohne Auflösung des Ehebandes erörtert werden. Was deren Voraussetzungen und Folgen betrifft, weichen die verschiedenen nationalen Rechtsordnungen voneinander ab (insbesondere im Hinblick auf das Problem der Putativehe). Außerdem sollte jeder Mitgliedstaat — selbst wenn sein nationales Recht eine Ehescheidung nicht vorsieht — in seinem Hoheitsgebiet nicht nur die Gültigkeit einer Ehescheidung, die in einem anderen Mitgliedstaat ausgesprochen wurde, sondern auch sämtliche güterrechtlichen und personenstandsrechtlichen Rechtsfolgen anerkennen.

1.17

Das Haager Übereinkommen führt — in der Reihenfolge ihrer Bedeutung — folgende Zuständigkeitskriterien auf: der gewöhnliche Aufenthalt des Antragstellers (im Common Law: domicile) oder ein gewöhnlicher Aufenthalt von mindestens einem Jahr in dem Land, in dem der Scheidungsantrag bei dem Gericht (2) gestellt wird; der letzte gemeinsame gewöhnliche Aufenthalt der Ehegatten vor dem Scheidungsantrag, die Staatsangehörigkeit beider Ehegatten oder zumindest eines der beiden.

1.18

In der Verordnung Nr. 2201(2003) ist bestimmt (achter Erwägungsgrund): „Bezüglich Entscheidungen über die Ehescheidung, die Trennung ohne Auflösung des Ehebandes oder die Ungültigerklärung einer Ehe sollte diese Verordnung nur für die Auflösung einer Ehe und nicht für Fragen wie die Scheidungsgründe, das Ehegüterrecht oder sonstige mögliche Nebenaspekte gelten.“ (Es ist jedoch einzuräumen, dass die wirtschaftlichen und sonstigen Folgen der Scheidung je nach dem örtlich zuständigen Gericht bzw. dem anwendbaren Recht voneinander abweichen können und die Ehegatten dies bei der Wahl eines Gerichts berücksichtigen können.)

1.19

Außerdem sollten die endgültigen Entscheidungen der nationalen Gerichte ohne weitere Verfahren automatisch unionsweit anerkannt werden, und zwar ohne ein Verfahren zur Gültigerklärung und ohne dass Einwände gegen die Vollstreckbarkeit erhoben werden können (3). Gegen eine Vollstreckbarkeitserklärung sollte demnach kein Rechtsbehelf statthaft sein.

1.20

Die allgemeine Zuständigkeit richtet sich nach dem Hoheitsgebiet (Mitgliedstaat oder im Fall des Vereinigten Königreichs, in dem für England, Wales, Schottland, Nordirland und Gibraltar unterschiedliche Rechtsvorschriften gelten, die rechtliche Untereinheit des Mitgliedstaats). Die Verordnung führt die Haager Kriterien praktisch in derselben Reihenfolge auf und ergänzt sie — sofern ein gemeinsamer Antrag gestellt wird — durch den gewöhnlichen Aufenthalt eines der Ehegatten. Wird der Antrag in einem Herkunftsland gestellt, müssen beide Ehegatten dieselbe Staatsangehörigkeit besitzen; dies gilt unabhängig von dem gewöhnlichen Aufenthalt bzw. dem „domicile“ jedes der beiden Ehegatten. Die Frist beträgt lediglich sechs Monate, wenn der Antragsteller Staatsangehöriger des Landes ist, in dem er seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat.

1.21

Artikel 7 Absatz 2 über die Restzuständigkeit ermöglicht einem Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats, seinen Scheidungsantrag in dem Land, in dem er seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat und nach den dort geltenden Zuständigkeitsregeln zu stellen, sofern der Ehegatte Staatsangehöriger eines Drittstaats ist oder seinen gewöhnlichen Aufenthalt („domicile“ im Sinne des „common law“) nicht in einem Mitgliedstaat hat. Es könnte sich jedoch ein positiver Zuständigkeitskonflikt ergeben, wenn der andere Ehegatte bereits ein Gericht in einem Drittstaat angerufen hat. Es lässt sich fragen, ob darüber hinaus nicht — bei folgender Konstellation im Hinblick auf einen Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats — eine Überprüfung von Brüssel II angezeigt wäre: Falls nicht ein Gericht eines Mitgliedstaats — sondern ein Gericht eines Drittstaats — zuständig ist, und mindestens einer der beiden Ehegatten Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats ist oder seinen gewöhnlichen Aufenthalt dort unlängst begründet hat und begehrt, dass ein ausländisches Urteil von allen Mitgliedstaaten oder zumindest von dem jeweiligen Land, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt oder in dem er seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, anerkannt wird, würden die Ehegatten in diesen letztgenannten Ländern dem Recht, das auf ausländische Urteile Anwendung findet bzw. den Bestimmungen über eine gegenseitige Anerkennung gegebenenfalls geschlossener internationaler Übereinkommen unterliegen.

1.22

Im Vergleich zu den Bestimmungen des Haager Übereinkommens wird in der Verordnung eine größere Zahl Zuständigkeitskriterien aufgeführt, die konkreter formuliert sind. Die gemeinschaftlichen Bestimmungen sollten einer spezifischen Verordnung über Ehescheidungen als Grundlage dienen (beispielsweise Verweise auf diese Bestimmungen sowie auf die Rechtsvorschriften über die gegenseitige Anerkennung der Entscheidungen).

1.23

Jedoch enthalten weder das Haager Übereinkommen noch die oben erwähnte „Brüssel-II“-Verordnung dahin gehende Bestimmungen, welchem Recht die Scheidung unterliegt. Zudem ist der Anwendungsbereich der Verordnung auf Ehescheidungen, auf die Trennung ohne Auflösung des Ehebandes und die Ungültigerklärung einer Ehe im engeren Sinne begrenzt; er erstreckt sich nicht auf die Gründe und Folgen der Eheauflösung; dies bleibt dem jeweils anwendbaren nationalen Recht überlassen.

1.24

In Deutschland weisen beispielsweise ungefähr 15 % der Anträge auf Scheidung, Trennung ohne Auflösung des Ehebandes oder Ungültigerklärung einer Ehe eine internationale Komponente auf. Die Anzahl der Scheidungen in den einzelnen Mitgliedstaaten, die unter anderem eine europäische Komponente besitzen, ist nicht bekannt.

2.   Ergänzende Elemente und Empfehlungen des Ausschusses

2.1

Die Kollisionsnormen bestimmen sich derzeit nach den nationalen Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats, in dem sich das angerufene Gericht befindet; je nachdem, in welchem Land der Antrag gestellt wurde, können sich angesichts des auf denselben Sachverhalt anzuwendenden Rechts stark voneinander abweichende Lösungen ergeben.

2.2

In dem Grünbuch werden hierzu eine Reihe gut ausgewählter Beispiele aufgeführt: sowohl zur Zuständigkeit — die einen negativen Zuständigkeitsstreit hervorrufen und zu einer Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör führen kann -, als auch zu den verschiedenen Lösungsmöglichkeiten. Es kann vorkommen, dass eine Lösung nicht den Erwartungen zumindest eines der Ehegatten entspricht. In jedem Fall kann dies bisweilen zu fehlender Rechtssicherheit und mangelnder Vorhersehbarkeit sowie angesichts der Rechtshängigkeitsvorschrift („litis pendans“) der Verordnung „Brüssel II“ (das erste befasste Gericht ist zuständig, sofern ein Anknüpfungspunkt gegeben ist) zu einem „forum shopping“ bzw. zu einem „Wettlauf vor Gericht“ führen.

2.3

Das Problem stellt sich insbesondere, wenn die Ehegatten weder dieselbe Staatsangehörigkeit noch einen gemeinsamen gewöhnlichen Aufenthaltsort haben; oder aber, wenn sie zwar dieselbe Staatsangehörigkeit besitzen, sich aber in anderen Ländern als dem ihrer Staatsangehörigkeit aufhalten.

2.4

Der Ausschuss teilt die Auffassung, den Parteien bei derartigen Sachverhalten eine gewisse Freiheit zur Wahl des anwendbaren Rechts zu lassen bzw. dem Antragsgegner zuzugestehen, seine diesbezüglichen Erwartungen entgegenzuhalten oder aber die Verweisung an ein anderes Gericht zu verlangen, zu dem die Ehe die meisten objektiven Anknüpfungspunkte aufweist. In Fällen, in denen sich der Antragsteller auf eine Gerichtsbarkeit und das einschlägige nationale Recht beruft, der Antragsgegner jedoch die Zuständigkeit einer anderen Gerichtsbarkeit oder ein anderes anwendbares Recht geltend macht, sollte die Vorabentscheidung über die Zuständigkeit des Gerichts oder das anwendbare Recht der Überprüfung durch das Gericht erster Instanz unterliegen, das — im Wege eines Eilverfahrens — in erster Linie durch den Antragsteller anzurufen ist.

2.5

Ist die Staatsangehörigkeit einer der Parteien alleiniger Anknüpfungspunkt, ist nach der Verordnung das Gericht am Ort des gewöhnlichen Aufenthalts anzurufen, wo das anwendbare Recht möglicherweise nicht den gemeinsamen Erwartungen der Parteien entspricht (zum Beispiel: der Wunsch, das Recht des Landes anzuwenden, an das die Ehe engere Anknüpfungspunkte hat).

2.6

Eher sollte folglich die Parteiautonomie eine Rolle spielen können, als sich damit zufrieden zu geben, schematisch die Anknüpfungspunkte heranzuziehen. Beispielsweise könnte eine Wahl zwischen dem eigenen nationalen Recht und dem Recht des Gerichtsorts zugelassen, die Verweisung jedoch ausgeschlossen werden.

2.7

Bei der Aufhebung einer Ehe nach kanonischem Recht durch ein Kirchengericht haben einige Mitgliedstaaten erklärt, derartige Entscheidungen — entsprechend eines mit dem Heiligen Stuhl geschlossenen Konkordats oder Abkommens (Italien, Portugal, Spanien, Malta (4)) — ihren Zivilgerichten zur Anerkennung vorzulegen. Die Aufhebung einer Ehe nach kanonischem Recht könnte in Bezug auf das nationale Recht anderer Mitgliedstaaten Konfliktstoff bergen, weil diese den jeweiligen Scheidungsgrund nach kanonischem Recht oder auch aus verfahrensrechtlichen Gründen nicht anerkennen (5).

2.8

Im Fall einer materiell- oder verfahrensrechtlichen Kollision mit seiner internen öffentlichen Ordnung oder mit der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten müsste sich der betreffende Staat weigern, das Exequatur zu erteilen oder die Entscheidung des Kirchengerichts anzuerkennen. Ein gewöhnliches Verfahren vor dem Zivilgericht zur Ungültigerklärung, Trennung oder Scheidung einer Ehe sollte daher durch den Antragsteller eingeleitet werden können. Im anderen Fall bliebe den Antragstellern nur noch die Lösung, den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg anzurufen, was die Verfahrensdauer ungerechtfertigt in die Länge ziehen könnte.

2.9

Selbst wenn sich vergleichsweise selten negative Kompetenzkonflikte ergeben sollten, ist der Ausschuss der Auffassung, dass eine Initiative der Gemeinschaft insofern gerechtfertigt ist, als eine solche Situation in eine Grundrechtsverletzung mündet, nämlich des Rechts auf den gesetzlichen Richter, der das Urteil verkündet und der die Folgesachen einer Scheidung, einer Trennung ohne Auflösung des Ehebandes oder der Ungültigerklärung einer Ehe regelt.

2.10

Dies sollte folglich dazu führen, dass eine Harmonisierung der Kollisions- und der Zuständigkeitsbestimmungen zugelassen wird, um derart den Anspruch auf rechtliches Gehör sicherzustellen.

2.11

Diese harmonisierten Bestimmungen sollten jedoch einen Vorbehalt der innerstaatlichen öffentlichen Ordnung („ordre public“) enthalten, wo es um die Anerkennung oder Vollstreckbarkeit einer Entscheidung geht, die einen europäischen Aspekt enthält und in einem Drittstaat gefällt wurde, wenn dadurch eine Partei in einem in Europa anerkannten Grundrecht beeinträchtigt oder andere zwingende Bestimmungen der öffentlichen Ordnung unterlaufen würden, die ein Richter von Amts wegen anwenden muss.

2.12

Das Gemeinschaftsrecht sollte darüber hinaus — ohne vorheriges Exequaturverfahren — keinerlei zwingende Anerkennung durch alle Mitgliedstaaten von Scheidungsurteilen, Entscheidungen über die Ungültigerklärung einer Ehe oder Urteilen über die Trennung ohne Auflösung des Ehebandes zulassen, die in einem Drittstaat gefällt wurden und Ehegatten betreffen, die sich zwar in der Union aufhalten, nicht aber die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats haben, wenn ein anderer Mitgliedstaat ein solches Urteil — entsprechend einem mit dem betreffenden Drittstaat geschlossenen bilateralen Übereinkommen — zuvor anerkannt hat (6).

2.13

Der Ausschuss ist der Auffassung, dass bei gemeinsamen Scheidungsanträgen eine Gerichtsstandsvereinbarung zugelassen werden sollte, sofern ein Anknüpfungspunkt an das gewählte Gericht gegeben ist. Für diesen gemeinsamen Antrag auf eine Gerichtsstandsvereinbarung könnte das Formerfordernis einer öffentlichen (z. B. notariellen) Urkunde verlangt werden.

2.14.

Der Ausschuss ist der Auffassung, dass die tatsächlichen Auswirkungen einer Scheidung im Hinblick auf das Eltern- und Sorgerecht für minderjährige Kinder sowie auf das eheliche Güterrecht Gegenstand einer Länder vergleichenden Studie sein sollten; angesichts eines möglichen „Wettlaufs vor Gericht“ dürfen diese Aspekte nicht vernachlässigt werden. In jedem Fall können Probleme entstehen, wenn — wie es in dem Grünbuch der Fall ist — die Frage der Scheidung von den familien- und güterrechtlichen Auswirkungen vollkommen losgelöst behandelt wird; denn diese Folgen differieren bisweilen je nach anwendbarem Recht oder der jeweils aktuellen nationalen Rechtsprechung (zum Beispiel im Hinblick auf das elterliche Sorgerecht).

2.15

Die Mitgliedstaaten sollten dazu angehalten werden, all ihre Möglichkeiten für die Einführung alternativer Verfahren zur Streitbeilegung, wie z.B. die Mediation (7) bei Scheidung, Trennung ohne Auflösung des Ehebandes oder Ungültigerklärung einer Ehe mit europäischer Komponente zu prüfen, sofern sie dies noch nicht getan haben. Dies würde den Zugang zu Gerichten erleichtern und die Dauer der Verfahren für die Rechtsuchenden verkürzen.

2.16

Der Ausschuss zeigt sich in einer für die Bürgerinnen und Bürger und deren Mobilität wichtigen Frage aufgeschlossen und wird die Ergebnisse der von der Kommission eingeleiteten Konsultationen sowie die konkreteren Legislativvorschläge, die daraufhin möglicherweise unterbreitet werden, aufmerksam verfolgen. Eine Änderung der neuen Verordnung Brüssel II oder einer spezifischen Verordnung über Ehescheidungen könnte in Betracht gezogen werden. Der Ausschuss möchte darüber hinaus in Erfahrung bringen, wie viele Ehescheidungsbegehren in den einzelnen Mitgliedstaaten eine gemeinschaftliche Komponente besitzen und in wie vielen Fällen es zu negativen Zuständigkeitsstreits kommt, weitere sachdienliche Angaben sind erwünscht. Auf diese Weise könnte er die Probleme, die sich bei einem möglichen künftigen Legislativvorschlag mit Auswirkungen auf die Zuständigkeit und das anwendbare Recht ergeben können, konkreter prüfen.

Brüssel, den 28. September 2005

Die Präsidentin

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Anne-Marie SIGMUND


(1)  Anm. d. Übers.: Der Begriff „séparation de corps“ wird in den deutschen Fassungen dieser Rechtsquellen (Haager Übereinkommen, Verordnung „Brüssel II“ und Grünbuch) unterschiedlich übersetzt; hier wird die Bezeichnung der Verordnung („Trennung ohne Auflösung des Ehebandes“) verwendet, ausgenommen sind wörtliche Zitate. Das spanische Parlament war im Dezember 2004 mit einem Gesetzesentwurf befasst, mit dem das nationale Ehe- und Scheidungsrecht geändert wurde. Trotz heftiger Proteste der Kirche wurde in Spanien unlängst auch die Eheschließung unter Gleichgeschlechtlichen ermöglicht (die in mehreren Mitgliedstaaten der Europäischen Union bereits möglich ist). In Frankreich können zwei Personen, die aus rechtlichen Gründen nicht heiraten dürfen, einen zivilen Solidaritätspakt (PACS) schließen. Dieser wird von einem Richter eingetragen und stellt eine Art Ersatz für die Ehe dar. Unabhängig davon, ob man diesen als Rechtsinstitut und/oder Vertrag ansehen will, bleiben Eheschließung und Quasi-Eheschließung zwei Personen vorbehalten, die das gesetzlich vorgesehene Mindestalter erreicht haben, und das Inzestverbot besteht fort; es stellt sich die Frage, ob die Aufhebung eines zivilen Vertrags - wie des französischen PACS - in den Legislativvorschlag zum Scheidungsrecht aufgenommen werden sollte, der in dem Grünbuch vorschlagen wird, oder ob diese Aufhebung schlicht dem Recht der vertraglichen Schuldverhältnisse unterfallen sollte?

(2)  In einigen Mitgliedstaaten ist eine Aufenthaltsdauer von sechs Monaten ausreichend.

(3)  Ausgenommen die Berufung auf einen möglichen Vorbehalt der öffentlichen Ordnung, die restriktiv angewendet werden sollte.

(4)  Polen hat sich nicht auf sein Konkordat mit dem Vatikan berufen.

(5)  Siehe Rechtssache Nr. 30882/96 „Pellegrini v. Italien“ (Urteil vom 20.7.2001) des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte: Aufhebung des Urteils eines italienischen Gerichts, in dem die durch das Gericht der Römischen Rota erklärte Nichtigkeit einer Ehe anerkannt wurde, da letzteres das Recht auf Verteidigung verletzt hat.

(6)  Auch wenn dies ohne ausdrückliche Regelung funktioniert - zumal es sich um eine Verordnung handelt, die für sämtliche Gerichtsentscheidungen aller Mitgliedstaaten gilt - kann eine Präzisierung nur von Vorteil sein, um möglichen Auslegungsschwierigkeiten aller Art vorzubeugen.

(7)  Grünbuch über alternative Verfahren zur Streitbeilegung im Zivil- und Handelsrecht (KOM(2002) 196 endg.).


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