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Document 52016AE6737

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum „Vorschlag für eine Verordnung des Rates zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 904/2010 über die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden und die Betrugsbekämpfung auf dem Gebiet der Mehrwertsteuer“ (COM(2016) 755 final — 2016/0371 (CNS)), zum „Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Änderung der Richtlinie 2006/112/EG und der Richtlinie 2009/132/EG in Bezug auf bestimmte mehrwertsteuerliche Pflichten für die Erbringung von Dienstleistungen und für Fernverkäufe von Gegenständen“ (COM(2016) 757 final — 2016/0370 (CNS)) und zum „Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Änderung der Richtlinie 2006/112/EG des Rates in Bezug auf die MwSt.-Sätze für Bücher, Zeitungen und Zeitschriften“ (COM(2016) 758 final — 2016/0374 (CNS))

ABl. C 345 vom 13.10.2017, p. 79–84 (BG, ES, CS, DA, DE, ET, EL, EN, FR, HR, IT, LV, LT, HU, MT, NL, PL, PT, RO, SK, SL, FI, SV)

13.10.2017   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 345/79


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum „Vorschlag für eine Verordnung des Rates zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 904/2010 über die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden und die Betrugsbekämpfung auf dem Gebiet der Mehrwertsteuer“

(COM(2016) 755 final — 2016/0371 (CNS)),

zum „Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Änderung der Richtlinie 2006/112/EG und der Richtlinie 2009/132/EG in Bezug auf bestimmte mehrwertsteuerliche Pflichten für die Erbringung von Dienstleistungen und für Fernverkäufe von Gegenständen“

(COM(2016) 757 final — 2016/0370 (CNS))

und zum „Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Änderung der Richtlinie 2006/112/EG des Rates in Bezug auf die MwSt.-Sätze für Bücher, Zeitungen und Zeitschriften“

(COM(2016) 758 final — 2016/0374 (CNS))

(2017/C 345/13)

Berichterstatter:

Amarjite SINGH

Befassung

Rat der Europäischen Union, 20.12.2016 und 21.12.2016

Rechtsgrundlage

Artikel 113 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachgruppe

Wirtschafts- und Währungsunion, wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt

Annahme in der Fachgruppe

5.5.2017

Verabschiedung auf der Plenartagung

5.7.2017

Plenartagung Nr.

527

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

123/1/2

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der EWSA begrüßt das Modernisierungspaket für die Mehrwertsteuer im grenzübergreifenden elektronischen Geschäftsverkehr und unterstützt sowohl die Zielsetzungen als auch den Fokus auf die Bedürfnisse der KMU. Die vorgeschlagenen Vorschriften werden deutlich spürbare Auswirkungen auf Unternehmen haben, die Gegenstände und Dienstleistungen über das Internet anbieten. Die Vorteile für die Unternehmen ergeben sich nicht nur aus den gerechteren Regelungen und niedrigeren Befolgungskosten, sondern auch daraus, dass gleiche Wettbewerbsbedingungen mit Nicht-EU-Unternehmen geschaffen werden. Auf lange Sicht werden die Vorschläge auch dazu beitragen, das EU-Mehrwertsteuersystem zukunftsfähig zu machen.

1.2.

Durch die Umsetzung der kleinen einzigen Anlaufstelle (KEA) für die Mehrwertsteuer wurden die Befolgungskosten erheblich reduziert. Allerdings konnten nicht alle Unternehmensgrößen gleichermaßen hohe Einsparungen verzeichnen. Insbesondere KMU hatten Schwierigkeiten bei der Einhaltung einiger Vorgaben der KEA und haben erhebliche Bedenken geäußert. Der EWSA begrüßt daher, dass die vorgeschlagenen Änderungen bezüglich der KEA diesen Bedenken Rechnung tragen.

1.3.

Da sich die KEA für die Mehrwertsteuer bisher sehr positiv auf die Reduzierung von Befolgungskosten für Unternehmen im grenzübergreifenden Handel ausgewirkt hat, ist nur folgerichtig, dass sie auch auf andere als die derzeit inbegriffenen Dienstleistungen sowie den Erwerb und die Einfuhr von Gegenständen innerhalb der EU erweitert wird. Abgesehen von der möglichen Reduzierung der Befolgungskosten schafft dies auch gleiche Wettbewerbsbedingungen im elektronischen Geschäftsverkehr, was sich insbesondere auf KMU positiv auswirken könnte. Mit der Erweiterung der KEA auf Gegenstände werden die Voraussetzungen für die mögliche Aufhebung der Regelung für die Mehrwertsteuerbefreiung für geringfügige Lieferungen (Low Value Consignment Relief — LVCR) geschaffen, eine Regelung, die Wettbewerbsverzerrungen zur Folge hatte, sodass Unternehmen mit Sitz außerhalb der EU gegenüber den in der EU ansässigen einen Wettbewerbsvorteil haben. Daher begrüßt der EWSA die vorgeschlagene Erweiterung der KEA.

1.4.

Durch die Änderungen der Vorschriften für MwSt.-Sätze auf elektronische Veröffentlichungen würde nicht länger zwischen Veröffentlichungen auf physischen und nicht-physischen Trägern unterschieden und so Neutralität auf diesem Markt sichergestellt werden. Der EWSA begrüßt zwar, dass diese Wettbewerbsverzerrung beseitigt werden soll, aber ihm ist auch das entsprechende Risiko für die MwSt.-Bemessungsgrundlage bewusst. Der EWSA nimmt zudem zur Kenntnis, dass die vorgeschlagenen Maßnahmen von der Europäischen Kommission als Auftakt zu einer umfassenden Reform der Struktur der MwSt.-Sätze in der EU angesehen werden. Er ist besorgt über die Auswirkungen, die eine solche Entharmonisierung auf den grenzübergreifenden Handel, insbesondere der KMU, haben würde.

2.   Hintergrund

2.1.

Als Teil des Modernisierungspakets für die Mehrwertsteuer im grenzübergreifenden elektronischen B2C-Handel (Business-to-Consumers) hat die Kommission praktische neue Maßnahmen vorgeschlagen. Mit diesen soll der grenzübergreifende elektronische Geschäftsverkehr bei der Einhaltung der Mehrwertsteuervorschriften unterstützt werden, indem die Mehrwertsteuerbarrieren für Online-Unternehmen, insbesondere Start-ups und KMU, beseitigt werden und die Mehrwertsteuerhinterziehung über das Internet, wie sie von Nicht-EU-Unternehmen praktiziert wird, bekämpft wird.

2.2.

Diese Maßnahmen umfassen insbesondere:

2.2.1.

Änderungen der derzeitigen KEA („kleine einzige Anlaufstelle“), die bestimmten Unternehmen die Möglichkeit bietet, ihre mehrwertsteuerlichen Pflichten im jeweiligen Mitgliedstaat über ein digitales Online-Portal zu erfüllen, das von der eigenen Steuerverwaltung und in ihrer eigenen Sprache zur Verfügung gestellt wird. Die Änderungen umfassen die Einführung eines Schwellenwerts für den grenzüberschreitenden Handel innerhalb der EU und neue vereinfachte Compliance-Anforderungen;

2.2.2.

Erweiterung der derzeitigen KEA auf Dienstleistungen innerhalb der EU, abgesehen von denen, für die sie bereits gilt, und auf Fernverkäufe von Gegenständen sowohl innerhalb der EU als auch aus Drittländern;

2.2.3.

Abschaffung der für Fernverkäufe innerhalb der EU geltenden Schwellenwerte und der Mehrwertsteuerbefreiung bei der Einfuhr von Kleinsendungen aus Drittländern;

2.2.4.

Änderungen der geltenden Vorschriften, damit Mitgliedstaaten auf elektronische Veröffentlichungen, wie elektronische Bücher und Online-Zeitungen, einen ermäßigten Mehrwertsteuersatz anwenden können, wie dies bei gedruckten Medien bereits der Fall ist.

Änderungen der KEA für die Mehrwertsteuer

2.3.

Das KEA-System ist seit dem 1. Januar 2015 voll funktionsfähig und wurde mit dem Ziel eingerichtet, die Einhaltung der mehrwertsteuerlichen Pflichten für Unternehmen im grenzübergreifenden Geschäftsverkehr in der EU zu vereinfachen. Statt dass diese sich in jedem Mitgliedstaat, in dem sie ihre Gegenstände oder Dienstleistungen verkaufen, registrieren sowie Mehrwertsteuer anmelden und entrichten müssen, ermöglicht es die KEA den Unternehmen, die vierteljährlichen Mehrwertsteuererklärungen einfach online bei der entsprechenden nationalen Behörde einzureichen.

2.4.

Den Änderungsvorschlägen ging eine intensive Konsultation durch die Kommission von Februar bis September 2015 voraus. Im Mittelpunkt des Verfahrens, bestehend aus Evaluierung, Konsultation, Seminaren und Folgenabschätzungen, stand die Frage, wie sich die derzeitigen Regelungen der KEA für die Mehrwertsteuer auf KMU auswirken. Dabei kristallisierten sich spezifische Fragestellungen heraus, wie z. B.: die Notwendigkeit eines Schwellenwerts, die Anwendung der Herkunftslandvorschriften auf bestimmte mehrwertsteuerliche Pflichten wie Rechnungsstellung und Buchführung, sowie die Prüfungskoordinierung. Diese Hauptanliegen der KMU werden in den Änderungsvorschlägen berücksichtigt.

2.5.

Gemäß der vorgeschlagenen Regelung soll innerhalb der EU ein neuer grenzüberschreitender Mehrwertsteuer-Schwellenwert von 10 000 EUR eingeführt werden. Bei Online-Unternehmen, deren grenzüberschreitende Umsätze unterhalb des Schwellenwerts liegen, werden diese Verkäufe als Inlandsverkäufe betrachtet, sodass die Mehrwertsteuer an die Steuerverwaltung ihres Landes zu entrichten ist. Was die Einhaltung betrifft, wurde die verpflichtende Vorlage von zwei Beweismitteln für Anbieter elektronischer Dienstleistungen mit einem Umsatz von weniger als 100 000 EUR gelockert. Darüber hinaus sollen Online-Anbieter die Möglichkeit haben, diejenigen Vorschriften in Bereichen wie Rechnungsstellung und Führung von Aufzeichnungen anzuwenden, die in ihrem Land gelten, wodurch die Einhaltung der Mehrwertsteuervorschriften erleichtert wird. Außerdem sollen neue koordinierte Prüfungen eingeführt werden, damit diese Anbieter nicht auf separate Prüfungsanfragen einzelner Staaten eingehen müssen.

Erweiterung der KEA für die Mehrwertsteuer

2.6.

Derzeit gilt die KEA ausschließlich für Telekommunikations- und Rundfunkdienstleistungen sowie für elektronisch erbrachte Dienstleistungen. Gemäß den vorgeschlagenen Änderungen soll der Anwendungsbereich der KEA auch auf andere innerhalb der EU erbrachte Dienstleistungen sowie auf Fernverkäufe von Gegenständen, sowohl innerhalb der EU als auch aus Drittstaaten, erweitert werden. Nach der vorgeschlagenen Regelung würde diese Erweiterung stufenweise in Kraft treten, nachdem die Änderungen der bestehenden KEA-Regelung in Kraft getreten sind, was für den 1. Januar 2021 vorgesehen ist.

2.7.

Die vorgeschlagene Erweiterung der KEA auf die Einfuhr von über das Internet bestellten Gegenständen wird die Erhebung der Mehrwertsteuer deutlich vereinfachen. Daher ist die Kommission der Auffassung, dass durch diese Erweiterung die Voraussetzungen dafür geschaffen werden, die Regelung für die Mehrwertsteuerbefreiung für geringfügige Lieferungen, auch bekannt als LVCR, abzuschaffen. Gemäß diesem Modell muss nämlich für die Einfuhr von Gegenständen von geringem Wert (also mit einem Gesamtwert von bis zu 22 EUR) keine Mehrwertsteuer entrichtet werden. Der Vorschlag sieht daher die Aufhebung dieser Ausnahmeregelung ab dem 1. Januar 2021 vor.

Änderungen der MwSt.-Sätze auf elektronische Veröffentlichungen

2.8.

Nach den geltenden Vorschriften haben die Mitgliedstaaten die Möglichkeit, Veröffentlichungen auf jedem physischen Träger mit einem ermäßigten Mehrwertsteuersatz zu besteuern. Die MwSt.-Richtlinie hindert die Mitgliedstaaten jedoch daran, auf elektronische Veröffentlichungen dieselben MwSt.-Sätze anzuwenden wie auf Veröffentlichungen auf physischen Trägern. Dies hat der Gerichtshof jüngst in einer Reihe von Urteilen im Zusammenhang mit der Anwendung ermäßigter Steuersätze auf elektronische Veröffentlichungen durch mehrere Mitgliedstaaten bestätigt (1).

2.9.

Gemäß den vorgeschlagenen Vorschriften könnten Mitgliedstaaten die MwSt.-Sätze für elektronische Veröffentlichungen an die derzeitigen MwSt.-Sätze für Druckveröffentlichungen anpassen, unabhängig davon, welchen Mehrwertsteuersatz sie anwenden. Dieser Vorschlag entstand unter Berücksichtigung der verschiedenen Optionen, um die MwSt.-Sätze für elektronische Veröffentlichungen an die MwSt.-Sätze für Veröffentlichungen auf physischen Trägern anzugleichen, und würde es den Mitgliedstaaten ermöglichen, ermäßigte MwSt.-Sätze unterhalb des Mindeststeuersatzes von 5 % anzuwenden, wenn sie diese auch für Veröffentlichungen auf physischen Trägern anwenden.

2.10.

Die vorgenannten Vorschläge enthalten Änderungen für die folgenden drei Rechtsinstrumente:

Richtlinie 2006/112/EG vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (MwSt.-Richtlinie) (2);

Verordnung (EU) Nr. 904/2010 vom 7. Oktober 2010 über die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden und die Betrugsbekämpfung auf dem Gebiet der Mehrwertsteuer (3);

Richtlinie 2009/132/EG vom 19. Oktober 2009 zur Festlegung des Geltungsbereichs von Artikel 143 Buchstaben b und c der Richtlinie 2006/112/EG hinsichtlich der Mehrwertsteuerbefreiung bestimmter endgültiger Einfuhren von Gegenständen (4).

2.11.

Das Gesamtpaket dürfte zu einem Anstieg der Mehrwertsteuereinnahmen der Mitgliedstaaten bis 2021 um jährlich 7 Mrd. EUR führen und die Verwaltungslasten für Unternehmen um jährlich 2,3 Mrd. EUR reduzieren.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1.

Die Mehrwertsteuer ist mit derzeit über 20 % eine der Haupteinnahmequellen der EU-Mitgliedstaaten. Seit 1995 ist hier ein Anstieg von über 10 % zu verzeichnen (5). Die Bedeutung von Steuereinnahmen für die Gesamteinnahmen der Mitgliedstaaten hat im Zuge der Wirtschafts- und Finanzkrise verhältnismäßig zugenommen, da die Mitgliedstaaten dazu übergegangen sind, haushaltspolitische Probleme über die Mehrwertsteuer zu lösen. Zwischen 2008 und 2014 erhöhten 23 Mitgliedstaaten die MwSt.-Sätze und/oder erweiterten die MwSt.-Bemessungsgrundlage (6). Für die Nachhaltigkeit der öffentlichen Finanzen der Mitgliedstaaten und den Erhalt der Sozialausgaben spielt die Mehrwertsteuer eine (zunehmend) bedeutende Rolle.

3.2.

Die MwSt.-Bemessungsgrundlage muss unbedingt sowohl vor potenziellen Betrugsfällen als auch vor ihrer Aushöhlung durch die weitreichende Anwendung ermäßigter Steuersätze geschützt werden. 2014 wurde die MwSt.-Lücke in der EU-27 auf 159,5 Mrd. EUR geschätzt, also auf 14 % der gesamten Mehrwertsteuereinnahmen (7). Diese Lücke schließt MwSt.-Verluste aufgrund von beispielsweise Fehlern, Insolvenzen und Steuerumgehung mit ein, wird jedoch in erster Linie durch Steuerhinterziehung verursacht. Die Aushöhlung der MwSt.-Bemessungsgrundlage in der EU-27 ist ebenfalls hoch, da fast 50 % des gesamten Verbrauchs mit keinem oder einem ermäßigten Mehrwertsteuersatz besteuert werden.

3.3.

Der EWSA begrüßt deshalb das Modernisierungspaket für die Mehrwertsteuer im grenzübergreifenden elektronischen Geschäftsverkehr und unterstützt sowohl die Zielsetzungen als auch den Fokus auf die Bedürfnisse der KMU. Diese vorgeschlagenen Vorschriften werden deutlich spürbare Auswirkungen auf Unternehmen haben, die Gegenstände und Dienstleistungen über das Internet anbieten. Die Vorteile für die Unternehmen ergeben sich nicht nur aus den gerechteren Regelungen und niedrigeren Befolgungskosten, sondern auch daraus, dass gleiche Wettbewerbsbedingungen mit Nicht-EU-Unternehmen geschaffen werden. Auf lange Sicht werden die Vorschläge auch dazu beitragen, das EU-Mehrwertsteuersystem zukunftsfähig zu machen.

Änderungen der KEA für die Mehrwertsteuer

3.4.

Die schrittweise Umsetzung der KEA für die Mehrwertsteuer, deren letzte Etappe am 1. Januar 2015 in Kraft trat, war eine der bedeutendsten Änderungen des Mehrwertsteuersystems der EU seit der Abschaffung der Steuergrenzen 1993. Das System ermöglicht es Unternehmen, die in verschiedenen Mitgliedstaaten tätig sind, einen einzigen Mitgliedstaat als Heimatstaat und somit als einzige Anlaufstelle für die MwSt.-Registrierung zu wählen, um dort die Mehrwertsteuererklärung einzureichen und die Mehrwertsteuer zu entrichten, die in den verschiedenen Mitgliedstaaten anfällt.

3.5.

Eine von der Europäischen Kommission durchgeführte Bewertung der Umsetzung der KEA für die Mehrwertsteuer ergab, dass die Maßnahme sich erheblich auf die Reduzierung der Befolgungskosten ausgewirkt hat. Im Vergleich zu einem direkten Registrierungs- und Zahlungsverfahren bescherte die KEA den Unternehmen Einsparungen von 500 Mio. EUR — durchschnittlich 41 000 EUR pro Unternehmen —, was einer Verringerung der Kosten um 95 % entspricht.

3.6.

Allerdings konnten nicht alle Unternehmensgrößen gleichermaßen hohe Einsparungen verzeichnen. Die von der Kommission durchgeführten Konsultationen ergaben, dass KMU zwar theoretisch von den geringeren Registrierungsanforderungen profitieren würden, sich die Einhaltung einiger Vorgaben der KEA für sie in der Praxis jedoch schwierig gestaltete. Davon waren besonders KMU mit Sitz in denjenigen Mitgliedstaaten betroffen, in denen der Schwellenwert für die MwSt.-Registrierung am höchsten ist, wie z. B. im Vereinigten Königreich.

3.7.

Der EWSA begrüßt, dass die vorgeschlagenen Änderungen der KEA diesen Bedenken Rechnung tragen.

Erweiterung der KEA für die Mehrwertsteuer

3.8.

Die Erweiterung der KEA hat bei der Europäischen Kommission seit 2011 hohe Priorität (8). Da sich die KEA für die Mehrwertsteuer bisher sehr positiv auf die Reduzierung von Befolgungskosten für Unternehmen im grenzübergreifenden Handel ausgewirkt hat, ist nur folgerichtig, dass sie auch auf andere als die derzeit inbegriffenen Dienstleistungen sowie den Erwerb und die Einfuhr von Gegenständen innerhalb der EU erweitert wird.

3.9.

Abgesehen von der möglichen Reduzierung der Befolgungskosten schafft dies auch gleiche Wettbewerbsbedingungen im elektronischen Geschäftsverkehr, was sich insbesondere auf KMU positiv auswirken könnte. Außerdem wird die Diskrepanz zwischen den Unternehmen im elektronischen Handel, die die KEA nach den geltenden Vorschriften in Anspruch nehmen können, und denjenigen, die ebenfalls im grenzüberschreitenden elektronischen Handel tätig sind, aber aufgrund der Art der Dienstleistungen oder Gegenstände, die sie erbringen bzw. liefern, bislang nicht die gleichen Vorteile des Systems nutzen konnten, abgeschafft. Von der Erweiterung profitieren auch Unternehmen im grenzüberschreitenden elektronischen Handel, die bislang mit Verpflichtungen sowohl im Rahmen der KEA als auch im Rahmen des normalen Systems konfrontiert waren, und für die nun nur noch die Regelungen der KEA gelten werden.

3.10.

Mit der Erweiterung der KEA auf Gegenstände werden die Voraussetzungen für die mögliche Aufhebung der LVCR-Regelung geschaffen. Diese Regelung stellte in der Vergangenheit zwar eine willkommene Vereinfachung dar, aber der Umfang der unter diese Regelung fallenden Gegenstände ist im Zeitraum zwischen 1999 und 2013 Berichten zufolge um 286 % gestiegen, was vermutlich durch die Zunahme des Online-Shoppings von Privatpersonen zu erklären ist (9). Dieser Anstieg führte wiederum dazu, dass sämtlichen Mitgliedstaaten zunehmend Mehrwertsteuereinnahmen entgehen.

3.11.

Die LVCR-Regelung brachte auch gewisse Wettbewerbsverzerrungen mit sich: So haben Unternehmen mit Sitz außerhalb der EU einen Wettbewerbsvorteil gegenüber den in der EU ansässigen. Dieser Wettbewerbsvorteil hat zwei weitere Probleme zur Folge: den Missbrauch der LVRC-Regelung und Verzerrungen der Strukturen in den Bereichen Handel und Einfuhr.

3.12.

Daher begrüßt der EWSA die vorgeschlagene Erweiterung der KEA.

Änderungen der MwSt.-Sätze auf elektronische Veröffentlichungen

3.13.

Die Liste der Produkte, die unter die ermäßigten MwSt.-Sätze gemäß der MwSt.-Richtlinie fallen können, stammt aus dem Jahr 1992. Die Entwicklungen in Technologie und Verbraucherverhalten in den letzten 25 Jahren haben zu zahlreichen rechtlichen Schwierigkeiten bei der Auslegung der Bestandteile dieser Liste geführt. Dies zog zahlreiche Rechtsstreitigkeiten vor dem EuGH nach sich.

3.14.

Vor Kurzem hat der EuGH in mehreren Urteilen festgestellt, dass die Liste der Veröffentlichungen auf physischen Trägern nicht durch Rechtsauslegung um elektronische Veröffentlichungen erweitert werden könne. Daher könne dieses Ziel nur durch rechtliche Änderungen der geltenden Vorschriften in der MwSt.-Richtlinie erreicht werden.

3.15.

Unter den vorgeschlagenen Regelungen würde nicht länger zwischen Veröffentlichungen auf physischen und nicht-physischen Trägern unterschieden werden und somit für Neutralität in diesem Markt gesorgt werden. Der EWSA begrüßt zwar, dass diese Wettbewerbsverzerrung beseitigt werden soll, aber ihm ist auch das entsprechende Risiko für die MwSt.-Bemessungsgrundlage bewusst. Wenn elektronische Veröffentlichungen in die Liste der Produkte, auf die ein ermäßigter Steuersatz angewendet werden kann, aufgenommen werden, führt dies nicht nur zu sofortigen Einnahmeausfällen, sondern könnte auch den Boden für das Argument bereiten, dass andere Produkte ebenfalls in die Liste aufgenommen werden sollten. Dadurch würde die Bemessungsgrundlage zusätzlich ausgehöhlt werden. Darüber hinaus könnte die Erweiterung der Anwendung ermäßigter Steuersätze unterhalb des Mindestsatzes von 5 % auf elektronische Veröffentlichungen entsprechend den Sätzen auf Veröffentlichungen auf physischen Trägern zu weiteren Anträgen auf Anwendung von Steuersätzen unterhalb dieses Mindestmaßes führen. Eine solche Entwicklung würde den Sinn des Mindestsatzes infrage stellen und ebenfalls zur Aushöhlung der Bemessungsgrundlage beitragen.

3.16.

Zudem stellt der EWSA fest, dass die vorgeschlagenen Maßnahmen von der Europäischen Kommission als Auftakt zu einer umfassenderen Reform der europäischen Grundstruktur der MwSt.-Sätze angesehen werden (10). Derzeit werden zwei Optionen in Betracht gezogen, allerdings würde diese umfassendere Reform den Mitgliedstaaten durch die wirksame Entharmonisierung der Steuersätze allgemein mehr Freiheit und Flexibilität bei der Anwendung ermäßigter Steuersätze bieten.

3.17.

Der EWSA ist besorgt über die Auswirkungen, die eine solche Entharmonisierung auf Unternehmen im grenzüberschreitenden Handel haben würde, insbesondere KMU, denen es schwer fallen würde, die für ihre Produkte innerhalb der EU geltenden MwSt.-Sätze festzusetzen.

3.18.

Dem EWSA ist auch bewusst, dass Artikel 113 AEUV, der die rechtliche Grundlage für die Annahme von Mehrwertsteuervorschriften der EU bildet, den EU-Institutionen lediglich die Kompetenz verleiht, Vorschriften zur Harmonisierung der MwSt.-Sätze mit dem Ziel der Schaffung und Verbesserung des Binnenmarktes anzunehmen.

4.   Besondere Bemerkungen

Änderungen der KEA für die Mehrwertsteuer

4.1.

Für KMU mit Sitz in Ländern mit hohem Schwellenwert hat die Umsetzung der KEA dazu geführt, dass sie sich erstmals für die Mehrwertsteuer registrieren und der Mehrwertsteuerpflicht nachkommen müssen. Da viele von ihnen Gefahr laufen, durch die neu entstehenden Befolgungskosten aus dem Geschäft verdrängt zu werden, haben mehrere Kleinstunternehmen, die meisten davon mit Sitz im Vereinigten Königreich, eine Interessengruppe (11) eingerichtet, um die EU-Institutionen und die britischen Steuerbehörden auf ihre Bedenken aufmerksam zu machen.

4.2.

Die Festlegung eines Schwellenwerts von 10 000 EUR, der es KMU ermöglicht, sich bis zu seinem Erreichen für die Anwendung der MwSt.-Vorschriften in ihrem eigenen Land zu entscheiden, ist zu begrüßen und wird die Geschäfte für kleine Unternehmen und Teilzeitunternehmen zweifellos vereinfachen. Allerdings ist sich der EWSA, obwohl er diese Vorkehrungen für Kleinstunternehmen begrüßt, bewusst, dass junge und wachsende Unternehmen diese Schwelle rasch überschreiten könnten.

Erweiterung der KEA für die Mehrwertsteuer

4.3.

Ein erheblicher Missbrauch der LVCR-Regelung wurde im Vereinigten Königreich (über die Kanalinseln) und in Finnland (über die Ålandinseln) gemeldet, wohin Unternehmen ihre Geschäfte außerhalb der EU verlagern, um die Regelung in Anspruch nehmen zu können (12). Dieser Missbrauch verstärkt den Wettbewerbsnachteil für Unternehmen innerhalb der EU und insbesondere für KMU, die in der Regel stärker betroffen sind. Im Jahr 2010 gründeten mehrere britische KMU eine Gruppe, um gegen den mutmaßlichen Missbrauch der LVCR-Regelung auf den Kanalinseln vorzugehen (13).

4.4.

In jüngster Zeit hat eine andere Gruppe britischer KMU mit dem Namen VAT Fraud  (14) auf das Problem des von Nicht-EU-Händlern online verübten mutmaßlichen Betrugs in Verbindung mit der LVCR-Regelung hingewiesen. Da Gegenstände betroffen sind, deren Wert außerhalb des von der Regelung abgedeckten Bereichs liegt, wird vermutet, dass die Regelung selbst ein Grund für die erschwerte Mehrwertsteuerbeitreibung ist, da die Zollbeamten nur schwer feststellen können, welche Lieferungen in den Geltungsbereich fallen.

4.5.

Die LVCR-Regelung hat sich Berichten zufolge auch auf Handelsmuster und das Importverhalten von Verbrauchern in mehreren Mitgliedstaaten (Slowenien, Deutschland, Schweden, Dänemark und das Vereinigte Königreich) ausgewirkt (15).

Änderungen der MwSt.-Sätze auf elektronische Veröffentlichungen

4.6.

Die rechtlichen Schwierigkeiten bei der Auslegung der Bestandteile der Liste der Produkte, auf die ein ermäßigter Mehrwertsteuersatz angewendet werden kann, basieren auf einem grundlegenden Dilemma des EU-Mehrwertsteuersystems: Entweder wird der Umfang der Liste der Produkte, auf die ein ermäßigter Mehrwertsteuersatz angewendet werden kann, erweitert, um potenzielle Wettbewerbsverzerrungen zu beseitigen, was die Aushöhlung der Bemessungsgrundlage verstärken würde, oder der Umfang der Liste der Produkte bleibt zum Schutz der Steuerbemessungsgrundlage weiterhin beschränkt und es werden damit Wettbewerbsverzerrungen in Kauf genommen.

4.7.

Der EuGH verfolgt für derartige Auslegungsschwierigkeiten einen kasuistischen Ansatz. In den Urteilen über die Aufnahme elektronischer Veröffentlichungen in die Liste ist der Gerichtshof jedoch zu dem Schluss gelangt, dass ihr Umfang nicht auf diese Produkte ausgedehnt werden kann, und hat damit die Vorschriften streng juristisch ausgelegt.

Brüssel, den 5. Juli 2017

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Georges DASSIS


(1)  Rechtssachen C-219/13, K Oy; C-479/13, Kommission/Frankreich; C-502/13, Kommission/Luxemburg; und C-390/15, RPO.

(2)  ABl. L 347 vom 11.12.2006 S. 1.

(3)  ABl. L 268 vom 12.10.2010 S. 1.

(4)  ABl. L 292 vom 10.11.2009 S. 5.

(5)  R. de la Feria: Blueprint for Reform of VAT Rates in Europe (Entwurf für eine Reform der MwSt.-Sätze in Europa), 2015, Intertax 43 (2), S. 154-171.

(6)  Ebd.

(7)  CASE: Study and Reports on the VAT Gap in the EU-28 Member States: 2016 Final Report (Studie und Berichte zur MwSt.-Lücke in den Mitgliedstaaten der EU-28: Abschlussbericht für 2016), TAXUD/2015/CC/131, 2016.

(8)  Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat und den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss zur Zukunft der Mehrwertsteuer — Wege zu einem einfacheren, robusteren und effizienteren Mehrwertsteuersystem, das auf den Binnenmarkt zugeschnitten ist, KOM(2011) 851 endgültig, 6. Dezember 2011.

(9)  EY: Assessment of the Application and Impact of the VAT Exemption for Importation of Small Consignment (Bewertung der Anwendung und der Auswirkungen der Mehrwertsteuerbefreiung für die Einfuhr von Kleinsendungen), Sondervertrag Nr. 7, TAXUD/2013/DE/334, Abschlussbericht, Mai 2015.

(10)  Europäische Kommission: Öffentliche Konsultation über die Reform der MwSt.-Sätze (Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Änderung der Richtlinie 2006/112/EG über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem im Hinblick auf die Vorschriften für die Anwendung der MwSt.-Sätze).

(11)  EU VAT Action (www.euvataction.org).

(12)  EY: Assessment of the Application and Impact of the VAT Exemption for Importation of Small Consignment (Bewertung der Anwendung und der Auswirkungen der Mehrwertsteuerbefreiung für die Einfuhr von Kleinsendungen), Sondervertrag Nr. 7, TAXUD/2013/DE/334, Abschlussbericht, Mai 2015.

(13)  Die Gruppe gab sich den Namen RAVAS — Retailers Against VAT Avoidance Schemes (Einzelhändler gegen Mehrwertsteuervermeidung) (www.ravas.org.uk).

(14)  www.vatfraud.org.

(15)  EY: Assessment of the Application and Impact of the VAT Exemption for Importation of Small Consignment (Bewertung der Anwendung und der Auswirkungen der Mehrwertsteuerbefreiung für die Einfuhr von Kleinsendungen), Sondervertrag Nr. 7, TAXUD/2013/DE/334, Abschlussbericht, Mai 2015.


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