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Document 52009AE1455

    Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung der Kommission an den Rat, das Europäische Parlament und den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss — Eine europäische Strategie für die e-Justiz KOM(2008) 329 endg.

    ABl. C 318 vom 23.12.2009, p. 69–73 (BG, ES, CS, DA, DE, ET, EL, EN, FR, IT, LV, LT, HU, MT, NL, PL, PT, RO, SK, SL, FI, SV)

    23.12.2009   

    DE

    Amtsblatt der Europäischen Union

    C 318/69


    Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der „Mitteilung der Kommission an den Rat, das Europäische Parlament und den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss — Eine europäische Strategie für die e-Justiz“

    KOM(2008) 329 endg.

    2009/C 318/13

    Berichterstatter: Jorge PEGADO LIZ

    Die Europäische Kommission beschloss am 30. Mai 2008, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 262 des EG-Vertrags um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

    Mitteilung der Kommission an den Rat, das Europäische Parlament und den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss - Eine europäische Strategie für die e-Justiz

    Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion und Verbrauch nahm ihre Stellungnahme am 9. September 2009 an. Berichterstatter war Jorge PEGADO LIZ.

    Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 456. Plenartagung am 30. September/1. Oktober 2009 (Sitzung vom 30. September) einstimmig folgende Stellungnahme:

    1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

    1.1

    Der EWSA begrüßt die Mitteilung der Kommission „Eine europäische Strategie für die e-Justiz“ als eine sachdienliche Initiative, die zudem in strukturierter Form und mit den nötigen Begründungen ausgearbeitet und vorgelegt wurde. Dies rechtfertigte die Selbstbefassung des EWSA mit dem Thema zu einem Zeitpunkt, da er noch nicht um Stellungnahme gebeten worden war.

    1.2

    Grundlegende Elemente, die bei den Überlegungen des EWSA zu berücksichtigen sind, ergeben sich aus der Vereinbarung, die zwischen dem EP, dem Rat und der Kommission geschlossen wurde und die ihren Niederschlag in dem Beschluss des Rates der Justiz- und Innenminister vom 28. November 2008 über den Aktionsplan für die E-Justiz bis 2013 gefunden hat, sowie aus den Empfehlungen hinsichtlich des Geltungsbereichs der Initiative und ihrer künftigen Weiterentwicklung.

    1.3

    Vor diesem Hintergrund begrüßt der EWSA im Großen und Ganzen die Leitlinien für die zu ergreifenden Maßnahmen. Er möchte dabei allerdings einige Voraussetzungen erfüllt und einige Parameter und Vorbehalte hinsichtlich ihrer Ausgestaltung und Durchführungsmodalitäten berücksichtigt wissen.

    1.4

    Zunächst macht er auf die Notwendigkeit aufmerksam, den spezifischen Bereich der „E-Justiz“ im Rahmen anderer Anwendungen der neuen Informationstechnologien auf verschiedene Aspekte der Unionsbürgerschaft und der öffentlichen Verwaltung genauer abzugrenzen.

    1.5

    Er weist außerdem auf die eigentlichen Ziele der Rechtsprechung - die sich unter dem Begriff „gerechte Justiz“ subsumieren lassen - hin: Die löblichen Initiativen zur Vereinfachung und Harmonisierung der Handlungen und Verfahren müssen, was den Zugang zur Justiz angeht, effektiv den Belangen der Bürgerinnen und Bürger im Allgemeinen sowie der wirtschaftlichen und sozialen Akteure im Besonderen entgegenkommen und von den Angehörigen der Rechtsberufe akzeptiert und gewünscht werden.

    1.6

    Der EWSA hegt die Sorge, dass jedwede Initiative in diesem Bereich die Grundrechte der europäischen Bürgerinnen und Bürger, insbesondere den Datenschutz, beeinträchtigen könnte, und empfiehlt nachdrücklich, bei der Gestaltung der betreffenden Maßnahmen die in allen europäischen Staaten anerkannten Grundprinzipien des Recht der internationalen Verträge und die ihnen gemeinsamen Grundsätze des Zivilprozessrechts eingehalten werden.

    1.7

    Er ruft die Kommission dazu auf, bei jeder neuen Initiative im Einklang mit dem Subsidiaritätsprinzip und auch - auf der Grundlage des Verhältnismäßigkeitsprinzips - mit einer Abwägung der Kosten-/Nutzen-Relation die Besonderheiten und spezifischen Merkmale des Rechts der einzelnen Staaten, in dem sich die erhaltenswerten kulturellen Muster und Werte des jeweiligen Landes spiegeln, gebührend zu berücksichtigen.

    1.8

    Er empfiehlt der Kommission daher, bei der Entwicklung der einzelnen geplanten Maßnahmen die Bürgerperspektive im Bereich der Rechtsanwendung nie aus den Augen zu verlieren, damit die Informations- und Kommunikationstechnologien in den Dienst der Justiz gestellt werden und nicht umgekehrt.

    1.9

    Insbesondere rät er zu verstärkter Vorsicht und Umsicht bei der Einführung von Mechanismen zur Entmaterialisierung der Gerichtsverfahren, damit das Erfordernis der bleibenden Form und des dauerhaften Datenträgers, beides Garanten der Rechtssicherheit, immer erfüllt wird.

    1.10

    Abschließend ruft er das Europäische Parlament und den Rat auf, die Entwicklung der geplanten Initiativen im Einzelnen genauestens zu verfolgen und ihre Durchführung im Lichte der Werte und Muster, die sich aus ihren jeweiligen Entschließungen ergeben und die der EWSA in gleicher Weise unterstützt, zu überwachen.

    2.   Einleitung und Begründung

    2.1   Systematisch wurde die Frage der elektronischen Justiz zum ersten Mal während der italienischen Ratspräsidentschaft im Jahre 2003 in Angriff genommen, und zwar im Rahmen einer gemeinsam mit dem Europarat veranstalteten Konferenz, die zu folgender Schlussfolgerung gelangte: Vor allem führen uns die Diskussionen über die Vorteile, Chancen und Risiken des Internet letzten Endes immer wieder zurück zu unserem Anliegen, die Werte und Rechte, die vor allem in den Übereinkommen des Europarats über Menschenrechte und Datenschutz verankert sind, zu wahren (1).

    2.2   In den darauf folgenden Jahren entwickelten verschiedene Mitgliedstaaten eigene E-Justiz-Systeme, z.T. auf ausgefeilten theoretischen Grundlagen und mit einem ausgeprägten Sinn für Praktikabilität (2), aber auf unkoordinierte Weise.

    2.3   Auf Gemeinschaftsebene wurde diese Frage zunächst im Rahmen des Themas „elektronische Behördendienste“, insbesondere im Anschluss an die Dokumente „eEurope 2002“ und „eEurope 2005“, die auf der Tagung des Europäischen Rates von Feira im Jahre 2000 bzw. von Sevilla im Jahre 2002 angenommen wurden, angesprochen und sodann im Strategiedokument i2010 (3) behandelt.

    2.3.1

    Das Projekt „E-Justiz“ wurde im Übrigen als eines der ersten „integrierten Projekte“ im Rahmen des 6. Rahmenprogramms lanciert, hatte dort aber noch sehr begrenzte Ziele und experimentellen Charakter. Erst in der informellen Sitzung der Justizminister im Januar 2007 in Dresden wird das Thema in spezifischer Form angeschnitten und in der Folge auf der Konferenz „Work on e-Justice“ (IT-Einsatz in der Justiz) im Mai 2007 in Bremen weiterentwickelt (4).

    2.4   Den entscheidenden Impuls erhielt das Thema aber während des portugiesischen EU-Ratsvorsitzes (5), einerseits in der informellen Sitzung der Justiz- und Innenminister vom 1./2. Oktober 2007, in der die zentralen Aspekte der künftigen Optionen festgelegt wurden, und andererseits in der Ratssitzung der Justiz- und Innenminister vom 6./7. Dezember 2007, in der eine Bestandaufnahme der geleisteten Arbeit vorgenommen und das Ende des ersten Halbjahres 2008 als Termin für den Abschluss festgelegt wurde; eine weitere wichtige Etappe war die Tagung des Europäischen Rates vom 14. Dezember 2007, in deren Schlussfolgerungen die „Ergebnisse, die auf dem Gebiet des elektronischen Rechtsverkehrs (E-Justiz) bereits erzielt worden sind“, begrüßt werden und zur Fortführung der Arbeit aufgerufen wird.

    2.5   Im Nachgang dazu erarbeitete die Kommission die hier in Rede stehende Mitteilung an den Rat, das Europäische Parlament und den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss, mit der letzterer aber nicht befasst wurde; als er dies feststellte, beschloss er, auf eigene Initiative zu der Mitteilung Stellung zu nehmen.

    2.6   Auch wenn das Europäische Parlament (6) und der Rat (7) in der Zwischenzeit Gelegenheit hatten, sich zu der Mitteilung und insbesondere zu dem ihr beigegebenen Aktionsplan zu äußern, hält der Ausschuss die im Folgenden aufgeführten Bemerkungen und Empfehlungen in Anbetracht der fünfjährigen Laufzeit der geplanten Maßnahmen nicht für überflüssig, zumal sie einen Beitrag der Vertreter der Zivilgesellschaft darstellen, die die durchzuführenden Initiativen besonders interessieren und betreffen; diese Bemerkungen und Empfehlungen könnten daher eventuell im Zuge der Umsetzung der jeweils ins Auge gefassten Maßnahmen berücksichtigt werden (8).

    3.   Kurze Zusammenfassung der Mitteilung der Kommission  (9)

    4.   Allgemeine Bemerkungen

    4.1   In ihren Grundzügen befürwortet der EWSA die Initiative der Kommission, die jetzt noch durch die Vorschläge des Europäischen Parlaments und die Leitlinien des Rates vervollständigt wurde.

    4.1.1

    Er tut dies allerdings nur unter bestimmten Voraussetzungen, bei Berücksichtigung bestimmter Parameter und mit einigen Vorbehalten.

    4.2   Zunächst ist es unerlässlich, den Bereich der „E-Justiz“ richtig abzugrenzen. Er ist zwar in weitergespannte Konzepte wie „E-Demokratie“ und „E-Governance“ eingebettet, zu deren Kernbereichen er gehört, und er ist auch eng verbunden mit dem „E-Recht“, das den elektronischen Zugang zu Rechtstexten und ihren Entstehungsverfahren in Echtzeit ermöglichen soll - was sowohl für materielles als auch für Verfahrensrecht, für „hard law“ und für „soft law“, für die Rechtsprechung der gerichtlichen Instanzen und für Entscheidungen der Verwaltungsbehörden gilt -, muss aber dennoch auf die gerichtlichen Aspekte der Rechtsanwendung in den Bereichen Zivil-, Handels- und vielleicht auch Verwaltungsrecht, d.h. auf die gerichtlichen Verfahren und Praktiken einschließlich der Schiedsverfahren beschränkt werden (10).

    4.3   Auf der anderen Seite muss man sich bewusst sein, dass bei jeglichem Programm im Bereich der Rechtsanwendung der anzustrebende höchste Wert weder die zügige Durchführung der Verfahren bzw. die effiziente Arbeit der Gerichte noch die Kostensenkung oder eine Vereinfachung der Prozessordnung ist, sondern eine GERECHTE JUSTIZ (11), die die Grundrechte und insbesondere den Schutz der persönlichen Daten der Bürgerinnen und Bürger uneingeschränkt achtet.

    4.3.1

    Es soll daher vor jeglichem Übereifer beim Streben nach größerer Einfachheit und Effizienz, weniger Kostenaufwand und schnellerer Arbeitsweise gewarnt werden, denn dabei könnte jener Grundwert der Rechtspflege verloren gehen und der Zugang zur Gerichtsbarkeit nicht erleichtert, sondern erschwert oder verkompliziert werden.

    4.4   Ebenso wichtig ist es, dafür zu sorgen, dass die bis zu einem bestimmten Grad erwünschte Entmaterialisierung und Vereinfachung der Prozesshandlungen und die Vereinheitlichung der Arbeitsmethoden und –verfahren weder die zwangsläufig vorhandenen Unterschiede verwischt noch zugleich mit dem Überflüssigen und dem zufällig Gewachsenen das Wesentliche eliminiert, das nicht einheitlich sein muss und möglicherweise auch nicht einheitlich sein darf.

    4.4.1

    Es muss dringend gewährleistet werden, dass jedwedes Programm zur Anwendung von Informationstechnologie auch tatsächlich den Bedürfnissen der europäischen Bürgerinnen und Bürger im Allgemeinen und der wirtschaftlichen und sozialen Akteure im Besonderen sowie den Erfordernissen der Rechtsberufe Rechnung trägt und ihnen nicht etwa das Leben schwer macht.

    4.4.2

    Außerdem ist unbedingt sicherzustellen, dass bei keinem der neu eingeführten oder weiterentwickelten Systeme vorsätzliche oder unbeabsichtigte Zugriffe von Dritten möglich sind, die die Sicherheit und Zuverlässigkeit der Nutzung gefährden; ebenso ist zu verhindern, dass Akten oder Akteninhalte ganz oder teilweise geändert werden können.

    4.5   Ein weiterer Aspekt, der nicht aus dem Blick geraten darf, sind die verschiedenen Formvorschriften, die, obwohl sie in den Augen von Laien übertrieben oder überflüssig sein mögen, ganz wesentlich zum Respekt der Allgemeinheit vor der das Urteil fällenden Instanz und dem Urteilsspruch beitragen bzw. die Achtung der Grundrechte bei der Arbeit der Gerichtsbarkeit garantieren (12).

    4.6   Da das Prozessrecht außerdem als formelles Recht im Verhältnis zum materiellen Recht eine Hilfsfunktion hat und Letzteres gemeinsam mit der unterschiedlichen Kultur der einzelnen Mitgliedstaaten gewachsen ist, seine Vereinheitlichung also weder möglich noch wünschenswert oder opportun ist, dürfen und können die - notwendigerweise unterschiedlichen - grundlegenden Aspekte der „abgeleiteten“ Gerichtsverfahren nicht vereinheitlicht werden, weil sonst das materielle Recht, dessen Schutz und Garantie diese zur Aufgabe haben, verletzt würde.

    4.7   Da das Recht und insbesondere das Prozessrecht aus einem Bündel rechtstechnischer Instrumente für die Arbeit der Gerichtsbarkeit besteht und diese Instrumente für die speziell hierfür ausgebildeten und mit entsprechender Berufserfahrung ausgestatteten Rechtsexperten bestimmt sind, ist es nur normal, dass bei seiner Festlegung und Anwendung die von diesen Experten benutzte Fachsprache verwendet wird.

    4.7.1

    Ein übertriebenes Bemühen, die Rechtssprache zu „vereinfachen“ und „für die Allgemeinheit zugänglich zu machen“, kann dazu führen, dass ihre Genauigkeit und ihr fachlicher Gehalt verloren gehen - und Letzterer ist wiederum nicht in allen nationalen Rechtsordnungen zwangsläufig identisch (und muss es auch nicht sein).

    4.7.2

    Was in erster Linie angestrebt werden sollte, ist nicht Einheitlichkeit, sondern eine „Äquivalenztabelle“ oder ein „gemeinsamer Bezugsrahmen“ für die verschiedenen gerichtlichen Instrumente.

    4.8   Schließlich ist der Ausschuss der Auffassung, dass die erfolgreiche Einführung jedweden Systems zur Anwendung der neuen Technologien auf den Bereich der Justiz Folgendes voraussetzt: die Gewährleistung der Anpassung dieses Systems an den Bedarf und die Ziele der Gerichtsordnung, die Abstimmung auf die von den Gerichten bereits verwendeten Informatiksysteme, eine vorherige Bestandsaufnahme der gegenwärtigen Verfahren und die Möglichkeit zur raschen und kostengünstigen Anpassung des Systems an neue Gegebenheiten und neue Ziele.

    4.8.1

    Noch eingehendere Überlegungen verdient ganz allgemein das Kosten-/Nutzen-Verhältnis dieser ganzen Initiative - sowohl insgesamt als auch auf jeder einzelnen Durchführungsstufe. Es steht nämlich fest, dass in der der Kommission vorliegenden Folgenabschätzungsstudie (die übrigens nur in einer Amtssprache verfügbar ist) keinerlei Kosten beziffert werden, sondern sogar expressis verbis zugegeben wird, dass „auf jeden Fall Kosten entstehen, ihre Höhe aber nicht geschätzt werden kann … “ und diese Kosten sich erst „von Fall zu Fall“ errechnen lassen; was die Vorteile eines solchen Systems angeht, so „steht die wirtschaftliche Auswirkung außer Frage, ist aber generell schwer zu quantifizieren“ - hier haben wir es also mit einer vollkommen subjektiven Einschätzung zu tun, die bei einem Vorhaben dieses Umfangs kaum hinnehmbar ist (13).

    5.   Besondere Bemerkungen

    5.1   Da ein Prozess aus einer Reihe von Verfahrenshandlungen besteht, die zu protokollieren sind, wird für die Aufzeichnung des gesamten Prozesses ein dauerhafter Datenträger benötigt, was zur Folge hat, dass die digitale Aufzeichnung der mündlichen Verhandlung und die Entmaterialisierung generell aus Gründen der Rechtssicherheit und um der Wahrung der Rechte der Parteien willen in einem Rechtsstaat problematisch sind.

    5.1.1

    Unter diesem Gesichtspunkt sind einige Aspekte der in der „Gesamtstrategie“ geplanten Maßnahmen zu untersuchen und zu beurteilen.

    5.2   Was das „e-Justiz“-Portal angeht, so müssen nach Ansicht des EWSA vor seiner Einrichtung sämtliche Akteure der Justiz (Richter, Staatsanwälte, Justizbeamte, Verwaltungsbehörden, Regierungsbeamte und Angehörige aller Rechtsberufe) durch entsprechende Fortbildungsmaßnahmen genau und umfassend vorbereitet werden, damit dieses Instrument seinen Nutzen entfalten und von allen Beteiligten eingesetzt werden kann.

    5.2.1

    Nach Ansicht des EWSA kann dieses Portal als Informationszentrum dienen, das in gerichtlichen Fragen weiterhilft und die Bürger, Unternehmen und Akteure der Justiz, wenn es um die Lösung rechtlicher Probleme geht, auf sinnvolle Weise miteinander in Kontakt bringt.

    5.2.2

    Der EWSA hält das Portal für ein Werkzeug, das bei der täglichen Arbeit aller Akteure der Justiz nützlich und brauchbar sein kann; Voraussetzung hierfür ist aber die Gewährleistung der Zuverlässigkeit und Authentizität aller darin enthaltenen Informationen. Außerdem ist zu empfehlen, zum Schutz der Beteiligten je nach Art der abgefragten Informationen verschiedene Zugangsstufen und –rechte einzubauen.

    5.2.3

    Ferner muss dieses Portal nach dem Vorbild des Europäischen Justiziellen Netzes für Zivil- und Handelssachen (14) der Allgemeinheit einen kostenlosen Zugang zu den gemeinschaftlichen und nationalen Rechtsvorschriften bieten und so bei rechtlichen Problemen eine bessere Beratung und Hilfe (allgemeiner Art) ermöglichen.

    5.3   Zur Videokonferenz möchte der EWSA festhalten, dass seines Erachtens bei sämtlichen Gerichten der Mitgliedstaaten eine genaue Erhebung durchgeführt werden muss (15), damit sich feststellen lässt, ob audiovisuelles Material, das die allgemeine Einführung von Videokonferenzen ermöglicht, vorhanden ist oder nicht; augenblicklich gibt es nämlich keine Belege dafür, dass alle Mitgliedstaaten ihre Gerichte mit dem für Videokonferenzen nötigen Material ausgestattet haben bzw. dass dieses Material kompatibel und funktionsfähig ist (16).

    5.3.1

    Wenn es bei den Videokonferenzen um Zeugenvernehmungen zur Beweisaufnahme oder um die Übermittlung von Gerichtsakten oder –entscheidungen gehen soll, müssen zudem nach Ansicht des EWSA die Gesetze der Mitgliedstaaten über Zeugenaussagen und Videokonferenzen zunächst wirklich harmonisiert werden, damit es nicht zu divergierenden Auslegungen und Anwendungen der einschlägigen Rechtsvorschriften kommen kann; ohne die notwendige rechtliche Ausformulierung wird die Videokonferenz in den Mitgliedstaaten auf gesetzliche und sogar kulturelle Hindernisse stoßen.

    5.3.2

    Falls die Videokonferenz in der vorgeschlagenen Form als Instrument eingeführt wird, sollte sie nach Ansicht des Ausschusses in jedem Fall von den beteiligten Gerichten beantragt werden; hier hält der EWSA das Portal für eine Hilfe, da es alle für die Durchführung einer Videokonferenz zwischen den beteiligten Gerichten benötigten Elemente enthält (17).

    5.4   Hinsichtlich der Zusammenarbeit zwischen den Justizbehörden und insbesondere der Vernetzung der einzelstaatlichen Strafregister äußert der EWSA die Auffassung, dass diese Zusammenarbeit angesichts der sehr heiklen Materie, um die es dabei geht, den strengst möglichen Datenschutz- und Sicherheitsanforderungen genügen muss, damit die Privatsphäre der betroffenen Bürgerinnen und Bürger unverletzt bleibt (18).

    5.4.1

    Notwendig ist nach Ansicht des EWSA allerdings auch, dass im Vorfeld die einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und die in jedem Mitgliedstaat vorhandenen materiellen Voraussetzungen geprüft werden, damit in diesem so sensiblen Bereich keine unterschiedlichen Anwendungsmodalitäten und beim strafrechtlichen Informationsaustausch keine divergierenden Formen der Datenbehandlung auftreten.

    5.5   Im Zusammenhang mit der Übersetzungshilfe weist der EWSA darauf hin, dass das „e-Justiz“-Portal mehrsprachig sein und die Informationen in allen Amtssprachen der Union bereitstellen soll. Um wirklich nützlich zu sein, muss ein automatisches Übersetzungssystem die Simultanübersetzung und –verdolmetschung der Internetseiten ermöglichen, sodass alle Bürgerinnen und Bürger davon Gebrauch machen können.

    5.5.1

    Zur Unterstützung der Angehörigen der Rechtsberufe könnte das Portal eine Datenbank der gerichtlich vereidigten Übersetzer und Dolmetscher sowie alle notwendigen Formulare enthalten; diese sollten unter Verwendung der in der jeweiligen staatlichen Rechtsordnung üblichen Terminologie korrekt übersetzt sein.

    5.5.2

    Die enormen Kosten, die ein brauchbares System der automatischen Simultanübersetzung in alle Amtssprachen der EU vermutlich verursachen wird, müssen unter dem Aspekt der Machbarkeit und der Verhältnismäßigkeit gegen die erreichbaren Ergebnisse und ihre praktische Umsetzung abgewogen werden.

    5.6   Besondere Vorbehalte und Vorsichtsmaßnahmen müssen den Initiativen gelten, die insbesondere auf die vollständige Entmaterialisierung des Europäischen Mahnverfahrens (19) bzw. des europäischen Verfahrens für geringfügige Forderungen (20) abzielen; noch mehr Vorsicht ist angebracht in Bezug auf die Einführung anderer „vollständig elektronischer europäischer Verfahren“, die Zustellung von Gerichtsakten auf ausschließlich elektronischem Wege, die Online-Überweisung von Gerichtskosten und die elektronische Authentifizierung von Schriftstücken.

    5.6.1

    In all diesen Fällen rät der EWSA zu größter Vorsicht bei der Einführung, einer sorgfältigen Abwägung der Kosten-/Nutzen-Relation und der Einplanung langer Versuchs- und Testphasen vor der allgemeinen Einführung, die von unumstößlichen Garantien hinsichtlich der Übereinstimmung mit den in allen Rechtsstaaten vorhandenen Regeln des Verfahrensrechts flankiert sein muss.

    Brüssel, den 30. September 2009

    Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

    Mario SEPI


    (1)  Konferenz „Internet Strategies and e-Justice in Europe“, Rom, 13./14. November 2003 (Zitat: eigene Übersetzung).

    (2)  Z.B. in Belgien, wo die mit der Ausarbeitung des Vorhabens „E-Justiz“ beauftragte Kommission die angesehensten Juristen aus Forschung, Lehre und Praxis umfasste, namentlich die Professoren Georges de Leval, der für die Modalitäten der Klageerhebung und die Instrumente der Kommunikation zwischen den Justizakteuren zuständig war, und Yves POULLET, der sich mit dem Beweisrecht befasste; ebenso in Portugal, wo auf der Grundlage einer eingehenden Studie mit dem Titel „Para um novo judicíario: qualidade e eficiência na gestăo dos processos cíveis“ („Für eine neue Gerichtsbarkeit: Qualität und Effizienz im Zivilprozess“), die im Rahmen der Ständigen Beobachtungsstelle der portugiesischen Justiz unter der Leitung von Prof. Boaventura DE SOUSA SANTOS erarbeitet und von Prof. Conceição GOMES koordiniert wurde, eine gründliche Untersuchung der Voraussetzungen für die Einführung der neuen Technologien in die verschiedenen Phasen und Stufen der Gerichtsverfahren durchgeführt wurde.

    (3)  KOM(2005) 229 endg. vom 1.6.2005. Vgl. einschlägige Stellungnahme des EWSA – ABl. C 110 vom 8.5.2006 (Berichterstatter: Göran LAGERHOLM.

    (4)  Bezeichnenderweise enthielt „Das Haager Programm: Zehn Prioritäten für die nächsten fünf Jahre“ aus dem Jahre 2005 (KOM(2005) 184 endg. vom 10. Mai 2005) noch keinerlei Hinweis auf den Einsatz der neuen Technologien in der Justiz. Die Anspruchslosigkeit dieses Programms wurde im Übrigen in der einschlägigen Stellungnahme des EWSA ausdrücklich bemängelt (Berichterstatter: Luis Miguel PARIZA CASTAÑOS - ABl. C 65 vom 17.3.2006). Vgl. auch den Bericht der Kommission über die Umsetzung des Haager Programms im Jahre 2007 (KOM(2008) 373 endg. vom 2.7.2008) „Insgesamt fällt die Bilanz eher unbefriedigend aus“.

    (5)  In diesem Zusammenhang muss unbedingt auf den Beschluss Nr. 1149/2007/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. September 2007 hingewiesen werden, durch den für den Zeitraum 2007 bis 2013 das spezifische Programm „Ziviljustiz“ als Teil des Generellen Programms „Grundrechte und Justiz“ aufgelegt wurde (ABl. L 257 vom 3.10.2007).

    (6)  Siehe die Entschließung des Europäischen Parlaments vom 18. Dezember 2008, die Empfehlungen an die Kommission im Bereich E-Justiz enthält (Berichterstatterin: Diana WALLIS - 2008/2125(INI) - T6-0637/2008) und die Stellungnahme des Ausschusses für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres (Berichterstatter: Luca ROMAGNOLI) vom 5. November 2008.

    (7)  Siehe die Pressemitteilung über die 2908. Sitzung des Rates der Justiz- und Innenminister am 27./28. November 2008 (16325/08) und als Bezugsdokument das Papier des Vorsitzes für den AStV/den Rat Nr. 15315/08 vom 7. November 2008 (JURINFO 71, JAI 612, JUSTCIV 239, COPEN 216).

    (8)  Diese Meinung ging übrigens eindeutig aus den Wortmeldungen und Diskussionen auf dem Forum für justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen hervor, das im Rahmen des französischen EU-Ratsvorsitzes am 2. Dezember 2008 im Europäischen Parlament veranstaltet wurde, und zwar besonders aus dem zweiten Workshop, der sich mit elektronischem Rechtsverkehr als einem Instrument für die Bürger, die Fachleute und die Unternehmen befasste.

    (9)  Aus Gründen, die mit der Begrenzung der Seitenzahl von Stellungnahmen zu tun haben, wird hier keine Zusammenfassung gegeben und der Inhalt der Mitteilung der Kommission sowie der Entschließungen des EP und des Rates als bekannt vorausgesetzt.

    (10)  Jedoch unter Ausschluss der alternativen Streitbeilegungsverfahren, die zwar die Lösung von Konflikten zum Ziel haben, aber nicht unter die Rechtsanwendung fallen, denn sie setzen auf freiwilligen, außergerichtlichen Ausgleich von Interessen.

    (11)  Wie in dem lateinischen Rechtsgrundsatz beispielhaft definiert: „Justitia est constans et perpetua voluntas jus suum cuique tribuendi“ (Gerechtigkeit ist der beharrliche Wille, jedem das Seine zukommen zu lassen).

    (12)  Es geht hier insbesondere um die „Strukturprinzipien“ des Prozessrechts, unter denen die „Garantien für einen gerechten Prozess“ eine besondere Stellung einnehmen. Zu diesen gehören: die Unparteilichkeit des Gerichts, die Waffengleichheit der Parteien, der Verfügungsgrundsatz bzw. das Verfügungsrecht der Parteien, die Garantie des kontradiktorischen Verfahrens, die Öffentlichkeit des Verfahrens, das Recht auf Beweis, die Kontinuität der mündlichen Verhandlung und die Garantie der Zustellung aller Prozessakten (vgl. für all diese Grundsätze Miguel TEIXEIRA DE SOUSA, „Estudos sobre o Novo Processo Civil“, Hrsg. LEX Lisboa, 1997).

    (13)  Vgl. Folgenabschätzung (SEK(2008) 1947 vom 30. Mai 2008), Ziffern 5.3.2. und 5.3.3., Seite 30 und 31.

    (14)  Unter besonderer Berücksichtigung der Tatsache, dass der Geltungsbereich durch den unlängst vorgelegten Vorschlag der Kommission für eine Entscheidung zur Änderung der Entscheidung 2001/470/.EG auf die Angehörigen der Rechtsberufe beschränkt wurde (Vgl. ABl. C 175 vom 28.7.2009, S. 84, Berichterstatterin: Maria Candelas SÁNCHEZ MIGUEL).

    (15)  Der tschechische Ratsvorsitz hat die Mitgliedstaaten inzwischen gebeten, ihm eine Aufstellung des gesamten bei ihren Gerichten vorhandenen audiovisuellen Materials zu übermitteln, und die Antworten in folgendem Dokument veröffentlicht: „Summary of the replies of the EU Member States to the request of the Czech Minister of Justice for information on national videoconferencing equipment in the judiciary“.

    (16)  Die Frage der Interoperabilität der Systeme wurde übrigens unlängst von der Kommission angeschnitten (KOM(2008) 583 endg.); der EWSA gab dazu am 25.2.2009 eine Stellungnahme ab (ABl. C 218 vom 11.9.2009, S. 36, Berichterstatter: Antonello PEZZINI), auf die hier verwiesen wird; zudem hat der Ausschuss in diesem Bereich noch eine Reihe anderer Stellungnahme verabschiedet.

    (17)  Verwiesen wird hier auf die Arbeit der Ratsgruppe „Rechtsinformatik“ im Bereich E-Justiz, wie sie namentlich aus dem Tätigkeitsbericht vom 15. Mai 2009 über die Verarbeitung rechtlicher Daten (DOC 9362/09) hervorgeht, auf das Strategiepapier zum Einsatz von Videokonferenzen (DOC 9365/09), auf das Anwenderhandbuch (DOC 9863/09) und die Informationsbroschüre für die Öffentlichkeit (DOC 9862/09), alle vom 15. Mai 2009; in diesen Dokumenten kommen genau die Besorgnisse und Anliegen zum Ausdruck, die auch in dieser Stellungnahme enthalten sind.

    (18)  Vgl. die Stellungnahme des Europäischen Datenschutzbeauftragten zu der Mitteilung der Kommission an den Rat, das Europäische Parlament und den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss - Eine europäische Strategie für die e-Justiz (2009/C 128/02) (ABl. C 128 vom 6.6.2009, S. 13).

    (19)  Verordnung (EG) Nr. 1896/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2006 zur Einführung eines Europäischen Mahnverfahrens (ABl. L 399 vom 30.12.2006, S. 1).

    (20)  Verordnung (EG) Nr. 861/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Juli 2007 zur Einführung eines europäischen Verfahrens für geringfügige Forderungen (ABl. L 199 vom 31.7.2007, S. 1).


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