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Document 52022AE1354

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Schaffung eines Rahmens für Maßnahmen zur Stärkung des europäischen Halbleiter-Ökosystems (Chip-Gesetz)“ (COM(2022) 46 final — 2022/0032 (COD))

EESC 2022/01354

ABl. C 365 vom 23.9.2022, p. 34–39 (BG, ES, CS, DA, DE, ET, EL, EN, FR, GA, HR, IT, LV, LT, HU, MT, NL, PL, PT, RO, SK, SL, FI, SV)

23.9.2022   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 365/34


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Schaffung eines Rahmens für Maßnahmen zur Stärkung des europäischen Halbleiter-Ökosystems (Chip-Gesetz)“

(COM(2022) 46 final — 2022/0032 (COD))

(2022/C 365/06)

Berichterstatter:

Dirk BERGRATH

Befassung

Europäisches Parlament, 7.3.2022

Rat, 17.3.2022

Rechtsgrundlage

Artikel 114, Artikel 172 Absatz 3, Artikel 182 Absatz 1 und Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion, Verbrauch

Annahme in der Fachgruppe

1.6.2022

Verabschiedung auf der Plenartagung

15.6.2022

Plenartagung Nr.

570

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

205/0/5

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Das Vorhaben, die europäische Industrie resilienter zu machen und die heimische Halbleiter-Industrie zu stärken, wird ausdrücklich begrüßt. Insbesondere das Ziel, eine verbesserte Transparenz und Zusammenarbeit entlang der Wertschöpfungskette zu erreichen und durch gezielte Förderung globale Abhängigkeiten in den Bereichen Entwurf, Herstellung, Packaging, Prüfung und Montage zu verringern, sollte im Mittelpunkt des Chip-Gesetzes stehen.

1.2.

Das Chip-Gesetz nimmt dabei jedoch nicht im gleichen Maße das gesamte Ökosystem in den Blick, sondern legt einen deutlichen Schwerpunkt auf ein Halbleitersegment, das für die Industrie der Zukunft relevant sein wird, aktuell aber noch kaum Anwendungsfälle kennt. Hier sollte nachgebessert werden und ein ergänzender Fokus auf Chip-Segmente vorgenommen werden, die tatsächlich in der Industrie benötigt werden.

1.3.

Das Chip-Gesetz wird kaum einen Beitrag dazu leisten, die derzeitigen Lieferkettenprobleme, deren Auswirkungen aktuell etwa in der Automobilindustrie und im Maschinenbau zu sehen sind, zu lösen. Die Chip-Segmente, auf die die heutige europäische Industrie angewiesen ist, sollten daher mit ergänzenden und spezifischen Maßnahmen adressiert werden, um sie krisenresilienter zu machen. Dies wird nicht nur die bestehende Halbleiterfertigungsindustrie in Europa stärken und in ihrer Modernisierung unterstützen, sondern auch durch eine verbesserte Versorgungssicherheit den auf Chips angewiesenen europäischen Fertigungsindustrien zugutekommen.

1.4.

So sollte für die industriepolitischen Weichenstellungen nicht nur die Strukturgröße der Chips entscheidend sein, sondern auch eine gezielte Bedarfsanalyse unter den industriellen Kunden, um sicherzustellen, dass die geplanten Fördermaßnahmen zielgerichtet sind.

1.5.

Zusätzliche Kriterien, die herangezogen werden sollten, sind etwa die Energieeffizienz der Chips, die Art der für die Produktion verwendeten Rohstoffe sowie eine möglichst zirkuläre Produktion. Kommission, Mitgliedstaaten und Industrie sollten daher gemeinsam diskutieren, wie Bezugsquellen diversifiziert werden können und insbesondere wie im Zuge einer industrialisierten Kreislaufwirtschaft in der Mikroelektronik kritische Rohstoffe besser recycelt werden können.

1.6.

Insbesondere sollte sich die Chip-Strategie der Europäischen Union nicht nur auf Prozessoren beschränken, sondern alle Arten von integrierten Schaltkreisen adressieren und auch passive Komponenten und Verpackungsmaterialien sowie die Herstellung von Maschinen einbeziehen. Das von der Kommission vorgestellte Prinzip „Vom Labor in die Fertigung“ greift zu kurz, da die Wertschöpfungskette nicht an der Fertigung endet.

1.7.

Um sicherzustellen, dass die benötigten Fachkräfte verfügbar sind, um die industriepolitischen Fördermaßnahmen auch umsetzen zu können, schlägt die Kommission eine Reihe von Qualifizierungsmaßnahmen vor. Es fällt jedoch auf, dass der Fokus sehr stark auf hochqualifizierte Beschäftigte gerichtet ist. Dies ist entscheidend, wenn der Technologiesprung zu einem Halbleitersegment < 10 nm gelingen soll. Dies sollte aber nicht außer Acht lassen, dass zur Verbesserung der industriellen Verankerung des Ökosystems insbesondere auch die Zugangsmöglichkeiten für Beschäftigte, die nicht als hochqualifiziert gelten, erleichtert werden müssen.

2.   Einleitung und allgemeine Bemerkungen

2.1.

Im Chip-Gesetz der EU wird vorgeschlagen, auf Europas Stärken aufzubauen und noch bestehende Schwächen zu beseitigen, um ein florierendes Halbleiter-Ökosystem und eine resiliente Lieferkette zu schaffen und gleichzeitig Maßnahmen zur Vorbereitung, Antizipierung und Reaktion auf künftige Unterbrechungen der Lieferketten festzulegen.

2.2.

Der „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Schaffung eines Rahmens für Maßnahmen zur Stärkung des europäischen Halbleiter-Ökosystems (Chip-Gesetz)“ (1) ergänzt die Mitteilung „Ein Chip-Gesetz für Europa“ (2).

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1.   Inhalt des Vorschlags

3.1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) begrüßt den Vorschlag und insbesondere, dass der identifizierte Handlungsbedarf für die Lieferkettensicherheit sowie Transparenz und Zusammenarbeit entlang der Wertschöpfungskette angegangen wird. Das Chip-Gesetz greift mit der Versorgungssicherheit ein für das Gelingen der grünen und digitalen Transformation entscheidendes Thema auf.

3.1.2.

Der EWSA begrüßt in diesem Sinne, dass die Abhängigkeit von Zulieferern aus Drittstaaten, insbesondere in den Bereichen Entwurf, Herstellung, Packaging, Prüfung und Montage, als problematisch erkannt wird.

3.1.3.

Der EWSA stellt fest, dass das Chip-Gesetz kaum einen Beitrag dazu leisten wird, die Lieferkettenprobleme, deren Auswirkungen aktuell etwa in der Automobilindustrie zu sehen sind, zu lösen. Chips werden heute und perspektivisch überwiegend in der Automobilindustrie, aber auch etwa im Bereich der Weißen Ware und im Maschinenbau verwendet, das heißt insbesondere Hableiter > 16 nm. Deshalb sollte das Chip-Segment mit ergänzenden und spezifischen Maßnahmen adressiert werden, um es krisenresilienter zu machen. Dies wird nicht nur die bestehende Halbleiterfertigungsindustrie in Europa stärken und in ihrer Modernisierung unterstützen, sondern auch durch eine verbesserte Versorgungssicherheit den auf Chips angewiesenen europäischen Fertigungsindustrien zugutekommen.

3.1.4.

Der EWSA begrüßt das Ziel, durch eine verbesserte Vernetzung entlang der Wertschöpfungskette und insbesondere durch einen Fokus auf jene Segmente, die besonders kostenintensiv und risikobehaftet sind, die europäische Marktposition zu stärken.

3.1.5.

Der EWSA begrüßt grundsätzlich die vorgeschlagenen Maßnahmen, sowie die Anforderungen an Mitgliedstaaten und Industrie.

3.1.6.

Der EWSA bedauert, dass insbesondere die letztgenannten Produktionsschritte, das heißt Packaging, Prüfung und Montage, keine umfassende Würdigung im Chip-Gesetz erfahren und somit weiterhin vulnerable Stellen im Ökosystem bilden werden.

3.1.7.

Der EWSA bedauert in diesem Sinne, dass das Mikroelektronik-Ökosystem zu Gunsten einer Fokussierung auf das Spitzensegment im Chip-Gesetz nicht adäquat dargestellt wird.

3.1.8.

Der EWSA ist der Auffassung, dass die Frage der Strukturgröße, das heißt insbesondere der angegebenen Nanometerzahl, an Relevanz verliert. Da die angegebene Nanometerzahl ohnehin keine reelle physikalische Dimension mehr beschreibt (3), sollte neu diskutiert werden, ob der exklusive Fokus auf den Nanometerbereich noch sinnvoll ist, oder ob andere Kriterien ergänzend herangezogen werden sollten, die sich mehr am konkreten Bedarf der Abnehmerindustrien orientieren, die aber auch die Ziele der grünen und digitalen Transformation abbilden.

3.1.9.

Im Mittelpunkt einer entsprechenden Strategie sollte demnach die Frage stehen, welche industriellen Bedarfe in den nächsten Jahrzehnten zu befriedigen sind, um die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Industrie zu erhalten und auszubauen. Insbesondere sollte die Strategie sich nicht nur auf Prozessoren beschränken, sondern alle Arten von integrierten Schaltkreisen adressieren und auch passive Komponenten und Verpackungsmaterialien sowie die Herstellung von Maschinen einbeziehen und somit die gesamte Bandbreite des Ökosystems darstellen. Diese Strategie sollte zudem die allgemeine Logistik, sowie die Versorgungssicherheit in Bezug auf Grundstoffe und kritische Rohstoffe umfassen. Da die Märkte für Mikroelektronik sehr dynamisch sind, sollte diese Strategie zudem regelmäßig im Austausch mit den entsprechenden Foren der Interessenträger auf Aktualität überprüft werden.

3.1.10.

Der EWSA begrüßt, dass der Vorschlag dezidiert auch Halbleitersegmente adressiert, die einen reduzierten Energieverbrauch in Zukunftsbranchen, wie etwa im IKT-Sektor, und hier insbesondere bei Rechenzentren und Cloud-Dienstleistern, ermöglichen.

3.1.11.

Der EWSA begrüßt die Ausweisung der integrierten Produktionsstätten und offenen EU-Fertigungsbetriebe. Die Kommission wird jedoch aufgefordert, deutlicher zu definieren, welche Indikatoren herangezogen werden um zu bemessen, dass sie sich „eindeutig positiv auf die Halbleiter-Wertschöpfungskette der Union hinsichtlich der Versorgungssicherheit und der Steigerung der Zahl qualifizierter Arbeitskräfte“ auswirken.

3.1.12.

Der EWSA begrüßt zudem, dass die Möglichkeit eingeräumt wird, die entsprechende Entscheidung zu widerrufen, sollte evident werden, dass die Bewerbung um diesen Status auf der Angabe falscher oder in der Zwischenzeit veralteter Informationen beruhte. Die Kommission sollte eine lückenlose Aufsicht sicherstellen, um die Regelübereinstimmung zu gewährleisten.

3.1.13.

Der EWSA begrüßt grundsätzlich, dass die benannten Behörden der Mitgliedstaaten befähigt werden sollen, industrieseitig Informationen einzuholen, die es ihnen ermöglichen werden, sich einen Überblick über Liefer- und Wertschöpfungsketten sowie deren Schlüsselakteuren zu verschaffen. Es wäre begrüßenswert, die Abfrage EU-einheitlich zu gestalten, damit Unternehmen sich nicht in jedem Mitgliedstaat neu ausrichten müssen. Dies würde bürokratischen Mehraufwand minimieren. Dazu ist es in der Tat sinnvoll, die integrierten Produktionsstätten sowie die offenen EU-Fertigungsbetriebe als im öffentlichen Interesse stehend zu betrachten. Ebenso ist es sinnvoll, dass die Mitgliedstaaten ermutigt werden, nationale Unterstützungsprogramme und Zulassungsverfahren aufzusetzen. Da es sich bei den eingeholten Informationen um sensible Daten handeln kann, ist es wichtig, diese vertraulich zu behandeln. Insbesondere sollte Transparenz darüber geschaffen werden, was mit den abgefragten Daten geschieht.

3.1.14.

Der EWSA begrüßt, dass der Fachkräftemangel spezifisch angesprochen wird, insbesondere auch mit einem Fokus auf der Notwendigkeit, das Halbleiter-Ökosystem attraktiver für Nachwuchstalente zu machen und dass die bestehende Arbeitnehmerschaft in der Branche einen deutlichen Fort- und Weiterbildungsbedarf aufweist, um den technologischen Lückenschluss zu schaffen. Für letztgenannten Adressatenkreis greifen die vorgeschlagenen Maßnahmen jedoch zu kurz und es sollten gezieltere Programme zur Beschäftigungssicherung aufgelegt werden.

3.1.15.

Der EWSA begrüßt die Ankündigung eines Europäischen Chip-Infrastruktur-Konsortiums und fordert den Koordinator sowie die Kommission dazu auf, bei der Zusammensetzung des Konsortiums auf die Repräsentativität zu achten und insbesondere, dass alle Bereiche des Halbleiter-Ökosystems vertreten sind.

3.2.   Reaktionen auf den „Krisenfall“: Transparenz und Produktpriorisierung als sinnvolle Instrumentarien zur Unterstützung der Lieferkettensicherheit

3.2.1.

Der EWSA begrüßt grundsätzlich den Vorschlag der Einführung einer Toolbox zur Sicherstellung der Resilienz gegenüber globalen Marktschwankungen. Diese wird dazu geeignet sein, Transparenz entlang der Wertschöpfungskette zu schaffen und so zu einer verbesserten Versorgungssicherheit beizutragen.

3.2.2.

Insbesondere das Frühwarnsystem wird, wenn alle Akteure ihren Verpflichtungen nachkommen und das notwendige Vertrauen in den sorgfältigen Umgang mit den Informationen besteht, dazu beitragen, Engpässe vorherzusehen und geeignete Gegenmaßnahmen vorzubereiten. Dabei sollte sichergestellt werden, dass Berichtsmöglichkeiten branchen- und akteursübergreifend bestehen und insbesondere auch Betriebs- und Sozialpartnern entsprechende Mechanismen vorgehalten werden.

3.2.3.

Die Möglichkeit, strategisch relevante Bestellungen in integrierten Produktionsstätten und offenen EU-Fertigungsbetrieben sowie in Produktionsstätten, die dies als Option in Gegenleistung zu Staatshilfen akzeptiert haben, zu priorisieren, kann ein angemessenes Mittel zur Sicherstellung der Versorgungssicherheit sein, ist jedoch zugleich ein Eingriff in den Markt. Die Kommission wird daher aufgefordert, deutlicher zu definieren, in welchen Situationen dies angemessen und erwartbar ist.

3.2.4.

Bei öffentlichen Aufträgen können gemeinsame Beschaffungsvorhaben zusätzlich eine sinnvolle Ergänzung darstellen und Rohstoffe sowie Endprodukte verfügbar machen, die für einzelne Mitgliedstaaten möglicherweise nicht oder nur eingeschränkt verfügbar sind.

3.2.5.

Zusätzlich zu diesen Mechanismen sollten Kommission und Mitgliedstaaten jedoch auch über strategische Vorratsbildung sowohl von kritischen Rohstoffen, als auch von auf Grundlage transparenter Kriterien ausgewählter Chip-Typen, nachdenken, um die Versorgungssicherheit in kritischen Bereichen sicherzustellen. Aufgrund der Vielzahl unterschiedlicher Anforderungen an Chips sowie der voranschreitenden technischen Entwicklung sollte die Kommission klare und transparente Kriterien entwickeln, nach denen entschieden werden kann, ob eine strategische Vorratshaltung sinnvoll ist und wann sie gegebenenfalls zum Tragen kommt.

3.3.   Eine ganzheitliche Risikobewertung muss das gesamte Ökosystem in den Blick nehmen

3.3.1.

Der EWSA begrüßt, dass eine Risikobewertung für alle Bereiche des Ökosystems und die gesamte Wertschöpfungskette vorgenommen werden soll, das heißt insbesondere auch mit Blick auf Rohstoffquellen aus Drittstaaten.

3.3.2.

Der EWSA betont jedoch, dass für eine lösungsorientierte Risikobewertung auch eine strategisch gesteuerte Verringerung kritischer Abhängigkeiten vorgenommen werden muss, um die Europäische Union resilienter zu machen. Die Kommission sollte deshalb gemeinsam mit den Mitgliedstaaten diskutieren, wie die Bezugsquellen diversifiziert werden können und insbesondere wie im Zuge einer industrialisierten Kreislaufwirtschaft in der Mikroelektronik kritische Rohstoffe besser recycelt werden können. Dazu muss diskutiert werden, wie die benötigte Infrastruktur, wie etwa Demontageanlagen, aufgebaut werden können, welche Produktanforderungen für eine möglichst umfangreiche und möglichst industrialisierte Recyclingwirtschaft notwendig sein werden und welche Zertifizierungen sinnvoll und praktikabel sind, um eine möglichst umgehende und möglichst vollständige Wiederverwertung der Rohstoffe zu ermöglichen.

3.3.3.

Der EWSA betont zudem, dass die Förderung europäischer Produktionsstätten einen Beitrag zum Erreichen der Ziele des europäischen Grünen Deals darstellen wird. Nicht nur werden die Lieferketten und Transportwege kürzer — durch Investitionen in modernste Produktionstechnik wird auch die Umweltbelastung verringert, und es kann auf eine optimale Rohstoffverwendung sowie auf ein möglichst umfangreiches Abfallrecycling und auf eine effiziente Trinkwasseraufbereitung geachtet werden. Somit wird bei der Produktion der neuesten Generation nicht nur auf deren verbesserte Energieeffizienz geachtet, sondern auch auf den ökologischen Fußabdruck.

3.3.4.

Der EWSA betont außerdem, dass die Förderung europäischer Produktionsstätten die Einhaltung sozialer Mindeststandards, wie etwa in der Europäischen Sozialcharta oder der Europäischen Grundrechtecharta verankert, und so auch den sozialen Fußabdruck verbessern wird.

3.3.5.

Der EWSA stellt heraus, dass, um eine strategische Resilienz der europäischen Industrie zu erreichen, das gesamte Halbleiter-Ökosystem in den Blick genommen werden muss. Das von der Kommission vorgestellte Prinzip „Vom Labor in die Fertigung“ greift zu kurz, da die Wertschöpfungskette nicht an der Fertigung endet und es so nur bedingt dazu geeignet ist, den europäischen Markt unabhängiger von globalen Risiken zu machen. Wenn das Back-End-Segment der Wertschöpfungskette nicht spezifisch adressiert wird, bleibt das Risiko etwa von Naturkatastrophen oder unterbrochenen Transportwegen, das die gegenwärtige Versorgungskrise mit begünstigt hat, ungleich höher. Wie im Chip-Gesetz von der Kommission dargestellt wird, ist der Marktanteil der EU im Verpackungssegment nur bei etwa 5 %, das heißt sogar noch deutlich unter dem Marktanteil der Gesamtindustrie.

3.3.6.

Der EWSA betont, dass eine ganzheitliche Inblicknahme des Ökosystems inklusive der Back-End-Prozesse zudem ein Beitrag zum Erreichen des europäischen Grünen Deals ist. So ist es unter ökologischen Gesichtspunkten nicht sinnvoll, die Front-End-Produktion in Europa zu halten, um die Produkte dann in Drittstaaten zu verschiffen, sie dort zu testen und zu verpacken, nur um sie anschließend wieder in die Union einzuführen. Neben der ökologischen Bilanz sind die so verlängerten Lieferketten deutlich risikoanfälliger. Hier ist die richtige Balance im Sinne einer offenen strategischen Autonomie zu finden, um resilient zu werden, ohne gleichzeitig Gefahr zu laufen, vom Weltmarkt abgekoppelt zu werden.

3.3.7.

Der EWSA empfiehlt daher, insbesondere um unerwünschte geographische Segmentierungen oder Konzentrierungen bestimmter hochprofitabler oder aber kostenintensiver Marktsegmente zu vermeiden, die Rolle der gesamten Lieferkette besser zu beleuchten und insbesondere den Back-End-Prozessen innerhalb der Union einen größeren Raum in der Halbleiterstrategie zuzumessen.

3.3.8.

Der EWSA regt daher an, eine zusätzliche Fokussierung auf fortschrittliche Verpackungstechnologie zu prüfen und vorzunehmen, die geeignet ist, kosten- wie energieeffizient in Europa eingesetzt zu werden und so die Union weiter unabhängig zu machen von globalen Risiken und Marktschwankungen.

3.4.   Ko-Finanzierung als sinnvolle Maßnahme zur Risiko- und Kostenminderung

3.4.1.

Der EWSA begrüßt, dass Staatshilfen unter den genannten Kriterien ermöglicht werden sollen, insbesondere wenn die betreffenden Anlagen ansonsten nicht oder nur eingeschränkt in der Union verfügbar wären und wenn sie im besonderen strategischen Interesse sind.

3.4.2.

Der EWSA begrüßt zudem, dass insbesondere auch die längerfristige Funktionsfähigkeit der betreffenden Anlagen ohne weitere Staatshilfen erwartbar sein muss sowie ein belastbares Bekenntnis auch perspektivisch zur Innovation des Halbleiter-Ökosystems der Union beizutragen.

3.4.3.

Der EWSA betont, dass Anreizeffekte in der Tat messbar sein müssen und dass eine Ko-Finanzierung ohnehin schon geplanter Unternehmungen vermieden werden muss, um sicherzustellen, dass die bereitgestellten Mittel tatsächlich einen positiven Effekt auf Innovation und Beschäftigung im gesamten Halbleiter-Ökosystem haben.

3.4.4.

Der EWSA vermisst jedoch darüberhinausgehende Kriterien, insbesondere da nachweisbare Finanzierungslücken bis zu 100 % geschlossen werden können sollen. Sozialpolitische Kriterien, wie etwa die Haltung des betreffenden Unternehmens in Bezug auf den sozialen Dialog und Kollektivverhandlungen, eine prioritäre Zusammenarbeit mit in der Union ansässigen Zulieferern, aber auch die Zahl der durch die Investitionen zusätzlich entstehenden nachhaltigen Arbeitsplätze sowie die Qualität der Arbeitsbedingungen sollten hier eine Rolle spielen.

3.4.5.

Der EWSA regt zudem an, die Förderung nicht auf einzelne Segmente des Halbleiter-Ökosystems zu konzentrieren, sondern zusätzlich zu den genannten Kriterien auf eine Ausgewogenheit der finanziellen Unterstützung entlang der Wertschöpfungskette zu achten.

3.5.   Fertigkeiten und Qualifizierungsmaßnahmen als zusätzliche Innovationstreiber

3.5.1.

Der EWSA begrüßt, dass das Chip-Gesetz einen Fokus auf Fertigkeiten und Qualifizierungen enthält. Gezielte öffentliche Investitionen in Aus- und Weiterbildung sowie grundsätzlich in Qualifizierung und Umschulung sind insbesondere zum Gelingen der grünen und digitalen Transformation entscheidend. Es fällt jedoch auf, dass der Fokus sehr stark auf hochqualifizierte Beschäftigte gerichtet ist und insbesondere Postgraduiertenprogramme in den Blick nimmt. Dies ist zweifellos entscheidend, wenn der Technologiesprung zu einem Halbleitersegment < 10 nm gelingen soll. Dies sollte aber nicht außer Acht lassen, dass zur Verbesserung der industriellen Verankerung des Ökosystems insbesondere auch die Zugangsmöglichkeiten für Beschäftigte, die nicht als hochqualifiziert gelten, erleichtert werden müssen.

3.5.2.

Das Halbleiter-Ökosystem muss für Beschäftigte attraktiver gemacht werden. Dazu empfiehlt sich neben attraktiven Postgraduiertenprogrammen ein Ansatz, der das gesamte Bildungssystem in den Blick nimmt. Schon an weiterführenden Schulen sollte für das Ökosystem geworben werden, etwa indem Lehrpläne in naturwissenschaftlichen Fächern überarbeitet werden, um die spezifischen Bedürfnisse des Ökosystems zu adressieren. So werden eine frühzeitige Karriereplanung und die entsprechenden Weichenstellungen ermöglicht. Vereinfachte Zugänge zu hochwertigen, bedarfsgerechten und vergüteten Praktika, Hospitationen und Mentoringprogrammen in der Industrie sowie zeitgemäße Berufsinformationsmöglichkeiten können die Attraktivität des Sektors zusätzlich stärken.

3.5.3.

Schließlich muss es aber auch darum gehen, die derzeit bereits im Halbleiter-Ökosystem Beschäftigten für den Umgang mit neuen Produktionsmethoden und den spezifischen Anforderungen im Entwurf und der Produktion von Halbleitern < 10 nm zu schulen, um einen nahtlosen Übergang zur nächsten Technologie-Generation zu ermöglichen. In diesem Sinne ist die Einrichtung eines Europäischen Netzwerks der Kompetenzzentren zu begrüßen, wobei darauf geachtet werden sollte, hier in der Tat zielgerichtete Maßnahmen anzubieten, um die gegenwärtig bereits in der Industrie Beschäftigten fortzubilden.

3.5.4.

Um das Gelingen der grünen und digitalen Transformation sicherzustellen, sollte ein spezifisches Augenmerk gelegt werden auf die Weiterqualifizierung und Umschulung von Beschäftigten, die in Industrien und Regionen arbeiten, die gegenwärtig oder perspektivisch einem Strukturwandel unterzogen werden. Eine aktive Industriepolitik sollte es sich zum Ziel machen, insbesondere Regionen in den Blick zu nehmen, die von Deindustrialisierung und überproportionaler Abwanderung von Menschen im erwerbstätigen Alter betroffen sind, und Anreize für Investitionen in diese Regionen zu schaffen. Zudem sollte diskutiert werden, wie Weiterbildungs- und Umschulungsmaßnahmen mit Kurzarbeit bzw. Arbeitslosengeldbezug kombiniert werden können und wie betroffene Beschäftigte gegebenenfalls über Transfergesellschaften die Möglichkeit erhalten, an relevanten Umschulungsmaßnahmen teilzunehmen.

3.5.5.

Die Mitgliedstaaten sollten zudem dazu ermutigt werden, ihrerseits entsprechende Programme aufzulegen und diese in ihren nationalen Qualifizierungsstrategien zu verankern.

Brüssel, den 15. Juni 2022

Die Präsidentin des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Christa SCHWENG


(1)  COM(2022) 46 final.

(2)  COM(2022) 45 final.

(3)  https://ieeexplore.ieee.org/stamp/stamp.jsp?tp=&arnumber=9063714.


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