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Document 52016AE6003

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Neuer Partnerschaftsrahmen für die Zusammenarbeit mit Drittländern im Kontext der Europäischen Migrationsagenda“ (COM(2016) 385 final)

ABl. C 173 vom 31.5.2017, p. 66–72 (BG, ES, CS, DA, DE, ET, EL, EN, FR, HR, IT, LV, LT, HU, MT, NL, PL, PT, RO, SK, SL, FI, SV)

31.5.2017   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 173/66


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Neuer Partnerschaftsrahmen für die Zusammenarbeit mit Drittländern im Kontext der Europäischen Migrationsagenda“

(COM(2016) 385 final)

(2017/C 173/12)

Berichterstatter:

Cristian PÎRVULESCU

Befassung

Kommission, 17.8.2016

Rechtsgrundlage

Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

 

 

Zuständige Fachgruppe

Außenbeziehungen

Annahme in der Fachgruppe

31.1.2017

Verabschiedung auf der Plenartagung

22.2.2017

Plenartagung Nr.

523

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

225/4/2

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Die Europäische Migrationsagenda sollte so gestaltet sein, dass sie humanitären Aspekten in ihrem Geltungsbereich voll und ganz Rechnung trägt. Dabei darf die EU ihre grundlegenden Verpflichtungen und verbindlichen Rechtsvorschriften zum Schutz von Leben und Menschenrechten — insbesondere derer, die in Gefahr sind — nicht außer Acht lassen.

1.2.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) begrüßt die Vision des Gipfeltreffens von Valletta vom November 2015, dessen Hauptziel es war, ein langfristiges Migrationskonzept zu entwickeln, um die eigentlichen Migrationsursachen anzugehen und einen Dialog mit Drittstaaten auf der Grundlage von Zusammenarbeit und gemeinsamer Verantwortung aufzunehmen. Der EWSA hofft, dass der EU-Afrika-Dialog über Migration und Entwicklung („Rabat-Prozess“) und der Khartum-Prozess zur raschen Umsetzung des Aktionsplans von Valletta beitragen werden.

1.3.

Der EWSA unterstützt die maßgeschneiderten, spezifischen Abkommen mit einzelnen Ländern, in denen die volle Achtung der Menschenrechte festgeschrieben ist. Flexibilität bietet die richtige Perspektive und Kombination von Maßnahmen und Anreizen.

1.4.

Auch wenn klar ist, dass es einer politischen Koordinierung und Straffung bedarf, wird die Migrationsagenda offenbar zu einer übergeordneten Politik, die mit ihren Maßnahmen und Zielen andere Politiken (z. B. Nachbarschafts-, Entwicklungshilfe- und Handelspolitik) überlagert. Ungeachtet der Wichtigkeit der Migrationspolitik hält der EWSA doch zugleich die anderen Politikbereiche für ebenso wichtig und nutzbringend und meint, dass die Mitwirkung an der Migrationspolitik nicht zur Bedingung für die Zusammenarbeit in anderen Politikfeldern gemacht werden sollte. Das Ziel der Koordinierung ist in erster Linie die Förderung von Synergie, Komplementarität und Vollumfänglichkeit der verschiedenen Politikbereiche.

1.5.

Bei einem Mangel an Kooperation mit Drittländern muss unterschieden werden, ob dies auf fehlenden politischen Willen oder auf unzureichende Kapazitäten und Mittel zurückzuführen ist. Beide Fälle verlangen nach Abhilfe, aber auf unterschiedliche Art. Um Nachhaltigkeit und Widerstandsfähigkeit zu gewährleisten, sollte der Schwerpunkt zunächst auf dem Kapazitätsaufbau liegen. Auf keinen Fall darf die Hilfe an Rückübernahme und Grenzkontrollen geknüpft werden.

1.6.

Die Wirtschaft ist für die Behandlung der eigentlichen Migrationsursachen von zentraler Bedeutung. Deshalb dürfen aber die politischen, institutionellen und administrativen Aspekte von Stabilität und Wohlstand nicht ignoriert werden. Die Strategie sollte so überarbeitet werden, dass sie eine nachdrücklichere und gezieltere Unterstützung in drei Bereichen vorsieht: Konfliktlösung und Staatsbildung, Förderung von Demokratie und Menschenrechten sowie Entwicklung der Zivilgesellschaft.

1.7.

Zur langfristigen Behebung der eigentlichen Migrationsursachen braucht ein Land eine tragfähige und rechtmäßige Regierung, starke Repräsentationsorgane, effektive Parteien, Massenmedien und zivilgesellschaftliche Organisationen. Die EU sollte erwägen, der Demokratiehilfe einen angemessenen Stellenwert einzuräumen und sie zu fördern, statt Demokratiefragen als „allgemeine Rahmenbedingungen für Unternehmen“ zu behandeln, da dies gegenwärtig in der dritten Säule der Investitionsoffensive für Drittländer erwähnt wird.

1.8.

Die Entwicklung legaler Migrationskanäle und institutioneller Kapazitäten zur Unterstützung der legalen Migration sollte für die EU, ihre Mitgliedstaaten und für die Drittstaaten eine Priorität in dem Partnerschaftsrahmen für die Zusammenarbeit mit Drittländern sein.

1.9.

Zivilgesellschaftliche Organisationen spielen eine bedeutende Rolle dabei, die Neuansiedlung, Reise und Aufnahme von Migranten und Flüchtlingen sicherer und humaner zu gestalten. In dem Vorschlag sollten die Rolle und die Unterstützung der Aktivitäten dieser Organisationen überdacht werden, angefangen bei lokalen Organisationen in den Herkunfts- und Transitländern bis hin zu Organisationen, die sich an Rettungsaktionen beteiligen und Aufnahme- und Integrationsmaßnahmen koordinieren. Darüber hinaus sollten die Organisationen der Zivilgesellschaft an der Überwachung und Bewertung der Maßnahmen aller für die Migrationssteuerung zuständigen Behörden beteiligt werden.

1.10.

Der EWSA ruft die Behörden auf nationaler, regionaler und kommunaler Ebene auf, sich an der Umsetzung der Migrations- und Asylpolitik entsprechend den internationalen rechtlichen Verpflichtungen und zum Zweck des Schutzes der Menschenrechte und der Erleichterung der Integration zu beteiligen.

1.11.

Die EU und die Mitgliedstaaten müssen bei der Umsetzung dieser Maßnahmen und Verfahren die Menschenrechte unmittelbar oder mittelbar achten und sich an den Grundsatz der Nichtzurückweisung auf der Grundlage der Genfer Konvention halten.

1.12.

Die EU muss sich sicher sein, wenn sie Herkunfts- und Transitländern den Status eines „sicheren Landes“ verleiht, damit der Grundsatz der Nichtzurückweisung nicht verletzt wird (1).

1.13.

Die Kommission hat ihre strategischen Vorstellungen darüber dargelegt, wie die EU durch ihr auswärtiges Handeln die Resilienz und Eigenständigkeit von Zwangsvertriebenen so nah wie möglich am Herkunftsland der Flüchtlinge fördern kann. Diese Vision hat durchaus gewisse Vorzüge, doch die EU als verantwortungsvoller und über umfangreiche Ressourcen verfügender Akteur auf der internationalen Bühne hat auch ihre eigene moralische und rechtliche Pflicht, im Einklang mit internationalem Verträgen jenen zu helfen, die internationalem Schutz suchen.

1.14.

Der EWSA begrüßt die steigenden Rückkehr- und Rückübernahmequoten mit einer Präferenz für die freiwillige Rückkehr und einem Schwerpunkt auf der Wiedereingliederung. Die freiwillige Rückkehr mit dem Schwerpunkt auf Wiedereingliederung sollte eine der zentralen strategischen Optionen sein, auf die die EU und die Mitgliedstaaten bei der Steuerung der Migration setzen.

1.15.

In allen Pakten und Abkommen sollte die EU darauf achten, dass vorwiegend positive Anreize eingesetzt werden, dass die Hilfe durchdacht und gut organisiert ist und dass sie auch auf die institutionellen und administrativen Kapazitäten staatlicher Organe gerichtet ist, dass sie die Demokratie und die Menschenrechte fördert und die Organisationen der Zivilgesellschaft in alle (insbesondere lokale und nationale) Prozesse, einbezogen werden.

1.16.

Der EWSA ruft die EU-Organe, die Mitgliedstaaten und die Regierungen von Drittstaaten auf, Diaspora-Gruppen möglichst umfassend einzubinden und zu unterstützen. Sie könnten eine wertvolle Ressource für die langfristige Entwicklung der Herkunfts- und Transitländer sein und auch der europäischen Gesellschaft und Wirtschaft wertvolle Impulse geben. Die Förderung von Vielfalt und Weltoffenheit ist ein Wesensmerkmal der europäischen Gesellschaft, und die Migrationspolitik muss diesen beiden Grundsätzen gerecht werden.

1.17.

Der EWSA ermuntert die Mitgliedstaaten, sich uneingeschränkt an den Anstrengungen zur Koordinierung der EU-Politik im Bereich der Migration zu beteiligen. Solidarität und Kooperation der Mitgliedstaaten sind zwei Voraussetzungen für eine wirkungsvolle Umsetzung der Partnerschaften mit Drittländern.

1.18.

Der EWSA bestärkt die Kommission, die geplante Dialogplattform einzurichten, über die sich Unternehmen, Gewerkschaften und andere Sozialpartner austauschen können, um den größtmöglichen Nutzen aus der Migration zu ziehen — sowohl für die europäische Wirtschaft als auch für die Migranten selbst (2). Der EWSA ist bereit, an ihrer Schaffung mitzuarbeiten und zu ihrem guten Funktionieren beizutragen.

2.   Hintergrund (auf der Grundlage der Mitteilung der Europäischen Kommission)

2.1.

Vieles ist seit der Annahme der Europäischen Agenda für Migration erreicht worden, gerade auch jenseits der EU-Grenzen. Hunderttausende wurden auf See gerettet (3). Auf dem Gipfel von Valletta im November 2015 rückten Migrationsfragen in den Mittelpunkt der Beziehungen der EU zu afrikanischen Ländern.

2.2.

Es muss aber noch viel mehr getan werden. Die EU ist nach wie vor mit einer humanitären Krise konfrontiert. Viele Drittstaaten und EU-Partnerländer haben derzeit Flüchtlinge aufgenommen, darunter zahlreiche unbegleitete Minderjährige, die gezwungen waren, ihre Heimat zu verlassen — außerdem Wirtschaftsmigranten, die nach Europa wollen.

2.3.

Das übergeordnete Ziel des Partnerschaftsrahmens ist ein kohärentes, maßgeschneidertes Engagement der Union und ihrer Mitgliedstaaten, die in koordinierter Weise unter Bündelung verschiedener Instrumente, Mittel und Einflussmöglichkeiten handeln sollen, um umfassende Partnerschaften („Migrationspakte“) mit Drittländern zur besseren Steuerung der Migration unter uneingeschränkter Achtung unserer humanitären und menschenrechtsbezogenen Verpflichtungen zu errichten.

2.4.

Ein sofortiges Handeln zusammen mit den wichtigsten Partnern ist in folgenden Bereichen nötig, für die spezifische, messbare Ziele aufgestellt werden sollten: Verbesserung des gesetzgeberischen und institutionellen Rahmens für Migration in gemeinsamer Arbeit mit den wichtigsten Partnern; konkrete Hilfe beim Kapazitätsaufbau für das Grenz- und Migrationsmanagement, einschließlich der Gewährung von Schutz für Flüchtlinge; Steigerung der Rückkehr- und Rückübernahmequoten mit einer Präferenz für die freiwillige Rückkehr und einem Schwerpunkt auf der Wiedereingliederung; Eindämmung irregulärer Migrationsströme bei gleichzeitiger Öffnung legaler Migrationskanäle, einschließlich verstärkter Ansiedlungsbemühungen.

3.   Allgemeine Erwägungen

3.1.

Nach Überzeugung des EWSA ist eine gut gesteuerte Migration eine Chance für die EU, die Herkunftsländer und für die Migranten und deren Familien. Migration liegt in der Natur des Menschen. In der jüngeren Geschichte der europäischen Völker ist die Migration immer schon sehr wichtig gewesen.

3.2.

Probleme treten dann auf, wenn sich die Menschen nicht aus freien Stücken auf den Weg machen, dort, wo viele Migranten durch extreme Armut, Krieg oder Naturkatastrophen zum Verlassen ihrer Heimat gezwungen sind. Diese Menschen sind vielen Gefahren ausgesetzt. Wenn die europäischen Länder keine Verfahren und gesetzlichen Regelungen auf den Weg bringen, die eine leichtere Kanalisierung der Migration über legale und transparente Verfahren erlauben, werden viele Menschen, die irreguläre Routen — oft unter Lebensgefahr — einschlagen, zu Opfern krimineller Netze, die sich der Schleusung und dem Menschenhandel widmen.

3.3.

Der EWSA mahnt, dass bei der Entwicklung von Maßnahmen und Gesetzen zur Regelung der Migration und von Grenzkontrollen die Menschenrechtsübereinkommen und die EU-Grundrechtecharta in vollem Umfang einzuhalten sind.

3.4.

Der Vorschlag der Kommission sorgt für die dringend benötigte Koordinierung und Harmonisierung der Verfahren und Instrumente, die zur Bewältigung des immer komplexer werdenden Migrationsprozesses eingesetzt werden. Angesichts der Art und der Dynamik neuerer Migrationstendenzen ist es sicher sinnvoll, die Prioritäten zu überprüfen und klarer zu ordnen.

3.5.

Der EWSA hält es für völlig gerechtfertigt, den Fokus auf die Rettung von Menschen, die auf ihrer Reise in Gefahr sind, zu richten. Das sollte für die EU und die Mitgliedstaaten absolute Priorität haben. Auch wenn es immer noch zum Verlust von Menschenleben auf See kommt, würdigt der EWSA die Arbeit normaler Bürger, zivilgesellschaftlicher Organisationen sowie von Soldaten und zivilem Personal, die sich an Rettungsmaßnahmen beteiligen.

3.5.1.

Neben den erklärten kurzfristigen Zielen der Migrationspakte — nämlich dem Retten von Menschenleben im Mittelmeer, der Steigerung der Rückkehrquote in die Herkunfts- und Transitländer und dem Bemühen, Migranten und Flüchtlingen einen Verbleib in der Nähe ihrer Heimat zu ermöglichen und sie davon abzuhalten, eine gefährliche Reise auf sich zu nehmen — ruft der EWSA die Europäische Kommission auch auf, darin den Schutz von Migranten auf der sog. Balkanroute, deren Leben und Sicherheit bedroht sein könnte, sowie die Schaffung legaler Migrationsrouten aufzunehmen.

3.6.

Der EWSA weist erneut darauf hin, dass die EU und ihre Mitgliedstaaten die weltweit größten Geber von Entwicklungs- und humanitärer Hilfe sind und dass die EU eine erhebliche Unterstützung für Flüchtlinge, Binnenvertriebene und Aufnahmegemeinschaften leistet, zum Beispiel am Horn von Afrika und im Gebiet des Tschadsees (Kenia, Somalia, Uganda, Äthiopien und Sudan).

3.6.1.

Die Migrationsagenda sollte so gestaltet sein, dass sie dem Umfang der humanitären Dimension voll Rechnung trägt. Die EU hat Schwierigkeiten, die gegenwärtigen Migranten- und Flüchtlingsströme zu bewältigen. Sie sollte jedoch ihre grundlegenden Verpflichtungen und rechtlich bindenden Vorschriften für den Schutz von Leben und Menschenrechten — insbesondere derer, die in Gefahr sind — nicht vergessen.

3.7.

Die Migrationsagenda wird nur in dem Maße erfolgreich sein, in dem Drittstaaten zu einer engen Zusammenarbeit mit der EU und ihren Mitgliedstaaten bereit und in der Lage sind. In jedem Land hat die Migration ein spezifisches Profil. Manche sind Herkunftsländer, in denen es Konflikte, Spannungen und ernste Formen von Deprivation gibt; bei anderen handelt es sich um Transitländer, die zwar stabiler, aber auch vulnerabler sind. Einige davon haben es mit einer unverhältnismäßig hohen Zahl von Flüchtlingen und Migranten zu tun, die bei ihnen Sicherheit und Hilfe suchen, vor allem Libanon, die Türkei und Jordanien. Ihre Bereitschaft und Fähigkeit zur Umsetzung von Maßnahmen, die sich aus dieser Migrationspartnerschaft ergeben, hängt von verschiedenen, komplexen historischen, politischen, wirtschaftlichen, sicherheitspolitischen und kulturellen Faktoren ab. Daher ist es notwendig, die richtige Perspektive und Kombination von Aktionen und Anreizen für jedes Land zu finden. Gleichzeitig sollten die Pakte einen gemeinsamen Fokus haben, durch den die institutionelle, demokratische, soziale und wirtschaftliche Entwicklung der Drittstaaten gefördert wird.

3.8.

Die Migrationsagenda muss weiter gestärkt und besser auf andere relevante Politikbereiche abgestimmt werden. Im Vorschlag der Kommission werden drei solcher Politikbereiche genannt: Nachbarschaftspolitik, Entwicklungshilfe und Handel. In der europäischen Nachbarschaftspolitik soll etwa die Hälfte der verfügbaren Mittel für migrationsbezogene Maßnahmen bereitgestellt werden. Im Bereich der Entwicklungspolitik sieht der Vorschlag vor, positive und negative Anreize einzuführen, damit diejenigen Länder belohnt werden, die ihrer internationalen Verpflichtung zur Rückübernahme eigener Staatsangehöriger nachkommen, bei der Steuerung irregulärer Migrationsströme aus Drittländern kooperieren oder Maßnahmen zur angemessenen Aufnahme von Menschen ergreifen, die vor Konflikten und Verfolgung fliehen. Außerdem sind für diejenigen Länder, die nicht bei der Rückübernahme und Rückführung kooperieren, Konsequenzen vorgesehen. In der Handelspolitik, bei der die EU ihren Partnern Präferenzregelungen gewähren kann, soll dem Vorschlag der Kommission zufolge bei der Evaluierung der Handelspräferenzen im Rahmen von „APS +“ auch die Zusammenarbeit im Bereich der Migration berücksichtigt werden.

3.9.

Daneben sollten grundsätzlich alle Politikbereiche der EU, einschließlich Bildung, Forschung, Klimawandel, Energie, Umwelt und Landwirtschaft, zu einem Gesamtpaket gebündelt und als migrationsrelevant betrachtet werden, um ihnen in einschlägigen Diskussionen ein maximales Gewicht zu verleihen.

3.10.

Zwar ist der Bedarf an politischer Koordinierung und Straffung offenkundig, doch wirft diese Strategie ist in verschiedener Hinsicht problematisch Die Migrationsagenda wird offenbar zu einer übergeordneten Politik, die mit ihren Maßnahmen und Zielen andere Politikfelder überlagert. Das könnte diese anderen Politiken, die alle legitime Ziele und Geltungsbereiche haben, beeinträchtigen. Die Nachbarschaftspolitik soll für Stabilität und Wohlstand an den EU-Grenzen sorgen; durch eine unverhältnismäßig starke Ausrichtung auf Migration könnten andere relevante Bereiche an den Rand gedrängt werden. Die Entwicklungspolitik hat ebenfalls umfangreiche Zielsetzungen, einschließlich der Unterstützung benachteiligter Gruppen und der Schaffung besserer wirtschaftlicher und sozialer Aussichten für Millionen von Menschen. Die Handelspolitik hat wiederum starke entwicklungspolitische Bezüge und schafft mehr Chancen für EU-Bürgern und Drittstaatsangehörigen gleichermaßen.

3.11.

Der EWSA erkennt zwar die Bedeutung der Migrationspolitik an, hält andere Politiken aber für ebenso wichtig und nutzbringend. Das Ziel der Koordinierung ist in erster Linie die Förderung von Synergie, Komplementarität und Vollumfänglichkeit der verschiedenen Politikbereiche.

3.12.

Im Zusammenhang damit legt die spezifische Formulierung der Politikkoordinierung die Möglichkeit eines mit Auflagen und Zwang verbundenen Ansatzes nahe — die Drittstaaten sollen mit der EU und deren Mitgliedstaaten bei der Rückübernahme und Rückkehr ihrer eigenen Staatsangehörigen kooperieren, Migrantenströme in ihrem Hoheitsgebiet und über Grenzen hinweg steuern und Menschen aufnehmen, die vor Konflikten und Verfolgung fliehen. Andernfalls würden sie ihren Zugang zur Finanzierung und Unterstützung durch die EU sowie zum EU-Markt gefährden. Diese Option könnte sich als problematisch und letztlich ineffektiv erweisen. Die Zusammenarbeit von Drittländern im Rahmen der Migrationsagenda ist durch interne Anliegen und interne Kapazitäten motiviert. Bei einem Mangel an Kooperation muss unterschieden werden, ob dies auf politischen Willen oder auf unzureichende Kapazitäten und Mittel zurückzuführen ist. Beide Fälle verlangen nach Abhilfe, aber auf unterschiedliche Art. Um Nachhaltigkeit und Widerstandsfähigkeit zu gewährleisten, sollte der Schwerpunkt zunächst auf dem Kapazitätsaufbau liegen. Sehr wichtig ist auch die Trennung zwischen Entwicklungshilfe und Kooperation in Migrationsfragen. Letztere darf auf keinen Fall zur Vorbedingung für erstere werden.

3.13.

Bei der Frage, wie den eigentlichen Migrationsursachen begegnet werden sollte, bezieht sich die Kommission in ihrem Vorschlag fast ausschließlich auf wirtschaftliche Aspekte. Auch unterstreicht sie die Rolle privater Investoren, die in aufstrebenden Märkten nach neuen Investitionsmöglichkeiten suchen. Im Vorschlag heißt es dazu: „Anstatt dass irreguläre Migranten ihr Leben beim Versuch aufs Spiel setzen, auf den europäischen Arbeitsmarkt zu gelangen, sollten europäische öffentliche und private Mittel für Investitionen in den Herkunftsländern mobilisiert werden.“

3.14.

Die Kommission erwägt eine ambitionierte Investitionsoffensive für Drittstaaten — mit drei Säulen: „Die erste Säule würde es ermöglichen, die knappen öffentlichen Mittel innovativ zur Mobilisierung privater Investitionen einzusetzen, indem zusätzliche Garantien und Vorzugsbedingungen gewährt werden. Bei der zweiten Säule läge der Schwerpunkt auf technischer Hilfe für lokale Behörden und Unternehmen, damit sie mehr erfolgversprechende Projekte konzipieren und die internationalen Investoren auf diese aufmerksam machen können. Bei der dritten Säule ginge es um die Verbesserung der allgemeinen Rahmenbedingungen für Unternehmen durch Förderung einer guten Regierungsführung, Korruptionsbekämpfung und Beseitigung von Investitionshindernissen und Marktverzerrungen.“

3.15.

Die Wirtschaft ist für die Behandlung der Migrationsursachen von zentraler Bedeutung. Damit sollten die politischen, institutionellen, administrativen und sozialen Aspekte von Stabilität und Wohlstand eng verbunden sein. Die jahrzehntelangen Erfahrungen im Bereich der Unterstützung und Entwicklungshilfe zeigen, dass Institutionen von grundlegender Bedeutung sind und dass die angestrebte Dynamik nicht in Gang kommen wird, wenn geeignete Rahmenbedingungen und Infrastrukturen fehlen. Private Investoren würden nicht in den Herkunfts- und Transitländern investieren, wenn sie instabil wären. Investitionsfinanzierung, Entwicklung und andere Politikbereiche sollten getrennt bleiben, aber komplementäre Ziele haben.

3.16.

Viele Drittstaaten — insbesondere die, die jetzt Herkunftsländer von Flüchtlingen und Migranten sind — haben grundlegende Probleme in puncto Stabilität und Effizienz der Regierung. Ihre Infrastrukturen und Volkswirtschaften sind schwach, ihre Verwaltungsapparate unterentwickelt. Deshalb sollten erneute Bemühungen um Konfliktlösung und Staatsbildung erwogen werden. Das gilt nicht nur für Syrien und Libyen, sondern auch für viele andere Länder. Die Anerkennung dieser Tatsache würde es leichter machen, Maßnahmen und Aktionen zu priorisieren und die eigentlichen Gründe der Flucht von Menschen aus bzw. durch die betreffenden Länder anzugehen. Eng definierte Maßnahmen, z. B. die Ausbildung von Grenzschutzbeamten oder deren Ausstattung mit technischen Hilfsmitteln, die Zerschlagung von Schleusernetzen oder die Bereitstellung von Anreizen zur Rückkehr, werden eine positive, aber begrenzte Wirkung haben. Migration ist ein Phänomen, das mit Staatsschwäche und Staatsversagen unterschiedlicher Art und verschiedenen Ausmaßes zusammenhängt.

3.17.

Die Erwähnung der Regierungsführung in der dritten Säule der Investitionsoffensive für Drittstaaten unter den „allgemeinen Rahmenbedingungen für Unternehmen“ reicht nicht aus, um das gesamte Spektrum von Problemen abzudecken, die es zu lösen gilt. Zur langfristigen Behebung der eigentlichen Migrationsursachen braucht ein Land eine tragfähige, rechtmäßige Regierung, starke Repräsentationsorgane, effektive Parteien, Massenmedien und zivilgesellschaftliche Organisationen. Die EU sollte erwägen, der Demokratiehilfe einen angemessenen Stellenwert einzuräumen und sie zu fördern. Das ist nicht nur in der Migrationspolitik, sondern auch in anderen Politikbereichen wie Nachbarschaft und Handel von Bedeutung.

3.18.

Im Kommissionsvorschlag wird die Rolle der Zivilgesellschaft nur unzureichend anerkannt und unterstützt. Zivilgesellschaftliche Organisationen spielen eine bedeutende Rolle dabei, die Neuansiedlung, Reise und Aufnahme von Migranten und Flüchtlingen sicherer und humaner zu gestalten. Ob in Flüchtlingslagern, auf Migrationsrouten (einschließlich des Seewegs) oder in Aufnahmezentren in der EU — sie leisten wertvolle, sogar unerlässliche Hilfe. Im Vorschlag sollten die Rolle und die Unterstützung der Aktivitäten dieser Organisationen überdacht werden — angefangen bei lokalen Organisationen in Herkunfts- und Transitländern bis hin zu Organisationen, die sich an Rettungsaktionen beteiligen sowie Aufnahme- und Integrationsmaßnahmen verwalten. Darüber hinaus sollten die Organisationen der Zivilgesellschaft an der Überwachung und Bewertung der Maßnahmen aller für die Migrationssteuerung zuständigen Behörden beteiligt werden. Ihre Beiträge und Rückmeldungen könnten dafür sorgen, dass sich der gesamte Prozess stärker an Menschenrechtsstandards orientiert, die in internationalen Übereinkommen und EU-Verträgen anerkannt und garantiert sind.

4.   Besondere Bemerkungen

4.1.

Bei allen Maßnahmen und Verfahren sollten die EU und die Mitgliedstaaten unmittelbar oder mittelbar die Menschenrechte achten und sich an den Grundsatz der Nichtzurückweisung entsprechend der Genfer Konvention halten.

4.2.

Der EWSA ist über das Abkommen zwischen der EU und der Türkei und seine Auswirkungen auf die Grundrechte der davon Betroffenen zutiefst besorgt. Die Erklärung EU-Türkei wird von zivilgesellschaftlichen Gruppierungen und Menschenrechtsorganisationen kritisiert, weil die Türkei darin als „sicheres Land“ bezeichnet wird. Die EU muss sich sicher sein, wenn sie einem Herkunfts- oder Transitland den Status „sicheres Land“ verleiht, damit es nicht zu Verstößen gegen den Grundsatz der Nichtzurückweisung kommt.

4.3.

Die Kommission hat ihre strategischen Vorstellungen darüber dargelegt, wie die EU durch ihr auswärtiges Handeln die Resilienz und Eigenständigkeit von Zwangsvertriebenen so nah wie möglich am Herkunftsland der Flüchtlinge fördern kann (4). Auch wenn dieses Konzept bestimmte Vorzüge hat, ist darauf hinzuweisen, dass die EU als verantwortungsvoller, über zahlreiche Mittel verfügender internationaler Akteur auch die moralische und rechtliche Pflicht hat, denjenigen, die um internationalen Schutz ersuchen, zu helfen.

4.4.

Die operativen Schritte zur Bekämpfung von Schleuseraktivitäten werden begrüßt. Schleuser verlangen von den Migranten für ihre Hilfe sehr viel Geld und setzen sie großen Gefahren aus. Gleichzeitig wird die Bekämpfung von Schleuseraktivitäten nicht die strukturellen Migrationsprobleme lösen. Auch unter diesem Aspekt ist die Schaffung legaler Migrationswege von zentraler Bedeutung, denn dies würde die Abhängigkeit der Migranten von Schleusernetzen verringern,

4.5.

Auf Ebene der EU und der Mitgliedstaaten muss ein Koordinierungsmechanismus eingeführt werden, damit die mit den Migrationspakten verbundenen Ziele erreicht werden. Wenn einige Mitgliedstaaten historische Beziehungen zu den Drittstaaten haben, können diese dazu genutzt werden, die Zusammenarbeit zu verbessern.

4.6.

Der EWSA begrüßt den bevorstehenden Vorschlag für ein strukturiertes Neuansiedlungssystem, das einen gemeinsamen Ansatz für die sichere und legale Einreise in die EU für Personen, die internationalen Schutz benötigen, durch Neuansiedlung umfasst, was ein unmittelbarer Ausdruck des Bemühens der EU wäre, den am stärksten belasteten Ländern zu helfen (5). Der Valletta-Aktionsplan sieht die Verpflichtung der EU und der Mitgliedstaaten vor, Pilotprojekte auf den Weg zu bringen, die Angebote für legale Migration bündeln. Der Vorschlag sollte jedoch viel klarer sein und spezifische umzusetzende Projekte benennen.

4.7.

Der EWSA begrüßt den am 7. Juni 2016 vorgelegten Vorschlag zur Überarbeitung der Blauen Karte (6), durch die hochqualifizierte Migranten in den Arbeitsmarkt der EU geholt werden sollen.

4.8.

Der EWSA begrüßt, dass die Migrationspakte darauf ausgerichtet werden, die Wirksamkeit und Nachhaltigkeit des Rückkehrprozesses zu steigern und die Rückübernahmeländer (insbesondere das Umfeld, in das die Rückkehrer wiedereingegliedert werden sollen) in ausreichendem Maße finanziell zu unterstützen. Die Bereitstellung von Anreizen für Behörden und Einzelne ist unerlässlich, um einen wirkungsvollen Prozess zu gewährleisten.

4.9.

Der EWSA befürwortet die steigenden Rückkehr- und Rückübernahmequoten mit einer klaren Präferenz für die freiwillige Rückkehr und dem Schwerpunkt auf Wiedereingliederung. Dies sollte eine der zentralen strategischen Optionen sein, auf die die EU und die Mitgliedstaaten bei der Steuerung der Migration setzen. Damit wird die Chance, dass die beteiligten Akteure zusammenarbeiten, erhöht und die Migration in einen möglichen Motor der lokalen Entwicklung verwandelt.

4.10.

Die Anstrengungen der EU und der Mitgliedstaaten sollen auf globaler Ebene koordiniert werden. Der EWSA befürwortet die Empfehlung der Europäischen Kommission zur Unterstützung der Schaffung eines von der UN getragenen globalen Neuansiedlungssystems, das die zügige und effiziente Neuansiedlung in sicheren Ländern ermöglicht. Die EU verfügt sowohl über die Mittel als auch die Erfahrung, um entscheidende Fortschritte zu erreichen, z. B. indem sie auf einen stärker global und multilateral geprägten Prozess der Migrationssteuerung drängt.

4.11.

Der EWSA unterstützt generell die Ausrichtung der spezifischen Partnerschaften mit Drittstaaten: den Abschluss von Pakten mit Jordanien und Libanon, die Weiterentwicklung der Zusammenarbeit zwischen der EU und Tunesien auf der nächsten Stufe, die Initiierung und Aushandlung von Pakten mit Niger, Nigeria, Senegal, Mali und Äthiopien sowie die Unterstützung der libyschen Regierung der nationalen Einheit. In diesen Pakten und Abkommen sollte die EU darauf achten, dass vorwiegend positive Anreize eingesetzt werden, dass die Hilfe durchdacht und gut organisiert ist und dass sie auch auf die institutionellen und administrativen Kapazitäten staatlicher Organe gerichtet ist, dass sie die Demokratie und die Menschenrechte fördert und Organisationen der Zivilgesellschaft in alle Prozesse, insbesondere lokale und nationale Prozesse, einbezogen werden.

4.12.

Der EWSA nimmt zur Kenntnis, dass sich alle Seiten um einen funktionsfähigen und effektiven partnerschaftlichen Rahmen bemühen, so wie im ersten Fortschrittsbericht der Europäischen Kommission dargelegt (7). Die Initiierung von durch den EU-Treuhandfonds für Afrika finanzierten Projekten in fünf prioritären Ländern zeigt, dass eine Zusammenarbeit möglich ist. Der EWSA fordert die EU-Institutionen dazu auf, die Verordnung über den Europäischen Fonds für nachhaltige Entwicklung zügig zu verabschieden, der ein entscheidendes Instrument zur Förderung der nachhaltigen Entwicklung, einschließlich des Wachstums, der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung und der regionalen Integration außerhalb Europas ist.

Brüssel, den 22. Februar 2017

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Georges DASSIS


(1)  ABl. C 71 vom 24.2.2016, S. 82.

(2)  Die Europäische Migrationsagenda, COM(2015) 240 final, S. 15.

(3)  Allein im Rahmen der italienischen Operation „Mare Nostrum“ wurden 140 000 Menschen aus dem Mittelmeer gerettet. Seit 2015 haben EU-Operationen im Mittelmeer zur Rettung von über 400 000 Menschen beigetragen.

(4)  COM(2016) 234 final vom 26. April 2016.

(5)  Siehe COM(2016) 197 final vom 6. April 2016.

(6)  COM(2016) 378 final.

(7)  COM(2016) 700 final.


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