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Document 52012IE1590

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Notwendigkeit einer europäischen Verteidigungsindustrie: industrielle, innovative und soziale Aspekte“ (Initiativstellungnahme)

ABl. C 299 vom 4.10.2012, p. 17–23 (BG, ES, CS, DA, DE, ET, EL, EN, FR, IT, LV, LT, HU, MT, NL, PL, PT, RO, SK, SL, FI, SV)

4.10.2012   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 299/17


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Notwendigkeit einer europäischen Verteidigungsindustrie: industrielle, innovative und soziale Aspekte“ (Initiativstellungnahme)

2012/C 299/04

Berichterstatter: Joost VAN IERSEL

Ko-Berichterstatterin: Monika HRUŠECKÁ

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss am 19. Januar 2012 gemäß Artikel 29 Absatz 2 seiner Geschäftsordnung, eine Initiativstellungnahme zu folgendem Thema zu erarbeiten:

"Notwendigkeit einer europäischen Verteidigungsindustrie: industrielle, innovative und soziale Aspekte".

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Beratende Kommission für den industriellen Wandel nahm ihre Stellungnahme am 11. Juni 2012 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 482. Plenartagung am 11./12. Juli 2012 (Sitzung vom 11. Juli) mit 132 Stimmen bei 1 Gegenstimme und 9 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1

Die Welt unterliegt raschem geopolitischem Wandel. Die Führungsposition der westlichen Welt wird sowohl in wirtschaftlicher als auch in politischer Hinsicht in Frage gestellt. Während die Verteidigungshaushalte überall in der Europäischen Union gekürzt werden, steigen die Rüstungsausgaben in China, Indien, Brasilien, Russland und anderen Ländern an. Der EWSA fordert den Rat und die Kommission deshalb auf, eine Gesamtbewertung ausschlaggebender Faktoren der Stellung und Rolle der EU in der Welt vorzunehmen, die in einer überzeugenden Aktualisierung der europäischen Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik mündet.

1.2

Die Verteidigungspolitik wird durch die strategischen Interessen, wahrgenommenen Bedrohungen und politischen Ziele der Länder geprägt; in Europa sind diese hauptsächlich national definiert. Überholte Ansätze führen offenkundig zu zunehmender Zersplitterung, Lücken, Überkapazität und fehlender Interoperabilität der europäischen Verteidigungsfähigkeiten. Die Argumente zugunsten einer Verbesserung sind überwältigend; es ist lediglich eine Frage des politischen Willens. So wurde schon 1986 überzeugend argumentiert (1). Heute ist die Situation politisch, wirtschaftlich und verteidigungspolitisch gesehen wesentlich dringlicher. Der EWSA fordert den Rat auf, ernsthaft an einem EU-Verteidigungsschirm zu arbeiten.

1.3

Die Sicherheits- und Verteidigungspolitik sollte das Selbstvertrauen der EU und der Mitgliedstaaten stärken. Sie sollte in der Gesellschaft und in der breiten Öffentlichkeit, bei den adäquat ausgerüsteten Soldaten, bei Unternehmen und bei den Arbeitnehmern des Sektors Vertrauen erwecken. Die EU-Bürger haben ein Recht auf angemessenen Schutz. Angemessene zukunftsfähige europäische Rüstungsgüter werden immer dringender benötigt. Daher sind isolierte Maßnahmen von Mitgliedstaaten völlig unzureichend und eine Verschwendung von Steuergeldern.

1.4

Im Einklang mit den Politiken und aktuellen Praktiken der USA und anderer (aufstrebender) Weltakteure sowie angesichts der Tatsache, dass es die ausschließliche Zuständigkeit der Staaten ist, die Bürger zu schützen und die Sicherheit zu gewährleisten, unterstreicht der EWSA die Notwendigkeit, im Rahmen der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) europäische strategische Interessen zu definieren (2). Das Dreieck aus Außenpolitik und Sicherheit, Verteidigung und Industriekapazität ist letztlich unteilbar; es unterstützt Europas Stellung in der Welt sowie seine wirtschaftlichen und politischen Interessen und Werte (Menschenrechte, Demokratie). Der Europäische Auswärtige Dienst (EAD) sollte direkt einbezogen werden.

1.5

Der EWSA unterstreicht, dass substanzielle Veränderungen der Denkweise und Politik erforderlich sind, wenn Europa eine solide Sicherheits- und Verteidigungsindustrie beibehalten will, um eine kritische Masse für Wirksamkeit und Kosteneffizienz zu schaffen. Für die Streitkräfte muss es eine dem wirtschaftlichen und technologischen Gewicht Europas angemessene stabile und vorhersehbare Zukunft geben. Angesichts der großen Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten fällt dies in erster Linie in die Zuständigkeit der wichtigsten produzierenden Mitgliedstaaten.

1.6

Nach Ansicht des EWSA sprechen überzeugende Argumente für die Stärkung der europäischen Planung und engagierten Koordinierung:

Der Sektor ist komplex und wissensintensiv; er erfordert langfristige Planung.

Trotz Privatisierung haben die Staaten nach wie vor großes Interesse an der Verteidigungsindustrie als Kunde, Regulierungsbehörde und Bereitsteller von Ausfuhrlizenzen.

Die Unzulänglichkeiten der derzeitigen Struktur und (einschneidende) Haushaltszwänge erfordern geordnete Neuanpassungen statt ständiger bruchstückhafter Ansätze, die die interne und externe Glaubwürdigkeit untergraben.

Es sollte eine wirksame Koordinierung zwischen den wichtigsten produzierenden Ländern und den gering- oder nichtproduzierenden Ländern gewährleistet werden, um den Ankauf von Rüstungsgütern in Europa zu fördern und Nutzen aus allen verfügbaren Kenntnissen und aus den Großunternehmen und KMU in ganz Europa zu ziehen.

Ein erfolgreicher Ertrag der europäischen Industrie weltweit wird schließlich von der Entwicklung eines stabilen Heimatmarkts in Europa abhängen.

1.7

Neben der Europäischen Verteidigungsagentur (EDA) und dem Verteidigungspaket von 2007 (3) fordert der EWSA eine gut konzipierte europäische Industriepolitik für den Verteidigungssektor, der durch seine besonderen Merkmale der staatlichen Anforderungen und öffentlichen Finanzierung gekennzeichnet ist. Im Rahmen von Europa 2020 muss diese Industriepolitik auf geteilten Kompetenzen der Mitgliedstaaten und der EU – mit EDA und Kommission als vollwertigen Partnern – sowie auf Konsultationen mit der Verteidigungsindustrie und anderen Interessenträgern, darunter den Sozialpartnern, und dem Erfordernis eines gut organisierten sozialen Dialogs beruhen.

1.8

Investitionen auf EU- und nationaler Ebene sollten über EU-Maßnahmen und -Finanzierung verknüpft werden, was zu einer geringeren Zersplitterung und Dopplung der öffentlichen Ausgaben führen und Qualität und Interoperabilität verstärken würde.

1.9

Modernste FuE ist für die Entwicklung von dringend notwendigen Rüstungsgütern der "neuen Generation" von wesentlicher Bedeutung. Solche FuE kann nie ausschließlich Aufgabe der Industrie sein. Die Hauptzuständigkeit liegt bei den Staaten. Sie ist daher sehr anfällig für Haushaltskürzungen. Der Rat und die Interessenträger sollten dringend Forschungsprogramme festlegen, die der europäischen Industrie helfen, die unerwünschte Abhängigkeit von Drittländern anzugehen, und diese schnellstmöglich auf den Weg bringen. Die Dual-Use-Technologie, d.h. Technologie mit doppeltem Verwendungszweck, die sowohl für zivile als auch für militärische Anwendungen genutzt werden kann, ist eine Notwendigkeit. Die FuE-Programme der EU sollten hier Unterstützung bieten und eine wirksame grenzüberschreitende Zusammenarbeit in Sachen FuE sicherstellen.

1.10

Die weitere Stärkung der Technologie- und Industriebasis der europäischen Verteidigung muss so weit wie möglich geplant werden. Hierfür bedarf es zufriedenstellender Maßnahmen auf EU-Ebene (4).

1.11

Es ist eine engere Zusammenarbeit zwischen Kommission, EDA und weiteren relevanten EU-Interessenträgern erforderlich. Die Verpflichtung, die Präsident Barroso (5), Vizepräsident Tajani und Kommissionsmitglied Barnier erneut bekräftigt haben, sowie die Einrichtung der Task Force Verteidigung kommen zeitlich sehr gelegen. Der EWSA begrüßt ferner die letzten Dezember veröffentlichte vorausschauende Entschließung des EP über den europäischen Verteidigungssektor und das breite Spektrum wesentlicher Themen (6).

1.12

In diesem Sinne und mit Blick auf die Stärkung der Initiative der von der Kommission eingerichteten Task Force Verteidigung fordert der EWSA die Kommission nachdrücklich auf, diese Fragen öffentlich zu thematisieren. Die Kommission sollte auch erwägen, gegebenenfalls Lösungsansätze für die Folgen zu liefern, die sich aus den unterschiedlichen industriellen und technologischen Fähigkeiten der Mitgliedstaaten sowie der unterschiedlichen Höhe der Forschungs- und Verteidigungsinvestitionen im Allgemeinen ergeben.

2.   Einführung

2.1

Laut Artikel 42 des Vertrags über die Europäische Union ist die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik integraler Bestandteil der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik. In Artikel 42 Absatz 3 heißt es zudem, dass die Mitgliedstaaten der Union für die Umsetzung dieser Politik zivile und militärische Fähigkeiten zur Verfügung stellen. Die Europäische Verteidigungsagentur (EDA) arbeitet seit 2005 daran, die Industrie- und Technologiebasis des Verteidigungssektors zu stärken und den Soldaten eine bessere Ausrüstung bereitzustellen. Bislang wurden jedoch nur wenige Fortschritte erzielt.

2.2

Die Vollendung des Binnenmarkts und eine wirksame finanzielle Koordinierung haben nunmehr oberste Priorität. Durch die Europa-2020-Strategie erhalten beide Ziele starke Unterstützung. Dieser Sprung nach vorn sollte auch zu neuen Schritten auf dem Weg zu einer europäischen Verteidigungspolitik animieren.

2.3

Im Verteidigungssektor ist jedoch keine vergleichbare Entwicklung zu verzeichnen. Der Militärpakt zwischen Frankreich und dem Vereinigten Königreich von 1998 schien eine neue Denkweise und einen neuen Anfang zu verheißen. Derselbe Geist einer engeren Verteidigungszusammenarbeit spiegelte sich auch in der Gründung der European Aeronautic Defence and Space Company (EADS) 2003 wider. Hierauf folgte jedoch keine weitere Konsolidierung. Es ist bezeichnend, dass die Unterzeichnerstaaten der Absichtserklärung (Letter of Intent, LoI) – eine Gruppe von Ländern mit großer Produktionskapazität, d.h. Frankreich, Deutschland, Vereinigtes Königreich, Italien, Spanien und Schweden – entgegen vorheriger Absichten noch keinen umsetzbaren Rationalisierungs- oder Konsolidierungsvorschlag eingebracht haben.

2.4

Stagnation hat zu einzelstaatlichen Ansätzen und einer Schwerpunktverlagerung auf die nationale Produktion geführt. Es findet eine gewisse Renationalisierung statt. In Europa ansässige Industrieunternehmen konzentrieren sich allesamt auf Exportmärkte. Es gibt kein gemeinsames strategisches Konzept, weder unter den Staaten noch den Industriepartnern.

2.5

Währenddessen werden potenzielle Märkte zunehmend vor neue Herausforderungen gestellt. Eine gewaltige Aufgabe ist die Entwicklung von Rüstungsgütern in aufstrebenden Volkswirtschaften. Brasilien, Russland, Indien und China (die BRIC-Länder), gefolgt von einigen kleineren Ländern, sind auf dem Weg. Der Verteidigungshaushalt Chinas wird voraussichtlich von derzeit 120 Mrd. EUR auf 250 Mrd. EUR im Jahr 2015 anwachsen. Russland hat eine enorme Aufstockung seines Verteidigungsbudgets bis 2015 angekündigt. Die USA geben mehr als das Doppelte des gesamten europäischen Haushalts aus, 450 Mrd. EUR im Vergleich zu 204 Mrd. EUR im Jahr 2007, während das europäische Budget immer weiter abnimmt. Der europäische Gesamthaushalt für FuE beträgt höchstens 20 % des US-amerikanischen. 50 % des europäischen Verteidigungsbudgets entfällt auf Humanressourcen, gegenüber 25 % in den USA. Europas Streitkräfte haben mehr Personal, das jedoch weit weniger gut ausgerüstet ist. Die weltweiten Bedingungen werden nie mehr so sein, wie sie einmal waren. Die Zeit ist nicht auf unserer Seite.

2.6

In den letzten Jahrzehnten ist in vielen Studien dafür plädiert worden, die Verteidigungsindustrie an den globalen Markt anzupassen. Es wird durchweg auf die andauernden Mängel hingewiesen, da die Verteidigungsmärkte recht unzulänglich sind, wobei die meisten Staaten weiterhin ihre eigene Industrie unterstützen. In Bestrebungen zur Verbesserung der Märkte wie dem EU-Verteidigungspaket von 2007 wird versucht, einige Marktdefizite sowie abweichende nationale Praktiken zu überwinden.

2.7

Die Probleme sind komplex, was teilweise auf die sehr große zeitliche Verzögerung zwischen der Entwurfsphase und der Inbetriebnahme der Produkte zurückzuführen ist. Deshalb ist der EWSA der Ansicht, dass diese Problematik von einem weit gefassten technologischen, wirtschaftlichen und sozialen Standpunkt aus erörtert werden sollte, statt sie nur von der Verteidigungsperspektive aus anzugehen.

2.8

Ein zentraler Punkt sind die divergierenden strategischen Konzepte der Länder mit einer entwickelten Rüstungsindustrie, insbesondere in Bezug auf die Definition von "wesentlichen nationalen Sicherheitsinteressen", und das Verhältnis zwischen nationaler Sicherheit und Exportmärkten. Einige kleinere Länder verfügen über eine relativ gut entwickelte Industrie, während sich in anderen Ländern praktisch keine Produktionsstätten befinden. Die Ansätze aller Länder unterscheiden sich eindeutig je nach Erfordernissen und Potenzial. Das Ergebnis: Zersplitterung und eine uneinheitliche Sicht der Verteidigungsindustrie. Einsätze wie in Libyen führen die zunehmenden Lücken bei den verfügbaren Waffensystemen schmerzhaft deutlich vor Augen. Die Folgen sollte klar anerkannt und abgeschätzt werden.

2.9

Diese Entwicklungen betreffen sowohl die Investitionen als auch die Beschäftigung. Die Verteidigungsindustrie ist eine Spitzentechnologiebranche, die direkt 600 000 qualifizierte Arbeitnehmer und indirekt weitere zwei Millionen Menschen beschäftigt. Es besteht besorgniserregender Druck, weitere Kürzungen vorzunehmen. Häufig sind die Standorte stark regional konzentriert, wodurch sie zu Exzellenzzentren werden könnten, laufen stattdessen jedoch Gefahr, von Finanzkürzungen getroffen zu werden. Für diese Standorte wäre es ein harter Schlag, wenn Umstrukturierungen und Kürzungen planlos und unstrukturiert durchgeführt würden.

2.10

Die derzeitige Beschäftigungslage ist natürlich auch für die einzelnen Staaten ein großes Anliegen. Dies wiederum behindert möglicherweise die Entwicklung einer gemeinsamen Sicht, die erforderlich ist, um auf adäquate Weise die sozialen Folgen einer im Niedergang befindlichen Verteidigungsindustrie angehen zu können, einschließlich des Verlusts an Fachwissen und der entsprechenden Auswirkungen auf das Humankapital. Eine gemeinsame Sicht hingegen wird eine ausgewogene Schaffung von Arbeitsplätzen begünstigen und die Gefahr einer Abwanderung von Forschern und technisch und wissenschaftlich hoch spezialisierten Führungskräften in Drittländer bannen, die den Zielen zuwiderläuft, die sich die EU in der Europa-2020-Strategie gesetzt hat.

2.11

Die Ansätze der EU und der zwischenstaatliche Rahmen können und sollten die gleiche Perspektive haben. Solange die nationale Souveränität Vorrang hat, wird jedem gemeinsamen Rahmen nur mäßiger Erfolg in Form von geringfügigen Verbesserungen im Hinblick auf Überkapazität, Überschneidung und Zersplitterung beschieden sein. Diese Widersprüche zwischen dem Konzept der nationalen Souveränität einerseits und den Erfordernissen im finanziellen, technologischen, wirtschaftlichen und sozialen Bereich andererseits liegen auf der Hand.

2.12

Es gibt daher Anlass zur Sorge, dass das Ziel der "Bündelung und gemeinsamen Nutzung" von Ressourcen, d.h. die Organisation der europäischen Interdependenz, noch nicht in den Rahmen einer gemeinsamen Strategie einbezogen wurde. Trotz des allgemein anerkannten Bewusstseins für den veränderten internationalen Gesamtzusammenhang ist der Druck von außen offenbar noch nicht stark genug, um gemeinsame Ansätze und Lösungen zu propagieren. Dahingegen sind die europäischen Länder überraschenderweise immer noch bereit, für die Beschaffung von Verteidigungsgütern von den USA abhängig zu bleiben, statt in Europa zu kaufen.

2.13

Will Europa eine solide Sicherheits- und Verteidigungsindustrie, die modernste Systeme entwickeln und produzieren kann, beibehalten und damit seine Sicherheit selbst gewährleisten, sind substanzielle Veränderungen der Denkweise und Politik erforderlich. Noch länger zu warten, würde bedeuten, die Fähigkeiten so weit zu reduzieren, dass es der EU in wesentlichen Bereichen nicht mehr möglich wäre, wieder an die Spitze zu gelangen, insbesondere da Kürzungen in FuE-Ausgaben unmittelbar eine Generation von Forschern und qualifizierten Arbeitnehmern betreffen würden. Wenn Europa dies nicht gelingt, könnten Unternehmen schließen und Arbeitsplätze und Kenntnisse verloren gehen, sodass Europa auf Drittländer angewiesen wäre. All jene, denen an Europa und seiner Sicherheit gelegen ist, müssen sich dieser Dringlichkeit bewusst werden und handeln.

3.   Politischer Hintergrund

3.1

Im Vertrag über die Europäische Union wird zu Recht die untrennbare Verbindung zwischen Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik unterstrichen. Eine wirksame Außenpolitik muss auf überzeugenden Verteidigungsfähigkeiten aufbauen. Angemessene Verteidigungsfähigkeiten wiederum müssen vor dem Hintergrund wahrgenommener Bedrohungen und vereinbarter Ziele in einem sehr komplexen und anfälligen internationalen Kontext entworfen und ausgebaut werden.

3.2

Der zentrale Faktor ist die Stellung und Rolle der EU in der Welt von morgen unter Berücksichtigung der sich rasch verändernden geopolitischen Gegebenheiten, in denen immer mehr weltweite Akteure auftreten. Von dieser Warte aus ist es nach Ansicht des EWSA höchste Zeit für ein konzertiertes Vorgehen in Europa. Wie die Erfahrung aus Vergangenheit und Gegenwart zeigt, birgt das Festhalten an traditionellen Konzepten die Gefahr, dass Europa und die Mitgliedstaaten an den Rand gedrängt werden.

3.3

Der EWSA fordert eine dem wirtschaftlichen und technologischen Gewicht Europas angemessene stabile und vorhersehbare Zukunft für die europäischen Streitkräfte. Aufgrund der sehr großen zeitlichen Verzögerung zwischen dem Entwurf der Systeme und ihrer Inbetriebnahme verstärkt sich die Notwendigkeit, schon in diesem Jahr Entscheidungen zu treffen.

3.4

Vom sozialen und politischen Standpunkt aus hebt der EWSA vier wichtige Aspekte in Bezug auf die Notwendigkeit wirksamer europäischer Verteidigungsfähigkeiten hervor:

Schutz der Bevölkerung

Notwendigkeit adäquat ausgerüsteter Soldaten

stabile und vorhersehbare Arbeitsplätze

gut konzipierte humanitäre und militärische Einsätze Europas in der Welt.

3.5

Derzeit wird über die Zukunft der GSVP diskutiert, auch wenn dies nur selten so formuliert wird. Viele Fragen, wie der Einsatz von Gefechtsverbänden, die Kontroverse über die Entwicklung eines einzigen Hauptquartiers für Operationsführung, die Finanzierung der Missionen der EU im Rahmen der GSVP, die Sicherung von Beiträgen für diese Missionen sowie Forderungen nach einer Überprüfung der europäischen Sicherheitsstrategie, laufen im Grunde auf eine Diskussion über die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik hinaus, wenn auch nicht dem Namen nach. Es wäre ein Schritt vorwärts, wenn das Thema so angegangen werden könnte. Darüber hinaus sollte bei allen Überlegungen über diese wichtigen Fragen auch über die Auswirkungen von Entscheidungen (bzw. deren Fehlen) auf die Industrie nachgedacht werden. Dies wird auch die enge Verbindung zwischen den industriellen Fähigkeiten und der Umsetzung einer GSVP beweisen. Die Hauptzuständigkeit liegt bei den Staaten.

3.6

Das transatlantische Verhältnis und die NATO sind von zentraler Bedeutung. Die Amerikaner kritisieren bereits seit Langem, wie die Europäer ihren Verteidigungsverpflichtungen innerhalb der Allianz nachkommen. Auf beiden Seiten des Atlantiks wird immer wieder eine "europäische Säule" in der NATO gefordert. Bislang kann davon jedoch keine Rede sein.

3.7

Das Fehlen einer echten "europäischen Säule" hat tief greifende politische Ursachen. Es mangelt immer noch am politischen Willen in Europa, die europäischen "strategischen" Interessen oder gemeinsamen zentralen militärischen Fähigkeiten zu definieren. Dahingegen verwenden die USA und andere Länder das Konzept der strategischen Aktivitäten, die sämtliche zivilen oder militärischen Forschungs- und Industrietätigkeiten beinhalten, die zur umfassenden Sicherheit der Bürger beitragen.

3.8

Vor diesem Hintergrund sollte die übermäßige Abhängigkeit der europäischen Militärkapazität von den USA nach Auffassung des EWSA mit dem Aufbau einer "europäischen Säule" durch ein ausgeglicheneres Verhältnis abgelöst werden. Parallel zur dringend notwendigen Diskussion über europäische strategische Interessen, die in der ausschließlichen Zuständigkeit der Staaten liegt, sollte so bald wie möglich eine geordnete Planung durch die Zusammenarbeit zwischen den europäischen Institutionen, den Mitgliedstaaten und der Verteidigungsindustrie sowie eine schrittweise Überprüfung der Angewohnheit der Mitgliedstaaten, automatisch in den USA "von der Stange" zu kaufen, beginnen.

3.9

Eine Verbesserung der Bedingungen für eine gleichberechtigtere Zusammenarbeit mit der US-Industrie wird sowohl vom wirtschaftlichen als auch vom finanziellen Standpunkt aus nutzbringend sein.

4.   Die europäische Verteidigungsindustrie

4.1

Es besteht ein enges Verhältnis zwischen der Außen- und Verteidigungs-/Sicherheitspolitik und der Verteidigungsindustrie. Trotz Privatisierung haben die Staaten nach wie vor großes Interesse an der Verteidigungsindustrie als Kunde, Regulierungsbehörde und Bereitsteller von Ausfuhrlizenzen.

4.2

Die Verteidigungsindustrie verfügt über erheblichen Spielraum bei den Exportmärkten. Dies ist teils auf die Privatisierung und teils auf entsprechende Anreize von staatlicher Seite zurückzuführen: Die Wirtschaftskrise macht einige Verteidigungsminister zu ausdrücklichen Exportbefürwortern. Die Krise zwingt also den Verteidigungssektor dazu, Exporte als zentrales Merkmal seines Geschäftsmodells zu betrachten. 2011 war insgesamt ein sehr lukratives Jahr für die europäische Industrie. Die Unternehmen verbuchen auch mit der Entwicklung der Dual-Use-Produktion relativ viel Erfolg.

4.3

Weltweite Akteure wie China, Indien und Brasilien haben eigene außenpolitische Ambitionen, die in steigenden Verteidigungshaushalten gipfeln. Derzeit ergeben sich dadurch Chancen für die europäischen Exporte. Doch wie lange noch? Der Industrie geht es noch relativ gut, wobei ihre Leistung allerdings größtenteils auf Investitionen beruht, die vor 20 bis 25 Jahren getätigt wurden. Würden die Investitionen zum jetzigen Zeitpunkt weiter abnehmen oder stagnieren, so hätte dies für die nahe Zukunft schon jetzt irreversible Folgen.

4.4

Außerdem ist realistischerweise zu erwarten, dass die aufstrebenden Mächte unabhängig von der westlichen Industrie mit dem Aufbau ihrer Industrie beginnen und folglich – als Europas künftige Konkurrenten in Drittmärkten – zunehmend Importe aus dem Westen blockieren oder diese an Bedingungen knüpfen werden.

4.5

Derzeit stehen in Europa keine großen Programme vor dem Start, was den künftigen Exporterfolg zweifellos beeinflussen wird. Zudem hat schon seit längerer Zeit keine der großen aufstrebenden Volkswirtschaften mehr den Transfer von Technologie und Produktion in nennenswertem Umfang angefordert.

4.6

Einmalige Exportverträge werden aller Wahrscheinlichkeit nach dazu verwendet, um die Technologie aus der westlichen Industrie nachzuahmen. Hier könnten alternativ zur Verhinderung von Importen Anlagen für die Produktion (und Entwicklung) in den betreffenden Ländern eingerichtet werden. Derzeit lässt sich nur darüber spekulieren, in welchem Maß eine solche Entwicklung die Industrieanlagen und Beschäftigungsmöglichkeiten in Europa beeinträchtigen wird. Längerfristig wird die Stellung der europäischen Industrie durch aufstrebende Wirtschaftsgiganten wahrscheinlich untergraben werden. Die Verstärkung von Technologie und Produktion in diesen Ländern wird auch die (potenziellen) europäischen Exportmärkte in anderen Drittländern treffen. Der Wettbewerb um Produkte und Preise wird sich verschärfen.

4.7

Aufgrund des langen Zeitraums zwischen Entwicklung und Produktion sowie der Technologieinvestitionen und kontinuierlichen Innovation braucht Europa eine gezielte Koordinierung, um sich eine moderne, eigenständige Verteidigungsindustrie zu sichern. Solange die Marktgröße vorrangig durch Landesgrenzen bestimmt wird, liegt sie selbst in großen Mitgliedstaaten fast automatisch unter der kritischen Masse. Exporte in Drittländer können dies bis zu einem gewissen Grad ausgleichen; die Zukunft ist jedoch ungewiss, und die Marktbedingungen sind häufig alles andere als stabil.

4.8

Beständig abnehmende Budgets, die unter den derzeitigen Umständen erhebliche Beschränkungen bedeuten, sollten ein Weckruf sein. Sie betreffen die Haushaltsmittel für Investition und Beschaffungswesen – gerade auch dann, wenn die Betriebs- und Wartungskosten gleich bleiben oder infolge laufender Militäreinsätze (Afghanistan, Libyen, Antipiraterie-Operationen, um nur einige zu nennen) ansteigen.

4.9

Dies führt dazu, dass Investitionen, die die Industrie unbedingt braucht, um ihre Produktions- und Entwicklungskapazitäten aufrechterhalten und erneuern zu können, aufgeschoben oder gestrichen werden. In schwierigen Zeiten wird die Industrie selbst zudem weniger Bereitschaft zeigen, in die Aufrechterhaltung oder auch in neue Aktivitäten zu investieren. Nur durch eine kohärente Zusammenarbeit können die notwendigen Investitionen gesichert werden.

4.10

Der EWSA plädiert für eine gut konzipierte europäische Industriepolitik für den Verteidigungssektor, vom Entwurf von Systemen bis hin zur operativen Phase. Es geht hier um eine spezifische Industriepolitik, einen dem Wesen nach öffentlichen Markt: FuE muss aufgrund der anfänglich unrentablen Margen und der spezifischen staatlichen Anforderungen über das Startkapital hinaus finanziert werden. Um eine solide europäische Produktion zu fördern, müssen die zentralen europäischen Industriekapazitäten sowie Investitionspolitiken ermittelt werden. Da kein einzelnes Land über ausreichende Ressourcen zur Finanzierung von Rüstungsgütern der "neuen Generation" verfügt, müssen die nationalen und europäischen Ziele und auch die nationalen und europäischen Ressourcen in finanzieller und industrieller Hinsicht zusammengebracht werden. Die Entscheidungsstrukturen sollten entsprechend der vereinbarten Europa-2020-Strategie auf geteilten EU- und nationalen Kompetenzen beruhen. Dies ist auch ein wirksames Gütezeichen zur Optimierung der Koordinierung zwischen den europäischen Institutionen und innerhalb der Kommission, die immer noch weit unter ihrem Potenzial operiert. In dieser Hinsicht kann die Task Force, die in Kürze als Plattform – Kommission, EDA, EAD – ihre Arbeit aufnehmen wird, um Prioritäten, Kapazitäten und Defizite zu diskutieren, wertvolle Hilfestellung leisten.

4.11

FuE ist ein zentrales Thema. Die Verteidigungsindustrie ist ein wissensintensiver Sektor der Spitzentechnologie, der auch für die Entwicklung ausgereifter Prototypen benötigt wird. FuE ist fast nie ausschließlich Aufgabe der Industrie. Entwicklungs- und Systemslebenszyklen sind einfach zu lang und die finanziellen Auswirkungen zu groß, als dass die Industrie das gesamte finanzielle Risiko allein tragen könnte. Die Geschichte zeigt, dass alle erfolgreichen Programme von Staaten und Industrie gemeinsam durchgeführt werden.

4.12

Ein sehr hoher Prozentsatz der weltweiten Verteidigungs-FuE kommt von den Staaten, und zwar entweder direkt oder indirekt durch Ankäufe. Angesichts der Art der Produkte überrascht es nicht, dass die Verteidigungsindustrie ein zu hohes finanzielles Risiko generell scheut. Kürzungen der Staatsausgaben betreffen besonders oft FuE für Verteidigungszwecke.

4.13

Folglich bedarf es für Forschung, Technologie und Entwicklung neben einer Konsolidierung der Industrie einer ausreichenden, von Mitgliedstaaten, Kommission und Industrie vereinbarten Finanzierung und Bündelung. Verteidigungsinvestitionen erfordern ein hohes Maß an Finanzierung für FuE- und Technologieprojekte. Darüber hinaus muss der Zugang zu kritischen Technologien sichergestellt werden. Wären kritische Technologien für Entwicklung und Produktion aufgrund von Exportbeschränkungen, die von anderen auferlegt wurden, nicht mehr verfügbar, entstünden beim Erreichen der europäischen Sicherheitsziele große Probleme.

4.14

FuE außerhalb von Verteidigungsorganisationen spielt aufgrund des Fortschritts der unabhängigen Wissenschaft und Technologie in vielen Bereichen eine immer wichtigere Rolle. Häufig wird erst in der abschließenden Entwicklungsphase durch die letztendliche Anwendung bestimmt, ob FuE dem Verteidigungs- oder dem Zivilbereich zugeordnet werden kann. Die für beide Bereiche in Frage kommende Dual-Use-FuE ist für Verteidigungsanwendungen von wachsender Bedeutung, vgl. z.B. IT. Für die Entwicklung der verteidigungstechnologischen und -industriellen Basis Europas (DTIB) ist die Förderung dieser FuE "mit doppeltem Verwendungszweck" in Europa daher von vorrangiger Bedeutung, da sie eine Finanzierung von außerhalb des Verteidigungssektors ermöglicht.

4.15

Die Mitgliedstaaten sollten sich darauf verständigen, FuE aus öffentlichen EU-Mitteln zu finanzieren. Dies kann über das nächste Forschungsrahmenprogramm (FP8) oder über einen separaten Fonds erfolgen, vorzugsweise durch Pakete für spitzentechnologische Forschungsvorhaben wie Nanotechnologie und künstliche Intelligenz. Aufgrund des Verhältnisses zwischen der Verteidigungsindustrie und dem öffentlichen Sektor müssen spezielle Verfahren geplant werden.

4.16

Die EDA und die Kommission sollten eine herausragende Rolle spielen, wie in der Rahmenvereinbarung für Zusammenarbeit vorgesehen, auch um eine tägliche politische Einmischung zu vermeiden. Die EDA sollte die Möglichkeit erhalten, ihre umfassende Aufgabe wahrzunehmen, wie sie im Vertrag von Lissabon festgelegt ist (7).

4.17

Für ein Industrie- und FuE-Programm im Bereich der Verteidigung sind geeignete Arbeitskräfte mit Kenntnissen auf dem neuesten Stand erforderlich (8). Dies ist ein weiteres starkes Argument, das für einen stabilen Rahmen für FuE und die Industrie statt einer ungeordneten Umstrukturierung spricht. Es darf nicht vergessen werden, dass die Arbeitnehmer im Verteidigungssektor das Fundamt sind, auf dem die Zukunft der Verteidigungskapazitäten aufgebaut wird. Die Konsultation und Kommunikation mit der Industrie sowie mit FuE-Einrichtungen, Hochschulen, Militärorganisationen und interessierten Gewerkschaften muss dazu beitragen, dass sowohl die laufenden Umstrukturierungen als auch die zukunftsorientierte Produktion von Rüstungsgütern in Europa ordnungsgemäß organisiert werden.

4.18

Haushaltszwänge machen es erforderlich, gegen Überschneidungen und Ineffizienz anzugehen. Kontrollierte Konsolidierung ist nicht unbedingt gleichbedeutend mit dem Aufbau großer Unternehmen: Sie bedeutet die Entwicklung der nach internationalen Standards ausreichenden kritischen Masse und Qualität, die die Wettbewerbsfähigkeit in den EU- und Drittmärkten gewährleisten. Es besteht zunehmender Bedarf an einer Koordinierung der Planung von Projekten auf europäischer Ebene durch Staaten, relevante EU-Akteure und die Industrie.

4.19

Unterschiede bei der Größe und Leistungsfähigkeit der Industrie sind eine Tatsache. Die Mitgliedstaaten unterscheiden sich wesentlich hinsichtlich des Umfangs ihrer Industrie. Es sollte Teil einer Vereinbarung unter teilnehmenden Mitgliedstaaten sein, sicherzustellen, dass die Industrie in anderen als den Unterzeichnerstaaten der Absichtserklärung (= Hauptproduzenten) in relevante Projekte eingebunden wird. Dieser Ansatz ist nicht nur politisch wünschenswert, sondern fördert auch eine ertragreiche Beziehung zwischen großen und kleineren Unternehmen sowie Forschungseinrichtungen. Als Zulieferer sollten KMU erfolgreich einen zusätzlichen Beitrag zu intelligenten Spezialisierungsketten leisten.

4.20

Besondere Aufmerksamkeit muss der in einigen mitteleuropäischen Ländern aufgrund ihrer exponierten geografischen Lage wahrgenommenen Unsicherheit gelten. Angesichts der Notwendigkeit, den Bürgern dieser Länder das Gefühl zu vermitteln, gut beschützt zu sein, und des Anliegens, das spezifische Fachwissen im Verteidigungsbereich vollständig zu nutzen, unterstreicht der EWSA, dass die in den mitteleuropäischen Ländern verfügbaren Kenntnisse und Kompetenzen auf angemessene Weise in laufende und künftige Verteidigungsprojekte integriert werden müssen.

4.21

Durch einen integrierten europäischen Markt für Verteidigungsgüter würde ein stabilerer Heimatmarkt geschaffen. Ein europäischer Markt wäre nicht nur eine Kombination bestehender nationaler Märkte, sondern würde darüber hinaus eine Harmonisierung, ja Standardisierung von Anforderungen und Vergabevorschriften zwischen den verschiedenen Mitgliedstaaten begünstigen. Durch mehr Harmonisierung oder Standardisierung würden die finanziellen und wirtschaftlichen Bedingungen für eine Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit europäischer Unternehmen in einem globalen Markt verbessert.

4.22

Ein europäischer Verteidigungsmarkt hätte eine kritische Masse. Vor diesem Hintergrund weist der EWSA auf die negativen Auswirkungen hin, die entstehen werden, wenn die Mitgliedstaaten weiterhin im Ausland, insbesondere in den USA, "von der Stange" kaufen. Erstens werden dadurch die Vorteile eines europäischen Markts für diese Branche unterwandert: Die Preise für solche Verteidigungsgüter würden für die europäischen Kunden ansteigen, wenn die Industrie daran gehindert würde, in Drittmärkten zu verkaufen, in denen der (staatliche) Wettbewerb definitiv immer schärfer werden wird. Zweitens bezahlen europäische Länder, die in den USA "von der Stange" kaufen, die im Preis dieser Produkte enthaltenen amerikanischen Technologiekosten.

4.23

Angesichts der finanziellen und internationalen politischen Aussichten sind eine europäische Grundsatzdiskussion und umsetzbare Schlussfolgerungen unerlässlich. Wenn nicht alle Mitgliedstaaten willens sind, an einem gemeinsamen Rahmen mitzuwirken, sollte das Prinzip der verstärkten Zusammenarbeit gelten. Mehr Integration und eine positivere Einstellung zum Ankauf europäischer Rüstungsgüter werden sich als die einzige Möglichkeit erweisen, um Marktgrößen zu erreichen, die mit denen der USA vergleichbar sind. Ohne einen wirksamen EU-Markt besteht Anlass zu ernsthaften Zweifeln, ob für die europäische Industrie überhaupt die Hoffnung besteht, auf globaler Ebene mitzuhalten.

5.   Einige spezifische Fragen

5.1

Die Industrielandschaft der verschiedenen Militärgattungen – Land, See, Luft – unterscheidet sich von Land zu Land erheblich. In einigen Bereichen kann von keinem Land mehr behauptet werden, es besitze die Fähigkeit, eigenständig neue Generationen von Rüstungsgütern zu entwickeln.

5.2

Im Landbereich sind nur einige wenige große systemintegrierende Unternehmen in der Lage, Kampfpanzer und leichtere Militärfahrzeuge produzieren. Die wichtigsten europäischen Produzenten sind Frankreich, Deutschland und Großbritannien. Es gibt auch ein breites Spektrum an Teilsystemherstellern und Zulieferern, wobei Mitteleuropa unterrepräsentiert ist.

5.3

Viele Länder entwickeln ihre eigene Marineindustrie und bauen Schiffe mit von Land zu Land höchst unterschiedlicher Größe und Komplexität. Die Unterzeichnerstaaten der Absichtserklärung und die Niederlande sind führend, auch in den Bereichen Konzeptdesign und komplexe Marineforschungsanlagen, die sich von der Entwicklung des zivilen Schiffbaus relativ stark unterscheiden. Auch hier wieder findet sich ein breites Spektrum an Teilsystemherstellern und Zulieferern.

5.4

Militärflugzeuge werden nur in einigen wenigen Ländern entwickelt und hergestellt. Die Industrie ist auf eine kleine Anzahl zumeist multinationaler Unternehmen konzentriert, die auf europäischer Ebene und darüber hinaus operieren: hauptsächlich EADS, BEA-Systems, Dassault und Saab-Aircraft. Die fortgeschrittene Aerodynamikforschung ist auf wenige Länder beschränkt.

5.5

Der Elektroniksektor, einschließlich Befehls-, Leit- und Fernmeldeeinrichtungen, ist für die Verteidigung zunehmend von Bedeutung; die wichtigsten Industrieakteure sind Thales, BAE Systems und Finmeccanica. Für die größten europäischen Elektronikkonzerne Philips und Siemens ist die Verteidigung weniger wichtig. Das Produktionsvolumen für die kosteneffiziente Massenproduktion von spezifischen Elektronikkomponenten wie Schaltkreisen für die Verteidigung ist für diese Unternehmen ohnehin zu klein. Diese großen Industriekonzerne mit ins Boot zu holen, zeigt jedoch, wie wichtig der doppelte Verwendungszweck auf diesem Gebiet ist.

5.6

In der Munitions- und Explosivstoffindustrie ist die Zahl der Unternehmen in den letzten Jahrzehnten – z.T. aufgrund von Umweltanforderungen – schrittweise zurückgegangen. Diese Unternehmen sind aus Gründen der öffentlichen Sicherheit häufig gezwungen, ältere Produktionsstätten entweder zu verlagern oder schlichtweg zu schließen.

5.7

Der Zugang zu kritischen Technologien ist wesentlich und sollte im Rahmen der GSVP unterstützt werden. Gleiches gilt für bestimmte Materialien wie Kohlenstofffasern oder Materialien für Elektronikkomponenten.

5.8

Das 2009 verabschiedete Verteidigungspaket 2007 kann sehr hilfreich sein. Die Mitgliedstaaten sollten die Richtlinien im Sommer 2011 umgesetzt haben. Es ist noch zu früh, um ihre Folgewirkungen für die Schaffung eines Binnenmarkts positiv oder skeptisch zu bewerten. Der Prozess ist noch nicht abgeschlossen, und die Umsetzung des Ziels des innergemeinschaftlichen Transfers von Verteidigungsgütern sowie von Begriffen wie "wesentliche nationale Sicherheitsinteressen" bleibt weiter offen.

5.9

Nach Artikel 346 AEUV ist für wesentliche nationale Sicherheitsinteressen eine Ausnahme von den EU-Vergabevorschriften vorgesehen. Diese weit gefasste Formulierung kann verhindern, dass sich die Märkte gebührend weiterentwickeln, insbesondere in wünschenswerten Lieferketten. Der EWSA plädiert für eine engere Auslegung von Artikel 346, die hinreichende Möglichkeiten für europäische Lösungen und optimale europäische Beschaffungsketten eröffnet, um die Beschaffungssicherheit, das in den Mitgliedstaaten verfügbare Spezialwissen und ein gutes Preis-Leistungs-Verhältnis zu fördern.

5.10

Die nationale Sicherheit von Informationen schafft ähnliche Probleme wie die in Ziffer 5.9 genannten und muss ebenfalls überprüft werden. Sie ist auch im Zusammenhang mit der Teilnahme der europäischen Industrie an Verteidigungsprojekten in den USA ein wichtiges und heikles Thema.

5.11

Die "gemeinsame Nutzung und Bündelung" von Ressourcen, einschließlich gemeinsamer Schulungsprogramme, sollte ein zukunftsorientiertes Programm sein. Eine grundlegende Voraussetzung ist, dass Lippenbekenntnisse durch konkrete Planung und einen gezielten Ansatz mit klar festgelegten Etappen ersetzt werden. Solange es allerdings keine übereinstimmenden Verteidigungsdoktrinen gibt, wird es sehr schwer sein, die "gemeinsame Nutzung und Bündelung" auf gangbare Weise durchzuführen.

Brüssel, den 11. Juli 2012

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  Siehe "Towards a Stronger Europe", Bericht einer unabhängigen Studiengruppe, die von den Verteidigungsministern der unabhängigen europäischen Programmgruppe eingesetzt wurde, um Vorschläge zur Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Verteidigungsgüterindustrie zu unterbreiten.

(2)  Die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik als integraler Bestandteil der Gemeinsamen Außen und –Sicherheitspolitik, Vertrag über die Europäische Union (EUV), Artikel 42 ff., ABl. C 115 vom 9.5.2008.

(3)  Richtlinien 2009/43EG (ABl. L 146 vom 10.6.2009) und 2009/81/EG (ABl. L 216 vom 20.8.2009). Das Verteidigungspaket wurde 2009 von Rat und EP angenommen. Es hätte von den Mitgliedstaaten im Sommer 2011 umgesetzt werden sollen. Das Verteidigungspaket enthielt auch die Mitteilung "Eine Strategie für eine stärkere und wettbewerbsfähigere europäische Verteidigungsindustrie", COM(2007) 764 vom 5.12.2007.

(4)  Die europäischen Fonds sollten in diesen Prozess einbezogen werden: das kommende 8. FRP, der Europäische Fonds für regionale Entwicklung, der Kohäsionsfonds, der Europäische Sozialfonds.

(5)  Lage der Union, November 2011.

(6)  Entschließung des Europäischen Parlaments vom 14. Dezember 2011 über die Auswirkungen der Finanzkrise auf den Verteidigungssektor in den EU-Mitgliedstaaten (2011/2177(INI)).

(7)  Siehe Artikel 45 Absatz 1 und Artikel 42 Absatz 3 EUV, ABl. C 115 vom 9.5.2008.

(8)  Siehe "A comprehensive analysis of emerging competences and skill needs for optimal preparation and management of change in the EU defence industry", Abschlussbericht, Mai 2009, ein Bericht von Eurostrategies für die Europäische Kommission.


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