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Document 52012AE3611

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Beziehung zwischen Frauenerwerbsquote und Wachstum“ (Sondierungsstellungnahme)

ABl. C 341 vom 21.11.2013, p. 6–10 (BG, ES, CS, DA, DE, ET, EL, EN, FR, HR, IT, LV, LT, HU, MT, NL, PL, PT, RO, SK, SL, FI, SV)

21.11.2013   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 341/6


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Beziehung zwischen Frauenerwerbsquote und Wachstum“ (Sondierungsstellungnahme)

2013/C 341/02

Berichterstatterin: Indrė VAREIKYTĖ

Mit Schreiben vom 15. April 2013 ersuchte der stellvertretende Minister für auswärtige Angelegenheiten der Republik Litauen, Vytautas LEŠKEVIČIUS, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss im Namen des litauischen EU-Ratsvorsitzes um Erarbeitung einer Stellungnahme zu folgendem Thema:

Beziehung zwischen Frauenerwerbsquote und Wachstum.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft nahm ihre Stellungnahme am 5. September 2013 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 492. Plenartagung am 18./19. September 2013 (Sitzung vom 18. September) mit 144 gegen 3 Stimmen bei 3 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1

Die Frauenerwerbsquote sollte nicht länger als ein weiteres Thema in der Gleichstellungsdebatte abgehandelt werden, sondern muss als wirtschaftliche Notwendigkeit für Wohlstand und Arbeitsplätze in der Europäischen Union betrachtet werden – als gesellschaftliches Erfordernis, um den Herausforderungen des demografischen Wandels, sozialen und ökologischen Anliegen gerecht zu werden und ein nachhaltiges Wachstum sicherzustellen.

1.2

Die Erhöhung der Frauenerwerbsquote hat in den vergangenen 50 Jahren bereits erheblich zum Wachstum beigetragen. Um jedoch das volle Potenzial des Beitrags der Frauen zum Wachstum ausschöpfen zu können, sind sowohl auf EU-Ebene als auch auf der nationalen Ebene mehr gezielte Maßnahmen erforderlich. Solche Maßnahmen müssen umfassend angelegt sein und nicht nur die größten wirtschaftlichen Hindernisse, sondern auch die Bereiche Steuern, Sozialleistungen und Rentensysteme, Arbeitnehmerrechte, Beschlussfassung, Unternehmertum, Bildung, Stereotype und Gewalt berücksichtigen. Auch ist ganz offensichtlich der Einsatz sowohl der Frauen als auch der Männer gefordert, um solche vielschichtigen Probleme anzugehen. Frauen und Männer sollten ferner am Dialog und an der Zusammenarbeit zwischen den einschlägigen Akteuren sowie an der Umsetzung erfolgreicher Verfahren beteiligt werden.

1.3

Neben den nachstehenden und im gesamten Text enthaltenen spezifischen Empfehlungen sind die wichtigsten Voraussetzungen für eine stärkere Teilnahme von Frauen am Erwerbsleben und ihren Beitrag zum Wachstum folgende:

Integration der Gender-Dimension in alle EU-Politiken;

Aufschlüsselung der Daten nach dem Geschlecht bei der Erhebung sämtlicher statistischer Angaben, dabei Berücksichtigung des aktiven Einsatzes des Mindestsatzes von 52 geschlechtsspezifischen Indikatoren (1);

eine geschlechterdifferenzierte Zuteilung von EU-Mitteln, Umsetzung der Empfehlungen der Evaluation of the European Social Fund's support to Gender Equality (2);

Verringerung der geschlechtsspezifischen Trennung in der Bildung, was den Volkswirtschaften die umfassende Ausschöpfung ihres Pools an Talenten ermöglichen würde;

Unterstützung des Übergangs von der Bildungsphase zum Arbeitsmarkt durch spezielle Ausbildungsmaßnahmen und Qualifikationsentwicklung;

gleichberechtigter Zugang zum Arbeitsmarkt (einschließlich Geschlechterdiversität am Arbeitsplatz und echter Gleichbehandlung in Bezug auf Arbeitszeiten und Entgelt);

menschenwürdige Arbeit und Zufriedenheit am Arbeitsplatz, einschließlich des Zugangs zu staatlichen oder privaten Dienstleistungen, die eine Vereinbarkeit von Familie und Beruf ermöglichen;

Anpassung der Steuer- und Sozialleistungssysteme, um Zweitverdiener nicht von der Ausübung einer Berufstätigkeit oder einer höheren Stundenzahl abzuschrecken;

Befähigung von Unternehmerinnen, ihre Unternehmen auszubauen und Arbeitsplätze zu schaffen;

gleichberechtigte Teilhabe von Männern und Frauen an Entscheidungsprozessen;

Bereitstellung von Unterstützungsleistungen für Alleinerziehende in Schwierigkeiten;

Bereitstellung hochwertiger, zugänglicher und erschwinglicher Ganztagskinderbetreuungseinrichtungen als wesentlicher Anreiz für eine stärkere Erwerbsbeteiligung von Frauen;

Durchführung von Maßnahmen für Chancengleichheit in der Bildung durch die Bekämpfung aller Formen geschlechtsspezifischer Stereotype für einen gleichberechtigten Zugang zum Arbeitsmarkt und berufliche Entwicklungsmöglichkeiten;

Prävention von Diskriminierung und Mobbing am Arbeitsplatz und Bekämpfung geschlechtsbezogener Gewalt.

2.   Auswirkungen auf das Wachstum

2.1

Nach Überzeugung des Ausschusses reicht das Wirtschaftswachstum allein nicht mehr aus, um echte gesellschaftliche Fortschritte zu ermöglichen: es muss auch inklusiv und nachhaltig sein. Somit wird die Gleichstellung von Frauen und Männern eine wichtige Voraussetzung für die Erzielung derartiger Fortschritte. Gleichzeitig sollte das BIP nicht länger ausschließlich auf der Grundlage von Produktion und Verbrauch gemessen werden, sondern auch Indikatoren wie Wohlergehen und Nachhaltigkeit (in wirtschaftlicher, sozialer und ökologischer Hinsicht) berücksichtigen, um zu "mehr Ausgewogenheit in der Politik" zu gelangen (3).

2.2

Die Gleichstellung von Frauen und Männern wird allzu oft als Einschränkung oder Kostenfaktor angesehen. Jedoch müssen auch die Kosten einer fehlenden Gleichstellung berücksichtigt und der positive Beitrag der Gleichstellung zur Wirtschaft als Investition und als Produktionsfaktor anerkannt werden.

2.3

Die Ziele der Europa-2020-Strategie – insbesondere die Steigerung der Erwerbsquote der 20- bis 64-Jährigen bis 2020 auf 75 % und die Bewahrung von mindestens 20 Mio. Menschen vor dem Risiko von Armut und sozialer Ausgrenzung – können ohne eine stärkere Beteiligung von Frauen am Arbeitsmarkt und am öffentlichen Leben unmöglich erreicht werden. Außerdem wäre von einer Anhebung der Erwerbsquote von Frauen und Männern auf ein einheitliches Niveau bis 2030 ein Zuwachs von ca. 12 % des Pro-Kopf-BIP zu erwarten (4).

2.4

Vor dem Hintergrund einer schrumpfenden Erwerbsbevölkerung (5) wird Europa das angestrebte Wachstum ohne eine Stärkung des Arbeitsmarktpotenzials der Frauen nicht erreichen. 2012 lag die Beschäftigungsquote bei Männern (im Alter zwischen 20 und 64 Jahren) bei 74,6 %, bei den Frauen hingegen nur bei 62,4 %. Noch schlechter sieht die Lage aus, wenn für die Messung der Beschäftigung Vollzeitäquivalente angesetzt werden, da das derzeitige Beschäftigungsniveau von Frauen bei 53,5 % aller Vollzeit erwerbstätigen Frauen liegt (6).

2.5

Die Erhöhung der Frauenerwerbsquote hat in den vergangenen 50 Jahren bereits erheblich zum Wachstum beigetragen. Und doch muss beachtet werden, dass die unbezahlte Haus- und Familienarbeit von Frauen nicht als Beitrag zur Wirtschaft zählt. Die Schaffung von Arbeitsplätzen für die Bereitstellung von Familiendienstleistungen würde zur Umwandlung dieser unsichtbaren Arbeit in eine bezahlte Beschäftigung beitragen und Steuereinnahmen und Einzahlungen in die Rentenkassen usw. bewirken.

2.6

Der Ausschuss macht darauf aufmerksam, dass arbeitslose Frauen in den Statistiken nicht immer berücksichtigt werden und nicht als arbeitslos erfasst sind, aber letztlich ungenutztes Potenzial darstellen. Der Rückgang der Frauenbeschäftigung schlägt sich nicht unmittelbar in Arbeitslosigkeit nieder, sondern in Nichterwerbstätigkeit oder Schwarzarbeit, da durch den "Abschreckungseffekt" wenig Frauenarbeit angeboten wird. Folglich können die statistischen Daten auf nationaler und europäischer Ebene kein reales Bild der Wirklichkeit spiegeln. Der EWSA fordert, dass die europaweit zusammengetragenen und erstellten Daten zur Beschäftigung von Frauen stärker nach den Branchen im privaten Dienstleistungssektor aufgeschlüsselt werden.

2.7

Der EWSA merkt an, dass im Jahreswachstumsbericht Ziele für die Beschäftigungsquote von Frauen (7) aufgestellt werden sollten, da Geschlechtergefälle durch gezielte Maßnahmen überbrückt und die Inklusion gefördert werden können, was das Wachstumspotenzial der EU-Wirtschaft erheblich vergrößern würde (8). Solche Maßnahmen – darunter, jedoch nicht beschränkt auf die Pflege von abhängigen Familienangehörigen und den Abbau von finanziellen Hemmnissen, die Zweitverdiener von einer Berufstätigkeit abschrecken – sind wichtig, um die Erwerbsbeteiligung von Frauen zu steigern. Die Mitgliedstaaten sollten solche Maßnahmen einsetzen, um die Beschäftigungsfähigkeit zu verbessern und den (Wieder-)Einstieg ins Berufsleben zu unterstützen.

2.8

Eine strenge Sparpolitik führt zu Kürzungen im öffentlichen Sektor und bei öffentlichen Dienstleistungen; Frauen droht tendenziell stärker der Verlust ihres Arbeitsplatzes, da sie die Mehrheit der Beschäftigten im öffentlichen Dienst bilden. Als Gruppe sind Alleinerziehende, von denen wiederum die Mehrheit Frauen sind, am stärksten von der Senkung ihres Lebensstandards durch Kürzungen bei öffentlichen Dienstleistungen betroffen. Gleichzeitig leisten auch in der Mehrheit Frauen unbezahlte Pflegedienste, so dass wahrscheinlich sie einspringen werden müssen, um die Kürzungen bei den Sozialdiensten zu kompensieren (9). Die Kommission sollte eine umfassende Studie über die Auswirkungen der Sparmaßnahmen auf die Chancengleichheit erstellen, um bessere Lösungen ins Auge zu fassen, sowie eine Untersuchung darüber, welchen Einfluss die Sparpolitik auf Quantität und Qualität der Beschäftigung von Frauen im öffentlichen Dienst und im privaten Dienstleistungssektor hat.

2.9

Bemerkenswert ist, dass sich die politischen Entscheidungsträger in der EU auf die allgemeine Beschäftigungsfähigkeit fokussieren, aber keine Maßnahmen für die Erschließung des Potenzials nicht erwerbstätiger Frauen ausmachen, die einen maßgeblichen Beitrag zum Wachstum in der EU leisten könnten.

2.10

Der EWSA empfiehlt, bei der Zuweisung von EU-Mitteln Geschlechteraspekten stärker Rechnung zu tragen und fordert die EU-Institutionen und die Mitgliedstaaten auf, die in der Evaluation of the European Social Fund's support to Gender Equality (10) enthaltenen Empfehlungen umzusetzen.

3.   Bildung

3.1

Eine Steigerung des Bildungsniveaus sorgte in den EU-Mitgliedstaaten im Zeitraum zwischen 1960 und 2008 für ca. 50 % des BIP-Wachstums, ca. die Hälfte dieses Zuwachses war auf ein höheres Bildungsniveau von Frauen zurückzuführen (11).

3.2

Aus Berichten des EIGE (12) und der OECD geht hervor, dass Frauen im Vergleich zu Männern aus verschiedenen Gründen weniger Beschäftigungsmöglichkeiten offen stehen und dass sie für die gleiche Arbeit weniger Geld bekommen, obwohl Frauen in den meisten EU-Mitgliedstaaten heutzutage ein höheres Bildungsniveau als Männer haben.

3.3

Systematische geschlechtsspezifische Unterschiede (13) bei der Wahl von Unterrichts- und Studienfächern verhindern, dass die Volkswirtschaften ihre Talentreserven voll ausschöpfen und bewirken mithin eine Fehlallokation des Humankapitals und eine Beeinträchtigung des Potenzials für Innovation und Wirtschaftswachstum. Die EU-Institutionen und die Mitgliedstaaten sollten das Geschlechtergefälle in der Bildung angehen und eine Veränderung der Denk- und Verhaltensweisen bei den Schülerinnen und Schülern, den Lehrkräften, den Eltern und der Gesellschaft insgesamt anstoßen. Diesbezüglich ist möglichst frühzeitiges Handeln, gleich zu Beginn der Schullaufbahn angesagt, bevor sich stereotype Geschlechterwahrnehmungen und Einstellungen in Bezug darauf festsetzen, worin Mädchen und Jungen besonders gut sind bzw. woran sie Spaß haben.

3.4

Der Ausschuss empfiehlt, Initiativen und Projekte, die über EU-Instrumente finanziert werden (ESF-Finanzierung, Programme für das lebenslange Lernen usw.), gezielt ins Auge zu fassen. Diese Instrumente könnten eingesetzt werden, um Frauen für den Wiedereinstieg ins Berufsleben zu qualifizieren oder um die beruflichen Aufstiegsmöglichkeiten von Frauen zu fördern.

4.   Der Arbeitsmarkt

4.1

Die meisten EU-Mitgliedstaaten haben sowohl mit dem Problem einer alternden Bevölkerung als auch mit dem Problem geringer Geburtenraten zu kämpfen. Diese Faktoren bedeuten, dass die erwerbstätige Bevölkerung in den nächsten 20 Jahren schrumpfen wird, wenn die Erwerbsbeteiligung von Männern und Frauen unverändert bleibt (14).

4.2

In den europäischen Gesellschaften vorherrschende Geschlechtergefälle müssen nachhaltig angegangen werden. Die Förderung einer besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf für Männer ist ein wichtiger Schritt in Richtung einer gerechteren bzw. ausgewogeneren Verteilung von bezahlter und unbezahlter Arbeit zwischen Frauen und Männern. Wenn der Elternurlaub ausgewogener zwischen beiden Elternteilen aufgeteilt würde, wären Arbeitgebern weniger zögerlich bei der Einstellung von Frauen im gebärfähigen Alter.

4.3

Änderungen bei der Nachfrage nach Arbeitskräften – z.B. durch das Entstehen neuer Produktionsverfahren und anderer Arbeitsbedingungen sowie insbesondere durch die Umstellung von der Fertigung und der Landwirtschaft auf Dienstleistungen – sind wichtige Antriebskräfte für eine stärkere Erwerbsbeteiligung von Frauen und lösen eine stärkere Nachfrage nach weiblichen Beschäftigten aus.

4.4

Zwar hat die Möglichkeit der Teilzeitarbeit mehr Frauen zur Aufnahme einer Berufstätigkeit angeregt, auf lange Sicht kann Teilzeitarbeit aber die Weiterbildungsmöglichkeiten und Aufstiegschancen schmälern, sie wirkt sich auf die Rentenansprüche aus und steigert das Risiko der Altersarmut. Dies gilt insbesondere im Falle einer "unfreiwilligen" Teilzeitarbeit, die in den letzten Jahren zugenommen hat (15), weil als Reaktion auf die Krise umgehend den Frauen eine Teilzeitbeschäftigung angeboten wurde, die sich darauf einlassen müssen, weil sie entweder keine andere Wahl haben oder weil sie ihren Arbeitsplatz nicht verlieren möchten. Beachtenswert ist das große Ungleichgewicht im Verhältnis zwischen Frauen und Männern, die in Teilzeit arbeiten (31,6 % zu 8 %). Hindernisse, die dem Wechsel von einer Teilzeit- in eine Vollzeitbeschäftigung im Wege stehen, sollten beseitigt werden.

4.5

Der Ausschuss weist darauf hin, dass Maßnahmen zur Förderung von Doppelverdienerhaushalten und zur Unterstützung berufstätiger Erwachsener für eine bessere Vereinbarkeit ihrer familiären und beruflichen Verpflichtungen wichtige Faktoren für eine stärkere Beteiligung von Frauen am Arbeitsmarkt sind. Auch eine geeignete Mischung aus Geld- und Sachleistungen spielt eine wichtige Rolle.

4.6

Höhere Steuersätze für den Zweitverdiener in einer Familie können zu einer geringeren Erwerbsbeteiligung von Frauen führen, da sie Frauen von der Ausübung einer Berufstätigkeit abhalten (16). Daher müssen die Steuer- und Sozialleistungssysteme angepasst werden, um keine abschreckende Wirkung auf Zweitverdiener auszuüben.

4.7

Besondere Aufmerksamkeit sollte der informellen, prekären Beschäftigung, einschließlich der Scheinselbstständigkeit gewidmet werden. Frauen sind hiervon stärker betroffen als Männer, was für sie auch die Gefahr der Ausbeutung erhöht. Die EU-Mitgliedstaaten sollten unverzüglich das ILO-Übereinkommen 189 über menschenwürdige Arbeit für Hausangestellte (17) ratifizieren, in dem Arbeitsnormen für Hausangestellte aufgestellt werden.

5.   Einkommen und Rente

5.1

Der EWSA fordert die politischen Entscheidungsträger auf, das Geschlechtergefälle anzugehen und das geschlechtsspezifische Lohngefälle, das bei durchschnittlich 16,2 % liegt, abzubauen, da von gleicher Bezahlung nicht nur die Frauen, sondern die gesamte Gesellschaft profitieren werden – der Bewertung des europäischen Mehrwerts zufolge steigt bei einer Verringerung des geschlechtsspezifischen Lohngefälles um einen Prozentpunkt das Wirtschaftswachstum um 0,1 % (18).

5.2

Ferner bringt der EWSA seine Besorgnis über das enorm große Geschlechtergefälle bei den Renten zum Ausdruck – der EU-27-Durchschnitt liegt bei 39 % (19) – ein mehr als doppelt so hoher Wert wie beim geschlechtsspezifischen Lohngefälle. Besonders beunruhigend ist, dass es an Bewusstsein für diese Problematik mangelt. Es ist nicht nur so, dass in den meisten EU-Mitgliedstaaten große Gefälle bestehen, sie sind auch äußerst komplex, da sie von Erwerbsbiografien (vor allem Lohngefälle, Stundenzahl und Berufsjahre), vom jeweiligen Rentensystem und insbesondere von den Auswirkungen des beruflichen Verdiensts auf die Rentenleistungen abhängen und sich danach richten, inwieweit die Rentensysteme Unterbrechungen der Berufstätigkeit für die Erziehung von Kindern oder die Pflege abhängiger Angehöriger kompensieren.

5.3

Daher würden nach Auffassung des EWSA die Überbrückung des geschlechtsspezifischen Lohngefälles und die Anrechnung von "Familienzeiten" – Betreuung von Kindern und älteren Menschen, Unterstützung eines Familienmitglieds während einer kurzen und/oder langen Erkrankung usw. – in den Rentensystemen für Männer und für Frauen (bei gleichzeitiger Ermöglichung von Betreuungs- und Pflegezeiten für Beschäftigte) das geschlechtsspezifische Rentengefälle verringern (20).

6.   Unternehmertum

6.1

In einer vor kurzem von der OECD durchgeführten Untersuchung (21) wird hervorgehoben, dass geschlechtsbedingte Gefälle in Bezug auf Unternehmertum groß sind und sich durch die verschiedensten Dimensionen ziehen, einschließlich subjektiver Präferenzen beim Unternehmertum, der Betriebsgröße und der Geschäftsergebnisse, des Zugangs zu Finanzkapital und dessen Einsatz. Unternehmerinnen verfolgen bei der Unternehmensgründung neben der Gewinnmaximierung noch weitere Ziele, weiter gefasste Indikatoren für die Unternehmensleistung und den Erfolg tragen ihrem Beitrag zur wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung Rechnung.

6.2

Eine stärkere Förderung für Frauen als Unternehmensgründerinnen bzw. mehr Förderung für die Expansion bestehender, von Frauen geführten Unternehmen kann zur Schaffung von mehr Arbeitsplätzen, mehr Innovation, einer stärkeren Wettbewerbsfähigkeit und zum Wirtschaftswachstum beitragen (22) und zugleich auch die soziale Ausgrenzung verringern. Intensive Bemühungen sind erforderlich, um insbesondere nach der Krise das volle Potenzial der Unternehmen für ein nachhaltiges Wirtschaftswachstum und die Schaffung von Arbeitsplätzen in Europa auszuschöpfen.

6.3

Der EWSA hat bereits die folgenden Schritte vorgeschlagen, die für die Förderung von Unternehmerinnen auf EU-Ebene ergriffen werden sollten (23):

Einrichtung eines Büros für von Frauen geführte Unternehmen in der EU, um Infrastrukturen zur Förderung der Tätigkeit von Unternehmerinnen zu schaffen;

Ernennung eines Direktors/einer Direktorin für von Frauen geführte Unternehmen in der Europäischen Kommission und in den Wirtschaftsministerien der Mitgliedstaaten, der/die über den wirtschaftlichen Nutzen der Ermutigung von mehr Frauen zur Gründung und Weiterentwicklung von Unternehmen informiert;

Erhebung geschlechtsspezifischer Daten zu von Frauen geführten Unternehmen in ganz Europa.

7.   Beschlussfassung

7.1

Internationale Studien (24) bestätigen, dass Frauen in Führungspositionen einen positiven Einfluss auf das Geschäftsergebnis, die Unternehmenskultur, den Führungsstil und die Widerstandsfähigkeit in der Krise haben. Frauen sind weniger risikofreudig und setzen auf die nachhaltige Entwicklung; die Hindernisse, die einer ausgewogenen Vertretung von Frauen und Männern in Entscheidungspositionen im Wege stehen, sind jedoch sehr viel größer, als offen zugegeben wird.

7.2

Der EWSA hofft, dass alle öffentlichen und privaten Beschlussfassungsgremien im Sinne einer Selbstregulierung Mindestnormen für eine ausgewogene Beteiligung von Frauen und Männern an Entscheidungsprozessen aufstellen werden. Börsennotierte Unternehmen und alle öffentlichen Stellen sollten sich um Transparenz bei Bewerbungen und Einstellungen, um eine Kultur der Inklusion und um Wahlmöglichkeiten bemühen. Ohne die Handlungsbereitschaft von Männern und Frauen kann jedoch nicht viel erreicht werden.

7.3

Der EWSA empfiehlt den Politikverantwortlichen und Unternehmen, folgende Aspekte zu prüfen, um sicherzustellen, dass in allen Beschlussfassungsorganen eine ausgewogene Vertretung von Frauen und Männern erreicht wird:

Stärkung der öffentlichen Wahrnehmung von Frauen in Spitzenpositionen;

mehr Transparenz beim Anwerben von Talenten;

Aufbau und Erhalt einer kritischen Masse;

Aufbrechen stereotyper Geschlechterrollen;

Planung der Nachfolge an der Unternehmensspitze;

Schaffung von Aufstiegsmöglichkeiten für Nachwuchstalente;

Unterstützung der Schaffung von Mentoring-Netzwerken im öffentlichen und privaten Sektor;

Verbreitung von Beispielen bewährter Verfahren;

Schaffung einer europaweit koordinierten Datenbank von Frauen, die über die Qualifikationen für Entscheidungspositionen verfügen.

7.4

Zur Umsetzung der Strategie für die Gleichstellung von Frauen und Männern 2010-2015 (25) ruft der EWSA zu einer ausgewogenen Vertretung von Frauen und Männern im öffentlichen Leben und vor allem in der Politik auf, da Frauen durch ihre derzeitige Unterrepräsentation in ihren Mitbestimmungsrechten beschnitten werden (26). Die EU-Institutionen und die Mitgliedstaaten sowie die Organisationen der Sozialpartner sollten mit gutem Beispiel vorangehen und vor allem für ihre Führungsebenen Gleichstellungsziele in ihren politischen und administrativen Stellen aufstellen.

8.   Kinderbetreuung

8.1

Ein wichtiger Faktor für eine stärkere Erwerbsbeteiligung von Frauen ist der Zugang zu Ganztagsbetreuungsplätzen insbesondere für Kleinkinder. Eine Erhöhung der öffentlichen Ausgaben für das Betreuungsangebot wirkt sich direkt auf die Vollzeitbeschäftigung von Frauen aus (27).

8.2

Die Verwirklichung der Barcelona-Ziele ist daher eine Notwendigkeit. Einem kürzlichen Bericht der Kommission zufolge hatten jedoch 2010 nur 10 Mitgliedstaaten das Barcelona-Ziel für Kinder unter 3 Jahren erreicht. Im selben Jahr hatten in der Gruppe der Kinder zwischen drei Jahren und dem Schulpflichtalter nur 11 Mitgliedstaaten das Ziel von 90 % erreicht (28).

8.3

Die Mitgliedstaaten mit den höchsten Geburtenraten sind derzeit auch diejenigen, die am meisten getan haben, um die Vereinbarkeit von Beruf und Familie zu verbessern, und eine hohe Frauenerwerbsquote aufweisen (29), daher sollten die Mitgliedstaaten Familien mit Kindern wirkungsvoller, erschwinglicher, zugänglicher und hochwertiger unterstützen, u.a. durch folgende Maßnahmen (30):

Investitionen in Kinder – durch frühkindliche Förderprogramme, vor allem Programme, in die die Familie eng eingebunden wird, Familiendienstleistungen zu Hause und in Einrichtungen;

bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf – über eine Koordinierung verschiedener Bereiche, wie dem Betreuungsangebot, Elternurlaub und familienfreundlichen Arbeitsplätzen;

Schaffung günstiger Rahmenbedingungen für eine höhere Geburtenrate – über Maßnahmen für eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf, durch Steuererleichterungen (z.B. das britische System der Gutscheine für Kinderbetreuung) und Maßnahmen, mit denen die Kosten für die Kindererziehung auf mehr Schultern verteilt werden, sowie Maßnahmen, die jungen Paaren Zugang zu erschwinglichem Wohnraum und festen Halt auf dem Arbeitsmarkt ermöglichen.

9.   Stereotype und Diskriminierung

9.1

Zwar hat sich das Einkommenspotenzial von Frauen durch das in den vergangenen Jahrzehnten erzielte höhere Bildungsniveau von Mädchen vergrößert, aber die Haltung der Gesellschaft in Bezug auf berufstätige Frauen und der Konflikt zwischen familiären Werten und der Gleichstellung bleiben ein Hindernis für die Gleichstellung auf dem Arbeitsmarkt.

9.2

Der EWSA ist insbesondere besorgt angesichts der Diskriminierung von Frauen mit Behinderungen, einem Migrationshintergrund oder von Frauen, die einer ethnischen Minderheit angehören. In diesem Sinne fordert er eine rasche Umsetzung der Gleichbehandlungsrichtlinie (31).

9.3

Gewalt gegen Frauen ist nicht nur gesellschaftlich unvertretbar, sondern auch mit hohen wirtschaftlichen Kosten verbunden. Die Kosten für Gewalt gegen Frauen werden in den 47 Mitgliedstaaten des Europarates auf jährlich mindestens 32 Mrd. Euro geschätzt (32). Politische Maßnahmen gegen die geschlechtsspezifische Gewalt sind zwar wichtig, aber nur durch den paritätischen Zugang der Frauen zu einflussreichen Positionen lässt sich das traditionelle Rollenbild der Frau in der Gesellschaft ändern.

9.4

Die Medienwirtschaft spielt eine entscheidende Rolle für die Förderung der Gleichstellung. Die Medien spiegeln soziokulturelle Muster und Normen nicht nur wider, sondern sie schaffen sie auch und sind mächtige Akteure für die Meinungsbildung und die Kultur. Auch sind es genau die Medieninhalte, die ein Verständnis der Komplexität der Gleichstellung bei allen gesellschaftlichen Akteuren – einschließlich der politischen Entscheidungsträger und der Öffentlichkeit – fördern, weswegen die hartnäckig bestehenden Ungleichheiten in Form der Unterrepräsentation (insbesondere auf der Führungsebene), mangelnder beruflicher Aufstiegsmöglichkeiten und geringer Bezahlung (im Vergleich zu Männern) im Mediensektor angegangen werden müssen (33).

Brüssel, den 18. September 2013.

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Henri MALOSSE


(1)  Wirtschafts- und Sozialrat der Vereinten Nationen, Bericht des Generalsekretärs des Statistikausschusses für nach Geschlechtern aufgeschlüsselte Statistiken (E/CN.3/2013/10).

(2)  Europäische Kommission, GD Beschäftigung, Soziales und Chancengleichheit, 2011.

(3)  ABl. C 181 vom 21.6.2012, S. 14-20).

(4)  "Closing the Gender Gap: Act Now", OECD, Dezember 2012.

(5)  Es wird davon ausgegangen, dass die Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter in den nächsten 30 Jahren um 1 bis 1,5 Mio. pro Jahr schrumpfen wird, Recent Experiences from OECD Countries and the European Union, OECD, 2012.

(6)  "Female labour market participation", Europäische Kommission, 2013.

(7)  "Jahreswachstumsbericht 2013", Europäische Kommission, 2012.

(8)  Arbeitsunterlage der Kommissionsdienststellen: Progress on equality between women and men in 2012 – Begleitdokument zu dem Bericht der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen – Bericht 2012 über die Anwendung der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, SWD(2013) 171 final.

(9)  "TUC Women and the Cuts Toolkit", Trade Union Congress, 2011.

(10)  Europäische Kommission, GD Beschäftigung, Soziales und Chancengleichheit, 2011.

(11)  Effects of Reducing Gender Gaps in Education and Labour Force Participation on Economic Growth in the OECD, DELSA/ELSA/WD/SEM(2012)9, OECD, 2012.

(12)  Bericht über den Gleichstellungsindex, Europäisches Institut für Gleichstellungsfragen (EIGE), 2013.

(13)  2010 waren 77 % der europäischen Hochschulabsolventen im Bildungsbereich Frauen, im Bereich Gesundheit und Wohlfahrt lag ihr Anteil bei 74 %, bei den Geisteswissenschaften bei 65 % – hingegen bei den Ingenieurswissenschaften nur bei 25 % und bei 38 % in den Naturwissenschaften, Mathematik und Informatik, Report on the Gender Initiative: Gender Equality in Education, Employment and Entrepreneurship, OECD, 2011.

(14)  Drivers of Female Labour Force Participation in the OECD, DELSA/ELSA/WD/SEM(2013)1, OECD, 2013.

(15)  23,4 % der von Frauen ausgeübten Teilzeitarbeit ist unfreiwillig (EU-Durchschnitt 2011). Quelle: Lisbon Assessment Framework Database

(16)  "Drivers of Female Labour Force Participation in the OECD", OECD, 2013.

(17)  International Labour Organization, C189 – Domestic Workers Convention, 2011.

(18)  Europäisches Parlament, Entschließungsantrag (B7-XXXX/2013), 17.6.2013.

(19)  "The Gender Gap in Pensions in the EU", GD Justiz der Europäischen Kommission, 2013.

(20)  In seiner Stellungnahme "Der Zusammenhang zwischen Gleichstellung, Wirtschaftswachstum und Beschäftigungsquote" (SOC/338, ABl. C 318 vom 23.12.2009, S. 15-21) argumentiert der EWSA, dass die für die Pflege genommenen Auszeiten auf die gleiche Art finanziert werden sollten wie der Ruhestand.

(21)  Women Entrepreneurs in the OECD: key evidence and policy challenges, DELSA/ELSA/WD/SEM(2013)3, OECD, 2013.

(22)  Weltbank, Female Entrepreneurship: Program Guidelines and Case Studies, 11/04/2013 – "In den Vereinigten Staaten z.B. ist die Wachstumsrate der von Frauen geführten Unternehmen mehr als doppelt so hoch wie bei anderen Unternehmen, sie leisten einen Beitrag in Höhe von fast 3 Billionen US-Dollar zur Wirtschaft der USA und bieten unmittelbar 23 Millionen Arbeitsplätze".

(23)  ABl. C 299 vom 4.10.2012, S. 24.

(24)  "Women Matter", McKinsey; "Do Women in Top Management Affect Firm Performance?", Smith and Verner; "Diversity and gender balance in Britain plc", TCAM; "Mining the Metrics of Board Diversity", Thomson Reuters; etc.

(25)  "Strategie für die Gleichstellung von Frauen und Männern" 2010-2015, Europäische Kommission, 2010.

(26)  "Database on women & men in decision making", Europäische Kommission, GD Justiz.

(27)  "Closing the Gender Gap: Act Now", OECD, 2012.

(28)  "Barcelona-Ziele", Europäische Kommission, 2013.

(29)  ABl. C 318 vom 23.12.2009, S. 15.

(30)  "Extending opportunities: How active social policy can benefit us all", ISBN 92-64-00794-6, OECD, 2005.

(31)  COM(2008) 426 final, 2.7.2008.

(32)  ABl. C 351 vom 15.11.2012, S. 21-26.

(33)  EIGE, "Review of the implementation of the Beijing Platform for Action in the EU Member States: Women and the Media — Advancing gender equality in decision-making in media organisations", 2013.


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