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Document 52008AE1665

    Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Leitlinien für Dienstleistungen von allgemeinem Interesse und die Globalisierung

    ABl. C 100 vom 30.4.2009, p. 33–38 (BG, ES, CS, DA, DE, ET, EL, EN, FR, IT, LV, LT, HU, MT, NL, PL, PT, RO, SK, SL, FI, SV)

    30.4.2009   

    DE

    Amtsblatt der Europäischen Union

    C 100/33


    Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Leitlinien für Dienstleistungen von allgemeinem Interesse und die Globalisierung“

    2009/C 100/06

    Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss am 17. Januar 2008 gemäß Artikel 29 Absatz 2 der Geschäftsordnung, eine Initiativstellungnahme zu folgendem Thema zu erarbeiten:

    „Leitlinien für Dienstleistungen von allgemeinem Interesse und die Globalisierung“.

    Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft nahm ihre Stellungnahme am 24. September 2008 an. Berichterstatter war Herr Hernández BATALLER.

    Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 448. Plenartagung am 21.—23. Oktober 2008 (Sitzung vom 23. Oktober) mit 50 gegen 2 Stimmen bei 1 Stimmenthaltung folgende Stellungnahme.

    1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

    A)

    Der EWSA fordert die anderen EU-Institutionen auf, eine Gemeinschaftsinitiative auf den Weg zu bringen, um eine gründliche Erörterung über die Notwendigkeit einzuleiten, Leitlinien für die Dienstleistungen von allgemeinem Interesse und die Globalisierung festzulegen.

    B)

    Der EWSA ersucht die Kommission, in den entsprechenden Bewertungsberichten, die sie über die Dienstleistungen von allgemeinem Interesse vorlegt, regelmäßig ein Kapitel der Globalisierung und deren möglichen Auswirkungen auf die Dienstleistungen von allgemeinem Interesse zu widmen.

    C)

    Bezüglich der öffentlichen Aufträge sollte unbeschadet der Anwendung der notwendigen Innovationen durch die Erbringung von Dienstleistungen der Informationsgesellschaft (1) bei der Weiterentwicklung der Dienstleistungen versucht werden, ihre wesentlichen Merkmale beizubehalten und einen Rahmen für die angemessene Einrichtung entsprechender Dienste zu schaffen (z. B. im Bereich Telemedizin, Berufsethik und Datenschutz).

    D)

    Es muss die künftige Schaffung einer globalen Governance gefördert werden, die auf einer ausgewogenen Teilhabe der internationalen Organisationen, der Mitgliedstaaten und anderer Interessenträger beruhen könnte.

    E)

    Die ILO und die WHO, die sich mit arbeitsrechtlichen und Gesundheitsfragen beschäftigen, sollten im Wege eines Beobachterstatus auch in die Bestrebungen zu einer globalen Governance auf WTO-Ebene eingebunden werden.

    F)

    Ein Beratungsforum, das mit der Festlegung und Überarbeitung der künftig im Bereich der Dienstleistungen von allgemeinem Interesse zu ergreifenden Maßnahmen beauftragt wäre, könnte zu dieser Governance sowie zur Überwachung der Einhaltung der den Dienstleistungen von allgemeinem Interesse zugrunde liegenden Prinzipien und Werte beitragen.

    G)

    Was die Verwaltung der globalen öffentlichen Güter angeht, sollte eine Diskussion über die wesentlichen Aspekte einer künftigen globalen Governance dieser Güter angestoßen werden. Auf Gemeinschaftsebene sollte ein europäisches Aktionsprogramm aufgestellt werden, in dem die Modalitäten für die Finanzierung dieser Güter festgelegt werden.

    Diese globale Governance müsste die Verwaltung der globalen öffentlichen Güter umfassen und damit den anlässlich des G8-Gipfels in Heiligendamm zum Thema „biologische Vielfalt und Energie“ eingeschlagenen Weg fortsetzen.

    2.   Einleitung

    2.1   Zweifellos spielen die Dienstleistungen von allgemeinem Interesse eine so wichtige Rolle im täglichen Leben der EU-Bürger, dass ihr Beitrag zum sozialen, wirtschaftlichen und territorialen Zusammenhalt sowie zur nachhaltigen Entwicklung der EU nunmehr ein integraler Bestandteil des europäischen Sozialmodells (2) ist. Darüber hinaus vervollständigen sie den Binnenmarkt und gehen über dessen Rahmen hinaus; sie sind damit eine Voraussetzung für das wirtschaftliche und soziale Wohl der Bürgerinnen und Bürger und der Unternehmen (3).

    2.1.1   Unter Globalisierung ist die Öffnung der Wirtschaft und der Grenzen als Resultat der Zunahme der Handelsbeziehungen, der Kapitalbewegungen, des Personenverkehrs und des Informationsflusses, der Verbreitung von Informationen, Wissen und Technologien sowie eines Deregulierungsprozesses zu verstehen. Dieser zugleich geografische und sektorbezogene Prozess ist nicht neu, hat sich in den vergangenen Jahren aber beschleunigt.

    2.1.2   Die Globalisierung bietet zahlreiche Chancen, auch wenn sie noch immer zu den größten Herausforderungen für die Europäische Union gehört. Um das Wachstumspotenzial dieses Phänomens voll ausschöpfen und eine gerechte Verteilung der daraus erwachsenden Vorteile garantieren zu können, versucht die Europäische Union mittels einer multilateralen Governance das Modell einer nachhaltigen Entwicklung zu schaffen, um Wirtschaftswachstum, sozialen Zusammenhalt und Umweltschutz miteinander in Einklang zu bringen.

    2.2   Die wirtschaftliche Globalisierung führt jedoch zu einer neuen Situation, in der die von einigen internationalen Organisationen (wie z. B. der WTO) gefassten Beschlüsse von großer Bedeutung sind und das Fortbestehen der Dienstleistungen von allgemeinem Interesse als Identitätsmerkmal jenes Modells in Frage stellen können.

    2.3   In diesem Zusammenhang ist es nötig, einschlägige internationale Rechtsinstrumente zu konzipieren, damit die EU und ihre Mitgliedstaaten das Fortbestehen der Dienstleitungen von allgemeinem Interesse gewährleisten können, ohne auf Strategien zurückgreifen zu müssen, die die Anwendung der Prinzipien des freien internationalen Handels behindern oder die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Wirtschaft beeinträchtigen.

    2.3.1   Darüber hinaus müssen die Institutionen der Europäischen Union der Funktionsweise der Selbstregulierungsorgane besondere Aufmerksamkeit schenken, die sich auf globaler Ebene um die Festlegung gemeinsamer Handlungsleitlinien für Behörden in die Dienstleistungen von allgemeinem Interesse betreffenden Bereichen kümmern (z. B. die Internationale Fer-meldeunion ITU).

    2.3.2   Artikel 63 der Grundrechtecharta der Europäischen Union (4) sieht vor, dass die EU den Zugang zu Dienstleistungen von allgemeinem Interesse anerkennt und achtet, wie er durch die einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten im Einklang mit den Verträgen geregelt ist, um den sozialen und territorialen Zusammenhalt zu fördern; damit wird erstmals eine Verbindung zwischen diesen Dienstleistungen und den Grundrechten hergestellt (5).

    2.3.3   Im Lissabon-Vertrag wird die Rolle der Europäischen Union im Bereich Wirtschaft und Handel erheblich gestärkt. Dieses Handeln der EU auf internationaler Ebene ist besonders notwendig angesichts der zunehmenden Globalisierung der Wirtschaft und der Stärkung des multilateralen Handelssystems infolge der ihm durch die Schaffung der Welthandelsorganisation im Jahr 1995 verliehenen starken Impulse.

    2.3.4   Der Lissabon-Vertrag enthält Bestimmungen, die für das gesamte auswärtige Handeln der Union im Rahmen des Kapitels I von Titel V des EU-Vertrags (EUV) gelten. Im EG-Vertrag (EGV) finden sich die Bestimmungen über die Gemeinschaftspolitik in Titel IX, Kapitel 3, Artikel 131 bis 134, die sich auf die „gemeinsame Handelspolitik“ beziehen. Im Vertrag bezeichnet dieser Ausdruck eine Reihe institutioneller Beschlussfassungsmechanismen in konkreten Zuständigkeitsbereichen zur Erreichung bestimmter Ziele, die ein geschlossenes Handeln der Gemeinschaft in diesen Bereichen ermöglichen (6).

    2.3.5   Nach Artikel 131 EGV sind die Beiträge zur harmonischen Entwicklung des Welthandels, zur schrittweisen Beseitigung der Beschränkungen im internationalen Handelsverkehr und zum Abbau der Zollschranken wesentliche Ziele der gemeinschaftlichen Politik.

    2.3.6   Darüber hinaus sollten die Auswirkungen berücksichtigt werden, die die Ziele der verschiedenen horizontalen Politiken der Gemeinschaft wie etwa die Kulturpolitik, die Gesund-heitspolitik (7), der Verbraucherschutz und die Industriepolitik auf die Gestaltung der gemeinsamen Handelspolitik haben können; dabei dürfte die Industriepolitik gemeinsam mit den Dienstleistungen wahrscheinlich einen stärkeren und problematischeren Einfluss auf die Durchführung der gemeinsamen Handelspolitik haben.

    2.3.7   Der EWSA hat bereits darauf hingewiesen, dass die Reform der Verträge ein Fortschritt ist, insbesondere was die Dienstleistungen von allgemeinem Interesse angeht, da unter die Bestimmungen zur Arbeitsweise der Europäischen Union in Artikel 14 eine generell anzuwendende Bestimmung für die Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse eingeführt wird, die auf die gesamte Politik der Union, einschließlich Binnenmarkt und Wettbewerb, angewendet werden soll, sowie ein Protokoll als Anhang zu den beiden Verträgen, das die Dienstleistungen von allgemeinem Interesse in ihrer Gesamtheit betrifft — also einschließlich solcher nicht wirtschaftlicher Art (8).

    2.4   Durch die Unterzeichnung des Lissabon-Vertrags mit seinen neuen Bestimmungen, die die Möglichkeit bieten, einen supranationalen Rechtsrahmen zu schaffen, der sich besser dafür eignet, in allen EU-Mitgliedstaaten den Zugang zu diesen Dienstleistungen zu regeln und deren Funktionsweise festzulegen, werden in dieser Hinsicht neue Horizonte für das Projekt der europäischen Integration eröffnet. Dazu gehören im Einzelnen:

    die wichtige Rolle und der weite Ermessensspielraum der nationalen, regionalen und lokalen Behörden in der Frage, wie Dienste von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse zur Verfügung gestellt, in Auftrag gegeben und organisiert und dabei so gezielt wie möglich an die Bedürfnisse der Verbraucher angepasst werden können;

    die Vielfalt der Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse und die möglichen Unterschiede bei den Bedürfnissen und Präferenzen der Nutzer, die sich aus den verschienen geografischen, sozialen und kulturellen Gegebenheiten ergeben können;

    ein hohes Niveau in Bezug auf Qualität, Sicherheit und Bezahlbarkeit, die Gleichbehandlung, die Förderung des universellen Zugangs und die Nutzerrechte.

    2.4.1   Einige Maßnahmen zur Bewältigung der Globalisierung, die von internationalen multilateralen Organisationen wie der WTO gefördert werden, könnten diese Position stärken, insbe-sondere über deren Schiedsgremien, die eine besonders wichtige Rolle spielen könnten.

    2.5   Bei einem derartigen supranationalen Ansatz fiele es leichter, in der internationalen Gemeinschaft wirklich Einfluss zu nehmen und so die erforderlichen Instrumente zur Abwehr der Gefahren für das europäische Sozialmodell zu entwickeln, das das Bild eines für alle seine Bürger demokratischen, umweltfreundlichen, wettbewerbsfähigen, solidarischen, integrierenden und wohlfahrtsstaatlichen Europas zeichnen sollte (9).

    2.6   Folglich lassen sich vor dem aktuellen internationalen Hintergrund verschiedene Pläne bzw. Konstellationen identifizieren, die von der EU eine differenzierte strategische Vorgehens-weise der EU erfordern, wie z. B.:

    2.6.1   Die Verwaltung der globalen öffentlichen Güter (Luft, Wasser, Wälder usw.), die auf Grundlage vager Solidaritätserklärungen, wie sie in der „Erklärung über die Errichtung einer neuen internationalen Wirtschaftsordnung“ (Generalversammlung der Vereinten Nationen, Resolution 3201 vom 2.5.1974) enthalten sind, soll, von der Europäischen Union ausgehend, die Schaffung eines supranationalen Rahmens fördern, der mit den internationalen Vereinbarungen und Beschlüssen in Einklang steht, die in diesem Zusammenhang getroffen werden können;

    2.6.1.1   Die globalen öffentlichen Güter oder Dienstleistungen sind unerlässlich für das Wohlergehen des Einzelnen sowie das Gleichgewicht der Gesellschaften der nördlichen und der südlichen Erdhalbkugel. Die Bereitstellung dieser globalen öffentlichen Güter kann nicht von der nationalen Ebene oder vom Markt abhängen: für ihren Erhalt und ihre Produktion ist eine internationale Zusammenarbeit erforderlich.

    2.6.2   Aufrechterhaltung und Weiterentwicklung einiger gemeinschaftlicher Dienstleistungen zum Gemeinwohl der Unionsbürger, wie Galileo, für die hohe Investitionen in Form öffentlicher Gelder nötig sind;

    2.6.3   Aufteilung der Zuständigkeiten zwischen der EU und ihren Mitgliedstaaten bei der Regulierung des Zugangs zu bestimmten Universaldiensten im Bereich der Kommunikation wie etwa dem Internet;

    2.6.4   Festlegung der Funktionen der subnationalen (bundesstaatlichen, regionalen und lokalen) Einheiten, die derzeitig Sozialdienstleistungen erbringen, verwalten und regulieren, vor dem Hintergrund der künftigen Umsetzung internationaler Abkommen zur Liberalisierung des Handels mit Dienstleistungen in Bereichen, die zurzeit noch nicht liberalisiert sind oder zunächst von dieser Option ausgeschlossen sind;

    2.6.5   Festlegung einer differenzierten politischen und rechtlichen Strategie in Bezug auf die künftige Situation der über Netze erbrachten Dienstleistungen von allgemeinem Interesse und der übrigen Dienstleistungen.

    2.6.6   Bedauerlicherweise werden die Dienstleistungen von allgemeinem Interesse derzeit auf den internationalen Foren nicht mit dem Ziel behandelt, um ihre Prinzipien und Werte aufrechtzuerhalten und zu verbreiten.

    2.6.7   Seit Januar 2003 besitzen jedoch sechs internationale Organisationen (die Weltbank, die Handels- und Entwicklungskonferenz der Vereinten Nationen (UNCTAD), die Welternäh-rungsorganisation (FAO), der IWF, die OECD und die UNO) Beobachterstatus bei der WTO, womit sie dem Prinzip einer im Entstehen begriffenen und künftig weiter auszubauenden globalen Governance Gestalt geben, in deren Rahmen die Regeln des internationalen Rechts gelten (multilaterale Umweltabkommen, internationale Arbeitsübereinkünfte, Menschen-rechte, Wirtschafts- und Sozialsektor). Da die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) und die Weltgesundheitsorganisation (WHO) jedoch fehlen, werden die Beschäftigungs- und Gesundheitsprobleme von der im Entstehen begriffenen globalen Governance ausgeklammert; die Union sollte sich diesbezüglich um Abhilfe bemühen.

    3.   Der Rechtsbesitzstand im Bereich der Dienstleistungen von allgemeinem Interesse, den die EU im Rahmen des GATS/WTO-Abkommens wahren muss

    3.1   Im letzten Jahrzehnt haben die EU-Institutionen bei der Erarbeitung einer Definition eines Rechtsrahmes für die Dienstleistungen von allgemeinem Interesse ständige Fortschritte erzielt, ohne jedoch einen kompletten gemeinsamen Rechtsrahmen in diesem Bereich zu erarbeiten (10).

    3.2   Hier ist allerdings die Kohärenz der Haltung des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu betonen, der in mehreren aufeinander folgenden Stellungnahmen (11) einen einhelligen und festen Standpunkt in Bezug auf die wesentlichen rechtlichen Aspekte der Dienstleistungen von allgemeinem Interesse vertreten hat, nämlich (12):

    Wahrung der Grundsätze der Gleichheit, Allgemeingültigkeit, Erschwinglichkeit und Zugänglichkeit, Zuverlässigkeit und Beständigkeit, Qualität und Effizienz, Garantie der Nutzerrechte und wirtschaftlichen und sozialen Rentabilität;

    Berücksichtigung der besonderen Bedürfnisse bestimmter Nutzergruppen wie Menschen mit Behinderungen, hilfebedürftige oder benachteiligte Personen usw.

    3.3   Vor diesem Hintergrund unterstreicht der EWSA, dass die Dienstleistungen von allgemeinem Interesse nicht bis in alle Einzelheiten definiert werden sollten, sondern vielmehr deren Gemeinwohlauftrag im Mittelpunkt stehen sollte, auch wenn die Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse durch unterschiedliche Entscheidungen gekennzeichnet sind:

    zwischen Markt und allgemeinem Interesse;

    zwischen wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Zielen;

    zwischen Nutzern (Einzelpersonen — auch aus benachteiligten Gruppen —, Unternehmen oder Kollektive), die nicht alle dieselben Bedürfnisse und Interessen haben;

    zwischen den Zuständigkeiten der einzelnen Mitgliedstaaten und der Integration der Gemeinschaft (13).

    3.3.1   Sinn und Zweck der Sozialdienstleistungen von allgemeinem Interesse (14) ihrerseits ist es, auf die verschiedensten Umstände schwieriger sozialer Situationen zu reagieren, die aufgrund von Krankheit, Alter, Arbeitsunfähigkeit, Behinderungen, prekären Lebensumständen, Armut, Ausgrenzung, Drogensucht, familiären Schwierigkeiten, Wohnraumproblemen sowie Schwie-rigkeiten bei der Integration von Ausländern entstehen.

    3.3.2   Der EWSA ist der Auffassung, dass unbeschadet der Wahlfreiheit der Mitgliedstaaten u. a. Dienstleistungen im Bereich der allgemeinen Schulpflicht und der gesetzlichen Gesundheits- und Sozialsysteme sowie kulturelle Aktivitäten, karitative Tätigkeiten, Dienste sozialer Art oder auf Solidarität oder Spenden basierende Dienste sowie Dienste im audiovisuellen Bereich, der Wasserversorgung und der Abwasserbehandlung als Dienstleistungen von nationalem, regionalem oder kommunalem Interesse anzusehen sind (15).

    3.4   Der EWSA hält es diesbezüglich für wesentlich, sich auf die spezifische Funktion der Dienstleistungen von allgemeinem Interesse und die zur Erfüllung dieser Funktion erforderlichen Voraussetzungen (gemeinwirtschaftliche Verpflichtungen) zu konzentrieren, die eindeutig festgelegt werden sollten.

    3.5   Mit dem Protokoll über Dienste von allgemeinem Interesse des Lissabon-Vertrags wird eine Definition dieser Dienstleistungen eingeführt, die Auslegungsspielraum lässt und sich mit dem Standpunkt des EWSA deckt. Erstmals befasst sich das primäre EU-Recht speziell mit dieser Frage und wird aufgrund seines bindenden Charakters in eine solide Leitlinie für das institutionelle Handeln der EU, sowohl innerhalb als auch außerhalb des Gebiets der Mitgliedstaaten, münden.

    3.6   Artikel 2 des Protokolls besagt: „Die Bestimmungen der Verträge berühren in keiner Weise die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten, nichtwirtschaftliche Dienste von allgemeinem Interesse zur Verfügung zu stellen, in Auftrag zu geben und zu organisieren.

    3.6.1   Auch wenn in dem Protokoll implizit zwischen Dienstleistungen von allgemeinem Interesse wirtschaftlicher und nicht wirtschaftlicher Natur unterschieden wird, bleibt angesichts des Fehlens eines EU-Rechtsakts, der diese Dienstleistungen in Kategorien einteilt, und im Lichte der der Schlussakte der Regierungskonferenz von 2007 beigefügten Erklärung zur Abgren-zung der Zuständigkeiten sowie des Protokolls über die Ausübung der geteilten Zuständigkeit, das dem Vertrag über die Europäische Union (EUV) und dem Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) beigefügt ist, die Position der Mitgliedstaaten in dieser Frage der wichtigste zu berücksichtigende Rechtsrahmen.

    In diesem Zusammenhang wird es aufgrund der künftigen Auswirkungen auf die Aushandlung und den Abschluss von Liberalisierungsabkommen für den Handel mit in der EU regulierten Dienstleistungen sehr hilfreich sein, die von der Europäischen Kommission vorgenommenen Bewertungen der Umsetzung der Dienstleistungsrichtlinie in den einzelnen Mitgliedstaaten zu verfolgen.

    3.6.2   Folglich hängt das Handeln der EU auf diesem Gebiet derzeit von zwei Bedingungen ab:

    a)

    bei der Erarbeitung und dem Erlass künftiger abgeleiteter Rechtsakte muss den Rechtstraditionen der Mitgliedstaaten hinsichtlich der Definitionen, Kategorien und Kriterien für die Funktionsweise der Dienstleistungen von allgemeinem Interesse Rechnung getragen werden;

    b)

    es werden internationale Übereinkommen ausgearbeitet, einschließlich solcher, die von Organisationen unterzeichnet werden, denen die EU und ihre Mitgliedstaaten angehören, und in Verhandlungsrunden oder auf internationalen Konferenzen werden gemeinsame Standpunkte vertreten, die mittels gemeinsamer Beratungen der Mitgliedstaaten und der EU erzielt werden und stets die wesentlichen Aspekte des Lissabon-Vertrags und der für die Dienstleistungen von allgemeinem Interesse geltenden einzelstaatlichen Rechtsvorschriften widerspiegeln.

    4.   Der Sonderfall von GATS und WTO

    4.1   Die Welthandelsorganisation (WTO) ist die internationale Organisation, die sich auf der Basis eines multilateralen Systems mit den weltweiten Regeln für den Handel zwischen den verschiedenen Ländern befasst. Die Pfeiler, auf die sie sich stützt, sind die WTO-Abkommen, die von der großen Mehrheit der am Welthandel teilnehmenden Länder ausgehandelt und unterzeichnet worden sind (16).

    4.2   Ihre Hauptaufgabe ist es, dafür zu sorgen, dass die Handelsströme möglichst reibungslos, kalkulierbar und frei fließen. Praktisch alle Entscheidungen werden von allen Mitgliedstaaten im gegenseitigen Einvernehmen getroffen und anschließend von ihren jeweiligen Parlamenten ratifiziert. Handelskonflikte werden im Rahmen des Streitbeilegungsverfahrens der WTO gelöst.

    4.3   Das Allgemeine Übereinkommen über den Handel mit Dienstleistungen (GATS) stellt die wichtigste Gruppe von Grundsätzen und Normen dar, die auf multilateraler Ebene vereinbart wurden, um den internationalen Dienstleistungshandel zu regeln. Darin werden die Dienstleistungssektoren aufgeführt, die die WTO-Mitglieder bereit sind, für den externen Wettbe-werb zu öffnen, und es wird angegeben, wie weit diese Märkte geöffnet werden, darunter einige Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse wie etwa die Finanzdienstleistungen, die elektronische Kommunikation, die Postdienstleistungen, die Verkehrs- und Energiedienstleistungen.

    4.4   Der EWSA hat bereits die anderen EU-Institutionen aufgefordert (17), die Leitgrundsätze der Dienstleistungen von allgemeinem Interesse auch in die Positionen der EU für die Handelsverhandlungen, insbesondere diejenigen im Rahmen der WTO und des GATS, einfließen zu lassen. Er hält es für nicht hinnehmbar, wenn die Europäische Union in den internationalen Handelsverhandlungen Verpflichtungen zur Liberalisierung bestimmter Branchen oder Tätigkeiten einginge, die nicht zuvor im Rahmen der Bestimmungen des Vertrags betreffend Dienstleistungen von allgemeinem Interesse beschlossen worden wären. Es muss die Möglichkeit der Mitgliedstaaten erhalten bleiben, Dienstleistungen von allgemeinem Interesse zu regulieren, um die von der Union aufgestellten Ziele in den Bereichen Soziales und Entwicklung zu erreichen; dies macht es erforderlich, die nicht regulierten Dienstleistungen von allgemeinem Interesse aus den oben genannten Handelsverhandlungen auszuklammern.

    4.5   Gemäß Artikel I Absatz 3 Buchstabe b) des GATS-Abkommens werden im Prinzip „Dienstleistungen[…], die in Ausübung hoheitlicher Gewalt erbracht werden“ von seinem Geltungs-bereich ausgenommen. Unter diesen Dienstleistungen ist laut Buchstabe c desselben Artikels Folgendes zu verstehen: „jede Art von Dienstleistung [in jedwedem Sektor], die weder zu kommerziellen Zwecken noch im Wettbewerb mit einem oder mehreren Dienstleistungserbringern erbracht wird“.

    4.5.1   Da sich das Abkommen streng genommen nicht auf „Dienstleistungen von allgemeinem Interesse“ bezieht — abgesehen von einem sinngemäßen Wortgebrauch in Artikel XXVIII (18) Absatz ii Buchstabe c — besteht erhebliche Ungewissheit in Bezug auf die Festlegung einer einheitlichen Definition und die Schaffung eines internationalen Rahmens, der sich für die Regulierung der Funktionsweise der Dienstleistungen von allgemeinem Interesse innerhalb der WTO eignet, wodurch einige Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts in Frage gestellt werden könnten.

    4.5.2   In Anbetracht der Vielzahl an Maßnahmen der Regierungen (oder der öffentlichen Hand), für die das GATS-Abkommen aufgrund von Artikel I Absatz 1 (19) gelten würde, und der Haltung des Berufungsorgans, das bei allen nicht ausreichend begründeten Maßnahmen, die zu Verzerrungen des Handels mit Dienstleistungen führen könnten (20), ganz klar die Anwendung des Abkommens befürwortet, erweist es sich außerdem als erforderlich, unter Wahrung der gemeinsamen Prinzipien und Werte, die Teil des gemeinschaftlichen Besitzstandes sind, innerhalb der WTO für die EU einen einheitlichen und festen Standpunkt festzulegen.

    4.5.3   Die einzige Ausnahme von dieser Regel bilden die Buchstaben a und b von Artikel II der Anlage des GATS-Abkommens zu Luftverkehrsdienstleistungen, in denen „bereits gewährte Verkehrsrechte, gleichviel auf welche Weise sie gewährt wurden“ oder „Dienstleistungen, die mit der Ausübung von Verkehrsrechten in unmittelbarem Zusammenhang stehen“ vom Geltungsbereich des Abkommens und den darin enthaltenen Streitbeilegungsverfahren ausgenommen werden.

    4.6   Bei dieser Sachlage bieten sich u. a. folgende Möglichkeiten an, zu denen die WTO Stellung beziehen sollte:

    4.6.1   Es ist in jedem Fall zweckmäßig, eine Vereinbarung mit den übrigen Vertragsparteien zu fördern, um den Begriff „in Ausübung hoheitlicher Gewalt erbrachte Dienstleistung“ von Artikel I Absatz 3 des GATS-Abkommens näher zu bestimmen, damit die Bestimmungen von Buchstabe b dieses Artikels, in dem es allgemein um die Liberalisierung jeder Art von Dienstleistung in jedem Sektor geht, die Staaten nicht daran hindern, Ausnahmeregelungen zu treffen und die sozialen Dienstleistungen und Dienstleistungen von allgemeinem Interesse von der Liberalisierung auszunehmen, ohne jedoch die aus dem GATS-Abkommen erwachsenden Pflichten in Bezug auf die Nichtbehinderung des Dienstleistungshandels zu verletzen.

    4.6.2   Wahl eines anderen Blickwinkels, unter dem die Erbringung einer Dienstleistung bewertet und ggf. als Dienstleistung von allgemeinem Interesse eingestuft werden kann, die unter das GATS-Abkommen fällt, indem der Schwerpunkt auf die Dienstleistungsnutzer und nicht auf den Dienstleistungserbringer gelegt wird. Als Gründe dafür, die Dienstleistungen von allgemeinem Interesse vom Geltungsbereich des GATS-Abkommens auszunehmen, können nur die Wahrung des allgemeinen Interesses auf gemeinschaftlicher oder einzelstaatlicher Ebene und der Verbraucherschutz gelten, denn in diesem Zusammenhang ist es unerheblich, ob die Dienstleistung von einem öffentlichen oder privaten, in- oder ausländischen Dienstleistungserbringer erbracht wird.

    4.6.3   Die Notwendigkeit, die gemeinschaftliche Definition öffentlicher Kreditinstitute und im Sinne des Gemeinwohls erbrachter Finanzdienstleistungen (z. B. Ruhestandsregelungen und gesetzliche Rentenversicherungssysteme) mit der Definition in Artikel I der Anlage des GATS-Abkommens zu Finanzdienstleistungen in Einklang zu bringen, demgemäß „sonstige Tätigkeiten, die von einer öffentlichen Stelle für Rechnung oder aufgrund Gewährleistung oder unter Einsatz der finanziellen Mittel der Regierung ausgeübt werden,“ als „in Ausübung hoheitlicher Gewalt erbrachte Dienstleistungen“ gelten.

    4.6.4   Die G20 (21) könnte im Hinblick auf die Entscheidungen, die die spezialisierten internationalen Organisationen (wie die Weltgesundheitsorganisation WHO, die Welternährungsorganisation FAO, der IWF usw.) im Bereich der Finanzdienstleistungen und zur Wahrung der Grundsätze und Werte der Dienstleistungen von allgemeinem Interesse treffen müssen, eine „Katalysatorrolle“ übernehmen.

    Brüssel, den 23. Oktober 2008

    Der Präsident

    des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

    Mario SEPI


    (1)  Stellungnahme des EWSA zum Thema „Förderung eines breiten Zugangs zur Europäischen Digitalen Bibliothek für alle Bürger“, ABl. C 162 vom 25.6.2008, S. 46.

    (2)  Stellungnahme des EWSA zum Thema „Ein europäisches Sozialmodell mit Inhalt füllen“, ABl. C 309 vom 16.12.2006, S. 119.

    (3)  Stellungnahme des EWSA zum Thema „Zukunft der Dienstleistungen von allgemeinem Interesse“, ABl. C 309 vom 16.12.2006, S. 135.

    (4)  ABl. C 303 vom 14.12.2007 (gemäß der feierlichen Proklamation des Europäischen Parlaments, des Rates und der Kommission von 2007).

    (5)  Stellungnahme des EWSA zum Thema „Zukunft der Dienstleistungen von allgemeinem Interesse“, ABl. C 309 vom 16.12.2006, Ziffer. 3.9.

    (6)  Siehe: „Los objetivos de la Política Comercial Común a la luz del Tratado de Lisboa“ (zu Deutsch: „Die Ziele der gemeinsamen Handelspolitik im Licht des Lissabon-Vertrags“), Miguel Angel Cepillo Galvín, in der Sammlung: El Tratado de Lisboa: salida de la crisis constitucional (zu Deutsch: „Der Lissabon-Vertrag: ein Weg aus der Verfassungskrise“). Herausgeber: José Martín y Pérez de Nanclares, Ed. Iustel, 2008.

    (7)  Stellungnahme des EWSA zum Thema „Die Arbeitsplatzqualität verbessern und die Arbeitsproduktivität steigern“, ABl. C 224 vom 30.8.2008, S. 87.

    (8)  Stellungnahme des EWSA zum Thema „Eine unabhängige Bewertung der Dienstleistungen von allgemeinem Interesse“ ABl. C 162 vom 25.6.2008, S. 42.

    (9)  Stellungnahme des EWSA zum Thema „Ein europäisches Sozialmodell mit Inhalt füllen“, ABl. C 309 vom 16.12.2006.

    (10)  Siehe Entschließung des Europäischen Parlaments, A.6-0275/2006 vom 26.9.2006; Weißbuch der Europäischen Kommission, KOM(2004) 374 vom 12.5.2004; Mitteilung der Europäischen Kommission, KOM(2007) 725 vom 20.11.2007, usw.

    (11)  Sondierungsstellungnahme des EWSA zum Thema „Leistungen der Daseinsvorsorge“, ABl. C 241 vom 7.10.2002, S. 119; Stellungnahme des EWSA zum Weißbuch zu Dienstleistungen von allgemeinem Interesse, ABl. C 221 vom 8.9.2005, S. 17; Initiativstellungnahme des EWSA zum Thema „Zukunft der Dienstleistungen von allgemeinem Interesse“, ABl. C 309 vom 16.12.2006, S. 135.

    (12)  Stellungnahme des EWSA zum Thema „Eine unabhängige Bewertung der Dienstleistungen von allgemeinem Interesse“ ABl. C 162 vom 25.6.2008, Ziffer 3.2.

    (13)  Stellungnahme des EWSA zum Thema „Eine unabhängige Bewertung der Dienstleistungen von allgemeinem Interesse“ ABl. C 162 vom 25.6.2008, Ziffer 3.7.

    (14)  Stellungnahme des EWSA zur „Mitteilung der Kommission: Umsetzung des Gemeinschaftsprogramms von Lissabon — Die Sozialdienstleistungen von allgemeinem Interesse in der Europäischen Union“, ABl. C 161 vom 13.7.2007, S. 80.

    (15)  Stellungnahme des EWSA zum Thema „Zukunft der Dienstleistungen von allgemeinem Interesse“, ABl. C 309 vom 16.12.2006, Ziffer 10.3.

    (16)  Mit dem Beschluss 94/800/EG vom 22. Dezember 1994, (ABl. L 336 vom 23.12.1994) hat der Rat die Rechtsakte verabschiedet, die aus den mit der Unterzeichnung der Schlussakte von Marrakesch und der Errichtung der Welthandelsorganisation abgeschlossenen multilateralen Handelsverhandlungen der Uruguay-Runde hervorgegangen sind.

    (17)  Stellungnahme des EWSA zum Thema „Zukunft der Dienstleistungen von allgemeinem Interesse“, ABl. C 309 vom 16.12.2006,

    (18)  In dieser Bestimmung geht es um die „Begriffsbestimmung“, der zufolge der Begriff „den Handel mit Dienstleistungen betreffende Maßnahmen von Mitgliedern“„im Zusammenhang mit der Erbringung einer Dienstleistung den Zugang zu und die Nutzung von Dienstleistungen, die diese Mitglieder der Öffentlichkeit allgemein anbieten müssen,“umfasst.

    (19)  In diesem Absatz heißt es: „Dieses Übereinkommen findet Anwendung auf die Maßnahmen der Mitglieder, die den Handel mit Dienstleistungen beeinträchtigen“.

    (20)  Siehe Rechtssache Vereinigte Staaten (Maßnahmen, die die grenzübergreifende Erbringung von Dienstleistungen im Glücksspiel- und Wettbereich beeinträchtigen), WT/DS/AB/R (AB-2005-1). Analyse in Moreira González, C. J. „Las cláusulas de Seguridad Nacional“ (Die Bestimmungen im Bereich der nationalen Sicherheit), Madrid 2007, S. 229 ff. Vgl. auch Rechtssache Europäische Gemeinschaften (System für die Einfuhr, den Verkauf und den Vertrieb von Bananen), WT/DS27/AB/R/197.

    (21)  Der G20 gehören neben den G8-Staaten 11 Finanzminister und Gouverneure von Zentralbanken an, die insgesamt 85 % des weltweiten BIP repräsentieren, sowie die Europäische Union (vertreten durch das jeweils die Ratspräsidentschaft führende Land und den Präsidenten der Europäischen Zentralbank).


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