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Document 52020IE1239
Opinion of the European Economic and Social Committee on ‘The future of EU air transport in and after the Corona crisis’ (own-initiative opinion)
Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Die Zukunft des EU-Luftverkehrs in und nach der Corona-Krise“ (Initiativstellungnahme)
Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Die Zukunft des EU-Luftverkehrs in und nach der Corona-Krise“ (Initiativstellungnahme)
EESC 2020/01239
ABl. C 429 vom 11.12.2020, p. 99–104
(BG, ES, CS, DA, DE, ET, EL, EN, FR, HR, IT, LV, LT, HU, MT, NL, PL, PT, RO, SK, SL, FI, SV)
11.12.2020 |
DE |
Amtsblatt der Europäischen Union |
C 429/99 |
Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Die Zukunft des EU-Luftverkehrs in und nach der Corona-Krise“
(Initiativstellungnahme)
(2020/C 429/14)
Berichterstatter: |
Thomas KROPP |
Beschluss des Plenums |
20.2.2020 |
Rechtsgrundlage |
Artikel 32 Absatz 2 GO |
|
Initiativstellungnahme |
Zuständige Fachgruppe |
Fachgruppe Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft |
Annahme in der Fachgruppe |
3.9.2020 |
Verabschiedung im Plenum |
16.9.2020 |
Plenartagung Nr. |
554 |
Ergebnis der Abstimmung (Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen) |
217/1/2 |
1. Schlussfolgerungen und Empfehlungen
1.1. |
Der Luftverkehr gehört zu den Branchen, die von der Corona-Krise am stärksten betroffen sind. Allein zwischen März und Mai 2020 schrumpfte der Markt für den Fluggastverkehr um 90 %, was dramatische Auswirkungen auf die Einnahmen aller Akteure der Wertschöpfungskette Luftverkehr und die Einkommen ihrer Beschäftigten hatte.
Der Luftverkehr ist von entscheidender Bedeutung für Handel und Tourismus sowie für die Verbindungen innerhalb Europas und zu Drittstaaten. Die Tourismusbranche leistet in vielen Ländern einen wesentlichen Beitrag zum nationalen BIP, hat nun jedoch extreme Verluste erlitten. Dies hat Auswirkungen auf die EU-Mitgliedstaaten, die Folgen für die Entwicklungsländer, in denen der Fremdenverkehr einen erheblichen Anteil am BIP ausmacht, sind jedoch noch schwerwiegender. In diesen Ländern besteht die Gefahr, dass durch die Einstellung der touristischen Aktivitäten wichtige humanitäre Fortschritte zunichte gemacht werden (Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft, August 2015: Entwicklungsfaktor Tourismus. Allein deutsche Reisende gaben 13,5 Mrd. EUR in Entwicklungsländern aus. Dies entspricht 5 % aller Tourismusausgaben in diesen Ländern und schafft dort 78 000 Arbeitsplätze. Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) fordert die Kommission auf, den Tourismus als Eckpfeiler ihrer Entwicklungszusammenarbeit zu fördern. |
1.2. |
Die EU-Mitgliedstaaten sind bereit, alle Wirtschaftssektoren beim Wiederaufbau zu unterstützen. Aufgrund der beispiellosen weltweiten Rezession und der ungewissen Dauer der Pandemie ist es jedoch unwahrscheinlich, dass die weltweiten Wirtschaftstätigkeiten in naher Zukunft wieder das Niveau aus der Zeit vor Covid-19 erreichen werden. Aus diesem Grund appelliert der EWSA an die Kommission, einen umfassenden Fahrplan für den Wiederaufbau des gesamten europäischen Luftfahrtsektors aufzustellen; ein solcher Aktionsplan sollte spezifische Mittel zur Unterstützung aller Teilbereiche und ihrer Beschäftigten vorsehen. |
1.3. |
Alle Interessenträger und die Sozialpartner brauchen Planungssicherheit. Die Corona-Krise erfordert eine klare Unterscheidung zwischen der Phase der Erholung des Luftverkehrs auf kurze Sicht und der Sicherung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit der Branche sowie fairer Wettbewerbsbedingungen auf mittlere bzw. lange Sicht.
Die Sicherung guter Arbeitsplätze und angemessener Arbeitsbedingungen ist in diesem Zusammenhang eine entscheidende Voraussetzung, um qualifizierte Arbeitskräfte zu halten, ohne die wiederum keine nachhaltige Wettbewerbsfähigkeit möglich ist. Die fortgesetzte Einstellung und Ausbildung qualifizierter Arbeitskräfte in der Wertschöpfungskette Luftverkehr ist somit für die Erholung der europäischen Luftfahrt unabdingbar. |
1.4. |
Zunächst sollte die Kommission den Schwerpunkt auf die Wiederherstellung des Vertrauens der Fluggäste in den Luftverkehr legen. Die Corona-Krise hat zu Marktbedingungen geführt, die in den meisten einschlägigen Rechtsvorschriften gar nicht vorgesehen sind. Die Fluggäste müssen Gewissheit über die Bedingungen haben, unter denen vorab bezahlte Flugtickets im Falle von Stornierungen während dieser Krise erstattet werden; die Kommission sollte sich ferner für verbindliche internationale Vereinbarungen über angemessene Hygienestandards einsetzen, um die Einsicht zu fördern, dass Flugreisen sicher sind.
In dieser entscheidenden Phase des Wiederaufbaus sollte die Kommission auch Planungssicherheit gewährleisten, indem sie ein Moratorium für Änderungen des Rechtsrahmens verhängt, die eine wirksame Erholung behindern würden. Der EWSA fordert die Kommission auf, für ein ausgewogenes Verhältnis zwischen den zur Bewältigung der Corona-Krise erforderlichen Aufbaumaßnahmen und den zur Umsetzung des europäischen Grünen Deals wünschenswerten Haushaltsregelungen zu sorgen. Der EWSA fordert die Kommission nachdrücklich auf, keine zusätzlichen finanziellen und/oder ordnungspolitischen Belastungen für die Branche zu beschließen, insbesondere in einer Phase der Erholung, in der die gesamte Branche finanziell extrem geschwächt ist. Dies gilt u. a. für die Verlängerung der Aussetzung der „Use-it-or-lose-it“-Zeitnischenregelung für die Wintersaison 2020/2021. |
1.5. |
Mittelfristig sollte die Kommission die (2015 verabschiedete) EU-Luftfahrtstrategie überprüfen, die auf der Grundlage einer Bewertung der außergewöhnlichen Fragilität des Luftverkehrssystems, der veränderten Parameter und der neuen Marktdynamik für faire Wettbewerbsbedingungen in der Zeit nach Corona sorgen sollte. |
1.6. |
Der EWSA empfiehlt der Kommission, die Neuaushandlung bilateraler Luftverkehrsabkommen mit Drittländern in Erwägung zu ziehen, um die wettbewerbsverzerrenden Auswirkungen von staatlichen Beihilfen, Umweltregelungen wie dem EU-Emissionshandelssystem und sozialen Ungleichgewichten auf der Grundlage fairer Wettbewerbsbedingungen zu verhindern und so ein anhaltendes nachhaltiges Marktwachstum zu gewährleisten. |
1.7. |
Sobald sich der europäische Luftfahrtsektor stabilisiert hat, erwartet der EWSA, dass die Kommission sich auf eine nachhaltige Luftverkehrspolitik festlegt, die das Potenzial der europäischen Luftfahrt freisetzt. |
1.8. |
Der EWSA fordert die Kommission nachdrücklich auf, zur Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit Europas nach jahrzehntelangen unnötigen Disputen zwischen den Mitgliedstaaten und der EU schleunigst die ordnungspolitischen Voraussetzungen für die vollständige Umsetzung des einheitlichen europäischen Luftraums zu schaffen und damit eine EU-weite Verringerung der CO2-Emissionen um bis zu 10 % zu ermöglichen. |
1.9. |
Der europäische Grüne Deal ist ein vom EWSA unterstütztes grundlegendes Maßnahmenpaket mit dem Ziel, die Klimaauswirkungen sämtlicher Sektoren einschließlich des Luftverkehrs zu reduzieren. Der EWSA geht davon aus, dass weitere EU-Mittel für FuE bereitgestellt werden, um umweltfreundliche Produkte, Dienstleistungen, Verfahren und Technologien zu fördern, ohne die europäische Wettbewerbsfähigkeit zu untergraben. In diesem Sinn appelliert der EWSA an die Kommission und die Mitgliedstaaten, bei der Bereitstellung von Finanzhilfen durch die Mitgliedstaaten den strategischen Schwerpunkt auf die Förderung weltweiter Nachhaltigkeitsstandards und zusätzlicher Umweltmaßnahmen zu legen. |
1.10. |
Der EWSA fordert die Zusicherung, dass die Sozialpartner, die einen sozialen Dialog führen, auch künftig in die Entwicklung und Umsetzung der erforderlichen ordnungspolitischen Maßnahmen einbezogen werden, und bekräftigt seine Bereitschaft, die Kommission bei ihren Bemühungen zur Förderung einer raschen Erholung der europäischen Luftfahrt uneingeschränkt zu unterstützen. |
2. Hintergrund
2.1. |
Die Luftfahrtbranche der EU beschäftigt direkt 1,4 (1) bis 2 (2) Millionen Menschen, und insgesamt sind 4,8 bis 5,8 Millionen Arbeitsplätze von ihr abhängig. Der unmittelbare Beitrag des Luftverkehrs zum BIP der EU beläuft sich auf 110 Mrd. EUR, bei Einbeziehung des Tourismus sind es durch den Multiplikatoreffekt sogar insgesamt etwa 510 Mrd. EUR.
Diese entscheidende Rolle der Luftfahrt — nicht nur als Branche, sondern auch als Katalysator für wirtschaftlichen Wohlstand, Arbeitsplatzsicherheit und Tourismus — wird bisher immer noch stark unterschätzt. In einigen Mitgliedstaaten macht der Tourismus bis zu 25 % des nationalen BIP aus. Die rasche Wiederaufnahme der Luftverkehrsdienste, vorbehaltlich der Einhaltung der einschlägigen Hygienemaßnahmen, ist daher von größter Bedeutung, um den Tourismus als maßgebende Einnahmequelle zu erhalten. Weltweit fördert die europäische Luftfahrt auch Handel und Tourismus für Nationen, die dringend auf wirtschaftliche Unterstützung und politische Integration in die Weltgemeinschaft angewiesen sind. Dass während der Corona-Krise keine internationalen Flugreisen stattfinden konnten, hat die wirtschaftliche Schwäche insbesondere der Entwicklungsländer noch verschärft. |
2.2. |
Der Luftverkehr war zwar schon in der Vergangenheit mit Krisen konfrontiert (z. B. Terroranschläge und Schließung des Luftraums 2001, Ausbruch von SARS und Ebola, Krise des weltweiten Finanzsystems 2008, Schließung des europäischen Luftraums nach dem Ausbruch des Vulkans Eyjafjallajökull in Island 2010)‚ doch ist die derzeitige Krise von beispiellosem Ausmaß. Jüngsten Prognosen zufolge wird die Erholung der Branche nicht vor 2024 abgeschlossen sein (3). Weder den EU-Institutionen noch internationalen Einrichtungen ist es gelungen, ordnungspolitische Maßnahmen zur Festlegung internationaler Standards zu koordinieren. Der internationale Luftverkehr erfordert jedoch kohärente und wissenschaftlich fundierte globale Standards, wenn ein nachhaltiges und widerstandsfähiges, dem Vorkrisenniveau entsprechendes Leistungsniveau wiederhergestellt werden soll.
Während der Krise standen die Fluggesellschaften im öffentlichen und politischen Rampenlicht, doch gehören zum Ökosystem der Luftfahrt noch weitere wichtige Akteure, bspw. Flughäfen, Flugsicherungsorganisationen, Bodenabfertigungsdienste und andere. Lösungsansätze müssen sich auf die gesamte Wertschöpfungskette Luftverkehr erstrecken. |
3. Allgemeine Bemerkungen zum derzeitigen Stand der Krise
3.1. Gesundheitliche Aspekte
Intensität und Dauer der Corona-Krise werden davon abhängen, inwieweit die zuständigen Stellen in der Lage sind, die Ausbreitung dieses bisher unbekannten Virus einzudämmen. Aus verschiedenen Studien geht hervor, der Luftverkehr einer der sichersten Verkehrsträger ist. Leitlinien für ein koordiniertes Hygieneprotokoll und für koordinierte Gesundheitsschutz- und Hygienemaßnahmen der Mitgliedstaaten wurden auf europäischer Ebene von der Agentur der Europäischen Union für Flugsicherheit (EASA) sowie dem Europäischen Zentrum für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten und auf internationaler Ebene von der Internationalen Zivilluftfahrt-Organisation (ICAO) ausgearbeitet. Luftfahrtunternehmen und Flughäfen arbeiten eng mit der Europäischen Kommission und der ICAO zusammen.
3.2. Mangelnde Liquidität
Im zweiten Quartal 2020 gingen die Einnahmen der Luftfahrtunternehmen um durchschnittlich 79 % zurück. Selbst wenn die flexiblen Kosten unberücksichtigt bleiben, ergab sich für die Luftfahrtunternehmen in diesem Zeitraum ein Liquiditätsverbrauch von rund 60 Mrd. USD. Eine wichtige Ursache des Liquiditätsproblems war die Erstattung bereits verkaufter Tickets (für Billigfluglinien, die geringere Betriebskosten haben, jedoch stärker vom Vorverkauf von Tickets abhängig sind, fallen die Berechnungen anders aus).
Die Verbraucher haben indes ganz genauso unter den Folgen der Corona-Krise zu leiden, und in mehreren Mitgliedstaaten haben Fluggäste Klage auf Erstattung bereits bezahlter Flugtickets im Einklang mit der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 des Europäisches Parlaments und des Rates (4) erhoben. Für diese Fälle und weitere Ansprüche muss innerhalb eines vertretbaren Zeitrahmens eine transparente und realistische Lösung gefunden werden.
Nach dem Ende der Corona-Krise wird die Luftverkehrsbranche also hochverschuldet sein (obwohl Regierungen weltweit bisher staatliche Hilfen in Höhe von etwa 123 Mrd. USD gewährt haben, um den Betrieb der Luftfahrtunternehmen aufrechtzuerhalten, wurden nur 11 Mrd. USD in Form von Kapital bereitgestellt, der Rest sind Verbindlichkeiten, die die Fluggesellschaften später zurückzahlen müssen). Zudem unterscheiden sich die von den Mitgliedstaaten gewährten Beihilfen für die europäischen Fluggesellschaften erheblich nach Art und Umfang.
Mehrere international tätige Luftfahrtunternehmen haben Insolvenz angemeldet (u. a. Avianca, LATAM und South African Airways).
In einigen Fällen sind Zahlungen an Flugsicherungsorganisationen aufgeschoben worden; zwar werden dadurch die Liquiditätsprobleme der Fluggesellschaften etwas entschärft, aber gleichzeitig entstehen den Flugsicherungsorganisationen erhebliche Einnahmeausfälle. Es muss eine Lösung gefunden werden, um den Flugsicherungsorganisationen weiterhin eine tragfähige Erbringung ihrer wesentlichen Dienste zu ermöglichen und gleichzeitig zu verhindern, dass die Fluggesellschaften gleich zu Beginn ihrer Erholung mit steigenden Gebühren konfrontiert werden. Auch Flughäfen, Frachtdienste, Bodenabfertigungsdienste, Cateringdienste und andere Dienstleister wurden von der Krise schwer getroffen und benötigen daher möglicherweise weitere Unterstützung.
3.3. Ein koordinierter Ansatz zur Sicherung einer kurzfristigen Erholung
Die Kommission hat eine Mitteilung zum Verkehr veröffentlicht, in der sie Folgendes empfiehlt:
— |
eine Gesamtstrategie für die wirtschaftliche Erholung im Jahr 2020 und darüber hinaus; |
— |
einen gemeinsamen Ansatz bei der schrittweisen und koordinierten Wiederherstellung der Freizügigkeit und Aufhebung der Beschränkungen an den Binnengrenzen der EU; |
— |
einen Rahmen zur Unterstützung der schrittweisen Wiederherstellung des Verkehrs bei gleichzeitiger Gewährleistung der Sicherheit der Fahrgäste und des Personals; |
— |
eine Regelung, um Reisegutscheine zu einer für die Verbraucher attraktiven Alternative zur Barerstattung zu machen; |
— |
Kriterien für die sichere und schrittweise Wiederaufnahme touristischer Aktivitäten und für die Entwicklung von Gesundheitsprotokollen für Einrichtungen des Gastgewerbes wie Hotels. |
Diese Empfehlungen sind nicht verbindlich, sie zeigen jedoch, in welchem Maße die Mitgliedstaaten von einer Angleichung ihrer jeweiligen Maßnahmen profitieren würden.
Im Frühjahr 2020 veröffentlichte die Kommission eine Mitteilung über einen befristeten Rahmen für staatliche Beihilfen. Dieser ermöglicht es den Mitgliedstaaten, Unternehmen für außerordentliche finanzielle Verluste zu entschädigen, Arbeitsplätze zu erhalten und Beschäftigung zu sichern. Außerdem hat die Kommission eine befristete Aussetzung der Regeln für Zeitnischen (5) sowie für die Erteilung von Lizenzen für Bodenabfertigungsdienste festgelegt. Es sollte dringend geprüft werden, ob eine weitere Verlängerung dieser Maßnahmen den betroffenen Unternehmen mehr Planungssicherheit geben würde. Wenn ja, dann müssten baldmöglichst die erforderlichen ordnungspolitischen Schritte eingeleitet werden.
Der EWSA ist zutiefst besorgt darüber, dass es den Mitgliedstaaten der Europäischen Union nicht gelungen ist, kohärente und wissenschaftlich fundierte Konzepte für Reisebeschränkungen umzusetzen. Trotz wiederholter Forderungen der Industrie nach einem wissenschaftlich fundierten, harmonisierten und koordinierten Ansatz für neue Beschränkungen haben sich unterschiedliche nationale Ansätze herausgebildet. Einige dieser einseitigen nationalen Maßnahmen stehen im Widerspruch zu den Ratschlägen der Experten, wodurch das Vertrauen der Verbraucher weiter untergraben wird. Der EWSA fordert die Kommission dringend auf, für eine sichere und transparente Wiederaufnahme des Luftverkehrs in Europa zu sorgen. Die Mitgliedstaaten sollten die schrittweise Öffnung ihrer Grenzen im Einklang mit den Empfehlungen der Kommission untereinander abstimmen.
4. Besondere Bemerkungen zu den Anforderungen an eine nachhaltige Erholung
4.1. Die Krise bietet Gelegenheit für eine Neubewertung der strategischen Bedeutung des Luftverkehrs für Europa (6)
Die Corona-Krise hat die Beziehungen zwischen den Akteuren der Wertschöpfungskette Luftverkehr verändert. Angesichts der neuen Größe und der Struktur des Marktes müssen die Luftverkehrsakteure in die Entwicklung von Mechanismen einbezogen werden, die für den Luftverkehrsmarkt nach Corona geeignet sind.
Darüber hinaus wird die Kommission ihre allgemeine Beihilfepolitik vor dem Hintergrund geopolitischer Veränderungen überdenken müssen. Ohne eine kohärente und überzeugende EU-Luftfahrtstrategie zur Förderung der Wettbewerbsfähigkeit der EU sowie fairer Wettbewerbsbedingungen und zur Sicherung guter Arbeitsplätze in Europa könnte sich der Flugverkehr auf internationale Drehkreuze in der Nähe der EU, wie Istanbul, London-Heathrow und in der Golfregion, verlagern und die Konnektivität in der EU aushöhlen. Außerdem wird es nötig sein, den Umfang der in Drittländern gewährten staatlichen Beihilfen konsequent zu bewerten (dabei kann es sich um Darlehen, Lohnzuschüsse, Darlehensbürgschaften, Beteiligungsfinanzierungen, Körperschaftsteuern, die Finanzierung von Strecken oder Liquiditätsspritzen handeln). Dies wird auch eine strikte Umsetzung der Verordnung (EG) Nr. 1008/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates (7) erfordern, um feindliche Übernahmen von und Investitionen in EU-Luftfahrtunternehmen durch Drittländer zu verhindern und so sicherzustellen, dass die europäische Wirtschaft in Bezug auf Qualität und Preis international wettbewerbsfähig bleibt und sich auf die Konnektivität ihrer Luftverkehrsbranche verlassen kann (Astra, ein kleines griechisches Luftfahrtunternehmen, stand in Verhandlungen mit chinesischen Investoren).
4.2. Erhaltung der Wettbewerbsfähigkeit
4.2.1. |
Die Luftverkehrsbranche wird nicht in der Lage sein, zur Normalität wie in den Zeiten vor der Pandemie zurückzukehren (unterschiedliche Szenarien gehen von einer Erholung bis 2022 oder bis 2025 aus), da das Ausmaß der Corona-Krise strukturelle Auswirkungen auf den Markt haben wird. Um die Planungssicherheit für Akteure und Verbraucher aufrecht zu erhalten, sollten die Luftverkehrsabkommen der EU mit Drittländern als Plattform für die gemeinsame Überwachung des Umfangs der während der Corona-Krise gewährten staatlichen Beihilfen genutzt werden. So können wettbewerbsverzerrende Trends ermittelt und beseitigt werden. Der Marktzugang sollte bei der Bestimmung der Höhe der staatlichen Beihilfen in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle spielen. Wenn ein Drittland sich weigert, das Problem der Hilfen anzugehen, sollten Sanktionen verhängt werden. In diesen Luftverkehrsabkommen müssen auch unterschiedliche Umwelt- und Sozialstandards der EU- und der Drittlands-Luftfahrtunternehmen angesprochen werden. |
4.2.2. |
Überkapazitäten auf dem Markt in Verbindung mit einem vorhersehbaren Rückgang der Kaufkraft während der bevorstehenden weltweiten Rezession können sogar vorübergehende oder strukturelle Änderungen der Luftverkehrsabkommen erforderlich machen, um die Gegenseitigkeit während der Phase des wirtschaftlichen Wiederaufbaus zu gewährleisten. |
4.2.3. |
Die Kommission könnte und sollte einseitige Verfahren gegen Drittstaaten und deren Luftfahrtunternehmen einleiten, wenn auf dem Verhandlungsweg keine Lösung gefunden werden kann (die Verordnung (EU) 2019/712 des Europäischen Parlaments und des Rates (8) bietet die Möglichkeit, ein Verfahren einzuleiten). |
4.2.4. |
Eine besonders heikle Frage ist das Spannungsverhältnis zwischen den Liquiditätsengpässen der Fluggäste, die die Erstattung von bereits bezahlten Tickets verlangen, und denen der Luftfahrtunternehmen, von denen viele Insolvenz anmelden müssten, wenn alle Erstattungen tatsächlich vorgenommen würden. Die anstehende Überarbeitung der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 sollte darauf abzielen, die Vorschriften klarer zu fassen, um sowohl im Interesse der Fluggäste als auch der Luftfahrtunternehmen eine für alle Seiten vorteilhafte Lösung zu finden (es könnten verschiedene Möglichkeiten geprüft werden, etwa ein zeitlich befristet gültiger, staatlich abgesicherter Gutschein: Wenn das Luftfahrtunternehmen vor dem Ablauf des Gutscheins Insolvenz anmeldet oder nicht in der Lage ist, den Flug anzubieten, erhält der Fluggast eine Entschädigung, und das Luftfahrtunternehmen kann seine Liquiditätsreserven über eine längere Zeit strecken). |
4.2.5. |
Der EWSA ist der Auffassung, dass die derzeitige Lage der Branche so kritisch ist, dass ordnungspolitische Initiativen, die nicht der Stabilisierung einer weltweit wettbewerbsfähigen EU-Luftfahrt dienen, für die Dauer der Phase des wirtschaftlichen Wiederaufbaus nach der Pandemie ausgesetzt werden sollten.
In diesem Zusammenhang bekräftigt der EWSA die Prioritäten, die die Kommission verfolgen sollte, um die Wettbewerbsfähigkeit Europas wiederherzustellen und zu erhalten und gleichzeitig ein angemessenes Sozialschutzniveau zu gewährleisten (9). |
4.3. Sozialer Dialog als zentrale Säule des wirtschaftlichen Wiederaufbaus
Die derzeitige Krise hat im gesamten Ökosystem der Luftfahrt und bei seinen Beschäftigten existenzielle Ängste ausgelöst, ganz unabhängig davon, wie effizient die angebotenen Dienstleistungen waren oder sind. Es ist von entscheidender Bedeutung, ein angemessenes Gleichgewicht zwischen unternehmerischen und sozialen Erwägungen zu finden, damit in Zukunft nachhaltige gute Arbeitsplätze geschaffen werden können.
Dies ist nicht nur eine Frage der Politik und der Prinzipien, sondern auch eine, die ganz unmittelbar geprüft werden muss: Auf dem Markt übliche Praktiken wie On-Demand-Flüge, Scheinselbstständigkeit, fehlender Sozialschutz bei Ausschreibungen und/oder teilweiser Aufgabe von Tätigkeiten oder die Kündigung von Arbeitsverträgen mit Beschäftigten, die danach mit einer wesentlich geringeren Entlohnung wiedereingestellt werden, können nicht hingenommen werden (10).
Der soziale Dialog muss auch während der in den meisten Unternehmen unvermeidlichen Umstrukturierungen geführt werden und sollte daher auf europäischer, nationaler und Unternehmensebene gefördert werden. Das heißt indes nicht, dass nicht auch die EU-Institutionen und die Mitgliedstaaten ihrer Verantwortung im sozialen Bereich nachkommen.
4.4. Gewährleistung der Nachhaltigkeit des Ökosystems der Luftfahrt
4.4.1. |
Der EWSA weist darauf hin, dass sich die gesamte Luftverkehrsbranche weltweit auf Maßnahmen zur Begrenzung der CO2-Emissionen sowohl auf globaler (11) als auch auf EU-Ebene (12) geeinigt hat. Alle zusätzlichen Maßnahmen der EU müssen deshalb unter Wettbewerbsgesichtspunkten betrachtet werden. So gibt es etwa keine positiven Auswirkungen in Sachen Nachhaltigkeit, wenn sich ein Teil des Luftverkehrs von EU-Luftfahrtunternehmen auf Konkurrenten aus Drittstaaten verlagert.
Der EWSA ist der Auffassung, dass die Nachhaltigkeit in einem neuen Kontext nach der Pandemie bewertet werden muss. Es muss geprüft werden, inwieweit sich die Maßnahmen auf die Fähigkeit der EU-Luftfahrtunternehmen auswirken, sich nachhaltig von der Corona-Krise zu erholen und wettbewerbsfähig zu bleiben. Der EWSA betont, dass der Luftverkehr sich wie alle anderen Branchen auch die langfristigen Ziele des europäischen Grünen Deals setzen sollte. Er fordert die Kommission nachdrücklich auf, ihre Maßnahmen auf globaler Ebene, insbesondere im Rahmen der Internationalen Zivilluftfahrt-Organisation, abzustimmen. Ferner befürwortet er den Ausbau eines Hochgeschwindigkeitsbahnnetzes in Europa mit unmittelbarer Anbindung an die Drehkreuzflughäfen. Der EWSA begrüßt, dass im EU-Aufbauplan Investitionen in zukunftsorientierte Branchen vorgesehen sind. Dies sollte seiner Ansicht nach strategische Investitionen in modernste interoperable Technologien für alle Akteure des Luftverkehrs umfassen. Märkte für nachhaltige Flugkraftstoffe, nachhaltige Technologien und Datenmärkte sollten aktiv gefördert werden. Nicht-fossile Flüssigkraftstoffe könnten einen großen Beitrag zu einem klimaneutralen Luftverkehr leisten. Bis derartige Kraftstoffe zu vertretbaren Kosten zur Verfügung stehen, ist indes noch ein hoher FuE-Aufwand erforderlich. Der EWSA begrüßt die diversen Förderinitiativen für diese Art alternative Kraftstoffe (Power-to-X, synthetische Kraftstoffe) im Rahmen des aktuellen EU-Forschungsfinanzierungsinstruments (Horizont 2020) und empfiehlt der Kommission, diese Anstrengungen im nächsten Rahmenprogramm für Forschung und Innovation (u. a. über das Finanzierungsinstrument Horizont Europa) auszubauen. |
4.4.2. |
Der EWSA betont jedoch, dass die Finanzierung neuer Technologien und die Maßnahmen zur Stärkung der Nachhaltigkeit, Widerstandsfähigkeit und Skalierbarkeit des Luftfahrt-Ökosystems integrale Bestandteile eines übergreifenden Fahrplans für den Luftfahrtsektor sein sollten, der mit dem Ziel umgesetzt werden sollte, die notwendige Unterstützung für den Wiederaufbau der europäischen Wertschöpfungskette Luftverkehr bereitzustellen. |
Brüssel, den 16. September 2020
Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses
Luca JAHIER
(1) Steer Davies Gleave — Study on employment and working conditions in air transport and airports, Final report 2015.
(2) „Aviation: Benefits Beyond Borders“, Bericht von Oxford Economics für ATAG, März 2014.
(3) Siehe https://staging.corporatetravelcommunity.com/european-capacity-may-have-grown-in-jun-2020-but-a-european-aviation-body-warns-that-the-recovery-in-passenger-traffic-is-proceeding-at-a-slower-pace-than-it-had-projected/.
(4) ABl. L 46 vom 17.2.2004, S. 1.
(5) Siehe Stellungnahme des EWSA „Zuweisung von Zeitnischen auf Flughäfen in der Gemeinschaft“ (TEN/711) (noch nicht im Amtsblatt veröffentlicht).
(6) ABl. C 13 vom 15.1.2016, S. 169.
(7) ABl. L 293 vom 31.10.2008, S. 3.
(8) ABl. L 123 vom 10.5.2019, S. 4.
(9) ABl. C 13 vom 15.1.2016, S. 110.
(10) Siehe Fußnote 9.
(11) CORSIA (System zur Verrechnung und Reduzierung von Kohlenstoffdioxid für die internationale Luftfahrt).