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Document 52010IE0959

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Nachhaltige Wirtschaft durch Konsumwandel“ (Initiativstellungnahme)

ABl. C 44 vom 11.2.2011, p. 57–61 (BG, ES, CS, DA, DE, ET, EL, EN, FR, IT, LV, LT, HU, MT, NL, PL, PT, RO, SK, SL, FI, SV)

11.2.2011   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 44/57


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Nachhaltige Wirtschaft durch Konsumwandel“ (Initiativstellungnahme)

2011/C 44/10

Berichterstatterin: Anna Maria DARMANIN

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss am 16. Juli 2009 gemäß Artikel 29 Absatz 2 der Geschäftsordnung, eine Initiativstellungnahme zu folgendem Thema zu erarbeiten:

„Nachhaltige Wirtschaft durch Konsumwandel“.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion und Verbrauch nahm ihre Stellungnahme am 15. Juni 2010 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 464. Plenartagung am 14./15. Juli 2010 (Sitzung vom 15. Juli) mit 98 gegen 7 Stimmen bei 8 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

0.   Präambel

In Anbetracht der immer noch krisengeprägten Realität, in der sich viele Europäer um die Erhaltung ihres Arbeitsplatzes oder die Sicherung ihres Einkommens mühen und die KMU verstärkt um ihr Überleben kämpfen, muten Nachhaltigkeitsmuster wie ein Luxus an. Nachhaltigkeitspolitiken sollten daher an geeigneten Indikatoren festmachen, um dieser europäischen Wirklichkeit Rechnung zu tragen. Im Mittelpunkt dieser Stellungnahme soll ein Teilaspekt der Nachhaltigkeit stehen: der nachhaltige Konsum. Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss geht grundsätzlich davon aus, dass nachhaltiger Konsum langfristig durch die Stärkung des bürgerschaftlichen Engagements der Europäer erreicht werden kann, indem nicht nur die Verbraucher angehalten werden, ihre Rechte - wie im Vertrag von Lissabon geregelt - wahrzunehmen, sondern auch die Bürgerschaft in dem Sinn aufgewertet wird, dass die Bürger nicht nur Rechte haben, sondern auch die moralische Pflicht, Nachhaltigkeit zu „leben“.

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1   In einer nachhaltigen Wirtschaft würden sowohl Produktionsverfahren als auch Konsummuster das dauerhafte Wohlergehen des Einzelnen, der Gemeinschaften und der Natur fördern. Die meisten Akteure in der Gesellschaft bräuchten bestimmte gemeinsame Werte, von denen sie sich leiten lassen. Der EWSA betont, wie bereits in früheren Stellungnahmen, dass zur Beurteilung des Erfolgs der Politik einer Regierung neben dem BIP auch ökologische und soziale Indikatoren angewendet werden sollten.

1.2   Das derzeitige europäische Produktions- und Verbrauchssystem gilt als ökologisch nicht nachhaltig, insbesondere angesichts seiner Abhängigkeit von Energie, Ressourcen, Boden und Wasser sowie seiner Auswirkungen auf das globale Klima und die biologische Vielfalt. Würden alle Menschen auf der Erde so leben wie in Europa, bräuchte man über 2,5 Exemplare unseres Planeten Erde.

1.3   Der Rat der EU hat vereinbart, dass Industrieländer ihre Treibhausgasemissionen bis 2050 um 80-95 % reduzieren sollen. Daher empfiehlt der EWSA, in der EU-2020-Strategie sowohl Maßnahmen für die nachhaltige Produktion als auch für den nachhaltigen Konsum zu berücksichtigen. Denn beide Bereiche sind eng miteinander verknüpft und müssen angegangen werden, wenn die Auswirkungen auf die Erde minimiert werden sollen.

1.4   Eine Emissionsverringerung um 80-95 % im Laufe von 40 Jahren bei gleichzeitiger Beibehaltung eines jährlichen Wirtschaftswachstums von 2-3 % bedeutet, dass die Kohlenstoffintensität der Wirtschaft jährlich um 6-10 % gesenkt werden muss. Ein solches Tempo des technologischen Wandels mit anhaltender gesamtwirtschaftlicher Wirkung hat es noch nie gegeben. Daher wäre es vernünftig, einen ernsthaften Dialog über die Möglichkeiten einer Änderung von Konsummustern sowie des allgemeinen Wirtschafts- und Gesellschaftsmodells, das auf einer Ausweitung von Produktion und Konsum fußt, zu beginnen und die schnellstmöglichen Verbesserungen in den Produktions- und Versorgungsketten zu suchen.

1.5   Es ist unwahrscheinlich, dass allein von oben nach unten gerichtete Bemühungen um Veränderungen greifen. Gesellschaftlicher Wandel geht häufig von kleinen Gruppen aus und verbreitet sich über vielfältige Kommunikationskanäle. Die Rolle der EU, nationaler und regionaler Regierungen und Behörden könnte darin bestehen, vorhandene Gruppen, die sich für nachhaltige Lebensweise einsetzen, zu ermitteln, zu ermutigen und zu fördern.

1.6   Gebraucht wird ein Dialog, an dem EU-Institutionen, nationale, regionale und lokale Regierungen und Behörden sowie alle Sozialpartner beteiligt sind. So könnte die Kommission mit dem EWSA zusammenarbeiten, um ein Forum für nachhaltigen Konsum einzurichten, das Folgendes untersucht:

die Werte für die Gestaltung einer nachhaltigen Wirtschaft und die Spannungsfelder zwischen Wachstum und ökologischer Nachhaltigkeit, sozialer Eingliederung und persönlicher Freiheit sowie die Lebensqualität der derzeitigen Bevölkerung und künftiger Generationen usw.;

das eventuelle Erfordernis, unseren Verbrauch in bestimmten Bereichen einzuschränken;

die Frage, was die Bürger von einer Entscheidung für nachhaltigere Konsummuster abhält und welchen Beitrag Regierungen und Behörden auf regionaler und lokaler, einzelstaatlicher und gemeinschaftlicher Ebene leisten können;

die Erfahrungen von Einzelpersonen und Gruppen, die einen umweltschonenden Lebensstil entwickelt haben, und Möglichkeiten der Reproduktion dieser Erfahrungen;

Maßnahmen, die zur Förderung eines nachhaltigeren Konsums bei bestimmten Bevölkerungsgruppen wie älteren Menschen, jungen Menschen, Arbeitslosen, kürzlich eingetroffenen Zuwanderern, Familien mit kleinen Kindern erforderlich sind.

1.7   Dialog muss mit Handeln verknüpft werden, einschließlich der Förderung des Experimentierens durch Gruppen, die sich für nachhaltige Lebensweise einsetzen, sowie der Vermittlung ihrer Erfahrungen, gegebenenfalls der Anpassung und Verbesserung der Maßnahmen sowie des praktischen Handelns in EU-Institutionen, um eine Führungsrolle zu übernehmen und die Möglichkeiten für nachhaltigere Praktiken zu zeigen. Darüber hinaus sollten bewährte Verfahren veröffentlicht werden, um die Möglichkeiten eines Konsumwandels aufzuzeigen.

1.8   Nachhaltiger Konsum kann nicht nur als rein umweltpolitische Aufgabe verstanden werden. Er erfordert vielmehr Initiativen in vielen Politikbereichen, wie Gesundheit, Bildung, Beschäftigung, Handel, Verbraucherangelegenheiten, Verkehr, Landwirtschaft und Energie.

2.   Wir brauchen ein anderes Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell

2.1   Über das Wesen einer nachhaltigen Wirtschaft wird bereits seit einem halben Jahrhundert diskutiert (1). In einer solchen Wirtschaft würden sowohl Produktionsverfahren als auch Konsummuster das dauerhafte Wohlergehen des Einzelnen, der Gemeinschaften und der Natur fördern.

2.2   Für ein sich selbst tragendes Wirtschaftsmodell müssen sich die meisten Akteure in der Gesellschaft von bestimmten gemeinsamen Werten leiten lassen, wie dies derzeit in den EU-Mitgliedstaaten der Fall ist. Die Regierungen propagieren bislang eine Reihe wirtschaftlicher Werte durch eine Schwerpunktsetzung auf das BIP und andere Leitindikatoren für ihre Politik. Die Unzulänglichkeiten des BIP als Maßstab für menschliches, soziales und ökologisches Wohlergehen sind allgemein anerkannt. Zur Messung des Fortschritts hin zu einer nachhaltigen Wirtschaft hat der EWSA vorgeschlagen (2), neben dem BIP den ökologischen Fußabdruck und einen Indikator für die Lebensqualität zu verwenden. Der ökologische Fußabdruck misst die Anbaufläche, die zur Aufrechterhaltung des Lebensstils einer Person, einer Personengruppe, Institution oder Region erforderlich ist. Ein Indikator für die Lebensqualität sollte die Gesundheit, den materiellen Wohlstand, Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen, die gesellschaftliche Teilhabe und Integration von Zuwanderern, Freizeit und Qualität des Lebensumfelds berücksichtigen.

2.3   Die Anwendung einer breiteren Palette von Indikatoren zur Beurteilung des Erfolgs der Politik einer Regierung könnte dazu führen, dass bei der Politikgestaltung weniger Betonung auf die Förderung des BIP-Wachstums, sondern vielmehr auf die anderen Dimensionen des menschlichen, sozialen und ökologischen Wohlergehens gelegt wird.

3.   Die ökologische Herausforderung

3.1   Die Europäische Umweltagentur hebt in ihrem anstehenden Bericht „Die Umwelt in Europa - Zustand und Ausblick“ (SOER 2010) zwei bedeutende Themengruppen hervor: Klima und Energie sowie biologische Vielfalt und Ökosysteme (3). Zentrale Herausforderung bezüglich der Nachhaltigkeit der europäischen Gesellschaft ist die Schädigung der Ökosysteme, die ihre Grundlage bilden, und ihrer grundlegenden Ressourcen wie Energie, Boden und Wasser. Im Jahr 2003 wurde der ökologische Fußabdruck in der EU pro Person auf etwa 5 Hektar mit steigender Tendenz geschätzt, wogegen weltweit pro Person etwa nur 1,8 Hektar Land mit sinkender Tendenz zur Verfügung stehen (4). Würden also alle Menschen auf der Erde so leben wie in Europa, bräuchte man über 2,5 Exemplare unseres Planeten Erde.

3.2   Der Klimawandel ist besonders wichtig, da sich durch ihn - neben seinen unmittelbaren Folgen für das menschliche Leben - wahrscheinlich die Auswirkungen der Gesellschaft auf die biologische Vielfalt, Frischwasserressourcen und andere Systeme verschlimmern. Die Verwendung fossiler Brennstoffe und Erzeugung von Treibhausgasen wirken sich am meisten auf die Größe des ökologischen Fußabdrucks Europas aus. Andere wesentliche Elemente sind der Landverbrauch durch Landwirtschaft, Verkehr und Gebäude. Der ökologische Fußabdruck gibt aber nicht genügend Aufschluss über andere wesentliche Auswirkungen der europäischen Wirtschaft, darunter die Nutzung von Wasser (hauptsächlich für die Landwirtschaft) und die Verknappung von Bodenschätzen.

3.3   Der Rat der EU hat vereinbart, dass Industrieländer ihre Treibhausgasemissionen bis 2050 um 80-95 % reduzieren sollen, was einer jährlichen Senkung um 4-7 % entspricht. Er hat sich zu einer Verringerung der Emissionen der EU um 20 % bis 2020 gegenüber dem Niveau von 1990 verpflichtet oder gar um 30 %, wenn andere Länder vergleichbare Verpflichtungen eingehen. Der EWSA hat sogar empfohlen (5), dass das 30 %-Ziel bedingungslos sein sollte.

3.4   Die EU versucht die Senkung der Treibhausgase überwiegend mit technischen Mitteln unter Aufrechterhaltung des Wirtschaftswachstums zu erreichen. Wenngleich die Technologien vorhanden sind, mit denen die Ziele für 2020 erreicht werden könnten, geht deren Umsetzung nur schleppend voran. Die EU15 hatte sich 1997 zu einer Emissionsreduzierung um 8 % bis 2008-2012 gegenüber dem Niveau von 1990 verpflichtet, 2006 waren die Emissionen jedoch lediglich um 2,2 % gesunken. In der EU27 sind die Emissionen in diesem Zeitraum um 7,7 % zurückgegangen, waren aber seit 2000 um 1,5 % gestiegen (6). Seit den 1990er Jahren wurde die Energieeffizienz lediglich um 0,5 % jährlich verbessert (7).

3.5   Eine Emissionsverringerung um 80-95 % im Laufe von 40 Jahren bei gleichzeitiger Beibehaltung eines jährlichen Wirtschaftswachstums von 2-3 % bedeutet, dass die Kohlenstoffintensität der Wirtschaft jährlich um 6-10 % gesenkt werden muss. Ein solches Tempo des technologischen Wandels mit anhaltender gesamtwirtschaftlicher Wirkung hat es noch nie gegeben. Daher wäre es vernünftig, einen ernsthaften Dialog über die Möglichkeiten einer Änderung von Konsummustern sowie des allgemeinen Wirtschafts- und Gesellschaftsmodells, das auf einer Ausweitung von Produktion und Konsum fußt, zu beginnen und die schnellstmöglichen Verbesserungen in den Produktions- und Versorgungsketten zu ermitteln.

4.   Die Entscheidung für einen nachhaltigen Konsum ermöglichen

4.1   Die europäischen Regierungen verpflichteten sich auf dem Erdgipfel von Rio 1992 zur Beseitigung von Produktions- und Verbrauchsstrukturen, die nicht nachhaltig sind. Außerdem verpflichteten sie sich, im Rahmen des VN-Marrakesch-Prozesses bis 2010 Maßnahmenpläne für nachhaltigere Konsum- und Produktionsmuster zu erarbeiten, die von der VN-Kommission für nachhaltige Entwicklung 2011 geprüft werden sollen.

4.2   Die Forschung über nachhaltigen Konsum und die Mittel und Wege zu seiner Verwirklichung nimmt zu (8). Verbraucher sind größtenteils in ihren bisherigen Lebensgewohnheiten gefangen und können sich beispielsweise - selbst wenn sie es wollten - nicht vorstellen, wie sie das Auto weniger nutzen könnten. Der Konsum wird von zahlreichen Einflüssen geprägt und bestimmt, darunter den physiologischen Bedürfnissen und der Persönlichkeit, dem sozialen Umfeld, kulturellen Faktoren sowie der Verfügbarkeit und den Kosten alternativer Waren und Dienstleistungen. In der Konsumgesellschaft spielt die Wahl der Verbraucher eine entscheidende Rolle bei der Erfüllung sozialer und psychologischer Bedürfnisse, z.B. im Zusammenhang mit der Zugehörigkeit zu einer Gruppe, dem Selbstwertgefühl und der Identitätsentwicklung. Aufgrund all dessen ist es schwer für den Einzelnen, eine Umstellung in Betracht zu ziehen, sowie für die Regierungen, Maßnahmen für einen Konsumwandel einzuleiten. Bisherige Maßnahmen solcher Art haben meist nur enttäuschend geringe oder langsame Auswirkungen gebracht und konnten gegen den Widerstand mächtiger Interessengruppen kaum durchgesetzt werden.

4.3   Unterdessen sind Verbrauchermotive, Konsummuster und wahrscheinliche Reaktionen auf spezielle Strategien und Maßnahmen von Person zu Person verschieden und variieren beim Einzelnen sogar von Situation zu Situation. Daher gibt es keine einfache politische Lösung für nachhaltigen Konsum. Vielmehr wird mit weitgefächerten Maßnahmen, die Bereiche wie die Landwirtschaft und Beschäftigung bis hin zu Bildung und Gesundheit umfassen, eine Wirkung erzielt. Gefragt sind möglicherweise besondere Strategien zur Förderung einer nachhaltigeren Wahl bei spezifischen Bevölkerungsgruppen wie älteren und jungen Menschen.

4.4   In Kriegs- oder nationalen Notstandszeiten waren Menschen durchaus bereit, massiv freiwillige Einschränkungen in Kauf zu nehmen, die ökologische Krise wird aber nicht generell als eine Notstandszeit solchen Ausmaßes angesehen. Dennoch entscheiden sich in letzter Zeit immer mehr Menschen für einen einfacheren Lebensstil, um die von ihnen ausgehende Umweltbelastung zu verringern. Einige der erfolgreichsten Bemühungen um Änderungen von Konsummustern sind von lokalen Gruppen ausgegangen, die sich z.B. im Rahmen des Eco-Team-Ansatzes gebildet haben, der in einigen Ländern von der NGO Global Action Plan genutzt wird und kleine Gruppen von Personen in der Nachbarschaft, am Arbeitsplatz oder in Schulen zusammenbringt, um ihr Abfallaufkommen und ihren Energie- oder Wasserverbrauch zu beobachten und Maßnahmen für eine nachhaltigere Lebensweise zu ermitteln.

4.5   Es ist unwahrscheinlich, dass allein von oben nach unten gerichtete Bemühungen um Veränderungen greifen, insbesondere dort, wo Politiker mit hohem Konsumanspruch versuchen, Einfluss auf die Öffentlichkeit zu nehmen. Nachhaltiger Konsum hat für die meisten Menschen keine oberste Priorität. Gesellschaftlicher Wandel geht aber häufig von kleinen Gruppen aus und verbreitet sich über vielfältige Kommunikationskanäle, darunter die Massenmedien, die Kunst, informelle Freundschaftsnetze und Glaubensgemeinschaften. Die Rolle der Politiker sollte mehr darin bestehen, vorhandene Gruppen, die sich für nachhaltige Lebensweise einsetzen, zu ermitteln und zu ermutigen, anstatt der Gesellschaft allgemein ihre eigenen Ansichten des Handlungsbedarfs aufzuerlegen.

4.6   Die Entscheidung für eine nachhaltige Lebensweise sollte nicht als Luxus derjenigen betrachtet und konzipiert werden, die sich einen solchen Lebensstil leisten können. Der EWSA hat betont, dass nachhaltige Produktion nicht zu einem höheren Preis (9) führen darf, sondern für alle zugänglich sein sollte. Es ist von größter Wichtigkeit, zu vermeiden, dass umweltschonender Konsum für den Einzelnen kostspieliger ist, denn dadurch würde nur einem Teil der Gesellschaft die Wahlmöglichkeit geboten, die Ärmeren sowie Menschen mit niedrigen Einkommen hingegen ausgegrenzt.

4.7   Der EWSA betont, dass zur Ermöglichung einer Entscheidung für einen umweltschonenden Konsum andere kritische Bereiche des Wohlergehens angegangen werden müssen, von denen einige als wesentlicher betrachtet werden, und zwar das Beschäftigungspotenzial, der Arbeitsleistung angemessenes Arbeitsentgelt, menschenwürdige Arbeitsplätze sowie Zugang zu Krediten für KMU.

5.   Politische Erfordernisse

5.1   Im Zusammenhang mit dem europäischen Einigungswerk können die EU-Institutionen auf eine langjährige visionäre Führungsrolle zur Herbeiführung tiefgreifender Veränderungen zurückblicken. Meist hatten sie es mit einem pluralistischen Modell zu tun, das mehr darauf gerichtet ist, Vereinbarungen zwischen Regierungen zu ermöglichen, als Veränderungen in eine bestimmte Richtung vorzugeben. Bei Gesundheits- und Umweltstandards hat die EU zum Beispiel die Führung übernommen. Diese Erfahrungen können wertvoll sein, wenn es darum geht, eine nachhaltige Wirtschaft zu verwirklichen. Führungskraft und Ideenreichtum sind vielleicht genauso wichtig wie technisches Fachwissen und Verwaltungskompetenz.

5.2   Der Ausschuss hat den Aktionsplan der Kommission für Nachhaltigkeit in Produktion und Verbrauch und für eine nachhaltige Industriepolitik (10) begrüßt. Auch viele andere politische Maßnahmen der EU haben einen Bezug zu nachhaltigem Konsum, wie etwa das Emissionshandelssystem (EHS), die Richtlinie über die Kennzeichnung des Kraftstoffverbrauchs von Personenkraftwagen, die Verordnung zur Festsetzung von Emissionsnormen für neue Personenkraftwagen, die Biokraftstoff-Richtlinie, die Richtlinie über die Gesamtenergieeffizienz bei Gebäuden, Richtlinie über Endenergieeffizienz und Energiedienstleistungen sowie die für die gemeinsame Agrarpolitik geltenden Umweltnormen. Die EU-Politik konzentriert sich aber auf Marktinstrumente und technische Standards bzw. Produktstandards. Einzig und allein das EHS legt die absoluten Treibhausgasemissionswerte zugrunde. Es gibt Spannungsfelder mit anderen politischen Zielen wie etwa einer zunehmenden Mobilität. Nur sehr wenige Maßnahmen sind direkt auf die Themen Konsum und Lebensweise gerichtet; die Maßnahmen sind eindeutig unzureichend, um die Ziele einer Reduzierung der Treibhausgase und einer Unabhängigkeit von nichtnachhaltigen Rohstoffressourcen zu erreichen.

5.3   Gebraucht wird ein Dialog, an dem EU-Institutionen, nationale, regionale und lokale Regierungen und Behörden sowie alle Sozialpartner beteiligt sind. So könnte die Kommission mit dem EWSA und anderen Gremien zusammenarbeiten, um ein Forum für nachhaltigen Konsum einzurichten, das Folgendes untersucht:

die Werte für die Gestaltung einer nachhaltigen Wirtschaft und die notwendige Auseinandersetzung mit den Spannungsfeldern zwischen Wachstum und ökologischer Nachhaltigkeit, sozialer Eingliederung und persönlicher Freiheit sowie der Lebensqualität der derzeitigen Bevölkerung und künftiger Generationen usw.;

das eventuelle Erfordernis, unseren Verbrauch in bestimmten Bereichen einzuschränken. Die Mehrheit der Treibhausgasemissionen ist auf den Verbrauch von Lebensmitteln und Energie sowie auf den Verkehr zurückzuführen. Trotz der Gegensätze zwischen Nachhaltigkeit und anderen Zielen gibt es auch potenzielle Synergien (z.B. kann Radfahren gut für die Gesundheit und die Umwelt sein);

die Frage, was die Bürger von einer Entscheidung für nachhaltigere Konsummuster abhält und welchen Beitrag Regierungen und Behörden auf regionaler und lokaler, einzelstaatlicher und gemeinschaftlicher Ebene leisten können. Hierzu könnte zum Beispiel die Gewährleistung der vollständigen Umsetzung bereits bestehender Maßnahmen (wie etwa der Richtlinie über die Gesamtenergieeffizienz bei Gebäuden) sowie die Förderung von Maßnahmen im Rahmen des Aktionsplans für Nachhaltigkeit in Produktion und Verbrauch und für eine nachhaltige Industriepolitik gehören, damit sich Verbraucher für auf nachhaltigere Weise produzierte Lebensmittel entscheiden können;

die Erfahrungen von Einzelpersonen und Gruppen, die einen umweltschonenden Lebensstil entwickelt haben, und Möglichkeiten der Reproduktion dieser Erfahrungen. Diesbezüglich könnten eingebunden werden: Organisationen wie Global Action Plan, deren Eco-Teams normalerweise eine Verringerung nicht recycelter Abfallmengen um 40-50 % erreichen; Initiativgruppen wie Transition Towns, die bestrebt sind, Lokalgemeinschaften aufzubauen, die gegen den Klimawandel und Ressourcenrückgang widerstandsfähig sind; Glaubensgemeinschaften wie Quaker, die für langlebige Werte zur Förderung eines umweltschonenden Lebensstils stehen. Die Mitglieder einiger dieser Gruppen und Netze haben eine erfüllende Lebensweise entwickelt, für die sie 60-80 % weniger Material- und Energieressourcen als im EU-Durchschnitt benötigen;

Maßnahmen, die im Zuge der Umstellung auf einen nachhaltigeren Konsum erforderlich sind, um bestimmten Bevölkerungsgruppen wie älteren Menschen, jungen Menschen, Arbeitslosen, Neuzuwanderern, Familien mit kleinen Kindern die Anpassung zu erleichtern;

Möglichkeiten der Vereinbarung eines Übergangs zu einem umweltfreundlichen Konsum und einer nachhaltigen Produktion mit der Wettbewerbsfähigkeit des Binnenmarkts.

5.4   Die Politik sollte sofortige und langfristige Maßnahmen für einen Konsumwandel anvisieren. Vieles kann aus Erfahrungen gelernt werden, wie das Beispiel des Rauchens zeigt, wo ein Zusammenspiel von Preisgestaltung, Regulierung, Kennzeichnung und Aufklärung zu einem erheblichen Bewusstseins- und Verhaltenswandel geführt hat.

5.4.1   Preisliche Anreize sind ein wichtiger Teil eines Maßnahmenpakets, es besteht jedoch ein Widerspruch zwischen dem Ziel der Kommission, die Energiepreise herabzusetzen (11), und dem Erfordernis der Senkung des Verbrauchs. Kohlenstoffsteuer bzw. Emissionshandel müssen durch andere Maßnahmen ergänzt werden. So führen hohe Brennstoff- und Kohlenstoffpreise möglicherweise zu einem Anstieg der Energiearmut, wenn nicht die Isolierung von Wohnungen und alternative Energiequellen erheblich gefördert werden.

5.4.2   Der EWSA hat bereits mehrfach betont, wie wichtig Bildungsprogramme für die Herausbildung eines wirksamen nachhaltigen Verhaltens sind. Der EWSA bekräftigt, dass solche Lernprogramme nicht nur auf Schulen und junge Leute - was zwar auch wichtig ist - abzielen, sondern auf sämtliche Altersgruppen ausgerichtet werden sollten, und zwar im Rahmen der beruflichen Bildung, des lebenslangen Lernens und von Programmen für ältere Menschen. Nachhaltige Praktiken dürfen keinesfalls zu einer stärkeren Marginalisierung von Gruppen, wie etwa von Menschen ohne Beschäftigung, führen.

5.5   Dialog muss mit Handeln verknüpft werden, einschließlich der Förderung des Experimentierens durch Gruppen, die sich für nachhaltige Lebensweise einsetzen, sowie der Vermittlung ihrer Erfahrungen. Diese müssen, um überhaupt Sinn zu haben, von den EU-Institutionen ernst genommen werden sowie gegebenenfalls zur Anpassung und Verbesserung der Maßnahmen und zu praktischem Handeln in diesen Institutionen führen, um eine Führungsrolle zu übernehmen und die Möglichkeiten für nachhaltigere Praktiken zu zeigen.

5.6   Nachhaltiger Konsum kann nicht nur als rein umweltpolitische Aufgabe verstanden werden. Er bedingt vielmehr Initiativen in vielen Politikbereichen, wie Gesundheit, Bildung, Beschäftigung, Handel, Wettbewerb, Verbraucherangelegenheiten, Verkehr, Landwirtschaft und Energie.

5.7   Der EWSA fordert die Kommission nachdrücklich auf, im Rahmen des Arbeitsprogramms der Kommission 2010 „Jetzt handeln“ (12) und künftig in der EU-2020-Strategie ernsthaft Maßnahmen für nachhaltigen Konsum in Betracht zu ziehen.

Brüssel, den 15. Juli 2010

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Mario SEPI


(1)  Boulding, K. „The economics of the coming spaceship earth“, in Environmental Quality in a Growing Society, (Baltimore: Johns Hopkins University Press, 1966) S. 253 ff.

(2)  Stellungnahme im ABl. C 100 vom 30.4.2009, S. 53.

(3)  Europäische Umweltagentur, Signale 2010.

(4)  „The Global Footprint Network“ und WWF-Bericht Europa 2007: Gross Domestic Product and Ecological Footprint (Bruttoinlandsprodukt und ökologischer Fußabdruck).

(5)  ABl. C 77 vom 31.3.2009, S. 73.

(6)  EUA, Jährliches Treibhausgasinventar der Europäischen Gemeinschaft 1990-2006 und Inventarbericht 2008, Vorlage beim Sekretariat des UNFCCC, (Kopenhagen; EUA 2008).

(7)  Tipping, P. et al., Impact Assessment on the Future Action Plan for Energy Efficiency, carried out by ECN (NL) and WS Atkins (UK) for DGTREN (Folgenabschätzung zum künftigen Aktionsplan für Energieeffizienz, erarbeitet von der ECN (NL) und WS Atkins (UK) für die GD TREN. Auftragnehmer: ECORYS, NL (2006).

(8)  Jackson, T. Motivating Sustainable Consumption: A Review of Evidence on Consumer Behaviour and Behavioural Change, a report to the Sustainable Development Research Network, 2005, abrufbar unter http://www.sd-research.org.uk/.

(9)  ABl. C 224 vom 30.8.2008, S. 1.

(10)  ABl. C 218 vom 11.9.2009, S. 46.

(11)  Monti, M. „Eine neue Strategie für den Binnenmarkt“, Bericht an den Präsidenten der Europäischen Kommission, Mai 2010.

(12)  KOM(2010) 135 endg., Teil I.


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