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Document 52006IE1173

    Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Unionsbürgerschaft: Verbesserung ihrer gesellschaftlichen Wahrnehmung und Wirkung

    ABl. C 318 vom 23.12.2006, p. 163–172 (ES, CS, DA, DE, ET, EL, EN, FR, IT, LV, LT, HU, NL, PL, PT, SK, SL, FI, SV)

    23.12.2006   

    DE

    Amtsblatt der Europäischen Union

    C 318/163


    Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Unionsbürgerschaft: Verbesserung ihrer gesellschaftlichen Wahrnehmung und Wirkung“

    (2006/C 318/28)

    Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss am 19. Januar 2006 gemäß Artikel 29 Absatz 2 der Geschäftsordnung, zu folgendem Thema auszuarbeiten „Unionsbürgerschaft: Verbesserung ihrer gesellschaftlichen Wahrnehmung und Wirkung“.

    Die mit der Vorbereitung der Arbeiten beauftragte Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft nahm ihre Stellungnahme am 13. Juli 2006 an. Berichterstatter war Herr VEVER.

    Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 429. Plenartagung am 13./14. September 2006 (Sitzung vom 14. September 2006 ) mit 111 gegen 22 Stimmen bei 13 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

    1.   Zusammenfassung

    1.1

    Die formelle Aufnahme der mit der Unionsbürgerschaft verbundenen Rechte in die jüngsten Verträge reichte nicht aus, um der zunehmenden Europaskepsis in der Öffentlichkeit entgegenzuwirken. Europas Schwäche rührt daher, dass das Bild, welches sich die Bürger von Europa machen, mit mehreren Mängeln behaftet ist: mangelnde Wahrnehmbarkeit, mangelnde Identifizierung, mangelnde Information, mangelnder Dialog und mangelnde Effizienz — um nur die wichtigsten Punkte einer nur allzu langen Liste zu nennen. Insgesamt kann von einem Vertrauensdefizit gesprochen werden. Im Prozess der Ratifizierung des Verfassungsvertrages zeigten sich die Konsequenzen; diese Unterbrechung droht wiederum der Europaskepsis noch weiter Auftrieb zu geben.

    1.2

    Schnelles Handeln ist also geboten: der Schwerpunkt muss jetzt weniger auf der Ausarbeitung neuer Erklärungen von Rechten liegen als vielmehr auf konkreten Maßnahmen, mit deren Hilfe die zu dieser Unionsbürgerschaft gehörenden Rechte uneingeschränkt ausgeübt werden können. Hierzu wird ein engagiertes, aus neuen Kraftquellen gespeistes Vorgehen seitens der Kommission ebenso erforderlich sein wie ein Verhaltenskodex für eine bessere Leitung der Organe und Einrichtungen, eine Beendigung des wachsenden Missverhältnisses zwischen den großen Plänen für Europa und den zur Verfügung stehenden Mitteln, eine verstärkte Zusammenarbeit zwischen den Staaten, die zu einem gemeinsamen Vorangehen bereit sind, und mehr Druck und mehr Initiativen von Seiten der zivilgesellschaftlichen Akteure.

    1.3

    Der EWSA schlägt in erster Linie vor, die besonders unentschuldbaren Mängel zu beheben, d.h.:

    das europäische Vereinsstatut erneut in Angriff zu nehmen und rasch zu verabschieden;

    ein europäisches Statut für Vereinigungen auf Gegenseitigkeit zu verabschieden;

    ein vereinfachtes europäisches Statut für kleine und mittlere Unternehmen zu schaffen;

    das Gemeinschaftspatent in den Mitgliedstaaten, in denen es ratifiziert wurde, umzusetzen;

    die Doppelbesteuerung zumindest innerhalb der Euro-Zone abzuschaffen;

    eine nicht-diskriminierende Übertragbarkeit von Sozialversicherungsleistungen zu gewährleisten.

    1.4

    Der EWSA schlägt außerdem vor, einen bürgernäheren Regierungsstil der EU zu entwickeln, d.h.:

    der mangelnden Information über Europa in den Medien durch Förderung vorbildlicher Verfahren in Zusammenarbeit mit einer europäischen Agentur für audiovisuelle Medien entgegenzuwirken;

    der konsultativen Phase der Vorbereitung von Rechtsetzungsvorschlägen mehr Bedeutung beizumessen und den zusätzlichen Nutzen der geplanten Rechtsakte für die Bürger stärker zu beachten;

    die Gründe für Blockaden im Rat oder Rücknahmen von Vorschlägen zu den europäischen Bürgerrechten durch die Kommission herauszufinden und öffentlich darzulegen;

    in allen Bereichen, die von unmittelbarem Interesse für die Zivilgesellschaft sind, die von den wirtschaftlichen und sozialen Gruppen praktizierten Ansätze der Ko- und Selbstregulierung zu fördern;

    in Verbindung mit den verschiedenen Agenturen zur Unterstützung des Binnenmarktes ein Konzept für europäische öffentliche Dienstleistungen aufzustellen, das langfristig auch vergemeinschaftete Außenzollverwaltungen umfasst;

    stärker interaktive Formen der Information über Europa zu entwickeln;

    die Akteure der Zivilgesellschaft in die Strukturfondsmaßnahmen vor Ort einzubinden.

    1.5

    Der EWSA schlägt schließlich auch vor, gemeinschaftliche Initiativen mit stark identitätsstiftendem Charakter zu fördern, zum Beispiel:

    großen, besonders bedeutungsträchtigen europäischen Projekten (transeuropäische Netze, Forschung, Hochtechnologie) bei der Finanzierung aus dem EU-Haushalt höhere Priorität einzuräumen;

    in anspruchsvolle europäische Bildungs- und Weiterbildungsprogramme, d.h. auch Sprachkurse, zu investieren; hierzu zählt auch ein freiwilliger europäischer Zivildienst für junge Leute;

    Aussagen berühmter Persönlichkeiten über ihre Identität als Europäer heranzuziehen;

    in ebenfalls anspruchsvolle europäische Programme im Bereich Kultur und Medien zu investieren und ein gemeinsames Statut für Stiftungen und Förderer zu schaffen;

    besondere Fortschritte bei der wirtschaftlichen und sozialen Integration innerhalb der Eurozone einzuleiten;

    Beschlüsse mit hoher politischer Symbolwirkung zu fassen, wie zum Beispiel die Wahlen zum Europäischen Parlament am gleichen Tag stattfinden zu lassen, den 9. Mai als europäischen Feiertag zu begehen, ein europäisches Initiativrecht für Bürgerinnen und Bürger voranzubringen.

    1.6

    Insgesamt ist der EWSA der Überzeugung, dass durch derartige Initiativen die europäischen Bürger ihre Unionsbürgerschaft stärker wahrnehmen, von den Freiheiten, die diese ihnen bietet, effizienter Gebrauch machen und somit Europa zu der Identität, der Dynamik, der Wettbewerbsfähigkeit und dem Zusammenhalt verhelfen könnten, deren Verwirklichung den Staaten heute so schwer fällt.

    1.7

    Um zu diesem Ziel beizutragen, beschließt der EWSA, eine ständige Gruppe „Aktive Unionsbürgerschaft“ ins Leben zu rufen und in Kürze ein Symposium zu diesem Thema zu veranstalten.

    2.   Einleitung

    2.1

    Trotz einer weiterhin spürbaren europaskeptischen Stimmung, die sich belastend auswirkt, schätzen die Europäer doch sehr die wesentlichen Errungenschaften der europäischen Integration, die für sie ebenso natürlich wie unumkehrbar sind:

    den Frieden und die Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten;

    die uneingeschränkte Ausübung ihrer demokratischen Rechte;

    das Recht auf Freizügigkeit und freien Waren-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr;

    den Willen zur Einigung angesichts der globalen Herausforderungen.

    2.2

    Die europäischen Bürger stellen an diese europäische Einigung auch hohe Anforderungen. Sie erwarten sich von ihr einen echten zusätzlichen Nutzen, insbesondere:

    eine Verbesserung ihrer politischen, bürgerlichen, partizipativen, wirtschaftlichen und sozialen Rechte;

    eine Stärkung ihrer Identität und Verbesserung ihrer Lebensqualität mitten in den großen Veränderungen;

    mehr Wachstum, Arbeitsplätze sowie wirtschaftliche und soziale Entwicklung;

    eine wirksamere Vertretung ihrer gemeinsamen Interessen in der Welt.

    2.3

    Für viele Europäer, deren Alltags- und Zukunftssorgen sich nicht verringert haben, sind diese Erwartungen noch lange nicht erfüllt. Auch wenn die Gründe nicht alleine auf europäischer Ebene zu suchen sind, gab das zweifache Nein der französischen und der niederländischen Wähler zum Verfassungsvertragsentwurf doch besonders deutlich Aufschluss über diese Unzufriedenheit und die Zweifel der Öffentlichkeit.

    2.4

    Und doch waren in den jüngsten Verträgen (Vertrag von Amsterdam, Vertrag von Nizza), der europäischen Grundrechtecharta und dem zur Abstimmung gestellten Verfassungsvertrag (durch den insbesondere die darin einbezogene Charta rechtliche Wirkung erhalten sollte) bei den durch den Vertrag von Maastricht eingeführten Unionsbürgerschaftsrechten schon echte Fortschritte festgeschrieben worden. Der Konvent zur Vorbereitung des Verfassungsvertrages, der durch die Einbeziehung von Parlamentsabgeordneten und durch die Öffnung für Vertreter der Zivilgesellschaft eine echte Neuerung darstellte, hatte sich insbesondere die Stärkung dieser Rechte auf politischer, unionsbürgerschaftlicher, wirtschaftlicher und sozialer Ebene zur Aufgabe gemacht. Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss hat sich, neben seiner Teilnahme an diesem Konvent, in den vergangenen Jahren unablässig für eine volle Anerkennung der europäischen Bürgerrechte und für die Berücksichtigung der Sorgen der Bürger eingesetzt. Allerdings kann nicht beschönigt werden, dass die formelle Aufnahme dieser Rechte in die Verträge kaum ausreichte, um den wachsenden Trend zur Europaskepsis in der Bevölkerung aufzuhalten. Der Ausspruch von Jean Monnet: „Wir vereinigen keine Staaten, wir vereinen Menschen“ wird heutzutage kaum als vorherrschendes Prinzip für die Funktionsweise der EU angesehen.

    2.5

    Gegenwärtig besteht aus einer Reihe von Gründen die Gefahr, dass diese Bedenken der Bevölkerung noch weiter zunehmen:

    2.5.1

    das Nein zur Ratifizierung des Verfassungsvertrages wird das Funktionieren der erweiterten Union beträchtlich erschweren: die schwerfälligen, komplexen Verfahren des Vertrages von Nizza, die durch den neuen Vertrag abgeschafft werden sollten, werden rasch negative Folgen zeitigen;

    2.5.2

    das Missverhältnis zwischen den ehrgeizigen Plänen für Europa und seinen geringen Eigenressourcen sowohl auf politischer (schwierige Beschlussfassung mit 27 Mitgliedstaaten) als auch auf finanzieller Ebene (bescheidene Finanzmittel für 2007-2013) nimmt weiter zu;

    2.5.3

    die in dem Verfassungsvertrag (und der in ihn integrierten Grundrechtecharta) enthaltenen neuen Rechte für europäische Bürger werden keine offizielle Gültigkeit erlangen können;

    2.5.4

    dieses wenig zufriedenstellende Umfeld wird eine Verbesserung der Situation mit hoher Wahrscheinlichkeit unmöglich machen und birgt die Gefahr, dass sich die sehr bedauerliche Rolle des Sündenbocks, die Europa von allzu vielen seiner Bürger bereits zugeschrieben wird, weiter verfestigt.

    2.6

    Wie der EWSA in seinem Beitrag zum Europäischen Rat vom 15./16. Juni 2006 bereits hervorgehoben hat (1), sollte die Phase des Nachdenkens, auf die man sich als Folge der derzeitigen Unterbrechung der Ratifizierung des Verfassungsvertrages geeinigt hat, nicht als Vorwand dazu dienen, die stärkere Beteiligung der Bürger an Europa noch weiter aufzuschieben. Es erscheint im Gegenteil dringend geboten, die Wahrnehmung Europas in der öffentlichen Meinung zu stärken, da sonst eine Spirale des Misstrauens, der Unterlassung und der Blockierung entstünde, deren Auswirkungen unvorhersehbar wären. Es wäre zudem ganz und gar illusorisch, dem gegenwärtigen Stillstand bei der Ratifizierung des Verfassungsvertrages auf die eine oder andere Weise abhelfen zu wollen, ohne zuvor für eine stärkere Identifizierung der Europäer mit Europa gesorgt zu haben. Hierzu muss zunächst analysiert werden, inwiefern und weshalb Europa von allzu vielen Bürgern so wenig wahrgenommen und als so wenig attraktiv empfunden wird.

    3.   Eine zu wenig beachtete Unionsbürgerschaft

    3.1

    Als „Bürger“ nehmen sich Menschen in erster Linie intuitiv oder gar emotional wahr; erst in zweiter Linie denken sie an die Rechte und Pflichten, die mit dieser Eigenschaft verbunden sind. Eine „europäische“ Bürgerschaft sollte an und für sich wahrgenommen werden als Mehrwert, als Ergänzung und nicht als Ersatz der Staatsbürgerschaft, als „neuer Horizont“, der mehr Rechte, mehr Freiheiten und mehr Verantwortung bietet. In allen diesen Bereichen und trotz der realen Fortschritte beim grenzüberschreitenden Austausch ist die Unionsbürgerschaft hiervon noch weit entfernt. Es besteht sogar zuweilen der Eindruck, als sei keine Möglichkeit ausgelassen worden, sich ihr in den Weg zu stellen. Zur Illustration bedarf es nur einiger einfacher Feststellungen: Für alle Europäer, in erster Linie aber für den „Durchschnittseuropäer“, sind in Bezug auf Europa vier Mängel deutlich zu erkennen:

    3.1.1

    ein Mangel an Wahrnehmbarkeit und an Profil: die Ziele und Konturen der europäischen Integration, u.a. auf geopolitischer Ebene (wo sind die Grenzen Europas?), sind heute nicht mehr klar. Dies ist sowohl auf politische Meinungsverschiedenheiten über das eigentliche Ziel der Integration als auch auf einen Mangel an eindeutigen Kriterien für den unaufhaltsam erscheinenden Erweiterungsprozess zurückzuführen;

    3.1.2

    ein Mangel an Identifikation und Bürgernähe: trotz der Freiheiten und der zusätzlichen Rechte, die es mit sich bringt, erscheint Europa in erster Linie als Domäne von Politikern, Diplomaten und Fachleuten und erst in zweiter Linie, und auch nur in sehr eingeschränktem Maße, als eine Sphäre der Bürger. Selbst die nationalen und regionalen bzw. lokalen Verwaltungen sind nicht frei von diesem Gefühl der Fremdheit gegenüber Europa, das noch häufig als entrückt wahrgenommen wird;

    3.1.3

    ein Mangel an Information und Dialog: die Europäer sind unzureichend informiert über ihre Rechte, ihre Freiheiten und die Funktionsmechanismen des Binnenmarktes. Ihre Fragen zu Europa werden häufig wenig beachtet, wenig ernst genommen, unzufriedenstellend beantwortet. Die Regierungen ihrerseits neigen dazu, ihnen Europa so zu präsentieren, wie es für sie günstig ist, und das anzuprangern oder zu verschweigen, was für sie ungünstig ist — selbst auf die Gefahr hin, dass die Glaubwürdigkeit Europas dabei aufs Spiel gesetzt wird. Die großen, vornehmlich nationalen Medien (Radio, Fernsehen) vermitteln deutlich den Eindruck, mit diesen Fragen sehr wenig vertraut zu sein. Selbst unter Journalisten gilt das Thema Europa — für das sie unzureichend geschult sind — als kompliziert. Ihre Informationsvermittlung beschränkt sich auf eine punktuelle, häufig pauschalisierende und nicht selten ungenaue Darstellung. Das Fehlen einer „europäischen“ öffentlichen Meinung, die über eine fragwürdige Aneinanderreihung von nationalen Meinungen hinausgeht, ist der Entwicklung europäischer Medien auch nicht zuträglich — und umgekehrt;

    3.1.4

    ein Mangel an Effizienz auf wirtschaftlichem und sozialem Gebiet: im Kontext der Globalisierung wird Europa weder als leistungsfähige Triebkraft — aufgrund seiner auch qualitativ unzureichenden Ergebnisse im Bereich Wachstum und Beschäftigung — noch als wirksamer Schutz gegen die stärker werdende und häufig als übermächtig bzw. unlauter wahrgenommene Konkurrenz von außen und die Betriebsverlagerungen angesehen (nicht zu vergessen die ebenfalls gewachsenen Spannungen innerhalb der erweiterten EU selbst, die sich durch eine bislang einmalige Zunahme der Differenz bei den Produktionskosten ergeben haben).

    3.2

    Diejenigen europäischen Bürger, die durch ihre Kontakte, ihren Beruf, ihre Reisen mit Europa besser vertraut sind, empfinden nicht nur die oben erwähnten vier Defizite auf die gleiche Weise, sondern kennen auch andere, ebenso unübersehbare Mängel:

    3.2.1

    den Mangel an Kohäsion, der durch die Erweiterungen zwangsläufig noch größer geworden ist: die administrativen, kulturellen und sozialen Unterschiede haben sich verschärft, die Entwicklungsabstände haben sich zuweilen verdreifacht; hinzu kommen die Unterschiede bei der Wirtschafts- und Währungsintegration, die sich aus einer derzeit auf 12 Mitglieder beschränkten Eurozone ergeben;

    3.2.2

    das Defizit bei der Vollendung des Binnenmarktes, das dessen Funktionieren beeinträchtigt; hier bestehen weiterhin starke Abschottungstendenzen im Bereich der Dienstleistungen (2/3 des BIP), beim öffentlichen Auftragswesen (16 % des BIP) und beim Steuerwesen, ebenso wie bei der Freizügigkeit für Staatsangehörige der neuen Mitgliedsländer, für die derzeit noch Übergangsregelungen gelten: der Binnenmarkt funktioniert bestenfalls mit halber Kraft;

    3.2.3

    das Defizit bei der Vereinfachung, das für alle europäischen Bürger als von den Vorschriften Betroffene offenkundig ist: die Richtlinien und die anderen Vorschriften der Gemeinschaft, die ihnen das Leben leichter machen sollten, addieren sich nur allzu oft zu den immer zahlreicheren nationalen Vorschriften;

    3.2.4

    der Mangel an Finanzmitteln, der einhergeht mit mangelnder Gemeinwohlorientierung und unzureichenden hoheitlichen Befugnissen auf europäischer Ebene, ist für alle Beobachter ebenso deutlich erkennbar: auf finanzieller Ebene sind mit dem auf etwa 1 % des BIP (im Vergleich zu 20 % in den Vereinigten Staaten, in einem allerdings ganz anderen Kontext) begrenzten Haushalt der Gemeinschaft, der bei der jüngsten Vorausschau für 2007-2013 in ebenso mühsamen wie konfliktreichen Verhandlungen festgelegt wurde, die Aufgaben, die insgesamt auf Europa zukommen, wohl kaum zu bewältigen; in institutioneller Hinsicht ist die Beschlussfassung generell schwierig aufgrund der großen Zahl der Beteiligten und sehr häufig auch aufgrund der weiterhin bestehenden Verfahren, bei denen die Einstimmigkeit der Mitgliedstaaten verlangt wird;

    3.2.5

    ein Defizit im Bereich der grenzüberschreitenden Infrastruktur (Verkehr, Energie, Telekommunikation), das nicht zu trennen ist von dem Mangel an Finanzmitteln: durch die Übereinkunft auf der Tagung des Europäischen Rates im Dezember 2005 wurde der von der Kommission für 2007-2013 vorgeschlagene Haushaltsrahmen für diesen Bereich sogar um die Hälfte gekürzt (knapp 2 % anstelle von fast 4 %), wenngleich durch die jüngsten Verhandlungen mit dem Europäischen Parlament diese Restriktionen ein wenig gemäßigt werden konnten;

    3.2.6

    die fehlende Gemeinschaftsdisziplin allzu vieler Mitgliedstaaten, die auch in den Berichten der Kommission erkennbar wird (Umsetzung der Richtlinien, Verfahren wegen Verletzung von EU-Recht);

    3.2.7

    der Mangel an Kommunikation und die lückenhafte Umsetzung der Lissabon-Strategie sind abschließend zur Vervollständigung zu nennen. Diese Strategie, die weit davon entfernt ist, die Investitionen in Forschung, Innovation, die gemeinsamen Infrastrukturnetze und Bildung anzuregen, erfüllt in Wirklichkeit hinsichtlich der geforderten Mobilisierung und der angestrebten Ziele bei weitem nicht die Erwartungen (die finanzielle Vorausschau 2007-2013, in der alle diese Gebiete restriktiv behandelt werden, ist in dieser Hinsicht symptomatisch).

    3.3

    Für viele EU-Bürger ergibt sich schließlich aus dieser insgesamt beträchtlichen Reihe von Funktionsdefiziten, die die EU aufweist, ganz logisch ein Mangel an Vertrauen. Um diesem den Nährboden zu entziehen, wird man alle festgestellten Missstände mit Entschlossenheit angehen müssen. Als Beitrag hierzu genügt es nicht mehr, die europäische Liste von Rechten weiterzuführen, die ebenso bemerkenswert in ihrem Wortlaut wie unzureichend bekannt und umgesetzt ist. Jetzt ist es an der Zeit, den Europäern den Weg nach Europa zu zeigen und ihn gangbarer zu machen, indem man ihnen den Schlüssel zu einer besser wahrnehmbaren und mit Wirkungskraft ausgestatteten Unionsbürgerschaft an die Hand gibt.

    3.4

    Erste bedeutende Fortschritte werden sich nicht erzielen lassen, wenn die wichtigsten Akteure in Europa die Bürger auf diesem Weg nicht besser begleiten. Dies erfordert:

    3.4.1

    ein engagiertes und aus neuen Kraftquellen gespeistes, d.h. mutigeres bzw. kompromissloseres Vorgehen der Europäischen Kommission im Hinblick auf diese Forderungen, insbesondere durch ihr Vorschlagsrecht und ihre Konsultationsmethoden;

    3.4.2

    eine bessere Funktionsweise der EU-Institutionen durch ein echtes Engagement im Dienste der Bürger, wie z.B. ein Verhaltenskodex für eine bessere Entscheidungsfindung sowie die Bereitschaft, den europäischen Bürgern bei den Themen, die sie unmittelbar betreffen, mehr Verantwortung zuzugestehen;

    3.4.3

    eine Sprache, die Europa in einem besseren Licht zeigt; die politischen Führungskräfte sollten aufhören, die EU so darzustellen, als verlange diese unnötige Opfer oder als sei sie übermäßig technokratisch, und dabei sich selbst die beste Rolle vorzubehalten — dies würde auch eine pädagogischere Haltung von Seiten der Medien voraussetzen;

    3.4.4

    eine gleichermaßen verantwortungsvolle Haltung dieser Politiker, die sich darauf einigen sollten, dem Europa, an dessen Verwirklichung sie zusammen arbeiten, für die offiziell gesteckten Ziele die entsprechenden grundlegenden Ressourcen (in Form von Beschlüssen, Finanzmitteln und Disziplin) zur Verfügung zu stellen;

    3.4.5

    mehr „verstärkte Zusammenarbeit“ zwischen Staaten, die, ohne das Primat der Gemeinschaftsmethode in Frage zu stellen, als Avantgarde zu einem gemeinsamen Vorangehen bereit sind, wenn Fortschritte, die die Europäer als wichtig erachten, durch das Erfordernis der Einstimmigkeit allzu sehr behindert werden;

    3.4.6

    stärkeren Druck und mehr Initiativen von Seiten der Sozialpartner und anderer zivilgesellschaftlicher Akteure: ohne deren aktiven und konstanten Beitrag bräuchte die Entwicklung einer wahrnehmbaren und mit Wirkungskraft ausgestatteten Unionsbürgerschaft gar nicht ins Auge zu gefasst zu werden.

    3.5

    Wie der EWSA bereits in seiner Stellungnahme zu dem „AktionsprogrammAktive Bürgerschaft“  (2) hervorgehoben hat, wird das von der Kommission vorgelegte Programm „Bürger für Europa“ (2007-2013) durch seinen allzu engen Anwendungsbereich und seine allzu geringen finanziellen Mittel konterkariert (235 Mio. EUR, die auf 190 Mio. EUR gekürzt wurden, d.h. weniger als ein halber Euro pro Einwohner für diesen Zeitraum). Trotz seiner löblichen Absichten sind nicht die Mittel gegeben, um das Ziel, beim Aufbau Europas „die Bürger/innen in den Mittelpunkt zu stellen“, zu gewährleisten. Das Programm wird bestenfalls eine flankierende Maßnahme darstellen können.

    3.6

    Der Schwerpunkt dabei muss heute weniger darauf liegen, neue Erklärungen von Rechten auszuarbeiten oder einige vereinzelte Subventionen zu gewähren, als vielmehr darauf, konkrete Maßnahmen einzuleiten, durch die diese Unionsbürgerschaft uneingeschränkt zum Tragen kommen kann. Um auf diesem Wege voranzukommen, schlägt der Wirtschafts- und Sozialausschuss vor, in drei Bereichen neue Initiativen zu entwickeln. Es gilt:

    die besonders unentschuldbaren Mängel der EU zu beheben;

    einen bürgernäheren Regierungsstil der EU zu entwickeln;

    gemeinsame Initiativen mit ausgeprägtem Identifizierungscharakter zu fördern.

    4.   Die besonders unentschuldbaren Mängel der EU beheben

    4.1

    Die Bürger Europas können sich zu recht darüber wundern, dass in den zentralen Bereichen, in den eigentlich ihre Zugehörigkeit zur Union zum Ausdruck kommen sollte, gemeinschaftliche Instrumente und europäische Freiheiten nicht existieren. Solche besonders unentschuldbaren Mängel bestehen insbesondere in Bezug auf ein Europäisches Statut für Vereine und Vereinigungen auf Gegenseitigkeit sowie für kleine Unternehmen, ein einheitliches Gemeinschaftspatent und einen europäischen fiskalischen Schutz im Hinblick auf jegliche Doppelbesteuerung, einschließlich der steuerlichen Behandlung von Sozialleistungen und Renten. Diese verschiedenen Punkte werden im Folgenden ausführlicher behandelt.

    4.2

    Es ist paradox, dass ein halbes Jahrhundert nach der Schaffung eines gemeinsamen Marktes tausende von Vereinigungen, die gegründet wurden, um die europäischen Interessen ihrer Mitglieder zu vertreten, keinen europäischen Rechtsstatus erlangen können, sondern gezwungen sind, sich an das nationale Recht des Ortes ihrer Niederlassung zu halten, das in der Regel das belgische Recht ist.

    4.2.1

    Der Vorschlag zur Schaffung eines solchen europäischen Statuts wurde von der Kommission, zusammen mit etwa 60 anderen Vorschlägen, die ebenfalls unter Berufung auf die Vereinfachung der Vorschriften oder fehlende Aussicht auf Annahme aufgegeben wurden, im Oktober 2005 zurückgezogen. Mit der Rücknahme dieses Statutsentwurfs ohne Konsultation der betroffenen Kreise verzichtet die Kommission leider auf ein nützliches Werkzeug.

    4.2.2

    Ein erster Schritt zur Stärkung der Unionsbürgerschaft wäre, wenn die Kommission ihren Fehler einsehen und ihr Vorhaben erneut vorlegen würde. Selbstverständlich müssten das Parlament und der Rat sich verpflichten, nach einer Erklärung bzw. Rechtfertigung für die Gründe der Blockierung dieses Projekt zügig zu verabschieden.

    4.3

    Derselbe Ansatz müsste auch in Bezug auf ein europäisches Statut für Vereinigungen auf Gegenseitigkeit verfolgt werden; der Entwurf hierzu wurde ebenfalls ungerechtfertigterweise von der Kommission zurückgezogen. Ein solches Statut würde immerhin auch dazu beitragen, neue europäische Initiativen zu fördern und zugleich die Anerkennung der Vielfalt des Unternehmertums in Europa zu stärken.

    4.4

    Ebenfalls paradox ist das Fehlen eines einheitlichen vereinfachten europäischen Statuts, das für die kleinen und mittleren Unternehmen tatsächlich eine Erleichterung darstellen würde, wo doch die aufeinander folgenden Mehrjahresprogramme und Erklärungen, ja sogar die Charta der KMU den Unternehmern keine sonderlich spürbaren Veränderungen gebracht haben.

    4.4.1

    Der Ausschuss legte 2002 einstimmig verabschiedete detaillierte Empfehlungen für ein solches Statut vor (3). Bis heute hat die Kommission keinerlei Vorschläge auf dieser Basis unterbreitet. Angesichts der Tatsache, dass sich die offiziellen Verlautbarungen häufen, die an mehr Unternehmergeist und Wettbewerbsfähigkeit in Europa appellieren, wird diese Situation von Tag zu Tag unentschuldbarer.

    4.4.2

    Der Ausschuss fordert daher die Kommission abermals dazu auf, schnellstmöglich einen Entwurf für eine Verordnung über ein solches Statut vorzulegen.

    4.5

    Besonders sinnträchtig ist das Scheitern des 1975 unterzeichneten Gemeinschaftspatents, das nicht von allen Mitgliedstaaten ratifiziert wurde.

    4.5.1

    Die wiederholten Appelle des Europäischen Rates an die Mitgliedstaaten, und somit an sich selbst, endlich zu einer Lösung zu kommen, sind ergebnislos geblieben. Die europäischen Erfinder sind weiterhin, wenn sie ihre Rechte in einem sinnvollen geographischen Umfang schützen wollen, einem komplizierten und kostspieligen System unterworfen. Für eine Europäische Union, die sich zum Ziel gesetzt hat, bis 2010 der dynamischste und wettbewerbsfähigste wissensbasierte Wirtschaftsraum der Welt zu werden, ist diese Blockierung Ausdruck einer bedauernswerten Machtlosigkeit.

    4.5.2

    Sollte sich zeigen, dass ein einstimmig geschlossenes Abkommen weiterhin außerhalb des Möglichen ist, schlägt der Ausschuss vor, dieses Gemeinschaftspatent mit den Mitgliedstaaten, in denen die Ratifizierung erfolgt ist, nach effizienten, einfachen und wettbewerbsfähigen Modalitäten bereits jetzt umzusetzen.

    4.6

    Der Wegfall der Doppelbesteuerung wird weiterhin beherrscht von einem ebenso komplizierten wie unvollständigen Knäuel hunderter bilateral geschlossener zwischenstaatlicher Vereinbarungen, das die Bürger der Willkür der Steuerverwaltungen ausgeliefert, die häufig ihrerseits über die anzuwendenden Bestimmungen schlecht informiert sind.

    4.6.1

    Der von der Kommission zur Regelung dieses Problems vorgelegte Entwurf für eine einheitliche und vereinfachte Verordnung hat aufgrund der fehlenden Einstimmigkeit der Mitgliedstaaten zu keinem Ergebnis geführt.

    4.6.2

    Ein nützlicher Fortschritt könnte dadurch erzielt werden, dass die entsprechenden Bestimmungen von den Mitgliedstaaten, denen dies möglich ist, schon jetzt angenommen und umgesetzt werden. Insbesondere wäre es sinnvoll, wenn die Mitgliedstaaten der Eurozone sich auf ihre Annahme einigen würden.

    4.6.3

    Der EWSA unterstreicht auch die Notwendigkeit, im Rahmen der Mobilität innerhalb der Gemeinschaft eine tatsächliche Übertragbarkeit von Sozialversicherungsleistungen ohne steuerliche Benachteiligung zu gewährleisten. Der EWSA weist insbesondere auf seine kürzlich verabschiedete Stellungnahme zum Thema „Übertragbarkeit von Zusatzrentenansprüchen“ (4) hin, in der eine — in dem Richtlinienentwurf nicht vorgesehene — Harmonisierung der steuerlichen Behandlung der Zusatzrentensysteme gefordert wird: die unterschiedliche Besteuerung in den Mitgliedstaaten stellt in der Tat ein beträchtliches Hindernis für die Mobilität dar, da die Arbeitnehmer von einer doppelten Besteuerung (der Sozialversicherungsbeiträge und -leistungen) betroffen sein können.

    5.   Einen bürgernäheren Regierungsstil der EU entwickeln

    5.1

    Die europäische Einigung wird nach wie vor allzu oft als eine Angelegenheit der Staaten wahrgenommen, bei der den Bürgern lediglich eine zweitrangige Rolle zugestanden wird. Um hier Abhilfe zu schaffen, müsste ein bürgernäherer Regierungsstil, also eine Funktionsweise der EU entwickelt werden, die eindeutiger in den Dienst des Bürgers gestellt ist, dies hieße: einen stärker europäisch orientierten Ansatz der Medien zu fördern, die Auswirkungen von Rechtsetzungsvorschlägen für die Bürger besser zu analysieren, die Verfahren des Dialogs und der Konsultation besser zu nutzen, die Gründe für Blockaden oder Rücknahmen darzulegen, die Ansätze zur Ko- und Selbstregulierung stärker zu fördern, Anreize für die Entwicklung grenzübergreifender Tarifverhandlungen zwischen den Sozialpartnern zu bieten, ein Konzept für öffentliche Dienstleistungen zur Unterstützung des Binnenmarktes — mit u.a. vergemeinschafteten Außenzollverwaltungen — umzusetzen, stärker interaktive Maßnahmen zur Information über Europa zu entwickeln, die Sozialpartner und andere Vertreter der Zivilgesellschaft vor Ort an der Umsetzung von gemeinschaftlichen Förderprogrammen zu beteiligen. Diese Forderungen werden im Folgenden weiter ausgeführt.

    5.2

    Obwohl die Medien heute als „vierte Gewalt“ neben der Legislativen, Judikativen und Exekutiven angesehen werden, hat ihnen Europa erstaunlicherweise, im Gegensatz zu den drei anderen Gewalten, kaum seinen Stempel aufgedrückt — und dies obwohl sie die Macht sind, die für die Allgemeinheit am deutlichsten wahrnehmbar und ihr am besten vertraut ist. Es gibt keine großen Radio- oder Fernsehsender von europäischer Reichweite und mit europäischer Ausrichtung, und mehrsprachige Sendungen sind weiterhin in den Medien die große Ausnahme. Es gibt vergleichsweise sehr wenige Debatten und politische Sendungen über Europa in den Medien. Die Arbeit der europäischen Institutionen wird — mit Ausnahme von einzelnen Ereignissen wie Gipfel, Krisen und Neubeitritte — kaum kommentiert und ist nach wie vor nur einem kleinen Kreis vertraut. Eine kürzlich von Eurobarometer durchgeführte Umfrage ergab, dass kaum 30 % der Befragten, die erklärten, sie seien an europäischen Themen interessiert (der Prozentsatz liegt entsprechend für die Gesamtbevölkerung deutlich niedriger), im Stande waren, drei grundlegende Fragen korrekt zu beantworten (Anzahl der Mitgliedstaaten, Wahl oder Ernennung der europäischen Abgeordneten, Vertretung aller Nationalitäten in der Kommission — ja oder nein). Um dieser chronischen Uninformiertheit zu begegnen, müssten Maßnahmen eingeleitet werden wie:

    5.2.1

    ein Wettstreit der nationalen Medien zu europäischen Themen mit Anreizen, der Information über die politische Arbeit der EU mehr Platz einzuräumen;

    5.2.2

    Förderung und Koordinierung dieser Initiativen in den Medien mit eventueller Unterstützung durch eine Europäische Agentur für den audiovisuellen Sektor, die mit möglichen ähnlichen Einrichtungen in den Mitgliedstaaten zusammenarbeiten könnte.

    5.3

    Im Hinblick auf die Arbeitsweise der europäischen Institutionen wurde in den jüngsten Verträgen dem Mitentscheidungsverfahren, das dem Europäischen Parlament allerdings einen berechtigten Zugewinn an Rechten beschert, mehr Raum gewidmet als den Konsultationsverfahren, wo zahlreiche sinnvolle Verbesserungen hätten vorgenommen werden können.

    5.3.1

    In der Praxis lassen sich insbesondere in Folge des 2002 vorgelegten Weißbuchs der Kommission für ein besseres europäisches Regieren bereits erste wirkliche Fortschritte verzeichnen: häufigerer Einsatz der Grünbuchmethode, öffentliche Konsultationen im Internet (auch wenn ihr praktischer Nutzen weiterhin unterschiedlich groß ist), Ersuchen an den EWSA um Sondierungsstellungnahmen, d.h. in einem früheren Stadium der Rechtsetzungsvorbereitungen.

    5.3.2

    Bei den noch ausstehenden Fortschritten wäre eine systematischere Anfertigung von Folgeanalysen im Zusammenhang mit Kommissionsvorschlägen zu nennen. Diese sollten insbesondere der Frage nach dem zusätzlichen Nutzen und der tatsächlichen Vereinfachung für Bürger und Betroffene, zugleich aber auch der Frage nach möglichen Alternativen für eine klassische Reglementierung nachgehen und den jeweiligen Vorschlag stets begleiten. Insbesondere wird eine wirksame Vereinfachung der Regelungen nicht gewährleistet werden können ohne eine vorherige Einbeziehung von Vertretern der betroffenen Kreise und ohne parallele Programme zur Vereinfachung auf den einzelstaatlichen Ebenen.

    5.3.3

    Auch auf eine bessere Qualität der Konsultationen müsste geachtet werden: die Kommission müsste insbesondere ihre Maßnahmen im Anschluss an die Debatten belegen und begründen, weshalb bestimmten Möglichkeiten und Argumentationen gegenüber anderen der Vorzug gegeben wurde. Die Konsultationsphase sollte — und dies ist häufig keineswegs der Fall — weiterhin deutlich von der Entscheidungs- oder Mitentscheidungsphase getrennt sein. Abgesehen von dem erwähnten Fall der Sondierungsstellungnahmen wird auch die Effektivität der Konsultationen des Wirtschafts- und Sozialausschusses allzu häufig durch die parallele und gleichzeitige Befassung der Entscheidungsorgane in Frage gestellt.

    5.3.4

    Der Europäische Rat vom März 2006 hat zu Recht gefordert, den Sozialpartnern und den anderen von der Lissabon-Strategie unmittelbar betroffenen Akteuren der Zivilgesellschaft mehr Einfluss in diesem Prozess zuzugestehen. Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss ist zudem erfreut darüber, dass ihm der Europäische Rat erneut den Auftrag erteilt hat, zusammen mit dem Ausschuss der Regionen seinen Beitrag zur Auswertung und Förderung der Umsetzung dieser Strategie zu leisten. Die Netzwerke für den Austausch, die der EWSA zusammen mit den Wirtschafts- und Sozialräten bzw. mit entsprechenden Vertretungsorganen in den Mitgliedstaaten zu diesem Zweck aufgebaut hat, leisten zu dieser bürgernäheren Regierungsführung der EU einen nützlichen Beitrag.

    5.3.5

    Auf nationaler Ebene sollten die Regierungen und die Parlamente vor den Tagungen des Europäischen Rates im Herbst und im Frühjahr systematisch die Sozialpartner konsultieren, um sie an den Grundzügen der Wirtschaftspolitik, den beschäftigungspolitischen Leitlinien und der Umsetzung der Lissabon-Strategie zu beteiligen. Die nationalen Berichte der Mitgliedstaaten sollten sich ausdrücklich auf diese Konsultationen stützen.

    5.4

    Die europäischen Organe und Einrichtungen sollten es nicht nur als ihre Aufgabe ansehen, die Bürger und ihre Vertretungsorgane vor der Verabschiedung von Vorschlägen oder Leitlinien, die sie betreffen, angemessen zu konsultieren, sondern eine solche Konsultation auch im Falle einer dauerhaften Blockade oder im Falle der Rücknahme eines Rechtsetzungsvorschlags durchführen. Ziel dabei soll sein:

    die Gründe, Argumente und genauen Verantwortlichkeiten, die einer Blockade im Rat oder der Rücknahme eines Vorschlags durch die Kommission zugrunde liegen, aufzudecken;

    den Standpunkt der Vertreter der Zivilgesellschaft zu den Aussichten eines alternativen Ansatzes zur Bekämpfung der schlimmsten Folgen dieser Blockade oder Rücknahme in Erfahrung zu bringen.

    5.5

    Ein weiterer großer Schritt auf dem Weg zu einer wahrnehmbaren und mit Wirkungskraft ausgestatteten Unionsbürgerschaft wäre die stärkere Förderung der Ko- und der Selbstregulierung. Diese sieht vor, die wirtschaftlichen und sozialen Akteure selbst in die Festsetzung der wirtschafts- und sozialpolitischen Regelungen, die sie unmittelbar betreffen, einzubeziehen und nicht bloß zu konsultieren.

    5.5.1

    Erst mit dem Vertrag von Maastricht 1992 wurde die Vertragsfähigkeit der europäischen Sozialpartner im Rahmen eines autonomen Dialogs auf branchenübergreifender ebenso wie auf sektoraler Ebene offiziell anerkannt. Weitere zehn Jahre vergingen, ehe durch ein im Dezember 2003 zwischen dem Parlament, dem Rat und der Kommission abgeschlossenes europäisches interinstitutionelles Abkommen die zivilgesellschaftlichen Ansätze der Selbst- und der Koregelierung in vollem Umfang für andere Bereiche anerkannt sowie ihr Begriff und ihre Modalitäten näher bestimmt wurden.

    5.5.2

    Diese Verfahren haben bereits eine beträchtliche Entwicklung genommen und betreffen, über den sozialen Dialog hinaus, insbesondere Bereiche wie technische Normung, Verhaltenskodizes für Berufsgruppen, Dienstleistungen, Verbraucherrechte, die Kennzeichnung von energiesparenden Geräten und Umweltschutz (5). Nach wie vor wird ihr Potenzial jedoch nicht ganz ausgeschöpft, auch wenn alle europäischen Bürger bereits heute in der einen oder anderen Form mit ihnen in Berührung kommen.

    5.5.3

    Damit die Unionsbürgerschaft in den Grenzregionen voll zum Tragen kommen kann, wäre es insbesondere nützlich, die Entwicklung von grenzüberschreitenden Tarifverhandlungen zu fördern, wie dies die Kommission 2005 in ihrer Mitteilung zur Sozialagenda in Erwägung zieht.

    5.5.4

    Der Ausbau der Selbst- und Koregulierung sollte, in Ergänzung zu den Maßnahmen des Gesetzgebers und gegebenenfalls unter seiner Kontrolle, in zahlreichen Bereichen Fortschritte für Europa und die Bürgerschaftsrechte der Europäer ermöglichen, so zum Beispiel:

    bei zahlreichen Aspekten der Arbeitsbeziehungen, die den Arbeitsplatz, die Arbeitsbedingungen, die Berufsaus- und Weiterbildung, die Mitbestimmung, den Sozialschutz betreffen können;

    bei der Verwirklichung eines echten europäischen Marktes für Dienstleistungen;

    bei der Stärkung der Verbraucherrechte im Binnenmarkt;

    bei der Verbesserung der Umwelt.

    5.5.5

    Der EWSA hat seinerseits einen systematischen Ansatz zur Erfassung und Förderung von alternativen Regulierungs- und Streitbeilegungsverfahren eingeführt, insbesondere durch seine Anhörungen und seine gerade aktualisierte Datenbank PRISM 2, der wichtigsten Referenz zum Stand der Selbstregulierung in Europa.

    5.6

    Sowohl die klassische europäische Rechtsetzung (Richtlinien, Verordnungen) als auch die Ko- und Selbstregulierung sollten zu einer Vertiefung und einem besseren Funktionieren des Binnenmarktes beitragen. Die europäischen Bürger sollten sich diesen Binnenmarkt als eine natürliche Dimension ihrer Initiativen und ihrer Tätigkeit zu eigen machen können.

    5.6.1

    Obwohl der Binnenmarkt für die Kräfte der Wirtschaft einen natürlichen Rahmen des Wetteifers und des Wettbewerbs darstellt, sollte er nicht in frontale und systematische Opposition zu den Konzepten „Gemeinwirtschaft“ und „Dienstleistung von allgemeinem Interesse“ gesetzt werden, die ebenfalls auf europäischer Ebene aufgewertet werden sollten. Die verschiedenen europäischen Agenturen, die in diversen Mitgliedstaaten geschaffen wurden, um zum Funktionieren einzelner Aspekte des Binnenmarktes beizutragen, sollten sich bei der Ausübung ihrer Funktionen einen wirklich „europäischen Gemeinwohlauftrag“ geben. Solche Leitlinien könnten bei der Diskussion über die Öffnung der europäischen Märkte für Leistungen der Daseinsvorsorge von Nutzen sein. Sie würden einen Beitrag dazu leisten, den vereinfachenden Gegensatz zwischen denjenigen, die die öffentlichen Dienstleistungen nur in nationalen Kategorien im Blick haben, und denjenigen, für die eine Öffnung des europäischen Marktes zwangsläufig einer stärkeren Privatisierung gleichkommt, zu überwinden.

    5.6.2

    Auch die EU-Außengrenzen würden langfristig besser von einer gemeinschaftlichen Zollbehörde mit einem einheitlichen Logo als von einzelstaatlichen Stellen verwaltet werden. Ein erster Schritt hierzu wäre, in Zusammenarbeit mit der Europäischen Grenzschutzagentur ein Korps von europäischen Aufsichtsbeamten und Grenzkontrolleuren aufzustellen, allen Zollbeamten eine gemeinsame Grundausbildung zu gewähren und den zur Zeit sehr sporadischen gegenseitigen Austausch auszubauen. Ebenfalls erforderlich wäre die Vereinheitlichung der Tatbestandsmerkmale und der Sanktionen sowie die gegenseitige Anerkennung und Vollstreckung gerichtlicher und verwaltungsrechtlicher Entscheidungen der Mitgliedstaaten untereinander.

    5.6.3

    Europa bedarf auch eines gemeinsamen mobilen und leistungsfähigen Katastrophenschutzsystems, durch das die Mitgliedstaaten und ihre Bürger bei Naturkatastrophen oder terroristischen Anschlägen schnell und wirksam Hilfe erhalten können.

    5.6.4

    Im Hinblick auf die Informierung der Bürger über ihre Rechte und Möglichkeiten innerhalb des Binnenmarktes müssten in allen Mitgliedstaaten die bislang meist unbekannten Solvit-Zentren und andere Europa-Kontaktstellen stärker publik gemacht werden. Diese wurden in allen Mitgliedstaaten eingerichtet, um die Bürger bei der Lösung von Problemen, die ihnen in Zusammenhang mit dem Austausch zwischen Mitgliedstaaten noch immer begegnen, behilflich zu sein. Auch die oben erwähnten europäischen Agenturen haben seit ihrer Gründung wenig für ihre Bekanntheit in der Öffentlichkeit gesorgt. Informationskampagnen könnten diesem Missstand entgegenwirken.

    5.6.5

    Die Informationen über die Funktionsweise der EU und des Binnenmarktes ebenso wie über die entsprechenden Rechte und Freiheiten der Bürger sollten ebenfalls den Erwartungen und der Sprache der Zielgruppe angepasst werden. Häufig ist es notwendig, insbesondere im Hinblick auf die Jugendlichen, deren Fragen und Hoffnungen als Ausgangspunkt zu nehmen und keine fertigen Antworten „ex cathedra“ zu präsentieren. Der Ausbau der Europa-Kontakt- und Informationsstellen sollte somit einhergehen mit der Fähigkeit, im Rahmen eines interaktiven Dialogs, der eine bessere Aufnahme der Informationen über Europa je den nach individuellen Eigenschaften ermöglicht, die Sprache, den Ansatzpunkt und den Blickwinkel der Zielgruppe in vollem Umfang einzubeziehen. Das Internet ist für diesen Katalog von Aufgaben gut geeignet und sollte sowohl von den europäischen Institutionen als auch von den zivilgesellschaftlichen Verbänden im Hinblick auf eine mehr Wirkung entfaltende Unionsbürgerschaft umfassend genutzt werden.

    5.7

    Erheblicher Handlungsbedarf besteht überdies bei der Einbindung der Bürger in die Strukturfondsmaßnahmen. Während in den Bestimmungen zur Verwaltung der finanziellen Unterstützung der Gemeinschaft für die Länder Afrikas, der Karibik und des Pazifik ausdrücklich eine enge Beteiligung der Zivilgesellschaft vorgeschrieben ist (siehe Cotonou-Abkommen), existiert paradoxerweise eine solche Vorschrift nicht für die Mitwirkung der Sozialpartner und anderer Vertreter der europäischen organisierten Zivilgesellschaft an der Kohäsionspolitik der Gemeinschaft.

    5.7.1

    Die von der Kommission für den Zeitraum 2007-2013 vorgeschlagenen strategischen Leitlinien verweisen nur informell auf eine solche Anhörung und Beteiligung; in den vorgeschlagenen Texten, d.h. den Leitlinien bzw. den Strukturfonds-Verordnungen, sind solche ausdrücklichen Bestimmungen nicht vorgesehen.

    5.7.2

    Diesem Missstand müsste dadurch begegnet werden, dass in den Dokumenten eine solche Einbindung festgelegt wird und die betreffenden Bestimmungen von den Organen und Einrichtungen der Gemeinschaft sowie von den Mitgliedstaaten unmittelbar anzuwenden sind.

    6.   Gemeinschaftsinitiativen mit stark identitätsstiftendem Inhalt fördern

    6.1

    Die europäischen Bürger, die von Europa einen Identitätsgewinn zusätzlich zu ihrer nationalen, regionalen und lokalen Verwurzelung erwarten, stellen nur allzu oft fest, dass dieser zusätzliche Nutzen bescheiden bzw. oberflächlich ausfällt. Unbestreitbar haben die Regierenden in Europa nach und nach wesentliche Schritte beschlossen, deren Bedeutung immer mehr zunimmt: die Europahymne und die Europaflagge, den europäischen Reisepass, die gegenseitige Amtshilfe der Botschaften und Konsulate und natürlich die einheitliche Währung, den Euro, der bereits in zwölf Mitgliedstaaten gilt.

    6.1.1

    Diese Fortschritte wurden jedoch nur ganz allmählich erzielt und sind in einem Zusammenhang mit großen Verzögerungen bei der Entstehung einer gemeinsamen Identität in anderen, häufig sehr ähnlichen Bereichen zu sehen. Um hier Abhilfe zu schaffen, müsste der Begriff der Subsidiarität nicht in dem Sinne verstanden werden, dass er nur eine Zuständigkeitsübertragung von oben nach unten bewirkt, sondern so, dass jeder Einzelfall anders ist und häufig auch eine europäische Intervention erfordern kann.

    6.1.2

    In diesem Sinne müssten Initiativen mit stark identitätsstiftendem Charakter gefördert werden, wie zum Beispiel die prioritäre Finanzierung von großen europäischen Projekten, Investitionen in anspruchsvolle europäische Bildungs- und Weiterbildungsprogramme, einschließlich eines freiwilligen europäischen Zivildienstes für junge Menschen, die Heranziehung von Aussagen berühmter Persönlichkeiten über ihre europäische Identität, Investitionen in gleichermaßen anspruchsvolle europäische Kultur- und Medienprogramme unter Festlegung eines gemeinsamen Statuts für Stiftungen und Förderer, Einleitung besonderer Fortschritte bei der wirtschaftlichen und sozialen Integration innerhalb der Eurozone. Des Weiteren müssten Beschlüsse von großer politischer Symbolik gefasst werden, wie zum Beispiel die Wahlen zum Europäischen Parlament am gleichen Tag stattfinden zu lassen, den Europa-Tag in einer glanzvollen Veranstaltung überall offiziell einzuführen oder ab sofort das europäische Initiativrecht für Bürgerinnen und Bürger umzusetzen. Die verschiedenen Vorschläge werden im Folgenden ausgeführt.

    6.2

    Die bescheidenen Mittel des europäischen Haushalts müssten eine zusätzliche Motivation sein, einen größeren Teil davon zur Finanzierung von wirklich europäischen Projekten zu verwenden.

    6.2.1

    Diese finanziellen Mittel müsste insbesondere den Grenzregionen zu gute kommen, die die „Nahtstellen Europas“ sind und deren Kohäsion mehr als die anderer Regionen durch die unzureichende Harmonisierung zwischen den Mitgliedstaaten beeinträchtigt ist. Den wirtschaftlichen und sozialen Akteuren dieser Grenzregionen sollte bei der Konzipierung und organisatorischen Gestaltung von grenzübergreifenden Programmen eine zentrale Rolle zukommen. Ein beträchtlicher, mit jeder finanziellen Vorausschau ansteigender Prozentsatz des EU-Haushalts sollte hierfür vorgesehen werden. Insbesondere müsste das EURES-Programm finanziell besser ausgestattet und seine Aktivitäten in den regionalen Printmedien, Rundfunk- und Fernsehsendungen publik gemacht werden.

    6.2.2

    Diese finanziellen Mittel der Gemeinschaft sollten, mit der Unterstützung effizienter öffentlich-privater Partnerschaften, auch zur Förderung des Ausbaus von transeuropäischen Netzen (Verkehr, Energie, Telekommunikation) im Hinblick auf ein leistungsfähigeres und besser vernetztes Europa aufgewendet werden. Die Tendenz geht zur Zeit jedoch in eine andere Richtung: Dies zeigt der Beschluss des Europäischen Rates vom Dezember 2005, die ursprünglich von der Kommission für diese Netze vorgeschlagenen Haushaltsmittel für den Zeitraum 2007-2013 um die Hälfte zu kürzen — eine Kürzung, die durch ein spätere Übereinkunft mit dem Europäischen Parlament leicht abgemildert wurde.

    6.2.3

    Auch mehr große europäische Industrie- und Technologieprojekte müssten entwickelt und durch den EU-Haushalt oder mit Sonderbeiträgen der interessierten Mitgliedstaaten finanziert werden. Die bereits im Bereich der Luft- und Raumfahrt erzielten Erfolge geben den einzuschlagenden Weg vor. Erfolge dieser Art sind dem Bild von Europa in der Öffentlichkeit sehr förderlich, vermitteln ein gemeinsames Zugehörigkeitsgefühl und tragen zugleich zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit Europas bei. Insbesondere für die Kooperation und Integration von Industrie und Technologie in den Bereichen Verteidigung und Sicherheit bleibt noch viel zu tun.

    6.3

    Überdies sollten großangelegte Initiativen im Bereich Bildung und Weiterbildung, auch zum Thema Europa, zur Stärkung der Unionsbürgerschaft beitragen.

    6.3.1

    Ein gemeinsames Grundwissen über Europa sollte auf allen Bildungsebenen (Grundschule, weiterführende Schule, Hochschule) gewährleistet sein. Das Erlernen von Fremdsprachen sollte stark gefördert und dabei ein gemeinsames Bezugssystem für die verschiedenen Kenntnisniveaus verwendet werden (z.B. Erstellung eines europäischen „Sprachenportfolio“, wie es in der Initiative des Europarates vorgesehen ist). Das Interesse an Europa sollte weniger durch Vorlesungen als durch Austausch, Praktika und Auslandsaufenthalte gewährleistet werden. Partnerschaften sowie europäische Lehrpläne in den Schulen und Universitäten sollten vorrangig unterstützt werden. Auch Journalistenschulen sollten einen umfangreichen europäischen Teil in ihre Lehrpläne aufnehmen.

    6.3.2

    Jungen Menschen sollte die Möglichkeit eines freiwilligen europäischen Zivildienstes offen stehen, der attraktiv ist und zugleich der Weiterbildung dient. Im Gegensatz zu den ersten Erfahrungen dieser Art, von denen bis heute lediglich einige Tausend junge Menschen Gebrauch machten, sollte diese Maßnahme in möglichst großem Umfang genutzt werden. Eine solche Möglichkeit wäre eine nützliche Ergänzung zu den Studentenaustauschprogrammen Erasmus und Leonardo, die mit mehreren Millionen Nutzern bereits sehr erfolgreich sind.

    6.3.3

    Um die Identifizierung mit Europa zu fördern, könnten sich berühmte Persönlichkeiten aus Sport und Kultur bei Informationskampagnen als echte „Europäer“ präsentieren und mit ihrer Persönlichkeit dieses Europazugehörigkeitsgefühl und dieses Bekenntnis zur europäischen Identität öffentlichkeitswirksam vermitteln.

    6.4

    Im gleichen Sinne zu unterstützen wären anspruchsvolle Initiativen zur Förderung der europäischen Kultur und ihrer Verbreitung in den Medien.

    6.4.1

    Der Reichtum der Kultur in Europa sollte stärker genutzt werden, sowohl um die Stärke ihrer gemeinsamen Wurzeln als auch die große Vielfalt ihrer Ausdrucksformen hervorzuheben. So sollten Filme in Originalsprache mit Untertiteln, Werke und Sendungen aus anderen Mitgliedstaaten, durch die auch das Beherrschen und Pflegen von Fremdsprachen erleichtert würde, gefördert werden.

    6.4.2

    Die Europäische Union sollte die Gründung einer europäischen Filmhochschule unterstützen und nach dem Beispiel der „Oscars“ die Verleihung eigener Preise („Etoiles“ oder „Lumières“) als Auszeichnung für die besten Drehbuchautoren, Regisseure und Schauspieler fördern.

    6.4.3

    Der Erfolg eines anspruchsvollen europäischen Kulturprogramms mit vielfachen wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen würde erheblich erleichtert durch eine gemeinsame Unterstützung der Stiftungen und des Förderwesens. Die Erarbeitung eines attraktiven europäischen Statuts in diesen Bereichen würde unmittelbar dazu beitragen, eine solche Kooperation zu intensivieren.

    6.5

    Nicht zuletzt müssten auch in Zusammenhang mit dem Euro einige spezifische Überlegungen angestellt werden. Gegenwärtig scheinen die Länder der Euro-Zone die Einführung des Euro eher als einen End- denn als einen Ausgangspunkt anzusehen. Die Bürger der Euro-Zone könnten diese Haltung zu Recht hinterfragen.

    6.5.1

    Worauf warten denn diese Staaten in wirtschaftlicher Hinsicht, um ihre Integration zu vertiefen, den Finanzhandel zu intensivieren und zu einer besseren Steuerharmonisierung zu gelangen? Weshalb ist die Euro-Gruppe, der die zwölf Finanzminister angehören, noch so weit davon entfernt, die Keimzelle einer Wirtschaftsregierung der Eurozone darzustellen, während die Europäische Zentralbank bereits dem föderalistischen Modell folgt? Wieso ist nicht vorgesehen, dass die Länder der Euro-Zone in Wirtschafts- und Finanzfragen (IWF, G7 usw.) von einem einzigen Repräsentanten vertreten werden und somit insbesondere gegenüber dem Dollar mehr Gewicht erhalten? Weshalb haben die Staaten der Eurozone bislang noch keine enge Zusammenarbeit bei ihren jeweiligen Haushaltsplänen eingeleitet?

    6.5.2

    Wieso bleibt die Eurogruppe trotz der Tatsache, dass der Ruf nach einer effektiveren und konvergenteren Umsetzung der Lissabon-Strategie immer stärker wird, auf die Wirtschafts- und Finanzminister beschränkt und wieso gibt es kein Äquivalent für die Sozialminister? Könnte die Eurogruppe nicht, wenn sie sowohl in Gestalt der Wirtschafts- und Finanzminister als auch der Sozialminister existierte — das Gleiche wäre für die Industrieminister denkbar — effizientere Ansätze für die Wirtschafts- und Sozialreformen entwickeln, im Bereich Forschungsförderung und Umsetzung des Gemeinschaftspatents mit gutem Beispiel vorangehen und zusätzlich zu den einzelstaatlichen Berichten einen gemeinsamen Bericht über die Umsetzung der Lissabon-Strategie vorlegen?

    6.5.3

    Bei diesen Fragen müssten die Bürger der Euro-Zone, insbesondere über ihre repräsentativen Verbände, konsultiert und eng miteinbezogen werden. Zudem müssten sie dazu angeregt werden, eigene Initiativen innerhalb der Euro-Zone zu entwickeln. Die Euro-Zone, Laboratorium einer stärkeren wirtschaftlichen und sozialen Integration, würde somit zugleich zum Laboratorium einer sich deutlicher manifestierenden Unionsbürgerschaft.

    6.5.4

    Dabei müsste natürlich zugleich darauf geachtet werden, dass nicht die Kohäsion der EU insgesamt Schaden nimmt: die Staaten, die nicht Mitglied der Euro-Zone sind, müssten angemessen informiert, konsultiert und im Rahmen des Möglichen eingebunden werden in diese verstärkte Zusammenarbeit, an der sie dann mit der Einführung des Euro in vollem Umfang teilnehmen.

    6.6

    Im rein politischen Bereich würden bestimmte Maßnahmen dazu beitragen, auf dem Weg zu einer stärker wahrnehmbaren und mit mehr Wirkungskraft ausgestatteten Unionsbürgerschaft deutlich voranzukommen; solche Maßnahmen sind zum Beispiel:

    6.6.1

    die allgemeine Wahl zum Europaparlament an ein- und demselben Tag: der sich daran anschließende wirklich europäische Wahlabend könnte die Diskussionen, die Reden und Kommentare in ein ganz anderes Licht rücken und würde den politischen Themen ihre wahre europäische Dimension verleihen anstatt sie fälschlicher- und ungerechtfertigterweise einzig auf ihren nationalen Aspekt zu beschränken, wie dies zur Zeit vielfach der Fall ist;

    6.6.2

    die glanzvolle offizielle Einführung des 9. Mai als Europatag, der europäischer Feiertag sein sollte (ein anderer Feiertag, den die Mitgliedstaaten selbst wählen, könnte dafür gestrichen werden); dieser Tag sollte von deutlich europäisch ausgerichteten Veranstaltungen und Programmen, insbesondere kultureller Art, geprägt sein;

    6.6.3

    die Umsetzung eines europäischen Initiativrechts für Bürgerinnen und Bürger, mit dem die Bestimmungen des Verfassungsvertrages vorweggenommen würden (eine Million Unterschriften in mehreren Mitgliedstaaten). Die Europäische Kommission könnte sich somit ab sofort dazu verpflichten, jeden Vorschlag einer Bürgerinitiative, der die erforderliche Unterstützung erlangt hat, zu prüfen und gegebenenfalls weiterzubehandeln. Sie würde sich in diesem Fall auch dazu verpflichten, öffentlich die genauen Gründe darzulegen, aus denen sie gegebenenfalls beschlossen hat, eine solche Initiative nicht weiter zu verfolgen.

    7.   Schlussfolgerungen

    7.1

    Eine stärker wahrnehmbare und mit mehr Wirkungskraft ausgestattete Unionsbürgerschaft lässt sich allen Erklärungen und Charten zum Trotz nicht verordnen. Man kann sie verdienen und man kann Gebrauch von ihr machen. Sie entwickelt sich und sie ist eine treibende Kraft. Nur indem sie deutlich wahrnehmbar wird, lässt sie sich festigen. Und nur durch ihren Beitrag zum Ausbau einer solchen partizipativen, „horizontalen“ Dimension der europäischen Integration wird die Unionsbürgerschaft die umfassende Akzeptanz und den Bestand der „vertikalen“ Dimension dieser Integration sichern.

    7.2

    Für diese aktive Unionsbürgerschaft müssen deshalb weniger deklaratorische als praktische Instrumente zur Verfügung gestellt werden, an denen es bislang allzu sehr gefehlt hat. Jetzt müssen den europäischen Bürgern die Instrumente an die Hand gegeben werden, die sie erwarten und richtig zu gebrauchen wissen werden. Zweifellos werden sie es dann schaffen, Europa zu der Identität, der Dynamik, der Wettbewerbsfähigkeit und dem Zusammenhalt zu verhelfen, deren Verwirklichung den Staaten heute so schwer fällt.

    7.3

    Um für die Weiterbehandlung der vorliegenden Empfehlungen zu sorgen und zur Förderung wirksamer Fortschritte für die europäischen Bürger beizutragen, hat der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschlossen, eine ständige Gruppe „Aktive Unionsbürgerschaft“ ins Leben zu rufen. Die Aufgaben dieser Gruppe werden sein:

    die Entwicklung der Fortschritte und Verzögerungen auf diesem Gebiet zu beobachten;

    den öffentlichen Dialog mit den Akteuren der Zivilgesellschaft zu fördern;

    Initiativen und vorbildliche Verfahren zu fördern und besser bekannt zu machen.

    7.4

    Als Auftakt und Orientierungshilfe für eine solche Folgemaßnahme wird der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss ein Symposium zur aktiven Unionsbürgerschaft veranstalten, wie er dies in seiner vorangehenden Stellungnahme „Aktionsprogramm Aktive Bürgerschaft“  (6) bereits vorgesehen hatte.

    Brüssel, den 14. September 2006

    Die Präsidentin

    des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

    Anne-Marie SIGMUND


    (1)  Stellungnahme des EWSA zum Thema „Beitrag zum Europäischen Rat am 15./16. Juni 2006 — Phase des Nachdenkens“. (Berichterstatter: Herr MALOSSE).

    (2)  Stellungnahme des EWSA vom 26.10.2005 zu dem „Vorschlag für einen Beschluss des Europäischen Parlaments und des Rates über das Programm ‚Bürger/innen für Europa‘ für den Zeitraum 2007-2013 zur Förderung einer aktiven europäischen Bürgerschaft“, Berichterstatter: Herr LE SCORNET (ABl. C 28 vom 3.2.2006).

    (3)  Stellungnahme des EWSA vom 26.4.2002 zum Thema „Ein Europäisches Rechtsstatut für KMU“, Berichterstatter: Herr MALOSSE (ABl. C 125 vom 27.5.2002, S. 100).

    (4)  Stellungnahme des EWSA zu dem „Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Verbesserung der Portabilität von Zusatzrentenansprüchen“, Berichterstatterin: Frau ENGELEN-KEFER.

    (5)  Siehe dazu den von der Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion und Verbrauch am 11. Januar 2005 angenommenen Informationsbericht „Aktueller Stand der Koregulierung und der Selbstregulierung im Binnenmarkt“, Berichterstatter: Herr VEVER.

    (6)  EWSA-Stellungnahme vom 26.10.2005 zu dem „Vorschlag für einen Beschluss des Europäischen Parlaments und des Rates über das Programm ‚Bürger/innen für Europa‘ für den Zeitraum 2007-2013 zur Förderung einer aktiven europäischen Bürgerschaft“, Berichterstatter: Herr LE SCORNET (ABl. C 28 vom 3.2.2006).


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