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Document 52021IE2589

    Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Atypische Beschäftigung und Plattformgenossenschaften im Kontext der Digitalisierung der Industrie“ (Initiativstellungnahme)

    EESC 2021/02589

    ABl. C 152 vom 6.4.2022, p. 38–43 (BG, ES, CS, DA, DE, ET, EL, EN, FR, HR, IT, LV, LT, HU, MT, NL, PL, PT, RO, SK, SL, FI, SV)

    6.4.2022   

    DE

    Amtsblatt der Europäischen Union

    C 152/38


    Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Atypische Beschäftigung und Plattformgenossenschaften im Kontext der Digitalisierung der Industrie“

    (Initiativstellungnahme)

    (2022/C 152/06)

    Berichterstatter:

    Giuseppe GUERINI

    Ko-Berichterstatter:

    Erwin DE DEYN

    Beschluss des Plenums

    25.3.2021

    Rechtsgrundlage

    Artikel 32 Absatz 2 der Geschäftsordnung

     

    Initiativstellungnahme

    Zuständige Fachgruppe

    Beratende Kommission für den industriellen Wandel (CCMI)

    Annahme in der Fachgruppe

    10.11.2021

    Verabschiedung im Plenum

    8.12.2021

    Plenartagung Nr.

    565

    Ergebnis der Abstimmung

    (Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

    219/0/10

    1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

    1.1.

    Die digitale Plattformökonomie ist ein Phänomen, das sich rasch ausweitet und über die Grenzen der EU hinausgeht. Im Zuge dieser Expansion haben auch die Beschäftigungsverhältnisse der Menschen, die über digitale Plattformen arbeiten, vielfältige Formen angenommen: Sie sind als Selbstständige oder freie Mitarbeiter mit Unterbrechungen tätig oder arbeiten auf der Grundlage individuell angepasster Verträge. In diesem Zusammenhang können Arbeitnehmergenossenschaften ein interessantes Instrument sein, um die im Rahmen digitaler Plattformen geschlossenen Beschäftigungsverhältnisse beständiger zu machen.

    1.2.

    Angesichts der Bedeutung dieses Phänomens hält es der EWSA für zweckmäßig und notwendig, dass die EU und die Mitgliedstaaten die Einführung geeigneter Vorschriften koordinieren, damit darin sowohl dem Innovationsbedarf als auch dem Schutz der Rechte der Arbeitnehmer im Zusammenhang mit digitalen Plattformen in ausgewogener Weise Rechnung getragen wird, wie das für die Rechte der Verbraucher und Nutzer in den Verordnungsentwürfen für das DSA und das DMA vorgesehen ist.

    1.3.

    Digitale Plattformen fördern außerdem die Entwicklung neuer Unternehmensformen, die vielen Menschen mehr Möglichkeiten einer aktiven Teilhabe an den neuen digitalen Märkten bieten können. Unter diesen Unternehmensformen sind Genossenschaften insofern besonders interessant, als sie eine inklusive Beteiligung an der Verwaltung der digitalen Plattformen fördern.

    1.4.

    Die Form der Genossenschaft ermöglicht die Entwicklung von Unternehmen durch Selbstständige mit dem Ziel, ihre Autonomie und Kreativität zu bewahren und gleichzeitig ihr Einkommen, die Arbeitsbedingungen und den Zugang zu sozialem Schutz zu verbessern, wobei atypische Beschäftigungsverhältnisse vermieden werden.

    1.5.

    Der EWSA stellt fest, dass diese Form die Merkmale digitaler Plattformen mit dem Organisationsmodell von Arbeitnehmergenossenschaften verknüpft, aber auch ermöglicht, dass die Mitglieder und zugleich Beschäftigten gegebenenfalls den Status abhängig Beschäftigter haben, wobei dann alle in den einschlägigen Tarifverträgen vorgesehenen Garantien für Arbeitnehmer gelten.

    1.6.

    Der EWSA fordert die Europäische Kommission, die EU-Mitgliedstaaten und die am sozialen Dialog beteiligten Akteure auf, insbesondere hinsichtlich der Umsetzung des Aktionsplans für die Sozialwirtschaft Förderinitiativen zur Entwicklung von Plattformgenossenschaften vorzusehen, die mithilfe neuer Technologien junge Arbeitnehmer und Unternehmer in Kooperativen zusammenbringen und damit den Unternehmergeist fördern.

    1.7.

    Die wirksame Umsetzung dieser Initiativen erfordert die Einbeziehung aller Interessenträger. Deshalb kann der soziale Dialog eine Schlüsselfunktion haben und ist der EWSA bereit, zur Förderung von Plattformgenossenschaften beizutragen.

    1.8.

    Digitale Plattformen kennen keine Landgrenzen. Darüber hinaus gilt auf dem Gebiet der EU das Herkunftslandprinzip. Der Erfolg dieser Initiativen hängt daher von einem gemeinsamen Verständnis und einer gemeinsamen Anwendung bei diesen Fragen ab. Der EWSA fordert, besonderes Augenmerk auf die Gefahr einer Fragmentierung des Binnenmarkts zu legen, die sowohl den Plattformen als auch ihren Beschäftigten zum Nachteil gereichen würde.

    1.9.

    Der EWSA hält es für sinnvoll, dass die Umsetzung der europäischen Strategie für den digitalen Wandel auch Initiativen zur Förderung der Gründung von Genossenschaften umfasst, die digitale Plattformen betreiben. Damit wird auch der Kollektivbesitz von digitalen Diensten, Daten und technologischen Infrastrukturen gefördert und eine stärkere Diversifizierung des wirtschaftlichen Umfelds und eine Verbreitung der Wirtschaftsdemokratie ermöglicht.

    1.10.

    Der EWSA stellt fest, dass Genossenschaften als autonome Organisationen, in denen sich Menschen freiwillig zusammenschließen, um ihre gemeinsamen sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Bedürfnisse mittels demokratischer und partizipativer Strukturen zu befriedigen, gerade für das Problem der Verwaltung und demokratischen Kontrolle digitaler Plattformen eine interessante Lösung bieten.

    1.11.

    Der EWSA ist der Ansicht, dass die Vorschläge der Kommission zur Regulierung der Plattformarbeit auf einem innovationsorientierten Ansatz beruhen sollten, der die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen fördert, ohne den Schutz der Arbeitnehmerrechte aus den Augen zu verlieren. Es geht insbesondere darum, dass Plattformarbeiter geschult und befähigt werden, die Funktionsweise der Algorithmen, die ihre Beschäftigung regeln, besser zu verstehen und zu kontrollieren.

    2.   Einleitung und Hintergrund

    2.1.

    Im Zuge des schnellen Wandels der Wirtschaft und der Unternehmen erlangt die Digitalisierung eine wichtige strategische Funktion: Sie durchdringt alle Tätigkeitsbereiche und ist inzwischen für die gesamte Wertschöpfungskette von Produkten und Dienstleistungen von Bedeutung, was für große Firmen, aber auch Klein- und Kleinstunternehmen gilt. Dies hat erhebliche Folgen im Sinne neuer Chancen und Herausforderungen für die Arbeitswelt sowohl hinsichtlich der Inhalte als auch der Geschwindigkeit des Auftretens der Veränderungen.

    2.2.

    Infolge der raschen Digitalisierung entstehen neue Formen der Arbeit und der Unternehmensorganisation. Die Plattformarbeit erfordert unter anderem neue und flexible Lösungen, die mit den derzeitigen Rechtsvorschriften nicht immer geregelt werden können.

    2.3.

    Der derzeitige rasche Wandel hat hier Lücken aufgezeigt, die die Rechtssicherheit beeinträchtigen. Deshalb sind der soziale Dialog und die Tarifverträge ein wichtiger Rahmen für die Verhandlungen über neue Vorschriften für die Plattformarbeit. Viele Mitgliedstaaten haben Schritte unternommen, um den Beschäftigungsstatus von Plattformarbeitern zu klären. In diesem Sinne sollten mit einer Regulierungsinitiative der Kommission Vereinbarungen gefördert werden, die auch mit den Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt Schritt halten und die notwendigen Garantien für den sozialen Schutz der Arbeitnehmer gewährleisten.

    2.4.

    Der Begriff „digitale Plattformen“ kann sich auf eine Vielzahl von Modellen beziehen, darunter soziale Netzwerke, Online-Verkaufsportale, Websites für Finanzdienstleistungen oder die Bereitstellung und Verwaltung von Ressourcen und Daten. Der Schwerpunkt dieser Stellungnahme liegt jedoch konkret auf dem Beschäftigungsaspekt. Dabei stehen Unternehmen im Vordergrund, die mithilfe von Anwendungen (Apps) oder Websites operieren. Besonderes Augenmerk gilt hier der Sonderform digitaler Plattformgenossenschaften.

    2.5.

    Die Europäische Kommission untersucht derzeit die Auswirkungen auf die Arbeitsbedingungen von Plattformarbeitern und hat dazu eine Konsultation eingeleitet (Beginn der ersten Phase: 24. Februar 2021, zweite Phase: 15. Juni bis 15. September 2021). Im Rahmen dieser Konsultation fragt die Kommission die Sozialpartner, ob sie gesetzgeberisch tätig werden sollte. Im Mittelpunkt stehen dabei sieben Interventionsbereiche: 1. Beschäftigungsstatus, 2. Arbeitsbedingungen, 3. Zugang zum Sozialschutz, 4. Zugang zu Arbeitnehmervertretung und Tarifverhandlungen, 5. grenzüberschreitende Dimension, 6. Überwachung der Algorithmen, 7. Fortbildung und Beschäftigungsmöglichkeiten für Menschen, die über Plattformen arbeiten.

    2.6.

    Digitale Plattformen schaffen einen „virtuellen Raum“ für Interaktion und Austausch, die über die bloße Abstimmung zwischen Angebot und Nachfrage weit hinausgehen. Dabei entstehen immer ausgeklügeltere Möglichkeiten der Kontrolle und des Einflusses in Bezug auf Arbeitnehmer, Anbieter und Nutzer, wobei neue Dienstleistungen für die Kunden und neue Beschäftigungsformen angeboten werden. Ermöglicht wird dies durch Profilingsysteme und eine umfassende Datennutzung mittels KI-Systemen und Algorithmen, die von den Plattform-Entscheidern verwaltet werden.

    2.7.

    Dank einer ausgefeilten Marketingstrategie, die den Menschen, die mit Plattformen interagieren, suggeriert, dass sie die Protagonisten eines gleichberechtigten horizontalen Prozesses sind, präsentieren und definieren sich die Plattformen als Foren für unmittelbare und unvermittelte Kontakte. In Wahrheit sind sie aber nie vollkommen dezentral oder neutral; vielmehr beruhen sie selbst auf aktiver Vermittlung und auf einer festen — wenngleich häufig nicht gut sichtbaren — Hierarchie.

    2.8.

    Es gibt in der EU und der Mitgliedstaaten zwar einen umfassenden Rechtsrahmen für verschiedene Beschäftigungsformen, der sich aber nicht immer auf Plattformen anwenden und umsetzen lässt. Hier sollten Information, sozialer Dialog und gegenseitiges Lernen gefördert werden, um eine robuste und nachhaltige Entwicklung digitaler Plattformen zu erleichtern und zu unterstützen und um so die Zusammenarbeit und das Vertrauen zwischen den Akteuren des digitalen Marktes zu stärken. Statt mit übereilten, die Innovation behindernden Legislativmaßnahmen lassen sich die sich schnell verändernden Gegebenheiten besser durch den sozialen Dialog und Tarifverhandlungen regeln.

    2.9.

    Es liegt jedenfalls auf der Hand, dass eine gute Rechtsetzung sowohl für Spielraum für bedeutende Innovationen, die die digitalen Technologien hervorbringen können, als auch für die Anerkennung der Arbeitnehmerrechte bei diesen neuen Formen der Arbeitsorganisation sorgen muss. In diese Veränderungen einzugreifen bedeutet, das Entwicklungsmodell aktiv zu lenken, das nach Auffassung des EWSA ökologischen und sozialen Aspekten besonders Rechnung tragen muss.

    2.10.

    Vor dem Hintergrund des weltweiten digitalen Wandels müssen auf allen Ebenen geeignete Maßnahmen erwogen werden, um eine nachhaltige Digitalisierung zu unterstützen, die mit einem angemessenen und für die verschiedenen Akteure des digitalen Marktes, insbesondere die Vertreter der Plattformen, klar verständlichen europäischen Rechtsrahmen geregelt wird. Die europäischen Institutionen haben damit begonnen, dieses Thema unter verschiedenen Gesichtspunkten zu beleuchten, und der EWSA hat bereits mehrere Stellungnahmen (1) zu Fragen der Besteuerung (2) und der Regulierung des digitalen Marktes (3) und sowie zu beschäftigungsspezifischen Aspekten (4) verabschiedet.

    2.11.

    Im allgemeinen Kontext sich ändernder Arbeitsbedingungen können immer mehr Menschen über digitale Plattformen selbstständig erwerbstätig sein, wie in der von der Kommission im Januar 2021 veröffentlichten Folgenabschätzung (5) hervorgehoben wird. Das Fehlen eines geeigneten Rechtsrahmens könnte Formen der Scheinselbstständigkeit Vorschub leisten. Eine Tätigkeit als Selbstständiger muss bestimmte Kriterien erfüllen, z. B. Autonomie, freiwillige Beteiligung der Parteien, Selbstbestimmung bei der Arbeitsorganisation und Unabhängigkeit.

    2.12.

    Die Analyse der Europäischen Kommission zeigt, dass Plattformarbeiter möglicherweise nicht über angemessene Informationen und Erkenntnisse darüber verfügen, wie mithilfe von Algorithmen bestimmte Entscheidungen getroffen werden, die sich auf ihre Arbeitsbedingungen auswirken können. Ein mangelndes Verständnis dieser Prozesse und fehlende Informationen darüber können zu Problemen führen, insbesondere im Zusammenhang mit der digitalen Überwachung und Datenverwaltung, wenn Planung und Verwaltung auf der Grundlage von Algorithmen Folgen für die Arbeitsbedingungen haben. Aus diesem Grund ist der soziale Dialog von wesentlicher Bedeutung.

    2.13.

    Sowohl Unternehmen als auch Arbeitnehmer benötigen ein ausreichendes Maß an Bewusstsein und Rechtssicherheit in Bezug auf die Arbeitsverträge, die für Plattformarbeiter gelten und die eine angemessene Entlohnung und einen Zugang zu Sozialschutz und Tarifverhandlungen gewährleisten. Ebenso muss es klare Kriterien für die Einstufung als Arbeitgeber und als Selbstständiger geben. Der EWSA hat sich dazu klar geäußert in seiner auf Ersuchen des deutschen EU-Ratsvorsitzes vom zweiten Halbjahr 2020 erstellten und 2021 verabschiedeten Stellungnahme SOC/645 „Faire Beschäftigungsbedingungen in der Plattformökonomie“.

    2.14.

    In der digitalen Plattformökonomie haben Genossenschaften, wie die Kommission selbst feststellt, erfolgreich Modelle entwickelt, die es ermöglichen, Unternehmertum, soziale Rechte und angemessene Arbeitsbedingungen in produktiver Weise miteinander zu verknüpfen (6).

    3.   Allgemeine Bemerkungen

    3.1.

    Die erheblichen und raschen Veränderungen im Zuge der Digitalisierung der Wirtschaft und des sozialen Lebens bringen neue Anforderungen in Bezug auf Flexibilität und Anpassungsfähigkeit mit sich und erweitern die Möglichkeiten für selbstständiges Arbeiten. Gelegentlich führen sie jedoch zu einer neuen Zerstückelung und Aufsplittung der Arbeit — ein Prozess, der nicht nur in Phasen (wie etwa bei der herkömmlichen Fließbandarbeit), sondern auch räumlich und zeitlich verläuft. Das führt dazu, dass die Grenzen zwischen Beruf und Privatleben der an bestimmten Phasen des Prozesses beteiligten Personen verschwimmen.

    3.2.

    Hier geht es um ein komplexes Phänomen, das auch hochqualifizierte Erwerbstätige betrifft, denen im Rahmen von Verträgen als Selbstständige oder Freiberufler Teile des Produktionsprozesses übertragen werden, etwa im Bereich der Computerprogrammierer, Datenanalysten und Anwendungsentwickler oder der vielen Anbieter von zunehmend dezentral erbrachten ergänzenden Dienstleistungen.

    3.3.

    Die COVID-19-Krise hat gezeigt, dass die ordnungsgemäße Anwendung und Umsetzung der EU- und einzelstaatlichen Vorschriften, in denen der notwendige Schutz der Erwerbstätigen mit sog. „atypischen Arbeitsverträgen“ (7) gewährt wird, in vielen Mitgliedstaaten nach wie vor ein ungelöstes Problem ist.

    3.4.

    Mit dem Aufkommen digitaler Plattformen als Instrument, um Arbeitskräfte zu finden, wird in vielen Fällen auf Vertragsformen zurückgegriffen, die auf dem Konzept der Selbstständigkeit beruhen — auch dann, wenn die betreffenden Arbeitnehmer nicht wirklich selbstständig und unabhängig tätig sind. In einigen Fällen hat dieser Ansatz eher dazu gedient, die Arbeitskosten niedrig zu halten, statt die Autonomie bei der Arbeitsorganisation zu maximieren. In der Folge stieg in mehreren europäischen Ländern auch die Zahl der diesbezüglichen Rechtsstreitigkeiten. Allerdings liegt auf der Hand, dass ein sich derart rasant veränderndes Phänomen nicht durch Gerichte und Rechtsstreitigkeiten regeln lässt, sondern vielmehr praktikable Lösungen erfordert, mit denen die aktuellen weitreichenden Veränderungen angemessen aufgegriffen und verstanden werden.

    3.5.

    Vor diesem Hintergrund ermöglichen Genossenschaften die Entwicklung von Unternehmen, in denen sich selbstständig Erwerbstätige zusammenschließen (Selbstständigengenossenschaften) mit dem Ziel, ihre Autonomie und Kreativität zu bewahren und gleichzeitig ihr Einkommen, die Arbeitsbedingungen und den Zugang zu sozialem Schutz zu verbessern. Darüber hinaus können in der traditionelleren Form der Genossenschaft (Arbeitnehmergenossenschaften) die Merkmale digitaler Plattformen mit dem Organisationsmodell der Arbeitsgenossenschaft verknüpft werden, das sich durch eine demokratische Struktur und die im nationalen Arbeitsvertragsrecht vorgesehenen Garantien für Arbeitnehmer auszeichnet.

    3.6.

    Eine Plattformgenossenschaft ist ein demokratisch und unter Beteiligung der Interessenträger geführtes Unternehmen in Form einer Genossenschaft, deren Produktion und Austausch von Waren und Dienstleistungen über IT-Infrastrukturen und Protokolle erfolgen, die mit verschiedenen stationären und mobilen Geräten interagieren.

    3.7.

    Wie alle Genossenschaften gehören Plattformgenossenschaften denjenigen, die überwiegend von ihnen abhängig sind — in diesem Fall den Arbeitnehmern, Nutzern und anderen Interessenträgern, denen auch die Leitung der Plattform obliegt. Natürlich geschieht dies im Rahmen entsprechender Vertragsverhältnisse der Mitglieder und zugleich Beschäftigten, sei es als abhängig Beschäftigte oder als Selbstständige.

    3.8.

    Das Genossenschaftsmodell prägt nicht nur die Unternehmensform und die Beziehungen zwischen den Akteuren, sondern hat auch einen maßgeblichen Einfluss auf die Entscheidungsabläufe bezüglich des Funktionsalgorithmus. So trägt das Modell auch dazu bei, „[…] für einen besseren Vorteilsausgleich zwischen den Produzenten und Dienstanbietern [zu] sorgen und die Bürger/Verbraucher in die Governance, Beschlussfassung und Nutzenverteilung ein[zu]beziehen“, wie der EWSA kürzlich in seiner Stellungnahme NAT/794 (8) festgestellt hat.

    3.9.

    In diesem Sinne kann die Förderung der Gründung von Unternehmen, in denen sich diese Erwerbstätigen zu einer Genossenschaft zusammenschließen, zur Entwicklung neuer Unternehmensformen beitragen. Ein solcher Zusammenschluss ist für die beteiligten Akteure insofern nutzbringend, als nicht nur die (internen und externen) Geschäftschancen erweitert, sondern auch die Kosten und Vorteile vergemeinschaftet werden. Sofern die nationalen Rechtsvorschriften dies zulassen, ermöglichen solche Genossenschaften ihren selbständigen Mitarbeitern häufig den Zugang zu den bestehenden Sozialschutzsystemen.

    3.10.

    Unternehmergeist, unternehmerische Fähigkeiten und Selbstständigkeit sind maßgebliche Wachstumshebel. Die eigenständige Gründung eines Unternehmens ist jedoch schwierig, insbesondere für junge Menschen. Daher sollten diese Genossenschaftsformen entwickelt werden, die dank der neuen Technologien den Unternehmergeist fördern können, indem sie jungen Menschen ungeachtet ihres rechtlichen Status (abhängig Beschäftigte oder Selbstständige) eine kooperative Tätigkeit ermöglichen.

    3.11.

    Die arbeitsrechtlichen Vorschriften und die Systeme der sozialen Sicherheit wurden für reguläre Beschäftigungsformen entwickelt und sind heute offenbar nicht mehr geeignet, um den Bedürfnissen von Erwerbstätigen gerecht zu werden, die trotz atypischer Arbeitsverträge sozialen Schutz und angemessene Formen von Tarifverhandlungen benötigen. Viele der Herausforderungen, die sich gegenwärtig durch den Wandel der Arbeit und die Digitalisierung stellen, haben die Genossenschaften ermutigt, auf die Bedürfnisse der Arbeitnehmer einzugehen, die im geltenden institutionellen Rahmen nicht erfüllt werden. Gleichzeitig versuchen sie, die Selbstverwirklichung der Mitarbeiter zu fördern, indem sie sie dazu anhalten, Eigentumsanteile zu erwerben.

    3.12.

    In Bezug auf die Mitarbeiter, die ihre Selbstständigkeit gewährleistet wissen wollen (also ungeachtet des Phänomens der „Scheinselbstständigkeit“), ist festzustellen, dass in jüngster Zeit als Reaktion auf die erhebliche Zunahme neuer Arbeitsformen neue Genossenschaftsformen entstanden sind. Letztere könnten hervorragend zur Verbreitung unternehmerischer Kompetenzen und die Vergemeinschaftung von Kosten und Vorteilen beitragen. Insbesondere könnten dank neuer Technologien im Rahmen einer neuen Wirtschaftsform wie der Plattformökonomie Genossenschaften genutzt werden, um vielen Selbstständigen die Möglichkeit zu geben, Eigentümer der betreffenden Plattformen zu werden und so den negativen Tendenzen zur Vereinzelung entgegenzuwirken (9).

    3.13.

    Die Grundidee der Plattformgenossenschaften ist offenkundig: Neue Geschäftsmodelle, die auf dem Internet und Online-Plattformen basieren, können mit dem Genossenschaftsmodell kombiniert werden, indem den Menschen, die Online-Plattformen nutzen und dort arbeiten, Eigentums- und Kontrollrechte übertragen werden. Diese innovativen Unternehmensformen können zu mehr hochwertigen Arbeitsplätzen in der Plattformökonomie führen und die digitale Wirtschaft partizipativer machen.

    3.14.

    Genossenschaftlich organisierte digitale Plattformen schaffen somit ein Geschäftsmodell, das digitale Technologien, Websites und verbreitete Apps nutzt und auf der Grundlage demokratischer Entscheidungsfindung und gemeinsamen Eigentums der Interessenträger funktioniert.

    3.15.

    Somit ist die Rechtsform der Genossenschaften, die über digitale Plattformen operieren, auch gut geeignet für Börsen, die den Austausch und die gemeinsame Nutzung von Daten anbieten. Dies ist eine Möglichkeit, die zunehmend von Unternehmen und insbesondere KMU genutzt werden könnte, für die es besonders schwierig sein kann, Schnittstellen für die Verwaltung und den Austausch von Daten einzurichten. Dadurch können beispielsweise zusammengeschlossene KMU die Steuerung der entsprechenden Strukturen beibehalten.

    3.16.

    Dieses Potenzial ist auch der Europäischen Kommission nicht entgangen, die in ihrem am 25. November 2020 veröffentlichten Vorschlag für eine Verordnung über die europäische Daten-Governance (Data Governance Act) in Artikel 9 ausdrücklich die Möglichkeit für „Dienste von Datengenossenschaften“ vorsieht, wie auch der EWSA in seiner Stellungnahme INT/921 hervorgehoben hat (10).

    3.17.

    Ein wichtiger Hinweis auf die Rolle, die Genossenschaften bei der Demokratisierung der digitalen Wirtschaft spielen können, findet sich auch im UN-Bericht zur digitalen Wirtschaft 2019 (11) und kürzlich in einem Bericht der IAO (12).

    3.18.

    Es ist wichtig, Plattformarbeitern Mittel an die Hand zu geben, mit denen sie ihre berufliche Laufbahn planen können und Zugang zur beruflichen Weiterentwicklung und Fortbildung erhalten. Wie die Kommission feststellt, sollten Personen, die über digitale Plattformen arbeiten und/oder Dienstleistungen erbringen, ungeachtet ihres Beschäftigungsstatus durch Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen unterstützt werden und Anspruch auf Sozialschutz und insbesondere Arbeitsschutz haben.

    3.19.

    Mit dem Modell digitaler Plattformen — auch in Form von Genossenschaften — kann der Zugang zu Fernunterrichtsangeboten, die das individuelle Lernen erleichtern können, gefördert und verbessert werden.

    3.20.

    Um Digitalisierungsinstrumente nicht nur für Arbeitsabläufe, sondern auch für viele alltägliche Lebensbereiche weitgehend einzusetzen, sind umfassende Kapazitäten zur Vermittlung digitaler Grundkompetenzen erforderlich. Die Akteure des sozialen Dialogs und die europäischen Institutionen sollten den Austausch bewährter Verfahren auf diesem Gebiet fördern, um das Voneinanderlernen zu unterstützen und die Menschen für das Potenzial der Digitalisierung der Wirtschaft zu sensibilisieren. Die Fort- und Weiterbildung der Beschäftigten muss in erster Linie im Zuge des sozialen Dialogs und der Tarifverhandlungen gefördert werden.

    Brüssel, den 8. Dezember 2021.

    Die Präsidentin des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

    Christa SCHWENG


    (1)  https://www.eurofound.europa.eu/data/platform-economy/dossiers.

    (2)  Stellungnahme des EWSA „Besteuerung der kollaborativen Wirtschaft — Berichterstattungspflichten“ (ergänzende Stellungnahme) (ABl. C 364 vom 28.10.2020, S. 62).

    (3)  Stellungnahme des EWSA zum Gesetz über digitale Märkte (ABl. C 286 vom 16.7.2021, S. 64).

    (4)  Stellungnahme des EWSA zur Richtlinie über Arbeitsbedingungen (ABl. C 283 vom 10.8.2018, S. 39).

    (5)  Folgenabschätzung in der Anfangsphase, Tarifverträge für Selbstständige — Anwendungsbereich der EU-Wettbewerbsvorschriften, 6. Januar 2021. Siehe https://ec.europa.eu/info/law/better-regulation/have-your-say/initiatives/12483-Tarifvertrage-fur-Selbststandige-Anwendungsbereich-der-EU-Wettbewerbsvorschriften_de.

    (6)  Ein hervorragendes Beispiel sind die Genossenschaften, die dem Verband CoopCycle angehören. Dabei handelt es sich um Genossenschaften von Fahrradboten, die Mitglieder und zugleich Beschäftigte ihrer Genossenschaft sind. Sie nutzen ihrerseits mit Genossenschaften in anderen Städten eine gemeinsame Software, die Transaktionen und die Geschäftsanbahnung zwischen Arbeitnehmern, Lieferanten und Nutzern ermöglicht: https://coopcycle.org/en/.

    (7)  In der Politik findet das Konzept der atypischen Beschäftigung immer mehr Beachtung, insbesondere in den letzten Jahrzehnten. Siehe z. B. die Studie All For One: https://cecop.coop/works/cecop-report-all-for-one-reponse-of-worker-owned-cooperatives-to-non-standard-employment.

    (8)  Stellungnahme des EWSA „Digitalisierung und Nachhaltigkeit — Status quo und Handlungsbedarf aus Sicht der Zivilgesellschaft“ (ABl. C 429 vom 11.12.2020, S. 187).

    (9)  https://cecop.coop/works/cecop-report-all-for-one-reponse-of-worker-owned-cooperatives-to-non-standard-employment.

    (10)  Stellungnahme des EWSA zur Daten-Governance, ABl. C 286 vom 16.7.2021, S. 38.

    (11)  https://unctad.org/system/files/official-document/der2019_en.pdf.

    (12)  https://www.ilo.org/global/research/global-reports/weso/2021/lang--en/index.htm.


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