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Document 62017CA0411

Rechtssache C-411/17: Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 29. Juli 2019 (Vorabentscheidungsersuchen der Cour constitutionnelle — Belgien) — Inter-Environnement Wallonie ASBL, Bond Beter Leefmilieu Vlaanderen ASBL/Conseil des ministres (Vorlage zur Vorabentscheidung — Umwelt — Übereinkommen von Espoo — Übereinkommen von Aarhus — Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen — Richtlinie 92/43/EWG — Art. 6 Abs. 3 — Begriff „Projekt“ — Prüfung auf Verträglichkeit mit dem betreffenden Gebiet — Art. 6 Abs. 4 — Begriff „zwingende Gründe des überwiegenden öffentlichen Interesses“ — Erhaltung der wildlebenden Vogelarten — Richtlinie 2009/147/EG — Umweltverträglichkeitsprüfung bei bestimmten öffentlichen und privaten Projekten — Richtlinie 2011/92/EU — Art. 1 Abs. 2 Buchst. a — Begriff „Projekt“ — Art. 2 Abs. 1 — Art. 4 Abs. 1 — Umweltverträglichkeitsprüfung — Art. 2 Abs. 4 — Ausnahme von der Prüfung — Schrittweiser Ausstieg aus der Kernenergie — Nationale Rechtsvorschriften, die zum einen vorsehen, dass die industrielle Stromerzeugung eines abgeschalteten Kernkraftwerks für die Dauer von fast zehn Jahren wieder aufgenommen wird, so dass der Zeitpunkt, den der nationale Gesetzgeber ursprünglich für die Stilllegung und die Einstellung des Betriebs dieses Kraftwerks festgelegt hat, um zehn Jahre aufgeschoben wird, und zum anderen, dass der Endtermin, den der nationale Gesetzgeber ursprünglich für die Stilllegung und die Einstellung der industriellen Stromerzeugung eines in Betrieb befindlichen Kraftwerks vorgesehen hat, ebenfalls um zehn Jahre aufgeschoben wird — Fehlende Umweltverträglichkeitsprüfung)

ABl. C 319 vom 23.9.2019, p. 3–5 (BG, ES, CS, DA, DE, ET, EL, EN, FR, HR, IT, LV, LT, HU, MT, NL, PL, PT, RO, SK, SL, FI, SV)

23.9.2019   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 319/3


Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 29. Juli 2019 (Vorabentscheidungsersuchen der Cour constitutionnelle — Belgien) — Inter-Environnement Wallonie ASBL, Bond Beter Leefmilieu Vlaanderen ASBL/Conseil des ministres

(Rechtssache C-411/17) (1)

(Vorlage zur Vorabentscheidung - Umwelt - Übereinkommen von Espoo - Übereinkommen von Aarhus - Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen - Richtlinie 92/43/EWG - Art. 6 Abs. 3 - Begriff „Projekt“ - Prüfung auf Verträglichkeit mit dem betreffenden Gebiet - Art. 6 Abs. 4 - Begriff „zwingende Gründe des überwiegenden öffentlichen Interesses“ - Erhaltung der wildlebenden Vogelarten - Richtlinie 2009/147/EG - Umweltverträglichkeitsprüfung bei bestimmten öffentlichen und privaten Projekten - Richtlinie 2011/92/EU - Art. 1 Abs. 2 Buchst. a - Begriff „Projekt“ - Art. 2 Abs. 1 - Art. 4 Abs. 1 - Umweltverträglichkeitsprüfung - Art. 2 Abs. 4 - Ausnahme von der Prüfung - Schrittweiser Ausstieg aus der Kernenergie - Nationale Rechtsvorschriften, die zum einen vorsehen, dass die industrielle Stromerzeugung eines abgeschalteten Kernkraftwerks für die Dauer von fast zehn Jahren wieder aufgenommen wird, so dass der Zeitpunkt, den der nationale Gesetzgeber ursprünglich für die Stilllegung und die Einstellung des Betriebs dieses Kraftwerks festgelegt hat, um zehn Jahre aufgeschoben wird, und zum anderen, dass der Endtermin, den der nationale Gesetzgeber ursprünglich für die Stilllegung und die Einstellung der industriellen Stromerzeugung eines in Betrieb befindlichen Kraftwerks vorgesehen hat, ebenfalls um zehn Jahre aufgeschoben wird - Fehlende Umweltverträglichkeitsprüfung)

(2019/C 319/03)

Verfahrenssprache: Französisch

Vorlegendes Gericht

Cour constitutionnelle

Parteien des Ausgangsverfahrens

Kläger: Inter-Environnement Wallonie ASBL, Bond Beter Leefmilieu Vlaanderen ASBL

Beklagter: Conseil des ministres

Beteiligte: Electrabel SA

Tenor

1.

Art. 1 Abs. 2 Buchst. a erster Gedankenstrich, Art. 2 Abs. 1 und Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2011/92/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über die Umweltverträglichkeitsprüfung bei bestimmten öffentlichen und privaten Projekten sind dahin auszulegen, dass die Wiederaufnahme der industriellen Stromerzeugung eines abgeschalteten Kernkraftwerks für einen Zeitraum von fast zehn Jahren mit der Folge, dass der Zeitpunkt, den der nationale Gesetzgeber ursprünglich für seine Stilllegung und die Einstellung seines Betriebs festgelegt hat, um zehn Jahre aufgeschoben wird, und das Aufschieben des Endtermins, den der nationale Gesetzgeber ursprünglich für die Stilllegung und die Einstellung der industriellen Stromerzeugung eines in Betrieb befindlichen Kraftwerks vorgesehen hat, um ebenfalls zehn Jahre — Maßnahmen, die mit Arbeiten zur Modernisierung der betreffenden Kraftwerke einhergehen, die sich auf den materiellen Zustand der Gebiete auswirken können — ein „Projekt“ im Sinne dieser Richtlinie darstellen, das grundsätzlich und vorbehaltlich der vom vorlegenden Gericht vorzunehmenden Überprüfung einer Umweltverträglichkeitsprüfung unterzogen werden muss, bevor die Maßnahmen erlassen werden. Der Umstand, dass die Durchführung dieser Maßnahmen mit weiteren Rechtsakten, wie der Erteilung einer neuen individuellen Genehmigung für Stromerzeugung zu industriellen Zwecken an eines der betroffenen Kraftwerke, einhergeht, ist insoweit nicht ausschlaggebend. Die mit diesen Maßnahmen untrennbar verbundenen Arbeiten müssen ebenfalls vor dem Erlass der Maßnahmen einer solchen Prüfung unterzogen werden, falls — was vom vorlegenden Gericht zu prüfen ist — ihre Natur und ihre potenziellen Auswirkungen auf die Umwelt in diesem Stadium hinreichend ermittelbar sind.

2.

Art. 2 Abs. 4 der Richtlinie 2011/92 ist dahin auszulegen, dass es einem Mitgliedstaat nur dann gestattet ist, ein Projekt wie das im Ausgangsverfahren streitige von einer Prüfung seiner Auswirkungen auf die Umwelt auszunehmen, um die Sicherheit seiner Stromversorgung zu gewährleisten, wenn der Mitgliedstaat dartut, dass die Gefahr für die Stromversorgungssicherheit bei vernünftiger Betrachtung wahrscheinlich ist und das fragliche Projekt so dringlich ist, dass es das Unterbleiben einer solchen Prüfung zu rechtfertigen vermag, vorausgesetzt, dass die in Art. 2 Abs. 4 Unterabs. 2 Buchst. a bis c der Richtlinie vorgesehenen Verpflichtungen eingehalten werden. Die Möglichkeit einer solchen Ausnahme besteht allerdings unbeschadet der Pflichten, die dem betreffenden Mitgliedstaat nach Art. 7 dieser Richtlinie obliegen.

3.

Art. 1 Abs. 4 der Richtlinie 2011/92 ist dahin auszulegen, dass nationale Rechtsvorschriften wie die im Ausgangsverfahren streitigen keinen besonderen einzelstaatlichen Gesetzgebungsakt im Sinne dieser Bestimmung darstellen, der nach dieser Bestimmung vom Geltungsbereich der UVP-Richtlinie ausgenommen ist.

4.

Art. 6 Abs. 3 der Richtlinie 92/43/EWG des Rates vom 21. Mai 1992 zur Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen ist dahin auszulegen, dass Maßnahmen wie die im Ausgangsverfahren streitigen zusammen mit den Arbeiten zur Modernisierung und zur Anpassung an die aktuellen Sicherheitsvorschriften ein Projekt darstellen, das eine Prüfung auf seine Verträglichkeit mit den betroffenen geschützten Gebieten erfordert. Diese Maßnahmen müssen einer solchen Prüfung vor ihrem Erlass durch den Gesetzgeber unterzogen werden. Dass die Durchführung dieser Maßnahmen mit weiteren Rechtsakten wie der Erteilung einer neuen individuellen Genehmigung für Stromerzeugung zu industriellen Zwecken für eines der betroffenen Kraftwerke einhergeht, ist insoweit nicht ausschlaggebend. Die mit diesen Maßnahmen untrennbar verbundenen Arbeiten müssen ebenfalls vor dem Erlass dieser Maßnahmen einer solchen Prüfung unterzogen werden, falls, was vom vorlegenden Gericht zu prüfen ist, ihre Natur und ihre potenziellen Auswirkungen auf die betroffenen Gebiete in diesem Stadium hinreichend ermittelbar sind.

5.

Art. 6 Abs. 4 Unterabs. 1 der Richtlinie 92/43 ist dahin auszulegen, dass das Ziel, die Stromversorgungssicherheit eines Mitgliedstaats jederzeit zu gewährleisten, einen zwingenden Grund des überwiegenden öffentlichen Interesses im Sinne dieser Vorschrift darstellt. Art. 6 Abs. 4 Unterabs. 2 dieser Richtlinie ist dahin auszulegen, dass, wenn das geschützte Gebiet, das durch ein Projekt beeinträchtigt werden könnte, einen prioritären natürlichen Lebensraumtyp oder eine prioritäre Art einschließt, was vom vorlegenden Gericht zu prüfen ist, nur die Notwendigkeit der Abwendung einer tatsächlichen und schwerwiegenden Gefahr, dass die Stromversorgung des betreffenden Mitgliedstaats unterbrochen wird, unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens einen Grund der öffentlichen Sicherheit im Sinne dieser Vorschrift darstellen kann.

6.

Das Unionsrecht ist dahin auszulegen, dass ein nationales Gericht, wenn das innerstaatliche Recht es zulässt, die Wirkungen von Maßnahmen wie den im Ausgangsverfahren streitigen, die unter Verstoß gegen die in der UVP- und der Habitatrichtlinie aufgestellten Pflichten erlassen wurden, ausnahmsweise aufrechterhalten darf, wenn ihre Aufrechterhaltung durch zwingende Erwägungen gerechtfertigt ist, die mit der Notwendigkeit zusammenhängen, die tatsächliche und schwerwiegende Gefahr einer Unterbrechung der Stromversorgung des betreffenden Mitgliedstaats abzuwenden, der nicht mit anderen Mitteln und Alternativen, insbesondere im Rahmen des Binnenmarkts, entgegengetreten werden kann. Diese Aufrechterhaltung darf nur für den Zeitraum gelten, der absolut notwendig ist, um die betreffende Rechtswidrigkeit zu beseitigen.


(1)  ABl. C 300 vom 11.9.2017.


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