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Document 52010AE1178

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der „Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Optionen für ein Biodiversitätskonzept und Biodiversitätsziel der EU für die Zeit nach 2010“ — KOM(2010) 4 endg.

ABl. C 48 vom 15.2.2011, p. 150–154 (BG, ES, CS, DA, DE, ET, EL, EN, FR, IT, LV, LT, HU, MT, NL, PL, PT, RO, SK, SL, FI, SV)

15.2.2011   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 48/150


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der „Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Optionen für ein Biodiversitätskonzept und Biodiversitätsziel der EU für die Zeit nach 2010“

KOM(2010) 4 endg.

2011/C 48/26

Berichterstatter: Lutz RIBBE

Die Europäische Kommission beschloss am 19. Januar 2010, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 304 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Optionen für ein Biodiversitätskonzept und Biodiversitätsziel der EU für die Zeit nach 2010

KOM(2010) 4 endg.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Landwirtschaft, ländliche Entwicklung, Umweltschutz nahm ihre Stellungnahme am 7. Juli 2010 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 465. Plenartagung am 15./16. September 2010 (Sitzung vom 15. September) mit 112 gegen 11 Stimmen bei 11 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1

Der Ausschuss hätte sich gewünscht, dass eine Mitteilung mit diesem Inhalt nicht hätte geschrieben werden müssen, sondern dass die Politik ihr 2001 abgegebenes Versprechen, den Biodiversitätsverlust bis 2010 zu stoppen und für die Wiederherstellung verlorener Habitate zu sorgen, umgesetzt hätte. Dieses Ziel wurde jedoch verfehlt.

1.2

Der EWSA sieht zwei große Defizite. Zum einen ist Biodiversitätserhaltung bislang nicht im Zentrum politischen Handelns angekommen, zum anderen ist festzustellen, dass die Gesellschaft zwar eine positive Grundstimmung zur Naturerhaltung hat, gleichzeitig aber extreme Wissenslücken über ökologische Zusammenhänge bestehen. Beide Defizite korrelieren miteinander, sie müssen durch das neue Biodiversitätskonzept gelöst werden.

1.3

Es ist zu hinterfragen, ob die Wortwahl, derer sich sowohl die Fachpolitik als auch die Verbände bedienen, von den Menschen verstanden wird. „Biodiversität“, „Spezies“ oder „Ökosystemdienstleistungen“ sind Begriffe, die nur wenige direkt ansprechen und faszinieren.

1.4

Der EWSA unterstützt die auch vom Umweltministerrat und dem Europäischen Rat angenommenen, in Option 4 der Kommissionsmitteilung zum Ausdruck gebrachten ehrgeizigen Ziele. Um künftig erfolgreich zu sein, sind vermehrte Anstrengungen notwendig, und es ist im Vorhinein festzustellen, welche Finanzmittel hierfür erforderlich sind (1).

1.5

Er fordert deshalb die Kommission und den Europäischen Rat auf, nicht alte Zielvorgaben lediglich mit neuen Daten zu versehen, sondern endlich ein verbindliches, zeitlich klar abgestecktes und mit Zwischenzielen versehenes, finanziell ausreichend ausgestattetes Handlungskonzept für alle Kommissionsdienststellen zu erarbeiten sowie Hinweise zu geben, was sich auf Ebene der Mitgliedstaaten ändern müsste.

1.6

Die Erhaltung der biologischen Vielfalt ist keine Aufgabe, die nur allein in den Bereich der Umweltpolitik fällt. Sie ist auch Langzeitökonomie, weshalb sich endlich auch die Wirtschafts- und Finanzminister dieses Themas annehmen sollten.

1.7

Angesichts der erschreckenden Wissenslücken in unserer Gesellschaft über ökologische Zusammenhänge sind auch politische Maßnahmen notwendig, die die Erziehung zu mehr Umweltbewusstsein fördern.

1.8

Die Budgetreform sowie die Neuausrichtung der Gemeinsamen Agrar- und Fischereipolitik, der Strukturfonds sowie anderer relevanter Politikbereiche werden ein entsprechender Test für die Ernsthaftigkeit der EU-Politik zum Schutz der Biodiversität sein.

1.9

Die bisherigen Inhalte der neuen EU-2020-Strategie werden den Herausforderungen der Biodiversitätserhaltung nicht gerecht. Das neue Biodiversitätskonzept muss diese Lücken füllen und später integraler Bestandteil dieser Strategie werden.

1.10

Der EWSA sieht auf EU-Ebene folgende Handlungsfelder als besonders wichtig an:

Änderungen in Agrar- und Fischereipolitik,

Sicherung und Entwicklung des Natura 2000-Netzwerks,

Auf- und Ausbau einer „grünen Infrastruktur“ mittels eines TEN-Biodiversitätsnetzes,

Integration der Biodiversität in alle anderen Politikbereich der EU,

Bildungsoffensive auf EU-Ebene.

1.11

Es ist notwendig, Wege zu finden, wie Landwirtschaft und Artenerhaltung wieder besser miteinander verbunden werden; in einigen Mitgliedstaaten gibt es positive Ansätze, die auszuwerten und massiv auszubauen sind. Den Landwirten müssen Anreize zur Bereitstellung entsprechender Leistungen geboten werden.

1.12

Der EWSA erwartet, dass die EU gut vorbereitet in die 10. Konferenz der Vertragsparteien des Übereinkommens über die biologische Vielfalt geht und einen entscheidenden Beitrag zu einer neuen globalen Strategie bezüglich des Schutzes der Biodiversität nach 2010 leistet.

2.   Die Mitteilung der EU-Kommission

2.1

Die Mitteilung der Kommission musste in dieser Form geschrieben werden, weil die EU eines der zentralen umweltpolitischen Ziele der letzten Dekade nicht erreicht hat: Im Jahr 2001 hatte der Europäische Rat - im Rahmen der Nachhaltigkeitsstrategie - in Göteborg das Ziel formuliert, den Verlust an biologischer Vielfalt in der EU bis 2010 zu stoppen und zudem für die Wiederherstellung verlorener Habitate zu sorgen. Doch trotz des 2006 angenommenen „Aktionsplans der EU zur Erhaltung der biologischen Vielfalt“ und trotz unbestreitbarer Erfolge bei der Etablierung des NATURA 2000-Netzes wurde dieses Ziel verfehlt.

2.2

Die hier zu bewertende Kommissionsmitteilung ist als erster Schritt zur Verwirklichung dieses Ziels zu verstehen. In der Mitteilung werden Optionen für die Entwicklung des Konzepts und der Ziele für die Zeit nach 2010 beschrieben.

2.3

Ausführlich werden die Argumente für den Schutz der biologischen Vielfalt beschrieben, betont und gewürdigt. Besonders werden dabei die volkswirtschaftlichen Kosten/Verluste angesprochen, die sich mit dem Verlust der biologischen Vielfalt - und daraus resultierend der Ökosystemdienstleistungen - global ergeben werden: sie werden im TEEB-Report (The Economics of Ecosystems and Biodiversity) auf jährlich rund 50 Mrd. EUR (!) beziffert, die kumulierten Wohlstandsverluste dürften danach im Jahr 2050 bei 7 % des BSP (!) liegen.

2.4

Die Kommission stellt klar, dass es sich beim Schutz der Biodiversität, ebenso wie beim Klimaschutz, um eine Langzeitaufgabe handelt. Deshalb soll das zu entwickelnde Biodiversitätskonzept langfristig angelegt sein (Zeithorizont: 2050), wobei sich die EU für das Jahr 2020 - analog zur internationalen Ebene - ein eigenes (Zwischen-)Ziel setzen sollte.

2.5

Für das „2020-Ziel“ werden den politisch Verantwortlichen 4 Optionen mit unterschiedlichem Ambitionsniveau angeboten, nämlich:

—   Option 1: Spürbare Senkung der Verlustrate (Biodiversität und Ökosystemdienstleistungen) in der EU bis 2020;

—   Option 2: Eindämmung des Verlusts an Biodiversität und Ökosystemdienstleistungen in der EU bis 2020;

—   Option 3: Eindämmung des Verlusts an Biodiversität und Ökosystemdienstleistungen in der EU bis 2020 und Wiedernutzbarmachung im Rahmen des Möglichen;

—   Option 4: Eindämmung des Verlusts an Biodiversität und Ökosystemdienstleistungen in der EU bis 2020 und Wiedernutzbarmachung im Rahmen des Möglichen sowie Verbesserung des Beitrags der EU zur Vermeidung globaler Biodiversitätsverluste.

3.   Allgemeine Anmerkungen zur bisherigen Biodiversitätspolitik der EU

3.1

Eine Bewertung der bisherigen EU-Biodiversitätspolitik fällt ernüchternd aus.

3.2

Vor rund 10 Jahren wurde das Versprechen abgegeben, den Verlust der Biodiversität innerhalb einer Dekade zum Stoppen zu bringen und für die Wiederherstellung von Habitaten und natürlichen Systemen zu sorgen.

3.3

Nahezu im Jahresrhythmus wurde entweder von Dienststellen der Kommission, von Kommissaren oder der Europäischen Umweltagentur darauf hingewiesen, dass über die bislang eingeleiteten Maßnahmen hinaus mehr Anstrengungen nötig seien, um das gesetzte Ziel zu erreichen; doch diese Anstrengungen wurden nicht unternommen.

3.4

Letztes Jahr kam das Eingeständnis, dass das gesteckte Ziel nicht erreicht wird - für den EWSA nicht unerwartet. Er hatte bereits in verschiedenen Stellungnahmen darauf hingewiesen, dass seines Erachtens die eingeleiteten politischen Maßnahmen absolut unzureichend sind (2).

3.5

Die Tatsache, dass die EU ihre Zielsetzung im Bereich der Biodiversität nicht erreicht hat, liegt nicht daran, dass man nicht wüsste, was zu tun wäre bzw. dass die Zivilgesellschaft nicht bereit wäre, die notwendigen Schritte mitzugehen. Im Kern liegt es daran, dass die Politik kurzfristigen wirtschaftlichen Interessen höhere Priorität einräumt als den langfristigen Wirkungen der Ökosystemleistungen. Dass unser Wirtschaftssystem nicht nachhaltig ist, sondern auf einer Übernutzung der natürlichen Ressourcen beruht, zeigt sich auch bei der Biodiversität.

3.6

Der EWSA begrüßt deshalb, dass die Kommission ausführlich auf den TEEB-Report eingeht und so wichtige Argumente zur wirtschaftlichen Bedeutung der biologischen Vielfalt liefert. Der Ausschuss möchte jedoch davor warnen, das Hauptaugenmerk auf die Frage der Inwertsetzung der biologischen Vielfalt zu legen. Denn

es gibt viele wichtige Gründe für die Erhaltung der biologischen Vielfalt, die man nicht monetarisieren kann oder sollte, wie das „Eigenrecht der Natur“, der Schöpfungsgedanke, die kulturelle Bedeutung der Vielfalt oder die schlichte Identifikation mit der Natur,

es darf keinesfalls zu einer Situation kommen, in der man die Notwendigkeit der Erhaltung einer einzelnen Art von deren berechneten ökonomischen Wert abhängig macht.

3.7

Der EWSA befürchtet zudem, dass dem TEEB-Report ein ähnliches Schicksal drohen kann wie dem Stern-Report beim Klimaschutz, dessen Warnungen vor den ökonomischen Langzeitfolgen des Klimawandels politisch ebenfalls verpufft sind. Es ist bezeichnend, dass sich die Finanz- und Wirtschaftsminister bisher auch nicht im Ansatz mit dem TEEB-Report befasst haben.

3.8

Der EWSA meint, dass es in dieser Situation nicht darum gehen kann, alte Zielsetzungen von 2001 zu recyceln, also das eigentlich für 2010 anvisierte Ziel nun auf 2020 zu verlegen und neue Visionen für 2050 zu beschreiben - so wichtig langfristige Visionen auch sein mögen. Es geht vielmehr darum, die bisherigen Politiken und Instrumentarien zu evaluieren und endlich bessere und in der Fläche wirksamere Maßnahmen zu erarbeiten und umzusetzen. Die neue EU-Biodiversitätstrategie 2020 muss deshalb nicht nur konkrete, quantifizierte Ziele und Zwischenziele beinhalten, sondern ganz besonders auch eine konkrete und bindende Umsetzungsplanung aufweisen und klare Verantwortlichkeiten benennen. Für eine ausreichende Finanzierung ist zu sorgen.

4.   Allgemeine Anmerkungen zur Mitteilung

4.1

Der EWSA versteht die Kommissionsmitteilung dahingehend, dass damit eine neue Debatte unter den politisch Verantwortlichen der EU ausgelöst werden soll, die mit einem deutlichen Signal an die Gesellschaft und einem klaren Arbeitsauftrag an die zuständigen Dienststellen enden soll. Er kann diesem Ansatz folgen.

4.2

Er begrüßt die Entschließung des EU-Umweltministerrates vom 15.3.2010, der sich im Kern der Option 4 angeschlossen hat. Er warnt aber davor, nun - wie schon im Jahr 2001 - zur Tagesordnung überzugehen, ohne wirkliche Konsequenzen zu ziehen. Denn dann droht auch dieser neuen Zielsetzung das gleiche Schicksal wie der aus 2001.

4.3

Der Ausschuss hält es nicht für ausreichend, dass sich „nur“ der Umweltrat mit dieser Thematik befasst und fordert eine Befassung in den übrigen betroffenen Ratsformationen. In der Kommissionsmitteilung wird sehr deutlich zum Ausdruck gebracht, dass es neben der ökologischen und ethischen auch eine wirtschaftliche Dimension des Biodiversitätsverlusts gibt. Deshalb erwartet der EWSA, dass sich auch vor allem die Wirtschafts- und Finanzminister mit der Problematik auseinander setzen, dass errechnet wird, welche Finanzmittel in den kommenden Jahren in Haushaltspläne einzustellen sind und welche sonstigen Veränderungen in Wirtschaft und Politik damit einhergehen müssen.

4.4

Er ist besonders enttäuscht darüber, dass vom Europäischen Rat, anders noch als im Jahr 2001, keine wirklichen Signale ausgesendet werden. In der neuen EU-Strategie 2020, die angeblich zum Ziel hat, ein „grünes Europa“ voranzubringen, finden sich die Begriffe „Biodiversität“, „Habitate“, „Naturschutz“ oder „Artenschutz“ sowie Schutz der Vielfalt genetischer Ressourcen nicht ein einziges Mal. „Artenvielfalt“ wird lediglich zweimal, und dies nur in Halbsätzen unter dem Thema „Ressourceneffizienz“, erwähnt. Auch in den Schlussfolgerungen des Europäischen Rates vom März 2010 ist diesem zentralen Thema kein eigenes Kapitel gewidmet. Lediglich der Beschluss des Umweltrates vom 15.3. wird im Rahmen klimapolitischer Fragen bestätigt.

4.5

Es wird deutlich, dass die Bedeutung der Erhaltung der biologischen Vielfalt nicht im Zentrum politischen Denkens und Handelns angekommen ist. Dies ist ein fatales und nicht hinnehmbares Signal, das bei der europäischen Öffentlichkeit ankommt, bei der selbst erhebliche Wissens- und Handelsdefizite zu erkennen sind.

4.6

Das neue Biodiversitätskonzept muss die Verantwortlichkeiten klarer benennen, z.B. das Verhältnis zwischen EU, Mitgliedstaaten, Regionen und Kommunen, zwischen Wirtschaft, Verbänden und Gesellschaft, aber auch innerhalb der Kommissionsdienststellen selbst.

4.7

Der EWSA teilt die Einschätzung der Kommission, dass Biodiversität eine ressortübergreifende Querschnittsaufgabe ist. Genau deshalb muss die neu zu erarbeitende Biodiversitätsstrategie 1.) zwingend in die „EU-Strategie 2020“ integriert und 2.) von allen Kommissionsdienststellen diskutiert, ernst genommen und mit Nachdruck verfolgt werden, z.B. auch vom Agrar-, dem Energie- und Verkehrsressort. Mit der Annahme der „EU-2020-Strategie“ einschl. eines integrierten Biodiversitätskonzepts müssen sich alle Kommissionsdienststellen verpflichten, an der Umsetzung mitzuarbeiten. Dazu gehört auch, an der Untersuchung der Naturschutzkonformität ihrer Förderprogramme und Verordnungen mitzuwirken und diese entsprechend anzupassen.

4.8

Der EWSA erwartet deshalb von der Kommission, dass im Herbst 2010 eine detaillierte Auflistung veröffentlicht wird, aus der hervorgeht, in welchen Politikbereichen es konkret die in der Mitteilung nur höchst vage angesprochenen Defizite bei der Integration der Biodiversitätsziele gibt. Dabei sollte auch herausgearbeitet werden, warum die Biodiversitätsstrategie von 2006, die immerhin ca. 160 verschiedene Maßnahmen umfasste, nicht ausreichend war, um erfolgreich zu wirken.

4.9

Das zu entwickelnde neue Biodiversitätskonzept muss darstellen, mit welchen Instrumenten und politischen Veränderungen man diese analysierten Defizite abzustellen gedenkt.

4.10

Die anstehende Budgetreform und die Neuausrichtung der Agrar- und Fischereipolitik und der Strukturfonds als zentrale Politikbereiche der EU werden so gewissermaßen auch zum Test für die Biodiversitätspolitik der EU, und zwar sowohl bezüglich der seit Jahren geforderten Integration in andere Politikbereiche als auch hinsichtlich der benötigten Finanzmittel. (Die EU-Ausgaben zur Erhaltung der Biodiversität betragen 0,1 % des Haushalts. Auf der anderen Seite gibt es viele Ausgaben, die negative Folgen für die biologische Vielfalt haben.)

4.11

In diesem Zusammenhang weist der EWSA auf die entscheidende Rolle der Landwirtschaft bei der Erhaltung der biologischen Vielfalt hin. Ein Großteil der Artenvielfalt ist im Rahmen traditioneller landwirtschaftlicher Nutzungsformen entstanden, die heute allerdings – zumeist aus ökonomischen Gründen – keine Basis mehr haben.

4.12

Es ist deshalb notwendig, Wege zu finden, wie Landwirtschaft und Artenerhaltung wieder besser miteinander verbunden werden; in einigen Mitgliedstaaten gibt es positive Ansätze, die auszuwerten und massiv auszubauen sind. Den Landwirten müssen Anreize zur Bereitstellung entsprechender Leistungen geboten werden (3).

4.13

Besondere Bedeutung kommt dem Schutz der marinen Artenvielfalt zu. Kenntnisse der Meeresökologie sind in den Gesellschaften der meisten Mitgliedstaaten nicht sonderlich ausgeprägt, und der Druck auf die Regierungen und die für den Schutz des Meeres verantwortlichen Institutionen ist verhältnismäßig schwach. Die Wirksamkeit der geltenden Meeresschutzmaßnahmen sollte überprüft werden, und es sollten Anstrengungen unternommen werden, diesen Schutzmaßnahmen größeres Gewicht in Bildungsprogrammen und im wirtschaftlichen Bereich einzuräumen.

4.14

Der EWSA erwartet, dass die EU gut vorbereitet in die 10. Konferenz der Vertragsparteien des Übereinkommens über die biologische Vielfalt geht und einen entscheidenden Beitrag zu einer neuen globalen Strategie bezüglich des Schutzes der Biodiversität nach 2010 leistet.

5.   Besondere Bemerkungen

5.1

Die bestehenden Gesetze, Regelungen und Maßnahmen reichen ganz offensichtlich nicht aus, die biologische Vielfalt zu sichern, oder anders ausgedrückt: der Verlust an biologischer Vielfalt geschieht nicht durch permanente Verstöße gegen bestehende Gesetze, sondern – weitgehend – in deren Rahmen. Naturschutzverträgliches Handeln erweist sich so vielfach als wirtschaftlicher Wettbewerbsnachteil. Auf der anderen Seite wird die ökonomische Relevanz der Biodiversität in Fachkreisen zwar mehr und mehr diskutiert, sie ist aber in ihrer Bedeutung noch nicht wirklich akzeptiert oder anerkannt. Der EWSA erwartet, dass sich Kommission und Rat ganz besonders mit diesen Umständen auseinandersetzen und eine Konzeption erstellen, wie diesen zu begegnen ist. Die Internalisierung externer Kosten, vielfach eingefordert, aber nur ansatzweise realisiert, könnte hier Abhilfe schaffen.

5.2

Speziell in der GAP muss der Erhalt der Biodiversität eine größere Rolle spielen. Mit der Agrarreform nach 2013 müssen Kriterien zum Erhalt der Biodiversität wichtiger Bestandteil der GAP werden, um den derzeitigen Konflikt zwischen wirtschaftlichem Produzieren und Naturerhaltung lösen zu können.

5.3

Der in der Kommissionsmitteilung geäußerte Gedanke einer „grünen Infrastruktur“ sollte mit Hochdruck fortentwickelt werden. Zur Erreichung der Biodiversitätsziele bedarf es nicht nur eines flächenhaften Schutzgebietssystems, wie es derzeit mit dem NATURA 2000-Netz im Aufbau ist, es bedarf auch eines europäischen linienförmigen Biotopverbundsystems, oder, um in der europäischen Sprachregelung zu bleiben: eines Transeuropäischen Netzes „Natur“. Dazu könnten gehören:

Wanderkorridore terrestrisch wandernder Tierarten wie Wolf, Luchs, Bär, Wildkatze, das z.B. aus linearen Strukturen für waldgebundene Arten besteht,

eine Verbindung von Gewässerrändern und Feuchtbiotopen im Rahmen der Umsetzung der Wasserrahmenrichtlinie (WRRL), was für Arten, die an Feuchtland und Gewässerränder gebunden sind, hilfreich wäre (Offenlandstruktur), aber auch

Ackerraine, Ackerrandstreifen, Feldgehölze, artenreiches Gründland (Flachland Gründwiesen), Alleen für Offenlandarten (Verknüpfung mit der Agrarförderung).

5.4

Ein solches TEN-„Natur“-Netz würde der Vernetzung der Natura 2000-Gebiete und der Umsetzung der WRRL dienen und wäre auch partiell eine Reaktion auf den Klimawandel. Es gäbe den terrestrischen Tierarten die Möglichkeit, durch Wanderbewegungen auf den Klimawandel zu reagieren. Mindestens ebenso wichtig ist aber, dass ein solches Netzwerk den Austausch bisher isolierter Populationen einer Art ermöglicht, was eine wesentliche Grundlage zur Sicherung des Überlebens ist.

5.5

Zur Sicherung und Weiterentwicklung der Natura 2000-Gebiete, dem bisherigen Herzstück der EU-Biodiversitätspolitik, muss die EU endlich eine ausreichende Fördermöglichkeit zur Entwicklung und Sicherung der Gebiete schaffen.

5.6

Es ist richtig, dass die Kommission auf die unterschiedliche Verteilung von „Biodiversität“ hinweist. Es gibt Regionen, in denen noch eine hohe Biodiversität vorhanden ist, andere, in denen speziell durch menschliche Eingriffe die Vielfalt massiv reduziert wurde. Daraus darf aber kein falscher Schluss gezogen werden: politische Maßnahmen, inkl. Geldflüsse, dürfen sich nicht nur auf die Hot Spots der Biodiversität konzentrieren. Auch und gerade in Regionen mit geringer Biodiversität ist ein breit gefächertes politisches Instrumentarium erforderlich, um die Ökosystemleistungen zu erhalten bzw. wiederherzustellen. Auf der anderen Seite dürfen nicht jene Mitgliedstaaten, die noch über ein hohes Schutzniveau bzw. -potenzial verfügen, „bestraft“, sondern müssten belohnt werden.

5.7

Biodiversitätserhaltung muss nicht nur einen flächendeckenden Ansatz verfolgen. Das neue Biodiversitätskonzept der EU sollte auch die positive Kopplung zwischen Klima- und Artenschutz hervorheben und deshalb besonders die Erhaltung und Entwicklung von Moor-, Feucht- und Grünlandstandorten sowie nachhaltigen Waldökosystemen verbessern. Die Politik der Nutzung von Biomasse zu Energiezwecken darf diesem Ansatz nicht zuwider laufen. Um dies zu verhindern sind Nachhaltigkeitskritierien einzuführen, die auch in anderen Bereichen (wie z.B. Futtermittel) anzuwenden sind.

5.8

Der EWSA betont abermals, wie wichtig es sein wird, ein wirkliches Problembewusstsein in Gesellschaft und Wirtschaft für die Belange der Erhaltung der biologischen Vielfalt zu schaffen. Davon sind wir weit entfernt, trotz aller vorhandenen Programme und trotz der Arbeit von Umweltverbänden.

5.9

Schon die Wortwahl, derer sich die Fachpolitik bedient, muss hinterfragt werden: Was stellt sich der normale Bürger unter „Biodiversität“ vor, kann er mit Begriffen wie „Spezies“ oder „Ökosystemdienstleistung“ etwas anfangen? Viele Umfragen zeigen eine erschreckende Unkenntnis über ökologische Zusammenhänge. Auch daraus wird deutlich: Naturerhaltung ist nicht nur eine Aufgabe der Umweltminister, auch die Bildungspolitik ist gefordert, um das nötige Grundwissen zu vermitteln.

Brüssel, den 15. September 2010

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Mario SEPI


(1)  Zum Problem der Finanzierung globaler Programme siehe Stellungnahme des EWSA NAT/424 betreffend „Globale Entwaldung“, Ziffern 1.4 und 1.5.

(2)  ABl. C 195 vom 18.8.2006, S. 88 und S. 96, ABl. C 161 vom 13.9.2007, S. 53, ABl C 97 vom 28.4.2007, S. 6-11, Ziffer 1.3.

(3)  ABl. C 354 vom 28.12.2010, S. 35.


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