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Document 52015IE1969

    Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Für ein ILO-Übereinkommen gegen geschlechtsspezifische Gewalt am Arbeitsplatz“ (Initiativstellungnahme)

    ABl. C 13 vom 15.1.2016, p. 138–144 (BG, ES, CS, DA, DE, ET, EL, EN, FR, HR, IT, LV, LT, HU, MT, NL, PL, PT, RO, SK, SL, FI, SV)

    15.1.2016   

    DE

    Amtsblatt der Europäischen Union

    C 13/138


    Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Für ein ILO-Übereinkommen gegen geschlechtsspezifische Gewalt am Arbeitsplatz“

    (Initiativstellungnahme)

    (2016/C 013/21)

    Berichterstatterin:

    Béatrice OUIN

    Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss am 19. Februar 2015 gemäß Artikel 29 Absatz 2 der Geschäftsordnung, eine Initiativstellungnahme zu folgendem Thema zu erarbeiten:

    „Für ein ILO-Übereinkommen gegen geschlechtsspezifische Gewalt am Arbeitsplatz“.

    (Initiativstellungnahme)

    Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Außenbeziehungen nahm ihre Stellungnahme am 16. Juli 2015 an.

    Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 510. Plenartagung am 16./17. September 2015 (Sitzung vom 16. September 2015) mit 209 gegen 2 Stimmen bei 5 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

    1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

    1.1.

    Die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) spielt mit ihrer dreigliedrigen Struktur bei der Verbesserung der Situation der Arbeitnehmer und der Funktionsweise von Unternehmen auf der internationalen Bühne eine wesentliche Rolle. Die Europäische Union ist nicht Mitglied der ILO, aber die Mitgliedstaaten der EU gehören ihr an, ebenso wie die europäischen Arbeitnehmer- und Arbeitgeberorganisationen. Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) spricht sich dafür aus, dass die EU-Mitgliedstaaten und die europäischen Organisationen die europäischen Werte und den europäischen Besitzstand unter Berücksichtigung des globalen Umfelds auf die internationale Ebene projizieren.

    1.2.

    Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss ist der Auffassung, dass:

    sexuelle und geschlechtsspezifische Gewalt am Arbeitsplatz ein Hindernis für menschenwürdige Arbeit ist (d. h. Arbeit unter Achtung der Würde, der Sicherheit, der Befähigung zur Selbstbestimmung und der Unabhängigkeit der Arbeitnehmer);

    geschlechtsspezifische Gewalt am Arbeitsplatz ein schwerer Verstoß gegen die Menschenrechte sowie eine Verletzung der Würde und der körperlichen und seelischen Unversehrtheit ist;

    sie der Wirtschaft und dem sozialen Fortschritt schadet, da sie die Grundfesten der Arbeitsbeziehungen schwächt und die Produktivität verringert;

    sie das Ergebnis einer ungleichen Machtverteilung zwischen Frauen und Männern ist und dieser Ungleichheit am Arbeitsplatz noch mehr Vorschub leistet;

    ihre Bekämpfung die Beteiligung der Zivilgesellschaft voraussetzt, insbesondere der Sozialpartner, aber auch der Angehörigen der Gesundheitsberufe, der Polizei und der Justiz (um sich der Opfer anzunehmen) sowie der Medien und der Lehrkräfte (um Gewalt vorzubeugen);

    es im Interesse der Gesellschaft liegt, diese Gewalt zu bekämpfen, wo immer sie auftritt, und sie vom Arbeitsplatz zu verbannen.

    1.3.

    Der ILO-Verwaltungsrat muss im November 2015 beschließen, ob er die Erarbeitung einer internationalen Norm über geschlechtsspezifische Gewalt am Arbeitsplatz auf die Tagesordnung der Internationalen Arbeitskonferenz (dem Entscheidungsgremium der ILO) setzt. Der EWSA unterstützt diesen Vorschlag und fordert die Mitgliedstaaten und die europäischen Sozialpartner auf, dasselbe zu tun.

    1.4.

    Der EWSA würde es begrüßen, wenn die Mitgliedstaaten der Europäischen Union, die im Rahmen der Richtlinie 2002/73/EG des Europäischen Parlaments und des Rates (1) bereits über Instrumente zur Bekämpfung der Ungleichheiten zwischen Männern und Frauen sowie der sexuellen Belästigung am Arbeitsplatz verfügen, in der ILO mit einer Stimme sprächen.

    1.5.

    Die europäischen Sozialpartner haben 2007 eine Rahmenvereinbarung zu Belästigung und Gewalt am Arbeitsplatz unterzeichnet, die dazu führen sollte, dass sie in der Debatte über diesen Entwurf einer internationalen Arbeitsnorm im Schulterschluss auftreten (2).

    2.   Einführung: Die Problematik der geschlechtsspezifischen Gewalt am Arbeitsplatz

    2.1.

    In Zeiten der Globalisierung ist die Festlegung internationaler Normen zur Bekämpfung und Verhütung geschlechtsspezifischer Gewalt erforderlich und liegt sowohl im Interesse der Arbeitnehmer als auch der Unternehmen und der Staaten. Diese Gewalt gefährdet die körperliche und seelische Gesundheit, verletzt die Rechte und die Würde der Opfer, beeinträchtigt ihre Produktivität und verursacht Kosten für den Staat und die Gesellschaft. Ihre Bekämpfung und Verhütung ist ein Muss für alle. Die geschlechtsspezifische Gewalt ist eines der größten Hindernisse bei der Entwicklung.

    2.2.

    Behandlung des Themas durch die ILO

    2.2.1.

    Geschlechtsspezifische und sexuelle Gewalt sind Ausdruck der Ungleichheiten zwischen Frauen und Männern, verstärken diese zusätzlich und haben negative Auswirkungen auf das Arbeitsumfeld. Die Bekämpfung dieser Art von Gewalt ist Gegenstand mehrerer Übereinkommen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO):

    Übereinkommen Nr. 29 über Zwangsarbeit, 1930

    Übereinkommen Nr. 97 über Wanderarbeiter (Neufassung), 1949

    Übereinkommen Nr. 100 über die Gleichheit des Entgelts, 1951

    Übereinkommen Nr. 111 über die Diskriminierung in Beschäftigung und Beruf, 1958

    Übereinkommen Nr. 189 über menschenwürdige Arbeit für Hausangestellte, 2011.

    In der Empfehlung Nr. 200 über HIV und Aids und die Welt der Arbeit (2010) heißt es, dass Maßnahmen zur Verhinderung und Beseitigung von Gewalt und Belästigung am Arbeitsplatz ergriffen werden müssen. Ganz kürzlich wurde in der (von der Internationalen Arbeitskonferenz auf ihrer 104. Tagung am 12. Juni 2015 in Genf angenommenen) Empfehlung Nr. 204 über den Übergang von der informellen zu formellen Wirtschaft festgelegt, dass die Mitgliedstaaten in den nationalen Entwicklungsplänen bzw. -strategien einen integrierten politischen Rahmen sicherstellen müssen, der auf die Förderung der Gleichheit und die Beseitigung aller Formen von Diskriminierung und Gewalt, einschließlich geschlechtsspezifischer Gewalt am Arbeitsplatz abzielen sollte (3).

    Es gibt jedoch bislang keine Norm, in der speziell auf die Frage der geschlechtsspezifischen Gewalt am Arbeitsplatz eingegangen wird.

    2.2.2.

    Der ILO-Sachverständigenausschuss hat versucht, diese Lücke zu schließen: Die sexuelle Belästigung schwäche die Gleichstellung am Arbeitsplatz und stelle die Unversehrtheit, die Würde und das Wohl der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer infrage. Sexuelle Belästigung schade dem Unternehmen, da sie die Grundfesten des Arbeitsverhältnisses schwäche und die Produktivität verringere. Der Ausschuss habe bisher den Standpunkt vertreten, dass sexuelle Belästigung eine Form der sexuellen Diskriminierung sei und im Rahmen der Verpflichtungen aus dem Übereinkommen [Nr. 111] behandelt werden müsse. So sollten gemäß dem Übereinkommen, das die Diskriminierung aufgrund des Geschlechts verbietet und eine Politik zur Förderung der Chancengleichheit und Gleichbehandlung vorschreibt, Maßnahmen zur Beseitigung sexueller Belästigung ergriffen werden (4).

    2.2.3.

    2008 hat der Ausschuss Folgendes festgestellt: „Eine weitere wichtige Durchführungslücke ist die sexuelle Belästigung, eine gravierende Form der geschlechtsbedingten Diskriminierung und eine Verletzung der Menschenrechte bei der Arbeit. Der Ausschuss erinnert daher an seine Allgemeine Bemerkung von 2002, in der er hervorhob, wie wichtig es ist, wirksame Maßnahmen zu ergreifen, um sowohl sexuelle Belästigungen der Art ‚quid-pro-quo‘ als auch sexuelle Belästigungen durch eine feindliche Umgebung bei der Arbeit zu verhüten und zu untersagen“  (5).

    2.2.4.

    In der 320. und der 323. Tagung des ILO-Verwaltungsrats (13.—27. März 2014 und 12.—27. März 2015) haben einige Staaten (Deutschland, Kanada, Kuba, Frankreich, Indien, Italien, Mexiko, Niederlande, Sri Lanka, Uruguay und USA) ihre Unterstützung für die Erarbeitung einer internationalen Norm zur „Gewalt gegen Frauen und Männer am Arbeitsplatz“ zum Ausdruck gebracht, um den staatlichen Stellen, den Gewerkschaften und den Arbeitgebern Instrumente zur Bekämpfung geschlechtsspezifischer Gewalt und sexueller Belästigung an die Hand zu geben und um ein deutliches Signal zu senden, dass diese Gewalt ein Verstoß gegen die Arbeitnehmerrechte ist. Diese Forderung wird auch von der Gruppe Arbeitnehmer der ILO und dem Internationalen Gewerkschaftsbund unterstützt.

    2.3.

    Und in Europa:

    2.3.1.

    Die europäischen Sozialpartner haben 2007 eine Rahmenvereinbarung zu Belästigung und Gewalt am Arbeitsplatz unterzeichnet, mit der eine ähnliche Regelung auf internationaler Ebene angeregt werden sollte (6).

    2.3.2.

    In seinen Stellungnahmen zur Gleichstellung von Frauen und Männern sowie in einer Stellungnahme zur häuslichen Gewalt (7) hat sich der EWSA mehrfach zu sexueller und geschlechtsspezifischer Gewalt geäußert, der zu viele Frauen überall in der Welt ausgesetzt sind. Darüber hinaus handelt es sich um ein wachsendes Problem: Die Wirtschaftskrise, die Strukturanpassungsprogramme und die Sparmaßnahmen haben zu einem Anstieg der Gewalt am Arbeitsplatz beigetragen.

    2.3.3.

    Der EWSA spricht sich dafür aus, dass sich die Mitgliedstaaten der Europäischen Union, die im Rahmen der Richtlinie 2002/73/EG (8) bereits über die Instrumente zur Bekämpfung der sexuellen Belästigung am Arbeitsplatz verfügen, in der ILO mit einer Stimme für die Erarbeitung einer internationalen Norm zur Bekämpfung geschlechtsspezifischer Gewalt am Arbeitsplatz starkmachen.

    2.4.

    Beschreibung der Situation

    2.4.1.

    Geschlechtsspezifische Gewalt am Arbeitsplatz ist ein schwerer Verstoß gegen die Menschenrechte sowie eine Verletzung der Würde und der körperlichen und seelischen Unversehrtheit. Weltweit sind 35 % der Frauen Opfer direkter Gewalt am Arbeitsplatz, zwischen 40 % und 50 % der Frauen haben unerwünschte sexuelle Annäherungsversuche, unerwünschten Körperkontakt oder andere Formen sexueller Belästigung erfahren. 45 % der Frauen in der EU geben an, schon einmal Opfer von geschlechtsspezifischer Gewalt gewesen zu sein. Zwischen 40 % und 45 % waren nach eigenen Angaben sexueller Belästigung am Arbeitsplatz ausgesetzt. Schätzungen zufolge sterben in Europa täglich sieben Frauen an den Folgen geschlechtsspezifischer Gewalt (9).

    2.4.2.

    Diese Gewalttaten sind das Ergebnis einer ungleichen Machtverteilung zwischen Frauen und Männern und leisten dieser Ungleichheit noch mehr Vorschub. Sie sind Ausdruck von Machtwillen und in Gesellschaften vorherrschend, in denen die Menschenrechte mit Füßen getreten werden, bestehen jedoch auch in demokratischen Gesellschaften. Sie dürfen nicht mit Verführung verwechselt werden, die die Achtung des anderen voraussetzt. Sexuelle und geschlechtsspezifische Gewalt sind keine Privatangelegenheit. Ihre Bekämpfung gehört zur öffentlichen Ordnung und zur kollektiven Sicherheit.

    2.4.3.

    Sexistische Witze, Beleidigungen, erniedrigende Spötteleien, unangebrachte Gesten, pornografische Bilder in Geschäftsräumen und im Internet (das für viele Arbeitnehmer ein Arbeitsinstrument ist), Mobbing und sexuelle Belästigung, Vergewaltigung und andere sexuelle Gewalt, Gewalt in der Partnerschaft: Welche Frau kann von sich behaupten, niemals mindestens einer dieser sexistischen Handlungen ausgesetzt worden zu sein (10)?

    2.4.4.

    Unabhängig davon, wo geschlechtsspezifische Gewalt stattfindet: Sie kann sich auf den Arbeitsplatz auswirken. In einer europäischen Studie werden die Auswirkungen häuslicher Gewalt auf die Arbeit und die berufliche Eingliederung von Opfern dargelegt (11), die in internationalen Studien bestätigt werden (12). Aus vier nationalen Erhebungen (Australien, Kanada, Neuseeland und Vereinigtes Königreich) geht hervor, dass häusliche Gewalt die Teilhabe, die Produktivität und die Sicherheit der Arbeitnehmer beeinträchtigt. Eine Frau, die Opfer von Gewalt in der Partnerschaft ist, kann von ihrem Ehemann bzw. Partner am Arbeitsplatz belästigt werden, was zu Sicherheitsproblemen für sie und ihre Kolleginnen und Kollegen führt. Es kann sein, dass sie aufgrund von Verletzungen mehrere Tage nicht zur Arbeit kommt oder dass — sollte sie anwesend sein — ihre berufliche Leistungsfähigkeit nachlässt. In Australien haben Beschäftigte im öffentlichen Dienst, die Opfer häuslicher Gewalt sind, Anspruch auf Beurlaubung. Gemäß den Tarifvereinbarungen, die fast 2 Mio. Arbeitnehmer betreffen, haben Beschäftigte in der Privatwirtschaft in solchen Fällen Anspruch auf 20 Tage Urlaub.

    2.4.5.

    Wenn Gewalt am Arbeitsplatz ausgeübt wird und von einem Kollegen, Vorgesetzten, Kunden oder Nutzer ausgeht, fühlen sich Arbeitnehmerinnen nicht sicher. Sie können eine Freistellung von der Arbeit benötigen, um sich von körperlichen und seelischen Verletzungen zu erholen, medizinische Hilfe zu suchen oder einem Zivil- oder Strafverfahren beizuwohnen. Geschlechtsspezifische Gewalt ist auch für die Arbeitgeber schlecht (geringere Produktivität, Fernbleiben vom Arbeitsplatz, Gerichtsverfahren, Negativschlagzeilen).

    2.4.6.

    Solche Gewalt kann auch auf dem Weg zur Arbeit ausgeübt werden. Auf der Straße oder in öffentlichen Verkehrsmitteln werden Frauen häufig belästigt, angegriffen, misshandelt und bisweilen ermordet. Diese Art der Belästigung, die in der Regel junge Menschen betrifft, hat langfristige Folgen: Verunsicherte Opfer werden von einem Gefühl der Verwundbarkeit heimgesucht, das in einem Minderwertigkeitsempfinden resultieren kann. Einem Teil von ihnen erscheint es am Ende normal, diese Erfahrung hinnehmen zu müssen.

    2.4.7.

    Mit der Zunahme der Zahl erwerbstätiger Frauen und vor dem Hintergrund der Tatsache, dass mehr Frauen als Männer in informellen oder unsicheren Arbeitsverhältnissen stehen oder als Hausangestellte tätig sind, steigt auch die Zahl der Frauen, die Gewalttaten zum Opfer fallen. Alleinerziehende Frauen sind besonders gefährdet. Dieser Umstand kann dazu genutzt werden, um am Arbeitsplatz Erpressung auszuüben.

    2.4.8.

    Besonders gefährdet sind in diesem Zusammenhang arbeitende Jugendliche und Kinder (Mädchen und Jungen), Opfer von Zwangsarbeit, Wirtschaftsmigrantinnen, weibliche Hausangestellte, Beschäftigte im Gesundheitswesen und Personen in der Sexindustrie. Alleinarbeit und Publikumsverkehr sind zusätzliche Risikofaktoren.

    2.4.9.

    Die Risikofaktoren im Zusammenhang mit dem Arbeitsumfeld hängen von der Stellung der Frau in der Arbeitsorganisation sowie von der Berufskultur ab, die mehr oder weniger frauenfreundlich sein kann. Ein größerer Anteil von Frauen in Führungspositionen wäre eine gute Möglichkeit der Prävention von Gewalt gegen Frauen.

    2.4.10.

    Geschlechtsspezifische Gewalt hat negative Auswirkungen auf die Arbeitsproduktivität. Das unterschiedliche Ausmaß, in dem Frauen und Männer dem Risiko spezifischer Formen von Gewalt am Arbeitsplatz ausgesetzt sind, wird durch die Trennung der Geschlechter noch verschärft. Manche Frauen sind stärker gefährdet als andere: Minderjährige in einem stark männergeprägten Umfeld oder jene, die mit Menschen in Not arbeiten (Sozialarbeiter sowie Beschäftigte im Strafvollzug, öffentlichen Anlaufstellen, Krankenhausnotaufnahmen usw.).

    2.4.11.

    Ein höheres Risiko, Gewalttaten zum Opfer zu fallen, besteht auch in Kreisen, in denen es keine sozialen Beziehungen gibt oder eine Lösung des Problems aufgrund fehlender Tarifverhandlungen unmöglich ist. Gewerkschaften können Opfern, deren Rechte verletzt wurden, bei der Suche nach Ansprechpartnern helfen. Es gibt auch andere Lösungen: Im belgischen Recht beispielsweise ist die Benennung einer Person vorgesehen, die sowohl das Vertrauen der Vorgesetzten als auch der Arbeitnehmer genießt und Beratung und Unterstützung bietet.

    2.5.

    Gewalt definieren und verhüten

    2.5.1.

    Bei der Bekämpfung dieser Formen von Gewalt müssen die jeweiligen Besonderheiten berücksichtigt werden, damit ihnen vorgebeugt werden kann. Um Gewalt einzudämmen und die Gleichstellung der Geschlechter zu fördern, müssen die entsprechenden Mechanismen verstanden und die Auswirkungen angeprangert werden. Schulungsmaßnahmen für Führungskräfte im Bereich geschlechtsspezifischer Ungleichheiten sind eine gute Möglichkeit der Vorbeugung.

    2.5.2.

    Es ist notwendig, einen verbindlichen Rechtsrahmen mit einer klaren Definition des Anwendungsbereichs, einer Definition des Vergehens sowie der Feststellung zu schaffen, dass sich die Opfer in einem Abhängigkeitsverhältnis befinden.

    2.5.3.

    Geschlechtsspezifische Gewalt bei der Arbeit, unabhängig davon, ob sie am Arbeitsplatz oder auf dem Weg zur Arbeit stattfindet, kann unterschiedliche Formen annehmen, insbesondere:

    körperliche Gewalt;

    sexuelle Gewalt, einschließlich Vergewaltigung und sexueller Übergriffe;

    Beleidigungen, unsoziales Verhalten, Respektlosigkeit, Zeichen von Geringschätzung;

    Einschüchterung;

    psychische Misshandlungen;

    sexuelle Belästigung;

    Androhung von Gewalt;

    aggressives Nachstellen.

    2.5.4.

    Bei all diesen Formen der Gewalt erfolgen ohne Einwilligung der Zielperson Äußerungen oder Verhaltensweisen im Zusammenhang mit dem Geschlecht oder der sexuellen Ausrichtung, die eine einschüchternde, demütigende, erniedrigende oder beleidigende Wirkung haben sollen. Kleine tägliche Aggressionen, die einzeln betrachtet harmlos erscheinen, führen dazu, dass sich die Opfer am Ende nicht sicher fühlen. Diese Gewalt, die Aggressionen und die Erniedrigung tragen zur Entstehung eines ungesunden Arbeitsklimas bei.

    2.5.5.

    In der Rahmenvereinbarung der europäischen Sozialpartner heißt es: „Am Arbeitsplatz können Belästigung und Gewalt in unterschiedlicher Form auftreten, und zwar:

    in physischer, psychischer und/oder sexuelle Form,

    als einmalige Vorkommnisse oder systematische Verhaltensweisen,

    zwischen Kollegen, zwischen Führungskräften und Untergebenen oder durch Dritte wie z. B. Kunden, Patienten, Schüler usw.,

    in Form von geringfügigeren Fällen der Respektlosigkeit bis hin zu schwerwiegenden Vorkommnissen, einschließlich Straftaten, die das Eingreifen von Behörden erfordern.“

    In den Bestimmungen dieser Vereinbarung wird die Notwendigkeit der Vertraulichkeit herausgestellt:

    „Es liegt im Interesse aller Parteien, mit der notwendigen Diskretion vorzugehen, um die Würde und Privatsphäre der Beteiligten zu schützen.

    Es sollten keine Informationen an Parteien weitergegeben werden, die nicht an dem Fall beteiligt sind.“

    In der Vereinbarung sind ferner auch ein Verfahren zur Behandlung von Beschwerden und Präventionsmaßnahmen festgelegt, auf die in der Debatte in der ILO zurückgegriffen werden könnte.

    2.5.6.

    Viele Arbeitnehmer nutzen bei der Arbeit das Internet. Geschlechtsspezifische Gewalt könnte dort mithilfe von erniedrigenden Bildern und Nachrichten in den Sozialmedien verbreitet werden. Ein Klima der Einschüchterung, Feindseligkeit oder Erniedrigung kann sowohl in Online-Beziehungen als auch in reellen Beziehungen entstehen. Bei der neuen Norm sollte nicht außer Acht gelassen werden, dass das Internet in den Arbeitsbeziehungen eine Rolle spielt und dass auch in dieser Form ausgeübte geschlechtsspezifische Gewalt bekämpft werden muss.

    3.   Warum ist eine ILO-Norm zur geschlechtsspezifischen Gewalt notwendig?

    3.1.

    Der Arbeitsplatz bietet für die Bekämpfung von Gewalt ausgezeichnete Rahmenbedingungen. Eine internationale Arbeitsnorm könnte sowohl in Bezug auf eine angemessene Personalpolitik im Bereich der geschlechtsspezifischen Gewalt in Unternehmen als auch bei der Führung des sozialen Dialogs und der Tarifverhandlungen Orientierungshilfen bieten.

    3.2.

    Weder der derzeitige internationale Rahmen noch die einzelstaatlichen Rechtsvorschriften bieten einen angemessenen Schutz vor geschlechtsspezifischer Gewalt am Arbeitsplatz. In den meisten Ländern beruhen die Instrumente zur Bekämpfung geschlechtsspezifischer Gewalt in erster Linie auf der strafrechtlichen Verfolgung der Täter, im Allgemeinen durch die Aufnahme von sexuellem Missbrauch in das Strafgesetzbuch. Obwohl sie von entscheidender Bedeutung sind, werden diese Lösungen nicht immer den Beziehungen am Arbeitsplatz gerecht. Wie der ILO-Sachverständigenausschuss hervorhebt, hat es sich „im Allgemeinen […] als unzureichend erwiesen, eine sexuelle Belästigung lediglich strafrechtlich zu verfolgen, da dieses Vorgehen zwar für die gravierendsten Fälle zweckmäßig ist, nicht aber für die Verhaltensweisen bei der Arbeit, die als sexuelle Belästigung behandelt werden sollten. In letzterem Fall ist der Beweis schwieriger zu erbringen, und Abhilfemaßnahmen sind nur in begrenztem Ausmaß möglich“  (13). Verhütung sexueller Belästigung heißt, die Arbeitgeber und Arbeitnehmer davon zu überzeugen, dass der Arbeitsplatz nicht der Ort für sexistische Verhaltensweisen ist. Die europäische Rahmenvereinbarung sieht vor, dass Unternehmen eine Erklärung ausarbeiten müssen, in der eindeutig zum Ausdruck kommt, dass Belästigung und Gewalt bei ihnen nicht toleriert werden.

    4.   Warum sollte die Zivilgesellschaft eine ILO-Norm zur geschlechtsspezifischen Gewalt unterstützen?

    4.1.

    Geschlechtsspezifische Gewalt hängt mit der Sicherheit und der Gesundheit am Arbeitsplatz zusammen, sie ist der Grund für nervöse Depressionen, psychische Probleme und Arbeitsunfälle. Die Organisation der Arbeit muss unter Berücksichtigung der geschlechtsspezifischen zwischenmenschlichen Beziehungen näher beleuchtet werden. Nach Geschlechtern getrennte Umfragen ermöglichen es, sich ein genaues Bild von diesen Risiken zu machen.

    4.2.

    Die Sozialpartner sind die richtige Anlaufstelle, um den Opfern zuzuhören und gemeinsam mit ihnen eine Beschwerdeakte anzulegen. Für Soziales oder Personalfragen zuständige Dienste in Unternehmen, Gewerkschaften, Betriebsärzte und spezialisierte Berater sind wichtige Akteure für den Opferschutz. Eine Möglichkeit, die in der europäischen Rahmenvereinbarung der Sozialpartner genannt wird, ist die Benennung einer entsprechend geschulten Vertrauensperson, die sich der Opfer annimmt und die Dossiers führt. Frauenverbände sowie Organisationen zur Verteidigung der Menschenrechte, zur Unterstützung von Migranten und andere Vereinigungen sind unerlässlich, um den Opfern zu helfen und die Maßnahmen der Sozialpartner zu ergänzen. Die Sozialpartner müssen selbst mit gutem Beispiel vorangehen und sexistische und erniedrigende Verhaltensweisen bei sich verbannen.

    4.3.

    Eine ILO-Norm zur geschlechtsspezifischen Gewalt käme der Gesellschaft, dem sozialen Dialog, dem Arbeitsumfeld und den Beziehungen am Arbeitsplatz zugute, wenn sie Folgendes gewährleisten würde:

    Konzertierung der Sozialpartner bei der Festlegung der Vorschriften und der Schaffung eines Rahmens zur Behandlung der Fälle;

    Erarbeitung einer gemeinsamen Definition geschlechtsspezifischer Gewalt am Arbeitsplatz;

    Präzisierung der Verantwortlichkeiten der Arbeitgeber und Gewerkschaften bei der Vorbeugung, Bekämpfung und Wiedergutmachung geschlechtsspezifischer Gewalt am Arbeitsplatz;

    Unterstützung der Arbeitgeber bei der Ausarbeitung personalpolitischer Maßnahmen, einschließlich unterschiedlicher Prozesse (insbesondere Schulungen), um geschlechtsspezifische Gewalt zu verhindern und deren Folgen in der Arbeitswelt, einschließlich der Folgen häuslicher Gewalt am Arbeitsplatz, zu bewältigen;

    Unterstützung der Arbeitgeber bei der Festlegung von Verfahren für die Einreichung von Beschwerden und Anmeldung von Ansprüchen;

    Bereitstellung einer Orientierungshilfe für die Arbeitgeber, um den Opfern zuhören und die Beschwerden über geschlechtsspezifische Gewalt am Arbeitsplatz prüfen und bearbeiten zu können;

    präzise Festlegung des Verantwortungsbereichs der Arbeitgeber (in Bezug auf Dritte und direkt) im Falle von geschlechtsspezifischer Gewalt am Arbeitsplatz;

    Schaffung einer Kultur am Arbeitsplatz, in der geschlechtsspezifische Gewalt inakzeptabel ist;

    Verbesserung der Sicherheit am Arbeitsplatz und Verringerung der wirtschaftlichen Verluste von Arbeitgebern im Zusammenhang mit geschlechtsspezifischer Gewalt (Abwesenheit, geringere Produktivität, Gerichtsverfahren, Negativschlagzeilen…).

    5.   Warum sollten die Regierungen eine ILO-Norm zur geschlechtsspezifischen Gewalt unterstützen?

    5.1.

    Die angestrebte Norm würde dazu beitragen,

    die Ziele der Agenda für menschenwürdige Arbeit zu erreichen;

    die Schutzbedürftigkeit der Menschen gegenüber geschlechtsspezifischer Gewalt zu reduzieren und ihre wirtschaftliche Unabhängigkeit und ihre Produktivität am Arbeitsplatz zu stärken;

    Einsparungen zu erzielen: Häusliche Gewalt und Gewalt am Arbeitsplatz verursacht in puncto Gesundheitsversorgung, Gerichtsverfahren, Verdienstausfällen und Krankenvergütung Kosten in Millionenhöhe;

    den Gesundheitsschutz und die Sicherheit sowie die Beziehungen am Arbeitsplatz zu verbessern;

    eine größere Kohärenz der rechtlichen Rahmenbedingungen zur Beseitigung geschlechtsspezifischer Gewalt und zur Förderung der Menschenrechte zu erzielen;

    die Kosten zu senken, die infolge geschlechtsspezifischer Gewalt entstehen.

    6.   Vorschläge für den Inhalt einer ILO-Norm

    Eine weit gefasste Definition von geschlechtsspezifischer Gewalt am Arbeitsplatz, einschließlich der verschiedenen Formen von Gewalt am Arbeitsplatz;

    Annahme einer Definition des „Arbeitsplatzes“, die auch den Weg zur Arbeit umfasst;

    Bestimmungen zur Vorbeugung geschlechtsspezifischer Gewalt am Arbeitsplatz und Maßnahmen zum Schutz und zur Unterstützung der Opfer von geschlechtsspezifischer Gewalt;

    Beschreibung der von geschlechtsspezifischer Gewalt am stärksten betroffenen Gruppen: Homosexuelle und Transsexuelle, Migrant(innen), mit HIV/Aids infizierte Arbeitnehmer(innen), Arbeitnehmer(innen) mit Behinderungen, Zwangsarbeiter(innen) und Kinderarbeiter(innen);

    Gewährleistung der verschiedenen Rechte in den Bereichen Beschäftigung und soziale Sicherheit für die Kläger, insbesondere des Rechts auf Kürzung bzw. Umgestaltung der Arbeitszeit;

    Leitlinien für die Ausarbeitung interner Regelungen oder Verhaltenskodizes für Unternehmen und Organisationen, in denen deutlich zum Ausdruck kommt, dass unangemessene oder erniedrigende Verhaltensweisen gegenüber Frauen und anderen besonders betroffenen Gruppen berufliche Sanktionen nach sich ziehen werden;

    Leitlinien für die Erarbeitung gezielter Umfragen, die eine Erstellung harmonisierter Statistiken ermöglichen;

    Leitfaden für die Organisation von Schulungsmaßnahmen zur Erweiterung der Kenntnisse über Mechanismen, die zur Dominanz und zur Trennung von Männern und Frauen in der Beschäftigung führen, und für die Entwicklung einer Kultur der Gewaltlosigkeit;

    stärkere Einbeziehung der Arbeitsmedizin in die Untersuchung der Fälle von geschlechtsspezifischer Gewalt, da diese die physische und psychische Gesundheit der Arbeitnehmerinnen gefährdet;

    Berücksichtigung der Bestimmungen der Richtlinie 2000/78/EG des Rates (14) zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf;

    besonderes Augenmerk auf die Rolle der Medien bei der Sensibilisierung, Information und Aufklärung als dem dreifachen Gebot zur Durchbrechung der Spirale der Gewalt;

    Berücksichtigung neuer Risiken im Zusammenhang mit der Nutzung des Internets und der neuen Technologien.

    Brüssel, den 16. September 2015.

    Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

    Henri MALOSSE


    (1)  Richtlinie 2002/73/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. September 2002 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen hinsichtlich des Zugangs zur Beschäftigung, zur Berufsbildung und zum beruflichen Aufstieg sowie in Bezug auf die Arbeitsbedingungen (ABl. L 269 vom 5.10.2002, S. 15).

    (2)  http://www.etuc.org/framework-agreement-harassment-and-violence-work

    (3)  http://www.ilo.org/ilc/ILCSessions/104/texts-adopted/WCMS_377774/lang--en/index.htm

    (4)  Bericht des Sachverständigenausschusses für die Durchführung der Übereinkommen und Empfehlungen, Bericht III Teil IA, Internationale Arbeitskonferenz, 91. Tagung, 2003, S. 497-498.

    (5)  Bericht des Sachverständigenausschusses für die Durchführung der Übereinkommen und Empfehlungen, Bericht III Teil IA, Internationale Arbeitskonferenz, 98. Tagung, 2009, S. 35.

    (6)  http://www.etuc.org/framework-agreement-harassment-and-violence-work

    (7)  Stellungnahme zur Beseitigung der häuslichen Gewalt gegen Frauen, ABl. C 351 vom 15.11.2012, S. 21.

    (8)  Siehe Fußnote 1.

    (9)  Barometer 2011, „National Action Plans on Violence against Women in the EU“, Europäisches Frauenforum, August 2011 (www.womenlobby.org).

    (10)  Aus einem unlängst (April 2015) veröffentlichten Bericht des französischen Hohen Rates für die Gleichstellung von Frauen und Männern geht hervor, dass ALLE Frauen unerwünschte sexuelle Annäherungsversuche auf der Straße oder in öffentlichen Verkehrsmitteln erfahren haben. Die Mehrheit der Opfer ist minderjährig. http://www.haut-conseil-egalite.gouv.fr/IMG/pdf/hcefh_avis_harcelement_transports-20150410.pdf

    (11)  Domestic violence: the intruder in the workplace and vocational integration, COFACE 2011 http://www.coface-eu.org/en/upload/08_EUProjects/Domestic%20violence-etude-coface-daphne-en.pdf

    (12)  https://www.arts.unsw.edu.au/media/FASSFile/National_Domestic_Violence_and_the_Workplace_Survey_2011_Full_Report.pdf https://www.arts.unsw.edu.au/research/gendered-violence-research-network/gendered-violence-work/

    (13)  Bericht des Sachverständigenausschusses für die Durchführung der Übereinkommen und Empfehlungen, Bericht III Teil IA, Internationale Arbeitskonferenz, 98. Tagung, 2009, S. 32.

    (14)  Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27. November 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf (ABl. L 303 vom 2.12.2000, S. 16).


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