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Document 52010IE1169

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Neubelebung der Wirtschaft: aktueller Stand und konkrete Initiativen“ (Initiativstellungnahme)

ABl. C 48 vom 15.2.2011, p. 57–64 (BG, ES, CS, DA, DE, ET, EL, EN, FR, IT, LV, LT, HU, MT, NL, PL, PT, RO, SK, SL, FI, SV)

15.2.2011   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 48/57


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Neubelebung der Wirtschaft: aktueller Stand und konkrete Initiativen“ (Initiativstellungnahme)

2011/C 48/11

Berichterstatter: Lars NYBERG

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss am 18. März 2010 gemäß Artikel 29 Absatz 2 seiner Geschäftsordnung, eine Initiativstellungnahme zu folgendem Thema zu erarbeiten:

„Neubelebung der Wirtschaft: aktueller Stand und konkrete Initiativen“ (Initiativstellungnahme).

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Wirtschafts- und Währungsunion, wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt nahm ihre Stellungnahme am 20. Juli 2010 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 465. Plenartagung am 15./16. September 2010 (Sitzung vom 16. September) mit 146 gegen 45 Stimmen bei 16 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1   Die Finanzkrise von 2008 und die darauf folgende Wirtschaftskrise erreichten ein seit dem Zweiten Weltkrieg nicht da gewesenes Ausmaß. Als sich Anfang 2010 eine Erholung von dieser Rezession abzuzeichnen begann, kam es zum Ausbruch einer diesmal nicht weltweiten, sondern europäischen Staatsanleihenkrise. Die Notwendigkeit, die öffentlichen Haushalte bei den Kosten im Zuge von Stützmaßnahmen für die Banken und sonstigen Ermessensmaßnahmen zu entlasten, wie auch die steigende Arbeitslosigkeit und die zusätzlichen Sparmaßnahmen in zahlreichen Ländern, sind eine Bedrohung für das Wirtschaftswachstum. Vor diesem Hintergrund sind nach Ansicht des EWSA politische Maßnahmen nicht nur deshalb erforderlich, um die Wirtschaft neu zu beleben, sondern auch um zu verhindern, dass Europa erneut in eine Rezession gerät.

1.2   Die EU verzeichnete 2009 ein negatives Wachstum von – 4,1 %. Vor der Staatsanleihenkrise im Frühjahr wurde für 2010 ein Wachstum von 0,7 % prognostiziert. Die Arbeitslosigkeit wird 2010 voraussichtlich bei ca. 10 % liegen und mit einem Rückgang der Erwerbsquote um 2 % verbunden sein. Das durchschnittliche Haushaltsdefizit stieg von 2,3 % im Jahr 2008 auf 6,8 % im Jahr 2009 und wird 2010 den Schätzungen zufolge 7,5 % erreichen. Während der Finanzkrise wurde die Liquidität auf dem Finanzmarkt durch massive Zahlungen aus den öffentlichen Haushalten gesichert. Der vor der Krise verzeichnete private Kreditboom wurde mittlerweise von einem hohen Bedarf an öffentlichen Krediten abgelöst. Um die Nachfrage zu steigern, braucht gleichzeitig der Privatsektor noch weitere Kredite. Die Wirtschaftslage der Mitgliedstaaten ist sehr unterschiedlich. Am höchsten sind die Haushaltsdefizite in Griechenland und anderen Mittelmeerländern sowie im Vereinigten Königreich und in Irland. Die höchsten Arbeitslosenquoten verzeichnen die baltischen Länder und Spanien. Gleichzeitig ist es den baltischen Ländern innerhalb kurzer Zeit gelungen, die hohen Staatsdefizite und das negative Wachstum durch eine strikte Wirtschaftspolitik zu verringern.

1.3   Eine Einstiegsstrategie

Aufgrund der weitreichenden wirtschaftlichen Veränderungen der letzten Jahrzehnte ist es unangemessen, von einer Ausstiegsstrategie zu sprechen. Wir müssen mittels neuer wirtschaftlicher und politischer Initiativen zu einem Fahrplan für die sich neu herausbildende Gesellschaft gelangen - d.h. einer Einstiegsstrategie.

1.4   Der privater Verbrauch ist für die Gesamtnachfrage von grundlegender Bedeutung

Infolge der restriktiven Auswirkungen der Vorschläge zur Verringerung der höchsten Staatsdefizite auf die gesamteuropäische Wirtschaft ist ein selbsttragendes Wachstum in die Ferne gerückt. Der EWSA unterstreicht die Bedeutung der Gesamtnachfrage und insbesondere des privaten Verbrauchs für die Andauer des Wachstumsprozesses. Um mit der wirtschaftlichen Unterstützung deutlichen Einfluss auf das Wachstum nehmen zu können, müssen die unteren Einkommensgruppen ins Visier genommen werden. Da sie einen größeren Teil ihres Einkommens verbrauchen, wird weniger Geld in höheren Ersparnissen versickern. Wenn es gelingt, die seit Jahrzehnten andauernde Verlagerung von der Arbeit hin zum Kapital umzukehren, kann eine Quelle künftigen Wachstums erschlossen werden. Investitionen und Exporte sind selbstverständlich wichtig, aber da der private Verbrauch ca. 60 % des BIP ausmacht, ist seine Entwicklung für das Wachstum - insbesondere in der gegenwärtigen Lage - von entscheidender Bedeutung.

1.4.1   Die Auswirkungen der Sparprogramme abschätzen

Die Wachstumsmöglichkeiten werden durch hohe Arbeitslosigkeit, eine niedrigere Erwerbsquote, moderate Einkommenssteigerungen, Kürzungen der öffentlichen Ausgaben, Steuererhöhungen und die neuen Sparprogramme eingeschränkt. Unter diesen Umständen sollte die Kommission unverzüglich die bremsende Wirkung all dieser Faktoren bewerten und Vorschläge für wachstumssichernde Gegenmaßnahmen vorlegen. Wachstum ist für andere wirtschaftspolitischen Ziele notwendig. Stillhalten und abwarten, bis die restriktive Wirkung der Sparprogramme einsetzt, ist keine Lösung.

1.5   Die Entwicklung der Wettbewerbsfähigkeit messen

Die Leistungsbilanz wurde im Rahmen der wirtschaftspolitischen Ziele nicht angemessen berücksichtigt. Angesichts der seit Langem bestehenden Defizite und Überschüsse in einigen Ländern lag es auf der Hand, dass die Probleme der EU-Wirtschaftskrise des Frühjahrs 2010 eines Tages auftreten würden. Der EWSA unterstreicht, dass die großen Leistungsbilanzunterschiede abgebaut werden müssen. Zentrales Ziel wird dann die in realen Lohnstückkosten gemessene Wettbewerbsfähigkeit, die Lohn- und Produktivitätsentwicklung sein. Während der letzten zehn Jahre ist die Wettbewerbsfähigkeit Irlands, Griechenlands, Italiens, Spaniens und Portugals im Durchschnitt um 10 % zurückgegangen, Haushaltsprobleme waren unvermeidlich.

1.5.1   Leistungsbilanz als Kriterium des Stabilitäts- und Wachstumspakt

Bei einer unterschiedlichen Lohn- und Produktivitätsentwicklung innerhalb eines Währungsraums besteht die einzige Lösung darin, in den hinterherhinkenden Ländern die relativen Löhne zu verändern oder die Produktivität zu steigern. Der EWSA schlägt daher vor, dass die Kommission ähnlich wie für die öffentlichen Defizite und Schulden eine Überprüfung der Leistungsbilanzen vornimmt. Dies kann durch eine Änderung der Verordnungen zum Stabilitäts- und Wachstumspakt formal geregelt werden. Die Leistungsbilanzen wie auch die ursächlichen Lohn- und Produktivitätsentwicklungen sollten in allen 27 Mitgliedstaaten überprüft werden, jedoch mit mehr Handlungsbefugnissen in den Euroländern. Auf diese Weise wird die Realwirtschaft in den Stabilitäts- und Wachstumspakt einbezogen.

1.5.2   Statistiken über private Darlehen und ausländische Anteile von Staatsschulden

Bei den Diskussionen über den Stabilitäts- und Wachstumspakt sollten neue Statistiken über private Darlehen und der ausländische Anteil von Staatsschulden berücksichtigt werden.

1.6   Effektivere Regulierungs- und Aufsichtsverfahren im Finanzsektor

Im Hinblick auf den Finanzsektor könnte es eine wirkungsvolle Maßnahme sein, wenn ein Teil des Bankkapitals in öffentlicher Hand verbleibt, um Einblicke in den Banksektor zu bekommen. Die Erfahrungen des Jahres 2010 im Finanzbereich zeigen, dass die vorgeschlagene finanzielle Überwachung und Regulierung nicht ausreicht. Effektivere Regulierungs- und Aufsichtsmaßnahmen sind notwendig, insbesondere nach dem Verhalten des Banksektors in der Griechenland-Krise, um dieses Verhalten zu ändern und neue Wege zur Finanzierung der Staatsschulden zu finden.

1.7   Öffentliche Investitionen in den Bereichen Infrastrukturen und Energie

Bei Investitionen muss der Schwerpunkt auf dem Umweltschutz und Maßnahmen zur Eindämmung des Klimawandels liegen. Der EWSA spricht sich dafür aus, den Markt mit Hilfe von Steuern zur Verringerung der Schadstoffemissionen zu bewegen. In Zeiten mangelnder Unternehmensinvestitionen muss der öffentliche Sektor mit Investitionen in Infrastruktur und Energie in die Bresche springen. Gemäß dem überarbeiteten Stabilitäts- und Wachstumspakt dürfen solche Investitionen bei der Feststellung eines übermäßigen Defizits nicht berücksichtigt werden.

1.8   Aktive Arbeitsmarktpolitik

Im Mittelpunkt der Arbeitsmarktpolitik sollte die Suche nach neuen Kompetenzen für neue Arbeitsplätze stehen. Außerdem muss der allgemeine Bildungsstand angehoben werden. Die Strategie Europa 2020 ist dafür wichtig. Zu den Maßnahmen zur Anhebung der Beschäftigungsrate zählen natürlich eine qualitativ hochwertige Kinderbetreuung und ein Elternurlaub, der lang genug ist und ausreichend vergütet wird.

1.9   Eine Eintrittsstrategie für Familienpolitik und Maßnahmen zur Entwicklung der Kompetenzen

Wenn der Bedarf an Arbeitslosenunterstützung zurückgeht, sollten die gleichen öffentlichen Mittel in die Familienpolitik und die Maßnahmen zur Entwicklung der Kompetenzen fließen. Aus einer Ausstiegsstrategie wird eine Einstiegsstrategie. Die Architektur der Sozialsysteme muss zu Wohlstand und Beschäftigung führen, wenn auch natürlich im Rahmen der finanziellen Möglichkeiten.

1.10   Neue Einnahmequellen – Steuern auf Finanztransaktionen und CO2-Emissionen

Steuern auf Finanztransaktionen und CO2-Emissionen sind mögliche neue Einnahmequellen für die öffentliche Hand. Neben der Steigerung der Einnahmen können sie auch zur Verringerung der Kurztermingeschäfte auf dem Finanzmarkt und zur Verbesserung unserer Umwelt beitragen.

1.11   Ausgabe von Eurobonds durch die EIB

Durch die Ausgabe von Eurobonds - oder besser EU-Bonds unter Einbeziehung aller 27 Mitgliedstaaten - durch die EIB könnte für den öffentlichen Sektor neues Kapital ohne völlige Abhängigkeit vom privaten Finanzsektor aufgebracht werden. Die Finanzierungsquellen sollten vorgelagert sein, z.B. in Form von Einrichtungen der betrieblichen Altersversorgung (EBAV); damit würde die EIB zu einer Schnittstelle zwischen diesen neuen Kapitalquellen und ihren Investitionen. Eurobonds sind ebenfalls mögliche Instrumente für langfristige private Sparanlagen.

2.   Aktueller Stand  (1)

2.1   Die Finanzkrise von 2008 und die darauf folgende Wirtschaftskrise erreichten ein seit dem Zweiten Weltkrieg nicht dagewesenes Ausmaß. Als sich Anfang 2010 eine Erholung von dieser Rezession abzuzeichnen begann, kam es zum Ausbruch einer - diesmal nicht weltweiten, sondern europäischen - Staatsverschuldungskrise. Die Notwendigkeit, die öffentlichen Haushalte von Stützmaßnahmen für die Banken und andere Branchen sowie von Ausgaben für sonstige Ermessensmaßnahmen zu entlasten, wie auch die steigende Arbeitslosigkeit und die zusätzlichen Sparmaßnahmen in zahlreichen Ländern sind eine Bedrohung für das Wirtschaftswachstum. Vor diesem Hintergrund sind nach Ansicht des EWSA politische Maßnahmen nicht nur deshalb erforderlich, um die Wirtschaft neu zu beleben, sondern auch, um zu verhindern, dass Europa erneut in eine Rezession gerät.

2.2   Negatives Wachstum

2.2.1   Als das Europäische Konjunkturprogramm im Dezember 2008 beschlossen wurde, ging man von einem Wirtschaftswachstum für 2009 von +/- Null aus, das dann schließlich bei minus 4,1 % lag. Das Programm basierte auf viel zu optimistischen Annahmen. Ohne fiskalpolitische Impulse wäre die Lage aber noch schlechter gewesen.

2.2.2   Das Niveau der wirtschaftlichen Unterstützung seitens der Mitgliedstaaten war mit 1,2 % des BIP größer als geplant, für 2009 und 2010 könnte es bei 2,7 % des BIP liegen. Der in den Mitgliedstaaten festgestellte Mittelbedarf überstieg die geplante Unterstützung, aber angesichts der Wachstumsentwicklung waren die Maßnahmen immer noch unzureichend.

2.2.3   Die wirtschaftlichen Anreize wurden nicht nur von den öffentlichen Haushalten gesetzt. Die EZB und andere Zentralbanken senkten die Zinssätze bis nahe Null und steigerten die Liquidität im Wirtschaftssystem auf eine bislang nie dagewesene Höhe. Einige Mitgliedstaaten wendeten zudem enorme Summen öffentlicher Gelder zur Rettung einiger Banken auf. Trotzdem wurde 2009 das Negativwachstum durch diese Maßnahmen nicht verhindert, was die Schwere der Finanz- und Wirtschaftskrise belegt.

2.2.4   Vor der Krise des Frühjahrs 2010 lag die Wachstumsprognose für 2010 bei 0,7 % und damit unter den Prognosen für unsere wichtigsten globalen Wettbewerber. Positive Aspekte sind die Aufwärtsbewegung bei den Indikatoren für Vertrauen, verstärktes Wachstum in anderen Teilen der Welt und die Rückkehr des Welthandels auf ein Niveau, das annähernd dem früheren Volumen entspricht. Als negative Aspekte sind zu vermelden: die Unternehmensinvestitionen waren im vierten Quartal 2009 immer noch rückläufig, bei der Industrieproduktion sind keine spürbaren Verbesserungen zu erkennen, die jüngsten Nachfrageanstiege dienten nur zur Erhöhung der Lagerbestände, die extrem niedrige Kapazitätsauslastung ist kein Ansporn zu Investitionen, das Bankwesen gewährt keinerlei Spielräume für erhöhte Investitionen und obendrein sind auch noch Turbulenzen auf dem Markt für Staatsanleihen zu verzeichnen.

2.3   Handel

Der Welthandel brach im vierten Quartal 2008 ein. Im Jahr zuvor war er um 20 % gestiegen, nun aber ging er um 12 % zurück. Der Rückgang setzte sich in den folgenden Quartalen fort. Der stärkste Rückgang in einem Quartal in Bezug auf das Vorjahrsquartal betrug ca. 30 %. Im vierten Quartal 2009 war mit einem Anstieg um 4 % eine Trendumkehr festzustellen. Die Zahlen für die EU sind fast identisch. Der Rückgang war im innergemeinschaftlichen Handel etwas ausgeprägter als im Handel mit Drittstaaten.

2.4   Arbeitsmarkt

2.4.1   Es wird immer noch von einer Zunahme der Arbeitslosigkeit infolge der Krise ausgegangen, da solche Effekte im Allgemeinen der realwirtschaftlichen Entwicklung hinterherhinken. 2010 wird die Arbeitslosigkeit in der EU bei ca. 10 % - mit erheblichen Unterschieden zwischen den Mitgliedstaaten - liegen, was einen Anstieg um 3 % innerhalb eines Jahres bedeutet.

2.4.2   Arbeitslosigkeit ist nur eine der Auswirkungen, eine andere ist der Rückgang der Beschäftigungsquote, der bei ca. 2 % der Erwerbsbevölkerung lag. Außerdem wurde für viele Beschäftigte die Arbeitszeit reduziert, um Arbeitsplätze zu erhalten, was einem weiteren Rückgang der Erwerbsbevölkerung um 1 % entspricht. Bei einer wirtschaftlichen Erholung wird in letztgenannten Bereich zuerst wieder der Normalzustand erreicht werden. Das Wachstum muss stark genug sein, ansonsten handelt es sich um ein „Wachstum ohne Beschäftigung“.

2.5   Öffentliche Defizite

Das durchschnittliche Haushaltsdefizit stieg von 2,3 % des BIP im Jahr 2008 auf 6,8 % im Jahr 2009 und wird 2010 voraussichtlich 7,5 % erreichen. Diese Verschlechterung ist nicht nur auf aktive Unterstützungsmaßnahmen, sondern auch auf erhöhte Ausgaben und verringertes Steueraufkommen aufgrund des Mechanismus der automatischen Stabilisatoren zurückzuführen. Laut OECD wurden durch diese sozialen Sicherungsmechanismen in Europa mehr Arbeitsplätze gerettet als in anderen Wirtschaftssystemen.

2.6   Finanzmarkt

2.6.1   Auch im Jahr 2010 ist die Lage auf dem Finanzmarkt immer noch unklar. Es ist nicht zu erkennen, ob die nach wie vor niedrige Investitionsrate auf anhaltende Liquiditäts-Engpässe, Risikovermeidung der Kreditinstitute oder mangelnde Nachfrage seitens der Industrie zurückzuführen ist.

2.6.2   Eine Rückkehr des Kreditmarkts zu eher langfristigen anstelle von kurzfristigen Transaktionen ist notwendige Voraussetzung für eine nachhaltige wirtschaftliche Erholung. Dieser Aspekt wird in einer Stellungnahme des EWSA zum Thema Steuern auf Finanztransaktionen (2) vertieft.

2.6.3   Seit 2006 und bis zum Ausbruch der Finanzkrise war ein enormer Anstieg von Privatkrediten festzustellen (3). Die Schulden privater Haushalte verdoppelten sich im Euroraum genauso wie in den USA. Die privaten Ausgaben waren hoch und führten in einigen Ländern zu hohen Leistungsbilanzdefiziten. 2009 verschwand dieser Privatkredit-Boom und wurde teilweise durch Schulden der öffentlichen Hand ersetzt. Die hohen Haushaltsdefizite werden in den kommenden Jahren anhalten. Gleichzeitig muss die Nachfrage des Privatsektors erhöht werden, um die Erholung auf den Weg zu bringen, und für beides sind Kredite erforderlich.

2.6.4   Die Rentenkassen wurden durch erhebliche Kursrückgänge bei Wertpapieren getroffen, die für 2009 auf real 24 % veranschlagt werden (4). Die Renten sind in Gefahr, wodurch die Möglichkeiten für eine Ankurbelung der privaten Nachfrage eingeschränkt werden. Versorgungsansprüche aus Rentenkassen sind ausgesprochen langfristig, die Rentenkassen legen ihre Guthaben aber sehr viel kurzfristiger an. Deshalb muss die Quote langfristiger Finanzierungsinstrumente auf dem Kapitalmarkt sowohl für Pensionsfonds als auch für andere Altersversorgungseinrichtungen, wie z.B. Versicherungsunternehmen, erhöht werden.

2.7   Länderüberblick

2.7.1   Der stärkste Rückgang des BIP aller Mitgliedstaaten war in Deutschland und im Vereinigten Königreich zu verzeichnen. Unter den kleinsten Mitgliedstaaten war der Rückgang in den drei baltischen Ländern 2009 am größten - nach einer Reihe von Jahren mit sehr starker Zunahme des BIP. In diesen Jahren waren auch die Löhne sehr stark und überproportional im Vergleich zum Produktivitätszuwachs gestiegen. Die baltischen Länder - insbesondere Litauen - reagierten aber sehr schnell mit Lohnsenkungen auf die Krise. Die größten Lohnzuwächse waren 2009 in Griechenland zu verzeichnen, die mit keinem entsprechenden Produktivitätszuwachs einhergingen. Die Ausnahme bildete 2009 Polen, das ein Wachstum von 1,7 % aufwies. Gründe dafür liegen in der Zunahme öffentlicher Investitionen und des privaten Verbrauchs sowie in einer recht erfreulichen Beschäftigungsentwicklung.

2.7.2   Die baltischen Staaten - gefolgt von Bulgarien und Spanien - beklagen 2009 auch den größten Rückgang in der Beschäftigungsquote. Kein Mitgliedstaat konnte seine Beschäftigungsquote halten, aber in Deutschland betrug der Rückgang lediglich 0,4 %. Die Arbeitslosenquote war 2009 in Lettland mit 21,7 % am höchsten, gefolgt von Litauen, Estland, Spanien, der Slowakei und Irland.

2.7.3   In den Turbulenzen der Staatsanleihenkrise im Jahr 2010 stellte sich heraus, dass das Staatsdefizit Griechenlands ca. 13 % des BIP beträgt, was zu spekulativen Angriffen auf den Euro führte. Ein ähnliches Defizit wurde für das Vereinigte Königreich festgestellt. Das Defizit in Spanien stieg quasi „über Nacht“ auf ein unhaltbares Niveau. Gegen die großen Defizite und die hohe Staatsverschuldung werden in diesen Ländern sowie u.a. in Portugal, Italien und Irland Sparmaßnahmen beschlossen.

3.   Konkrete Initiativen für die Neubelebung der Wirtschaft

3.1   Keine „Ausstiegs-“, sondern vielmehr eine „Einstiegsstrategie“

3.1.1   Es wurde viel über eine „Ausstiegsstrategie“ - d.h. den Rückzug des Staates aus sämtlichen außerordentlichen Unterstützungsmaßnahmen für die Wirtschaft - debattiert. Die rechtlichen Gründe dafür liegen in der Vorschrift, dass das Haushaltsdefizit höchstens 3 % und die Staatsschulden höchsten 60 % des BIP betragen dürfen. Wie die Kommission in der Mitteilung Europa 2020 zutreffend deutlich machte, „sollten Stützungsmaßnahmen erst auslaufen, wenn sich die wirtschaftliche Erholung selbst trägt (5). Bei allen Unsicherheiten, die unsere Volkswirtschaften kennzeichnen, wird sehr schwer festzustellen sein, wann genau sich der Aufschwung von selbst trägt. Infolge der restriktiven Auswirkungen der Vorschläge zur Verringerung der höchsten Staatsdefizite auf die gesamteuropäische Wirtschaft ist ein selbsttragendes Wachstum in die Ferne gerückt. Überdies bedeutet eine Ausstiegstrategie in diesem Sinne, dass wir nach dem Stopp für die Unterstützungsmaßnahmen zur Vorkrisensituation zurückkehren könnten, was nicht der Fall ist.

3.1.2   Erstens werden derzeit in Bezug auf den Finanzsektor zahlreiche Änderungen umgesetzt oder vorbereitet. Es steht zu hoffen, dass der Finanzsektor transparenter und krisenresistenter wird. Zweitens muss sich die Lage auch in anderen Bereichen der Wirtschaft verändern, ansonsten besteht die Gefahr, dass sich die Probleme, mit denen wir in den letzten Jahren zu kämpfen hatten, erneut stellen.

3.1.3   Das Überdenken der wirtschaftlichen Veränderungen der letzten Jahrzehnte sollte uns dabei behilflich sein, neue wirtschaftliche und politische Initiativen zu erarbeiten, um die Wirtschaft weniger krisenanfällig zu machen. Deshalb kann hier nicht von einem Vorschlag für eine Ausstiegsstrategie die Rede sein, denn wenn wir einen Fahrplan für eine Ausstiegsstrategie festlegen, entscheiden wir auch über die sich neu herausbildende Gesellschaft - d.h. wir entscheiden über eine Einstiegsstrategie.

3.2   Gesamtnachfrage

3.2.1   Theoretisch gibt es zwei Möglichkeiten zur Erzielung von Wirtschaftswachstum: Steigerung der Produktion mit der gleichen Technologie oder Verbesserung der Technologie zur optimierten Verwendung der bestehenden Produktivmittel. Es hängt von der jeweiligen wirtschaftlichen Lage ab, auf welche dieser beiden Möglichkeiten das Schwergewicht zu legen ist. In einer Hochkonjunkturphase wird auf alle Ressourcen zurückgegriffen und Wachstum kann nur mittels Investition in innovative Produktionsverfahren erzielt werden. In einer Rezession - wie der ab 2008 - gibt es zahlreiche ungenutzte Ressourcen, die einer Verwendung zugeführt werden müssen. Deshalb ist eine Politik der Nachfrageförderung erforderlich. Die Gesamtnachfrage wird indes leider nicht mehr als echter Motor für Wirtschaftswachstum anerkannt.

3.2.2   Maßnahmen zur Nachfrageförderung müssen nicht nur unmittelbare Auswirkungen auf Verbrauch und Investitionen haben, sie müssen auch das Vertrauen der Verbraucher und Investoren mehren. Genau so wie automatische Stabilisatoren während des konjunkturellen Abschwungs funktionieren, kann verstärktes Vertrauen in Aufschwungsphasen wirken. Vertrauen kann die Wirkung öffentlicher Maßnahmen verstärken und zu einem selbsttragenden Aufschwung führen. Für das Eintreten dieses Falles sind nicht nur die Höhe der Unterstützung, sondern auch die Gruppen, denen diese zugute kommt, von Bedeutung. Bevölkerungsgruppen mit niedrigerem Einkommen verwenden einen größeren Teil ihres Einkommens für den Konsum als Bevölkerungsgruppen mit höherem Einkommen. Deshalb gilt: Je mehr Unterstützung die erstgenannten Gruppen erhalten, desto weniger wird davon durch eine erhöhte Sparquote aufgesogen.

3.2.3   In Bezug auf das ursprüngliche Konjunkturprogramm könnte die Wirkung hinter den Erwartungen zurückbleiben, da ein Großteil der Maßnahmen der Mitgliedstaaten bereits geplant war und keinerlei zusätzlichen Wachstumsimpulse setzte. Die Kommission betonte im Frühjahr 2010 zu Recht, dass wachstumsfördernde Maßnahmen sozial wirksam sein müssen. Die Wachstumsprognose für 2010 liegt unter 1,5 %, das von vielen Wirtschaftswissenschaftlern als das Wachstumspotenzial der EU angesehen wird. Aber selbst bei einem Wachstum von 1,5 % würden Arbeitslosigkeit und Haushaltsdefizite nicht rasch genug abgebaut.

3.2.4   Der EWSA unterstreicht die Bedeutung der Gesamtnachfrage für die Ankurbelung des Wachstums und verweist insbesondere auf die Bedeutung des privaten Verbrauchs.

3.2.5   Erhöhte Investitionen sind ebenfalls wichtig. Gemäß dem überarbeiteten Stabilitäts- und Wachstumspakt ist es möglich, die Korrektur eines übermäßigen Defizits aufzuschieben, wenn die übermäßigen Ausgaben für Investitionen getätigt werden. Investitionen sind allerdings nicht immer das einzige Instrument, um höheres Wachstum zu erzielen.

3.2.6   Andererseits sind erhöhte Ausfuhren auch nicht hinreichend. Der Handel findet in der EU vorwiegend zwischen den Mitgliedstaaten statt. Der Anteil des Handels mit Drittstaaten - Ausfuhren in andere weltwirtschaftliche Regionen - betrug lange Zeit ca. 10 % des BIP der EU. Der Anteil der EU am Welthandel beträgt ein Drittel. Wird jedoch der innergemeinschaftliche Handel ausgeklammert, sinkt dieser Anteil auf 16 %. Der Handel ist wichtig, er ist auch ein Gradmesser für die globale Wettbewerbsfähigkeit. Es gibt Anzeichen für einen Anstieg der Ausfuhren in den Rest der Welt, was natürlich durchaus positiv ist. Angesichts unzureichender Investitionen und der Verschlechterung der Lage auf dem Arbeitsmarkt ist dies allerdings nur ein schwacher Trost.

3.2.7   Laut ILO (6) findet bereits seit über zehn Jahren in der Weltwirtschaft eine Schwerpunktverlagerung von der Arbeit zum Kapital statt. Von 1999 bis 2007 ist die Gewinnquote in der EU-27 von 37 % auf 39 % des BIP gestiegen. Nach einem drastischen Rückgang auf 36 % im zweiten Halbjahr 2008 stieg sie im Lauf des Jahres 2009 auf 37 % (7). Es gibt Anzeichen für eine zunehmend ungleiche Einkommensverteilung.

3.2.8   Der private Verbrauch hat den Löwenanteil am BIP, der je nach den von den öffentlichen oder privaten Einrichtungen gemäß dem politischen System eines jeden Mitgliedstaates unternommenen Maßnahmen erheblich schwanken kann. Gleichwohl kann eine Veränderung des Anteils des privaten Verbrauchs auch auf einen Wandel der Einkommensverteilung hinweisen. Der Verbrauch war 2008 auf einen Anteil von 58 % am BIP der EU zurückgegangen, gegenüber 60 % im Jahr 2005 und 61 % im Jahr 2000. Wenngleich dies nur eine geringe Veränderung über einen langen Zeitraum ist, ist es einen Hinweis dafür, dass es Luft für eine Steigerung des privaten Verbrauchs als Mittel zur Belebung der Gesamtnachfrage gibt (8), insbesondere in der gegenwärtigen Wirtschaftslage.

3.2.9   Im Jahr 2010 sind indes bei hoher Arbeitslosigkeit und zurückgegangener Erwerbsquote, die mit bescheidenen Lohnerhöhungen einhergehen, keine Anzeichen für eine Zunahme des Verbrauchs zu erkennen, der eher abzunehmen scheint. Eine Reduzierung der öffentlichen Unterstützungsmaßnahmen ist deshalb zum gegenwärtigen Zeitpunkt keine sinnvolle Politik. Angesichts dieser Schlussfolgerung ist die gegenwärtige Lage (im Jahr 2010) mit massiven Einschnitten bei den öffentlichen Ausgaben und Erhöhungen der Steuereinnahmen aus wirtschaftspolitischer Sicht äußerst problematisch. Der durch die öffentlichen Haushalte verursachte unvermeidliche Rückgang der Gesamtnachfrage ist insofern definitiv prozyklisch, als er die Wachstumsmöglichkeiten einschränken wird. Die Auswirkungen, d.h. vor allem die Kürzung des Einkommens der Beschäftigten im öffentlichen Dienst, wird in Form einer geringeren Nachfrage auf die Wirtschaft insgesamt durchschlagen. Das Wachstum wird nicht seine potenzielle Rate erreichen können.

3.2.9.1   Für die EU sind Schätzungen über die möglichen restriktiven Auswirkungen dieser neuen Haushaltskürzungen von höchstem Interesse. Es wurden drastische Maßnahmen ergriffen. Desgleichen dürfte es im Interesse der EU liegen, diejenigen Länder, die sich nicht in einer so extrem schwierigen Situation befinden, zu einem Gegensteuern zu veranlassen, d.h. einer Steigerung der Gesamtnachfrage. Die Kommission sollte unverzüglich eine Schätzung über den Umfang dieser Gegenmaßnahmen vornehmen und anschließend angemessene Vorschläge unterbreiten. Die Kommission gedenkt, dies in der Wirtschaftsprognose im November 2010 zu tun. Dies ist aber zu spät. Das Wachstum lag im ersten Quartal 2010 - allerdings vor den Sparprogrammen - nahe bei den prognostizierten 0,7 %. Stillhalten und abwarten, bis die restriktive Wirkung der Sparprogramme einsetzt, ist keine Lösung.

3.2.9.2   Der EWSA ist der Auffassung, dass die aktuelle wirtschaftliche Lage neue Diskussionen erforderlich macht. Die 3 %-Grenze für Haushaltsdefizite sollte beibehalten werden, aber es muss über die großen Unterschiede bei den Defiziten gesprochen werden, da Staaten mit sehr hohen Defiziten definitiv eine Haushaltssanierung vornehmen müssen. Die Anforderungen an andere Länder, deren Defizit an der 3 %-Marke oder leicht darüber liegt, sollten etwas milder sein. Wo noch immer die Möglichkeit besteht, Defizite mit relativ niedrigen Zinsraten zu finanzieren, gibt es ein Interesse, vor allzu drastischen Haushaltsmaßnahmen vorläufig abzusehen. Eine Lektüre des überarbeiteten Stabilitäts- und Wachstumspakts aus dem Jahr 2005 zeigt, dass dies den damals vorgenommenen Änderungen sehr wohl entspricht, insbesondere in Bezug auf öffentliche Investitionen und den Handlungszwängen in Rezessionen.

3.3   Leistungsbilanz wieder auf der politischen Tagesordnung

3.3.1   Preisstabilität, Wirtschaftswachstum und Vollbeschäftigung waren beim Streben nach Wohlstand seit Langem die vorherrschenden Ziele der Wirtschaftspolitik. Ein ausgeglichener Haushalt und die Eindämmung der Staatsschulden sind Zwischenziele, mit denen das Erreichen der echten Ziele sichergestellt werden soll. Zwei Ziele wurden seit Langem nicht mehr berücksichtigt: eine gerechte Einkommensverteilung und die Leistungsbilanz. Letztere büßte an Bedeutung ein, was ein Fehler war. Bei einem Binnenmarkt mit einer einheitlichen Währung ist dieses Ziel von grundlegender Bedeutung.

3.3.2   Betrachtet man die Leistungsbilanz, d.h. die Handelsbilanz mit anderen Ländern, wird klar und deutlich, welche Entwicklung der Euroraum nehmen musste. Im Laufe der Zeit hat Griechenland ein hohes Leistungsbilanzdefizit aufgebaut, wohingegen Deutschland, die Niederlande und Schweden lange Zeit Überschüsse aufwiesen. Andererseits haben die meisten Mittelmeerländer Leistungsbilanzdefizite, das gleichwohl in Bulgarien am größten ist.

3.3.3   Kurzfristig sind selbst hohe Leistungsbilanzdefizite oder -überschüsse kein Problem. Problematisch wird es erst dann, wenn die Ungleichgewichte viele Jahre lang anhalten oder wenn eingeführtes Kapital nicht richtig investiert wurde und potenzielle Produktivitätsgewinne nicht erzielt werden. Im Euroraum weisen Griechenland, Portugal, Spanien, Italien und Irland praktisch seit der Einführung des Euro ziemliche hohe Leistungsbilanzdefizite auf. Außerhalb des Euroraums sind die Defizite der baltischen Länder und Bulgariens extrem hoch. Große Defizite können nur mittels einer außerordentlich rigiden Wirtschaftspolitik - wie 2009 in Estland, Lettland und Litauen durchgeführt - abgebaut werden.

3.3.4   Nachdem der EWSA auf die großen Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten hingewiesen hat, möchte er betonen, dass diese Unterschiede verringert werden müssen. Das führt zum zentralen Ziel der Wettbewerbsfähigkeit. Wettbewerbsfähigkeit wird durch die Entwicklung der realen Lohnstückkosten gemessen, die die Auswirkungen der Lohn- und der Produktivitätsentwicklung insgesamt widerspiegelt. Im Euroraum ist vor allem die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands und Österreichs aufgrund niedrigerer realer Lohnstückkosten gestiegen. Anderseits sind die Löhne in Deutschland seit 2008 stärker gestiegen als die Produktivität, was zu Einbußen bei der Wettbewerbsfähigkeit geführt hat. Im letzten Jahrzehnt ist die Wettbewerbsfähigkeit in Irland, Griechenland, Italien, Spanien und Portugal im Durchschnitt um 10 % gesunken (9). Eine anhaltende Verschlechterung der Wettbewerbsfähigkeit kann zu Haushaltsproblemen führen. Diese Auswirkungen wurden durch die Ereignisse des Jahres 2010 verdeutlicht. Deren Hauptursache, die in Veränderungen der Wettbewerbsfähigkeit zu suchen ist, wurde nicht angemessen zur Kenntnis genommen.

3.3.5   Da den Ländern des Euroraums nicht mehr das Instrument der Wechselkursänderung zur Verfügung steht, müssen zur Beobachtung des Verlaufs der relativen Wettbewerbsfähigkeit – die mit einem höheren Preisniveau als in anderen Ländern einhergeht – die „realen Wechselkurse“ herangezogen werden. Weicht die Entwicklung der Löhne und der Produktivität innerhalb eines Währungsraums ab, gibt es keine andere Möglichkeit zur Beseitigung der Probleme, als die relativen Löhne der Länder zu verändern oder die Produktivität in den hinterherhinkenden Ländern mittels Investitionen zu erhöhen. Es wäre absurd, von den Ländern mit einer guten Produktivitätsentwicklung zu verlangen, diese Entwicklung zu stoppen.

3.3.6   Die in der Krise des Frühjahrs 2010 gemachten Erfahrungen zeigen, dass Eurostat mit Prüfbefugnissen gegenüber den nationalen statistischen Ämtern ausgestattet werden sollte. Wenn statistische Daten über die Leistungsbilanz sowie die Lohn- und Produktivitätsentwicklung die Grundlage für neue politische Debatten auf europäischer Ebene sind, wird es noch wichtiger sein, über genaue Statistiken zu verfügen.

3.3.7   Der EWSA empfiehlt, die beiden Ziele in puncto Haushaltsbilanz und Staatsschulden durch ein drittes Ziel für die Leistungsbilanz vorzuschlagen. Diese kann nicht durch eine einzige Zahl widergespiegelt werden. Leistungsbilanzüberschüsse in einigen Ländern entsprechen immer Leistungsbilanzdefiziten in anderen Ländern. Probleme treten aber dann auf, wenn die Unterschiede zu groß sind, zu unvermittelt auftreten oder wenn importiertes Kapital nicht für produktive Investitionen verwendet wird.

3.3.8   Der EWSA legt der Kommission deshalb - analog zur Überwachung des Haushaltsdefizits und des Schuldenstands - eine obligatorische Überprüfung der Leistungsbilanzen der Euroländer nahe. Dies wurde nun auch von der Kommission in den Grundzügen der Wirtschaftspolitik und in einem Dokument zur Stärkung der wirtschaftlichen Erholung vorgeschlagen. Diese Fragen werden derzeit auch in der Arbeitsgruppe „Wirtschaftspolitische Steuerung“ unter dem Vorsitz von EU-Ratspräsident Herman VAN ROMPUY erörtert.

3.3.9   Der EWSA dringt auf eine konzeptuelle Stärkung dieser Vorschläge. Die neuen Zielvorgaben im Hinblick auf die Leistungsbilanz sollten genauso wie die beiden bestehenden Ziele des Stabilitäts- und Wachstumspakts behandelt werden. Die Leistungsbilanzen wie auch die zugrunde liegenden Lohn- und Produktivitätsentwicklungen sollten von der Kommission für alle 27 Mitgliedstaaten überprüft werden. Was die Ergreifung von Maßnahmen gegen Länder mit einer negativen Entwicklung angeht, sollten jedoch ebenso wie bei den öffentlichen Defiziten und Schulden mehr Befugnisse gegenüber den Euroländern vorgesehen werden. Das Handeln der EU sollte darin bestehen, die Richtung für Politikänderungen vorzugeben, nicht aber, diese praktisch umzusetzen. Dies wird weiterhin Sache der Mitgliedstaaten unter Wahrung des Subsidiaritätsprinzips sein. Durch eine Änderung der Verordnungen zum Stabilitäts- und Wachstumspakt könnte die Realwirtschaft - oder mit anderen Worten die makroökonomische Dimension - in den Stabilitäts- und Wachstumspakt einbezogen werden.

3.3.10   Die Krise hat gezeigt, dass auch andere Aspekte des Stabilitäts- und Wachstumspakts weiterentwickelt werden müssen. Statistiken über Privatkredite und der Anteil ausländischer Darlehen an den Staatsschulden sollten zusammen mit den üblichen, gemäß Stabilitäts- und Wachstumspakt erforderlichen Statistiken veröffentlicht werden. Diese neuen Zahlen könnten als Frühwarnsystem und als Druckmittel gegen Länder mit problematischer Wirtschaftslage verwendet werden.

3.4   Weitere Schlüsselbereiche für eine Neubelebung der europäischen Wirtschaft

3.4.1   Finanzielle Unterstützung der öffentlichen Hand, Regulierung des Finanzsektors

3.4.1.1   Um eine für sämtliche Wirtschaftsbranchen - vor allem die Automobilbranche - verheerende Entwicklung abzuwenden, wurde umfangreiche öffentliche Unterstützung gewährt. Die üblichen Vorschriften für staatliche Beihilfemaßnahmen wurden nicht angewandt, um die Unterstützung zu stoppen.

3.4.1.2   Die spektakulärste Unterstützung wurde dem Finanzsektor gewährt, und in einigen europäischen Ländern sowie in den USA wurden einige Banken teilverstaatlicht. Diese Politik wird sicherlich an einen Wendepunkt gelangen, was allerdings noch einige Jahre dauern kann. Auch auf lange Sicht kann es ein wirkungsvoller Aspekt einzelstaatlicher Finanzpolitik sein, einen Teil des Bankkapitals in öffentlicher Hand zu halten, um Einblicke in den Bankensektor zu bekommen.

3.4.1.3   Teile des Finanzsektors, die von den Regierungen Unterstützung in nie dagewesenem Umfang erhalten haben, haben sich anschließend während der Griechenland-Krise an spekulativen Angriffen auf den Staatsanleihenmarkt im Euroraum beteiligt. Der Finanzmarkt versuchte, der Politik die Entscheidungskompetenz zu entreißen. Nach Durchlaufen einer sehr schweren Krise haben die Politiker wieder die Macht übernommen. Den Politikern kann zum Vorwurf gemacht werden, dass sie nichts unternommen haben, bis eine schwere Krise da war - dies gilt sowohl für die Finanzkrise als auch die Staatsanleihenkrise. Dies zeigt, dass die vorgeschlagene Regulierung und Finanzaufsicht nicht ausreicht. Effektivere Regulierungs- und Aufsichtsmaßnahmen sind notwendig, um eine Änderung des Verhaltens der Finanzinstitute herbeizuführen und neue Wege zur Finanzierung der Staatsschulden zu finden.

3.4.2   Grüne Wirtschaft

Auf lange Sicht müssen sich die Investitionen auf den Umweltschutz und Maßnahmen zur Eindämmung des Klimawandels konzentrieren. Mit einer Verlagerung bei der Zusammensetzung der Investitionen muss jetzt begonnen werden. Die Kommission ist davon überzeugt, dass der Trend zu einer solchen Umstellung bei unseren internationalen Wettbewerbern stärker ausgeprägt ist. Eine solche Umstellung ist nicht nur aus Gründen des Umweltschutzes, sondern auch für die weltweite Wettbewerbsfähigkeit der EU von zentraler Bedeutung. So können neue Arbeitsplätze geschaffen werden, um die wegfallenden zu ersetzen. Auf diese Weise kann wirtschaftliche Nachhaltigkeit mit ökologischer und sozialer Nachhaltigkeit kombiniert werden. Ebenso wie die Kommission in ihrem Vorschlag zu den Grundzügen der Wirtschaftspolitik spricht sich auch der EWSA dafür aus, den Markt mit Hilfe von Steuern zur Verringerung der Schadstoffemissionen zu bewegen.

3.4.3   Infrastruktur und Energie

In Zeiten mangelnder Unternehmensinvestitionen muss der öffentliche Sektor mit Investitionen in die Bresche springen. Dies ist sowohl zur Ankurbelung des Wachstums als auch wegen des großen Bedarfs an Investitionen in den Bereichen Infrastrukturen und Energie notwendig. Die erneut fehlende Bereitschaft der Banken, bei der Gewährung von Darlehen für Unternehmen Risiken einzugehen, bereitet insbesondere den KMU Probleme. Trotz der gegenwärtigen Probleme bei Staatsanleihen gibt es in den meisten Ländern hierfür immer noch einen Zinsbonus, was einen Vorteil für öffentliche Investitionen bedeutet. Gemäß dem überarbeiteten Stabilitäts- und Wachstumspakt müssen Investitionen bei der Berechnung des übermäßigen Haushaltsdefizits nicht berücksichtigt werden.

3.4.4   Aktive Arbeitsmarktpolitik

Die Arbeitsmarktpolitik muss aktiv gestalten und darf sich nicht nur auf die wirtschaftliche Unterstützung der Arbeitslosen beschränken. Für die Weiterbildung und Umschulung sowohl von erwerbstätigen als auch von arbeitslosen Arbeitnehmern wurden zahlreiche unterschiedliche Programme aufgelegt. Das Ziel „Bildung für alle“ des turnusmäßigen Dreiervorsitzes der EU - Spanien, Belgien und Ungarn - ist vielversprechend. Eine Politik der Einbeziehung sollte nicht nur darin bestehen, die Menschen in Arbeit zu bringen, sondern sie sollte es ihnen auch ermöglichen, eine aktivere Rolle in der Gesellschaft zu spielen.

3.4.4.1   Die Festlegung eines Ziels für eine höhere Beschäftigungsquote - wie in der Strategie Europa 2020 - ist aber niemals ausreichend, zur Erhöhung der Beschäftigungsquote sind vielmehr einige grundlegende Maßnahmen erforderlich.

Dazu gehören Maßnahmen zum Ausbau der Kompetenzen, lebenslanges Lernen ist unabdingbar. Ein großes Problem ist die Entscheidung, wer dafür bezahlen muss: die Gesellschaft, die Arbeitgeber oder die Arbeitnehmer? Alle drei müssen in irgendeiner Form zur Finanzierung beitragen.

Die Grundlage ist das allgemeine Bildungsniveau: Europa muss den Bildungsstand insgesamt anheben.

Maßnahmen zur Anhebung der Beschäftigungsrate bestehen natürlich darin, eine qualitativ hochwertige und preiswerte Kinderbetreuung aufzubauen. Diese sollte mit Elternurlaub einhergehen, der lang genug ist und ausreichend vergütet wird, so dass die Menschen wieder Kinder bekommen wollen.

Zahlreiche Hindernisse können der Vermittelbarkeit von Arbeitssuchenden entgegenstehen. Zur Erhöhung der Beschäftigungsquote könnte es erforderlich sein, jedes einzelne Handikap mit gezielten Maßnahmen anzugehen.

3.4.5   Sozialpolitik

3.4.5.1   In einem Bericht (10) über Sozialschutz und soziale Eingliederung stellt die Kommission fest, dass die Systeme der sozialen Sicherheit entscheidend zur Abfederung der wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen der Krise beigetragen haben. Die Sozialausgaben sind dem Bericht zufolge während der Krise im Durchschnitt von 28 auf 31 % des BIP der Mitgliedstaaten angestiegen. Wenn der Bedarf an Arbeitslosenunterstützung zurückgeht, sollten die gleichen öffentlichen Mittel in die Familienpolitik und die Maßnahmen zur Entwicklung der Kompetenzen fließen. Dies ist ein Beispiel dafür, wie aus einer Ausstiegsstrategie eine Einstiegsstrategie wird.

3.4.5.2   Eine angemessene Einkommensstützung sowie Zugang zum Arbeitsmarkt und zu hochwertigen Sozialdiensten sind nach Aussage der Kommission wichtig. Was die EU im sozialen Bereich tun kann, ist nur eine kleine Ergänzung zur nationalen Sozialpolitik. Es hat bereits zahlreiche EU-Instrumente gegeben, mit denen die Mitgliedstaaten ermuntert werden sollten, voneinander zu lernen - Leistungsvergleich, gegenseitige Bewertung (Peer Review), Methode der offenen Koordinierung-, jedoch ohne die erhofften Ergebnisse. Die EU kann die Mitgliedstaaten nicht dazu zwingen, Beispielen bewährter Verfahren zu folgen. Öffentliches Anprangern von Missständen könnte eine Möglichkeit sein, um die Unterschiede stärker ins Blickfeld der Öffentlichkeit zu rücken.

3.4.5.3   Die Sparprogramme müssen ausgewogen sein. Wir dürfen nicht zulassen, dass die Sozialschutzsysteme auf dem Altar eines ausgeglichenen Haushalts geopfert werden. Die Krise hat zahlreiche Mängel der Sozialsysteme aufgedeckt. Die Architektur der Sozialsysteme muss zu Wohlstand und Beschäftigung führen. Aber auch die Sozialsysteme unterliegen gewissen Zwängen, da die finanziellen Möglichkeiten nicht überschritten werden dürfen.

3.4.6   Neue Einnahmequellen  (11)

3.4.6.1   In einer Stellungnahme zur Post-Lissabon-Strategie hat der EWSA eine Steuer sowohl auf Finanztransaktionen als auch CO2-Emissionen als neue Einnahmequellen für die öffentliche Hand genannt. Diese Steuern haben eine doppelte Dividende, d.h. neben der Steigerung der Einnahmen können sie auch zur Verringerung der Kurztermingeschäfte auf dem Finanzmarkt und zur Verbesserung unserer Umwelt beitragen. Derzeit wird nach neuen Finanzierungsquellen gesucht, um die riesigen Haushaltslöcher zu stopfen. Steuern auf Finanztransaktionen und CO2-Emissionen sind einer Erhöhung anderer Steuern wie z.B. der Steuern auf Arbeit oder der Mehrwertsteuer vorzuziehen, da dadurch die allgemeine Nachfrage gebremst würde, was in der gegenwärtigen Situation nicht ratsam ist.

3.4.6.2   Eine weitere neue öffentliche Finanzierungsmethode sind Eurobonds. Dadurch könnte für den öffentlichen Sektor neues Kapital aufgebracht werden, ohne völlig vom privaten Finanzsektor abhängig zu sein. Mit Eurobonds könnten Finanzmittel direkt an der Quelle angezapft werden, z.B. bei Rentenkassen, die nach langfristigen Anlagemöglichkeiten für ihr Geld suchen. Außerdem könnte auch privaten Anlegern der Zugang zu langfristigen Anlagemöglichkeiten bei der EIB für ihre Ersparnisse eröffnet werden, um für die EIB neue Finanzierungsquellen zu erschließen. Somit würde die EIB zu einer Schnittstelle zwischen diesen neuen Kapitalquellen und ihren Investitionen. Langfristige Geldanlagen würden dann für langfristige öffentliche Investitionen z.B. in Infrastruktur zur Verfügung stehen. Eurobonds ist ein „Konzept“, in das jedoch alle EU-Mitgliedstaaten eingebunden werden sollten. Auch hier haben wir wieder eine doppelte Dividende - der Spielraum für Spekulationen gegen Staatsanleihen auf dem Finanzmarkt würde ebenfalls verringert.

Brüssel, den 16. September 2010

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Mario SEPI


(1)  Auf der Grundlage der Kommissionsdokumente Fortschrittsbericht über die Durchführung des Europäischen Konjunkturprogramms und Zwischenprognose vom Februar 2010 (Anm. d. Übers.: Liegen zum Zeitpunkt der Übersetzung nicht auf Deutsch vor).

(2)  Siehe Steuer auf Finanztransaktionen.

(3)  Centre for European Policy Studies, Nr. 202, Februar 2010.

(4)  OECD, Pensions at a glance, 2009.

(5)  KOM(2010) 2020 endg., Ziffer 4.1.

(6)  ILO, Global Wage Report 2009 (globaler Bericht über Löhne), November 2009.

(7)  Eurostat, Euroindikatoren 61/2010 vom 30. April 2010.

(8)  Die Zahlen wurden auf der Grundlage der Daten von Eurostat berechnet. Die Unterschiede zwischen den Staaten sind erstaunlich groß: so bewegt sich der Anteil des Verbrauchs am BIP zwischen 46 % in Schweden und 75 % in Griechenland. In den meisten Ländern sind geringe Rückgänge beim Anteil des Verbrauchs zu verzeichnen, aber in einigen Ländern waren die Veränderungen geradezu dramatisch. Der Rückgang im Vereinigten Königreich von 72 % auf 60 % in acht Jahren ist schwer zu erklären.

(9)  Crisis in the euro area and how to deal with it. Centre for European Policy Studies, Februar 2010.

(10)  Mitteilung der Kommission an den Rat, das Europäische Parlament, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen - Vorschlag für den Gemeinsamen Bericht über Sozialschutz und soziale Eingliederung 2010 - KOM(2010) 25 endg.

(11)  Siehe Stellungnahmen des EWSA zum Thema „Steuer auf Finanztransaktionen“, und „Auswirkungen der Staatsverschuldungskrise auf das europäische Regieren“.


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