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Document 52009IE1471

    Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Arbeit und Armut: die Notwendigkeit eines umfassenden Ansatzes (Initiativstellungnahme)

    ABl. C 318 vom 23.12.2009, p. 52–56 (BG, ES, CS, DA, DE, ET, EL, EN, FR, IT, LV, LT, HU, MT, NL, PL, PT, RO, SK, SL, FI, SV)

    23.12.2009   

    DE

    Amtsblatt der Europäischen Union

    C 318/52


    Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Arbeit und Armut: die Notwendigkeit eines umfassenden Ansatzes“ (Initiativstellungnahme)

    2009/C 318/10

    Berichterstatter: PRUD’HOMME

    Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss am 26. Februar 2009, gemäß Artikel 29 Absatz 2 seiner Geschäftsordnung eine Initiativstellungnahme zu folgendem Thema zu erarbeiten:

    Arbeit und Armut: die Notwendigkeit eines umfassenden Ansatzes

    Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft nahm ihre Stellungnahme am 1. September 2009 an. Berichterstatterin war Nicole PRUD’HOMME.

    Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 456. Plenartagung am 30. September/1. Oktober 2009 (Sitzung vom 30. September) mit 173 gegen 2 Stimmen bei 7 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

    1.   Empfehlungen

    Armut trotz Erwerbstätigkeit ist - sowohl im Falle abhängig Beschäftigter als auch bestimmter selbständig Erwerbstätiger - eine komplexe Thematik, in die viele miteinander verwobene Faktoren hineinspielen. Durch einen umfassenden Ansatz müssen wirksame Mechanismen zur Bewältigung der Herausforderungen gefunden werden.

    1.1

    Zentrales Anliegen des Projekts Europa muss es sein, eine hochwertige Beschäftigung für alle anzustreben.

    1.2

    Die Problematik der in Armut lebenden Erwerbstätigen sollte im Rahmen des europäischen sozialen Dialogs regelmäßig behandelt werden.

    1.3

    Die Konzeption der Analyseinstrumente sollte rasch abgeschlossen werden, um eine immer nuanciertere Beurteilung dieses Phänomens zu ermöglichen - mit Blick auf die Unterschiede, aber auch die Gemeinsamkeiten in Europa.

    1.4

    Es müssen neue Kombinationsmöglichkeiten zwischen Sozialschutz und Beschäftigung untersucht und eingeführt werden, insbesondere mit dem Ziel, menschenwürdige Einkommen für alle Erwerbstätigen zu gewährleisten und so Voraussetzungen für die Sicherung der Grundbedürfnisse (Unterkunft, Gesundheitsversorgung, die eigene Bildung und die der Kinder usw.) zu schaffen.

    1.5

    Es muss eine leistungsfähige Aus- und Weiterbildung gewährleistet werden, die Qualifikationen für hochwertige Arbeitsplätze schafft, und es sind auf verschiedenen Ebenen (der nationalen und regionalen) Maßnahmen zur Schaffung eines Umfelds zu ergreifen, das verhindert, dass junge Menschen ihre Ausbildung vorzeitig abbrechen.

    1.6

    Die Bemühungen und Debatten zum Thema Flexicurity sollten fortgesetzt werden, um ein neues Gleichgewicht zwischen Flexibilität (notwendiger Handlungsspielraum für die Unternehmen) und tatsächlichen Mitteln für mehr Sicherheit (Schutz für die Arbeitnehmer) zu finden, die die Ausbreitung der Armut trotz Erwerbstätigkeit verhindern und ihre Beseitigung zum Ziel haben.

    1.7

    Im Rahmen des von der Kommission ausgerufenen Europäischen Jahres zur Bekämpfung der Armut und sozialer Ausgrenzung (2010) sollte eine Informations- und Mobilisierungskampagne zu diesen Fragen auf Ebene der Europäischen Union und der Mitgliedstaaten ins Auge gefasst werden.

    2.   Hintergrund

    2.1

    Die Forschungsarbeiten, Vorschläge und Innovationen, die auf EU-Ebene in Bezug auf die Lage „in Armut lebender Erwerbstätiger“ (auch: working poor) erarbeitet wurden, zeugen davon, dass Arbeit (insbesondere unter den derzeitigen sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen) nicht immer vor Armut schützt.

    2.2

    In ihrem auf den neuen Strategieberichten der Mitgliedstaaten basierenden „Vorschlag für den gemeinsamen Bericht über Sozialschutz und soziale Eingliederung 2009“ (1) betont die Kommission, wie wichtig die Themen Armut trotz Erwerbstätigkeit und hochwertige Beschäftigung sind. Dieses Thema und die diesbezüglichen konkreten Probleme sind ein zentraler Aspekt der Projekte und Maßnahmen der EU zur „aktiven Eingliederung“. Damit sollen zum einen die Mittellosigkeit bekämpft und zum anderen die Entwicklung hochwertiger Arbeitsplätze für alle unterstützt werden.

    2.3

    In der gegenwärtigen Krise ist das Thema wichtiger denn je, da die Arbeitslosigkeit beträchtlich zugenommen hat und die Staatshaushalte stärker unter Druck geraten. Doch ist es wichtig, sich von der unmittelbaren Konjunkturlage zu lösen, um das Thema zwar unter Berücksichtigung der außerordentlichen aktuellen Umstände, aber auch als ein strukturelles Thema behandeln zu können, das im Zentrum der positiven Entwicklungen steht, die im Sozialschutz und in der Beschäftigungspolitik mittelfristig und langfristig zu wünschen sind.

    2.4

    Die Kommission, die momentan ein Dokument zum Thema Erwerbstätigkeit und Armut erstellt, hat 2010 zum Europäischen Jahr der Bekämpfung der Armut und sozialen Ausgrenzung ausgerufen. Tatsächlich sind in der EU nahezu 80 Millionen Menschen, d.h. 16 % der Bevölkerung, - darunter viele trotz Erwerbstätigkeit - unmittelbar von Armut betroffen. 8 % der Erwerbstätigen leben unter der Armutsgrenze (2).

    2.5

    In seiner Stellungnahme zum „Europäischen Jahr zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung (2010)“ (3) betonte der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA), dass zur umfassenden Darstellung von Armut neben dem geläufigen Indikator zur relativen Einkommensarmut auch andere Armutsindikatoren herangezogen werden sollten, die die Dauerhaftigkeit von Armut und die tatsächliche Notlage deutlich machen. Zusätzlich zu den methodischen Verbesserungen geben Vergleiche, die nun aufgrund einer auf europäischer Ebene vereinbarten Definition möglich sind, ein klares Bild der Tendenzen.

    3.   Definitionen

    3.1

    Der Ausdruck „armer Erwerbstätiger“ erfordert gleichzeitig eine Definition beider Begriffe, d.h. „arm“ und „Erwerbstätiger“. Die „Armut“ eines Erwerbstätigen hängt zum einen von seinem persönlichen, während seines Arbeitsverhältnisses erzielten Einkommen (seinem Arbeitsentgelt) und zum anderen von der materiellen Absicherung seiner Familie insgesamt ab. Erwerbstätigkeit bezeichnet die individuelle berufliche Tätigkeit, der Begriff Armut ein unzureichendes Einkommen des gesamten Haushalts. In bestimmten Fällen können Menschen, die nicht oder scheinbar nicht in Armut leben, rasch unter die Armutsgrenze abrutschen.

    3.2

    Armut wird auf den Haushalt bezogen, Erwerbstätigkeit jedoch auf den Einzelnen bezogen definiert, so dass hier zwei Analyseebenen miteinander verquickt werden. Armut trotz Erwerbstätigkeit hängt erstens von der Situation und der Art der Beschäftigung des Einzelnen und zweitens von dem Lebensstandard seines Haushalts ab. Diese zweigleisige Evaluierung führt zu Schwierigkeiten. Es ist möglich, dass jemand trotz eines sehr geringen Arbeitseinkommens aufgrund bedeutender anderer Haushaltsressourcen nicht zu den Armen zählt. Andererseits kann jemand als arm gelten, obwohl sein Einkommen nahe dem mittleren Monatseinkommen liegt und deshalb in dem entsprechenden Land als ausreichend angesehen wird. Jemand kann ohne Beschäftigung (arbeitslos) sein und weit über der Armutsgrenze liegende Leistungen erhalten. Andererseits ist es möglich, dass jemand voll erwerbstätig ist, jedoch sehr gering entlohnt wird, zahlreiche unterhaltsberechtigte Personen zu versorgen hat und folglich unter die Armutsgrenze fällt.

    3.3

    Auf politischer Ebene muss die Problematik der in Armut lebenden Erwerbstätigen also zugleich in der Beschäftigungspolitik, im Rahmen der Sozialhilfe und der Sozialversicherung sowie in der Familienpolitik berücksichtigt werden.

    3.4

    Im Rahmen der europäischen Beschäftigungsstrategie - ihrerseits Teil der Lissabon-Strategie - ist die Verringerung der Zahl armer Erwerbstätiger nunmehr eine Priorität der EU. Daher musste ab 2003 ein Bewertungs- und Vergleichsindikator entwickelt werden. Im Juli 2003 hat der Ausschuss für Sozialschutz der Europäischen Union im Rahmen seiner Arbeiten zum Gemeinschaftsprozess der sozialen Eingliederung einen gemeinsamen Indikator zur Evaluierung des Anteils „armer Erwerbstätiger“ in der Europäischen Union sowie einiger ihrer wesentlichen soziodemografischen Merkmale verabschiedet.

    3.5

    Gemäß dieser Definition des Ausschusses für Sozialschutz bezeichnet „armer Erwerbstätiger“ eine Person, die im Referenzjahr „überwiegend erwerbstätig“ (als Angestellte(r) oder Selbständige(r)) war und in einem Haushalt lebt, dessen Gesamteinkommen unter 60 % des nationalen Medianeinkommens liegt. Sie muss über die Hälfte des Jahres erwerbstätig gewesen sein. Tatsächlich gilt nach dem Indikator „Armutsrisiko trotz Erwerbstätigkeit“ jeder als erwerbstätig, der im Bezugszeitraum mindestens sieben von 12 Monaten beschäftigt war (4).

    4.   Statistische Bewertung

    4.1

    Die Kommission hat Ende 2008 ihren Jahresbericht über die sozialen Tendenzen in den Mitgliedstaaten im Rahmen der gemeinsamen Ziele der EU-Strategie für Sozialschutz und soziale Eingliederung (siehe Anhang) (5) veröffentlicht, dem zufolge Ende 2006 16 % der Europäer armutsgefährdet waren. 8 % der Erwerbstätigen der EU lebten unter der Armutsgrenze. Die Zahlen schwanken zwischen maximal 4 % (Tschechische Republik, Belgien, Dänemark, Niederlande und Finnland) und 13 % bzw. 14 % (in Polen bzw. Griechenland) (6). Die Armut Erwerbstätiger hängt mit einem geringen Arbeitsentgelt (definiert als Einkommen, das unter 60 % des Medianeinkommens liegt), einem niedrigen Qualifikationsniveau, unsicheren Arbeitsplätzen, dem geringen Arbeitsentgelt bestimmter selbständig Erwerbstätiger, - oftmals ungewollten - Teilzeitbeschäftigungen und auch mit der wirtschaftlichen Lage der anderen Haushaltsmitglieder zusammen. Der Kommission zufolge kann in Haushalten mit Kindern das Alleinverdienermodell die Familie nicht länger vor Armut schützen.

    4.2

    Der Indikator der relativen Einkommensarmut wird oft kritisiert, da er den vielfältigen Facetten von Armut nicht wirklich gerecht wird. Einkommensarmut ist natürlich nur ein Teilaspekt von Armut. Momentan werden in der EU weitere Indikatoren entwickelt, die ein anderes, ergänzendes Bild von der Realität der Armut zeichnen.

    4.3

    Neben Messgrößen für finanzielle Armut werden momentan auch Messgrößen für Armut in punkto „Lebensbedingungen“ entwickelt. So wird auf EU-Ebene die „materielle Entbehrung“ (siehe Anhang) gemessen. Dieser Indikator trägt dem Anteil der in einem Haushalt lebenden Personen Rechnung, denen es an mindestens drei der folgenden neun Elemente mangelt: 1) Fähigkeit zur Deckung unvorhergesehener Kosten, 2) jährlich eine Woche Urlaub, 3) Fähigkeit zur Kreditabzahlung, 4) mindestens jeden zweiten Tag eine Mahlzeit mit Fleisch, Geflügel oder Fisch, 5) ausreichend beheizte Wohnung, 6) Waschmaschine, 7) Farbfernseher, 8) Telefon, 9) Privatauto. Über all diese Elemente materieller Lebensumstände als Indikatoren lässt sich natürlich streiten, doch ihre Aggregation ergibt ein interessantes Bild. Die Entbehrungsraten schwanken stark - zwischen 3 % in Luxemburg und 50 % in Lettland. Diese Unterschiede sind weit gravierender als das Gefälle bei der Einkommensarmut (zwischen 10 und 21 %).

    4.4

    Der Ansatz der materiellen Entbehrung verändert die Klassifizierung der Mitgliedstaaten in punkto Armut grundlegend, bezieht sich jedoch auf Armut generell und nicht nur auf Armut trotz Erwerbstätigkeit. Demnächst muss für jedes Land eine Darstellung der Lage armer Erwerbstätiger hinsichtlich der materiellen Entbehrung möglich sein. Denn grundsätzlich ist die Armut trotz Erwerbstätigkeit nicht nur ein Problem niedriger Einkommen, sondern auch eine Frage der Lebensqualität (berufliches, familiäres und gesellschaftliches Leben).

    5.   Faktoren, die zu Armut trotz Erwerbstätigkeit führen

    5.1

    Einer der wichtigsten Faktoren, der zu Armut trotz Erwerbstätigkeit führt, ist der unsichere Beschäftigtenstatus. Viele Akteure, darunter der Europäische Gewerkschaftsbund und die europäischen Gewerkschaften, beobachten mit Sorge eine zunehmende Arbeitsplatzunsicherheit. Mit über 19,1 Millionen Erwerbstätigen mit befristeten Verträgen (7) und ca. 29 Millionen Scheinselbständigen (hauptsächlich im Hoch- und Tiefbau) befinden sich rund 48,1 Millionen Menschen in einem unsicheren Beschäftigungsverhältnis. Diese Gruppe ist innerhalb eines Landes und noch stärker zwischen den einzelnen Ländern gewiss sehr heterogen, doch dürften mehrere zehn Millionen Erwerbstätige betroffen sein, die mit bestimmten Formen der Arbeitsplatzunsicherheit und der daraus eventuell resultierenden Armut trotz Erwerbstätigkeit konfrontiert sind.

    5.2

    Die Arbeitgeber betonen die Komplexität des Problems der Armut trotz Erwerbstätigkeit und verweisen zunächst auf den Zusammenhang zwischen Armutsgefährdung und Bildungsniveau. Die Systeme der allgemeinen und beruflichen Bildung müssen leistungsfähiger und gerechter gestaltet werden. Zudem muss unbedingt dafür gesorgt werden, dass „Arbeit sich lohnt“ (8), d.h. dass ein ausgewogenes Verhältnis zwischen den Steuersystemen und den Systemen der sozialen Sicherheit hergestellt wird.

    5.3

    Armut trotz Erwerbstätigkeit ist die Folge eines geringen Arbeitsentgelts (häufig unangemessene Entlohnung für die geleistete Arbeit) und der Änderung familiärer Strukturen. In den einzelnen Mitgliedstaaten ist in unterschiedlichem Maße eine Entwicklung der Familienstrukturen festzustellen, die sich unionsweit durch wachsende Instabilität, häufigere Trennungen und eine Zunahme der Alleinerziehenden auszeichnet, so dass immer mehr Familien von nur einem Erwerbstätigen abhängen und somit einer größeren Armutsgefährdung ausgesetzt sind. In dem Gemeinsamen Bericht über Sozialschutz und soziale Eingliederung 2007  (9) der Kommission hieß es bereits, dass Erwerbstätigkeit zwar der beste, doch unmöglich der einzige Schutz vor Armut ist. Daher müssen Solidarmaßnahmen zugunsten der schwächsten Gruppen - Familien, Frauen, Jugendliche, Studenten, Menschen mit Behinderungen, ältere Menschen, Migranten - ergriffen bzw. verstärkt werden. Des Weiteren sei darauf hingewiesen, in welchem Maße Armut trotz Erwerbstätigkeit Kinderarmut auslöst.

    5.4

    Durch die steigenden Kosten für Beförderungsleistungen, Wohnung, Gesundheitsversorgung u.a. wird die Lage der Erwerbstätigen ebenfalls geschwächt: Dies betrifft insbesondere Beschäftigte mit einem Einkommen nahe dem Mindestlohn und die untere Mittelschicht, da sie oftmals am Rande des jeweiligen Arbeitsamtsbezirks leben.

    5.5

    Armut trotz Erwerbstätigkeit kann daraus resultieren, dass jemand nur gering qualifiziert und gebildet ist. ihm die für eine angemessen entlohnte Stelle erforderlichen Kompetenzen fehlen oder die Arbeitsbedingungen unangemessen sind. Schwache Gruppen sind zumeist ältere Arbeitnehmer, Jugendliche, Frauen, kinderreiche Familien, Menschen mit Behinderungen, Beschäftigte mit niedrigem Schulabschluss und Migranten. Daher muss dafür gesorgt werden, dass jeder Mensch mit Behinderungen einen an seine Bedürfnisse angepassten Arbeitsplatz vorfindet und dass jedem Kind durch eine rechtzeitige Einschulung ein guter Start ins Leben ermöglicht wird. Zudem muss auch das Problem des vorzeitigen Schulabbruchs angegangen werden, denn die derzeitige Quote in Europa von 15 % ist noch zu hoch.

    5.6

    Unterbeschäftigung ist sehr häufig die eigentliche Ursache von Armut trotz Erwerbstätigkeit. Armut trotz Erwerbstätigkeit ist - sowohl im Falle abhängig Beschäftigter als auch bestimmter selbständig Erwerbstätiger - eine komplexe Thematik, in die viele miteinander verwobene Faktoren hineinspielen. Durch einen umfassenden Ansatz müssen wirksame Mechanismen zur Bewältigung der Herausforderungen gefunden werden. Ohne eine umfassende auf Wachstum und Anpassung an die Globalisierung und in der gegenwärtigen Krise auf wirtschaftliche Erholung abzielende Politik sind wirksame Programme zur Bekämpfung der Armut trotz Erwerbstätigkeit undenkbar.

    6.   Vorschläge für einen umfassenden Ansatz zur Bekämpfung der Armut trotz Erwerbstätigkeit

    6.1

    Zunächst ist zu überlegen, wie Armut trotz Erwerbstätigkeit makroökonomisch bekämpft werden kann. Punktuelle Maßnahmen können die Entwicklung nicht dauerhaft eindämmen, schon gar nicht in der gegenwärtigen Krise. Beschäftigung und Selbstständigkeit - insbesondere eine hochwertige Beschäftigung für alle - muss die Priorität aller europäischen Institutionen sein.

    6.2

    Verlässliche Indikatoren. Die eingeleitete Entwicklung gemeinsamer, zuverlässiger Indikatoren zur genauen Erfassung des Phänomens der armen Erwerbstätigen muss zügig fortgesetzt werden. Europäische Investitionen und die offene Koordinierungsmethode haben große Fortschritte ermöglicht, doch nun müssen weitere Schritte folgen und die Kenntnisse auf umfassenderen Daten basieren, die zugleich dem Anteil armer Erwerbstätiger, dem Ausmaß dieser Armut und der ungleichen Einkommensverteilung unter den Armen (innerhalb eines Landes und zwischen den einzelnen Ländern) Rechnung tragen.

    6.3

    In statistik-technischer Hinsicht ist es wichtig, dass nationale Daten, die auf einem nationalen Schwellenwert basieren, aber auch auf einem europäischen Schwellenwert basierende komplett europäische Daten vorliegen, was andere Klassifizierungen und Perspektiven als die derzeitige Analyse ermöglichen würde, die auf dem einzigen verwendeten Indikator beruht.

    6.4

    Ein gerechtes und menschenwürdiges Arbeitsentgelt, gestützt auf einen verstärkten sozialen Dialog. Die Bekämpfung der Armut trotz Erwerbstätigkeit muss auch über eine ambitionierte Lohn- und Gehaltspolitik erfolgen. Sämtliche Initiativen, die auf die Formel Inflation plus angemessener Anteil am Produktivitätsfortschritt abzielen, müssen verstärkt und unterstützt werden. In diesem Sinne müssen die Tarifverhandlungen - ein Stützpfeiler des sozialen Dialogs - bei der Bekämpfung der Armut trotz Erwerbstätigkeit eine herausragende Rolle spielen. Auf sektorieller, nationaler und europäischer Ebene haben reibungslose Verhandlungen keine echten finanziellen Auswirkungen auf die Unternehmen, d.h. diese erhalten keine „Prämie“ für einen echten sozialen Dialog. Fortschritte im Bereich menschenwürdige Arbeit können nur durch den sozialen Dialog, das Engagement der Sozialpartner, die Verantwortung der Unternehmen, durch Anreize und Korrekturen seitens der öffentlichen Hand und gegenwärtig durch die Rolle der Banken für die KMU erzielt werden. Die Bekämpfung von Schwarzarbeit ist ein entscheidendes Instrument bei der Bekämpfung der Armut trotz Erwerbstätigkeit. Zum einen, weil sie die schwächsten Gruppen (Migranten, Arbeitnehmer in unsicheren Beschäftigungsverhältnissen) trifft, aber auch, weil sie zu sklavenähnlichen Abhängigkeitsverhältnissen führen kann, die gegen die Grundrechtscharta verstoßen.

    6.5

    Unterstützung für unternehmerische Tätigkeit und Selbständigkeit: Viele Unternehmer und Selbständige leiden insbesondere in der Gründungsphase ihres Unternehmens unter Armut trotz Erwerbstätigkeit. Förderinstrumente müssen bereitgestellt werden, da viele dieser KMU auf lange Sicht Arbeitsplätze schaffen werden. 80 % des volkswirtschaftlichen Wachstums stammen aus dem KMU-Sektor, und doch zahlen viele Unternehmer in der Anfangsphase sich selbst nur ein geringes oder gar kein Gehalt und setzen ihre Familie so dem Armutsrisiko aus.

    6.6

    Zielgruppengerechte Weiterbildungssysteme. Lebenslange Weiterbildung ist insbesondere für gering qualifizierte Arbeitnehmer eine wesentliche Voraussetzung für die Verbesserung ihrer Kompetenzen und für ihren Zugang zu einer gerecht entlohnten und menschenwürdigen Beschäftigung.

    6.7

    Ein adäquater Sozialschutz. Die Bekämpfung der Armut trotz Erwerbstätigkeit muss mit einer Straffung der geltenden Bestimmungen einhergehen. Sozialleistungen sollten sich effektiver mit neuen Kinderbetreuungs- und Mobilitätsdiensten (Mobilität muss sich ebenso wie Arbeit lohnen) kombinieren lassen, damit arme Erwerbstätige eine besser entlohnte Beschäftigung finden können.

    6.8

    In einigen Ländern ist offenbar eine nicht unerhebliche Zahl Obdachloser erwerbstätig, weshalb die Mittel für Sozialwohnungen vorrangig für diejenigen eingesetzt werden sollten, die durch eine Arbeitsstelle integriert sind, aber Gefahr laufen, diese Arbeitsstelle und ihre relativ stabile Existenz zu verlieren, weil sie nur eine minderwertige oder gar keine Wohnung besitzen.

    6.9

    Berücksichtigung des Arbeitsumfelds und der Arbeit. Konkret gesagt: Da Armut trotz Erwerbstätigkeit großenteils mit den Umständen der Erwerbstätigkeit zusammenhängt, ist unbedingt auf arbeitsumfeldbedingte Faktoren einzuwirken, z.B. durch die Bereitstellung von Mobilitätsunterstützung und subventionierten Mahlzeiten für Erwerbstätige, die Verbesserung der Wohnbedingungen und die Schaffung von Kinderbetreuungseinrichtungen. Im Übrigen sollte das arbeitgebende Unternehmen in der Lage sein, zu prüfen, wie es in seinen Arbeitsverträgen mehr Arbeitsplatzsicherheit gewährleisten kann und wie seine Beschäftigten vorankommen und sich weiterqualifizieren können.

    6.10

    Information und Mobilisierung. Schließlich müssen die Öffentlichkeit und die Medien im Rahmen des Europäischen Jahres zur Bekämpfung der Armut und sozialer Ausgrenzung mobilisiert werden. Wenn das Phänomen der Armut trotz Erwerbstätigkeit analysiert wird, eine Debatte über die dadurch verursachte entwürdigende Lage der Betroffenen geführt wird und eine Mobilisierung der europäischen Bürger stattfindet, könnte die Notlage, in der sich ein Teil der Erwerbstätigen befindet, beendet und somit dazu beigetragen werden, ihre angeschlagene Würde wiederherzustellen. Statt Mitleid bedarf es der Mobilisierung zugunsten hochwertiger Arbeit für alle, um ein ethisch höher stehendes europäisches Sozialmodell zu fördern.

    Brüssel, den 30. September 2009.

    Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

    Mario SEPI


    (1)  KOM(2009) 58 endg.

    (2)  Eurostat, Statistics in Focus, 46/2009.

    (3)  Stellungnahme des EWSA vom 29.5.2008 zu dem „Vorschlag für einen Beschluss des Europäischen Parlaments und des Rates über das Europäische Jahr zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung (2010)“, Berichterstatter: Krzysztof PATER, Mitberichterstatterin: Erika KOLLER (ABl. C 224 vom 30.8.2008).

    (4)  Für weitere Präzisierungen und detailliertere Ausführungen siehe Guillaume Allègre, „Working poor in the EU: an exploratory comparative analysis“, Arbeitsdokument OFCE, Nr. 2008-35, November 2008; Sophie Ponthieux, „Les travailleurs pauvres comme catégorie statistique. Difficultés méthodologiques et exploration d’une notion de pauvreté en revenu d’activité“, Arbeitsdokument INSEE, Nr. F0902, März 2009.

    (5)  Gemeinsamer Bericht über Sozialschutz und soziale Eingliederung 2008. http://ec.europa.eu/employment_social/spsi/joint_reports_de.htm.

    Sämtliche Daten und Dossiers aus den Arbeiten der offenen Koordinierungsmethode sind abrufbar unter: http://ec.europa.eu/employment_social/spsi/the_process_de.htm. Für eine aktuelle europäische Perspektive mit Beschreibungen der Lage und Probleme in einigen EU-Ländern siehe Hans-Jürgen Andreß, Henning Lohmann (dir.), The Working Poor In Europe. Employment, Poverty and Globalization, Cheltenham, Edward Elgar, 2008.

    (6)  Finanzielle Armut wird nach nationalen Maßstäben gemessen. Eine einheitliche EU-weite Armutsgrenze ergäbe eine ganz andere Klassifizierung der Länder …

    (7)  Arbeitskräfteerhebung der Europäischen Union - Jahresergebnisse 2008; http://epp.eurostat.ec.europa.eu/cache/ITY_OFFPUB/KS-QA-09-033/EN/KS-QA-09-033-EN.PDF (Englisch).

    (8)  „Arbeit lohnend machen“ - vom Beschäftigungssausschuss und dem Ausschuss für Sozialschutz durchgeführte Untersuchung über die Wechselwirkungen zwischen den Steuersystemen und den Systemen der sozialen Sicherheit. Siehe auch die Stellungnahme des EWSA zum Thema „Sozialschutz: Arbeit, die sich lohnt“, Berichterstatterin: Frau St. HILL (ABl. C 302 vom 7. Dezember 2004).

    (9)  http://ec.europa.eu/employment_social/spsi/joint_reports_de.htm#2007.


    Anhang

    Grafik 1. Armut und Armut trotz Erwerbstätigkeit in der Europäischen Union (2006)

    Image

    Grafik 2. „Materielle Entbehrung“ in der EU

    Anteil der Personen eines nicht über mindestens drei der aufgeführten Elemente verfügenden Haushalts (2006, in %)

    Image


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