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Document 52009AE1470

    Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Einsatzmöglichkeiten der Flexicurity für die Umstrukturierung im Zuge der globalen Entwicklung (Sondierungsstellungnahme auf Ersuchen des schwedischen Ratsvorsitzes)

    ABl. C 318 vom 23.12.2009, p. 1–5 (BG, ES, CS, DA, DE, ET, EL, EN, FR, IT, LV, LT, HU, MT, NL, PL, PT, RO, SK, SL, FI, SV)

    23.12.2009   

    DE

    Amtsblatt der Europäischen Union

    C 318/1


    Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Einsatzmöglichkeiten der Flexicurity für die Umstrukturierung im Zuge der globalen Entwicklung“ (Sondierungsstellungnahme auf Ersuchen des schwedischen Ratsvorsitzes)

    2009/C 318/01

    Berichterstatter: Valerio SALVATORE

    Ko-Berichterstatter: Enrique CALVET CHAMBON

    Mit Schreiben vom 18. Dezember 2008 ersuchte die schwedische Ministerin für europäische Angelegenheiten Cecilia MALMSTRÖM den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss im Namen des künftigen schwedischen Ratsvorsitzes gemäß Artikel 262 des EG-Vertrags um eine Sondierungsstellungnahme zum Thema

    Einsatzmöglichkeiten der Flexicurity für die Umstrukturierung im Zuge der globalen Entwicklung“.

    Die mit den Vorarbeiten beauftragte Beratende Kommission für den industriellen Wandel nahm ihre Stellungnahme am 10. September 2009 an. Berichterstatter war Valerio SALVATORE, Ko-Berichterstatter Enrique CALVET CHAMBON.

    Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 456. Plenartagung am 30. September/1. Oktober 2009 (Sitzung vom 1. Oktober) mit 111 Stimmen bei 9 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

    1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

    1.1

    Die Kommission hat „Flexicurity“ als „integrierte Strategie zur gleichzeitigen Stärkung von Flexibilität und Sicherheit auf dem Arbeitsmarkt“ definiert. In diesem Positionspapier unterstreicht der EWSA bestimmte Aspekte des Flexicurity-Konzepts, die er in diesen Krisenzeiten für besonders wichtig hält, wenn es darum geht, möglichst viele Menschen weiterzubeschäftigen und den nicht am Arbeitsmarkt teilhabenden Personen möglichst viele Möglichkeiten zu eröffnen, in kürzester Zeit eine neue Arbeitsstelle zu finden. Arbeitgeber und Arbeitnehmer müssen im Rahmen des sozialen Dialogs zusammenarbeiten, um sicherzustellen, dass möglichst viele Arbeitnehmer auf dem Arbeitsmarkt bleiben.

    1.2

    In diesen Zeiten der Krise und der dramatisch zunehmenden Arbeitslosigkeit darf die Flexicurity weniger denn je als Bündel von Maßnahmen zur Erleichterung von Entlassungen oder zur Aushöhlung des Sozialschutzes im Allgemeinen und des Sozialschutzes von Arbeitslosen im Besonderen verstanden werden. Der EWSA ist der Auffassung, dass Maßnahmen, die den Sicherheitsaspekt (im weitesten Sinne) der Flexicurity verstärken, gegenwärtig oberste Priorität haben müssen.

    1.3

    In früheren Stellungnahmen hat der EWSA die Bedeutung der internen Flexicurity herausgestellt. In der Krise erweisen sich Maßnahmen der internen Flexicurity als wichtig, weil sie es den Unternehmen ermöglichen, sich auf den deutlichen Auftragsrückgang einzustellen, ohne Arbeitnehmer entlassen zu müssen. Unternehmen mit von den Sozialpartnern vereinbarten Arbeitszeitkonten können viel schneller auf die aus der Krise resultierende neue Arbeitsmarktsituation reagieren als Unternehmen, die nicht über derartige Instrumente verfügen. Eine offenkundige Lehre aus der Krise lautet, dass Arbeitszeitkonten und flexible Arbeitszeitregelungen von den Sozialpartnern gefördert werden sollten. Der EWSA hält es für notwendig, dass diese Instrumente für Unternehmen und Arbeitnehmer so attraktiv wie möglich gestaltet werden.

    1.4

    Die Flexicurity kann nur dann funktionieren, wenn die Arbeitnehmer über eine gute Ausbildung verfügen. Neue Kompetenzen und die Schaffung neuer Arbeitsplätze hängen eng miteinander zusammen. Die Unternehmen müssen in die Fortbildung ihrer Arbeitnehmer investieren. Gleichzeitig muss auch jeder Arbeitnehmer für seine kontinuierliche Fortbildung Sorge tragen. Die Strategie „Lissabon 2010 Plus“ wird Lösungen für diese Probleme vorgeben müssen.

    1.5

    Im Lichte der Krise ist die Bedeutung des sozialen Dialogs klar zu erkennen. In den letzten Monaten hat sich gezeigt, wie engagierte Sozialpartner gemeinsame Lösungen für drängende Probleme finden können. Der EWSA schlägt dem schwedischen EU-Ratsvorsitz und der Europäischen Kommission vor, eine Internetplattform einzurichten, um - unter Beachtung der Unterschiedlichkeit der Situation auf nationaler, regionaler und lokaler Ebene - den Erfahrungsaustausch über solche Initiativen der Sozialpartner zu fördern.

    1.6

    Auf europäischer Ebene verhandeln die Sozialpartner derzeit über ein unabhängiges Rahmenabkommen über integrative Arbeitsmärkte. Der EWSA ist der Auffassung, dass ein künftiges Abkommen insofern einen wirklichen Mehrwert erbringen kann, als es den Personen, die infolge der Krise ihre Arbeit verloren haben und sich nun in einer besonders prekären Lage befinden, hilft, eine neue Beschäftigung zu finden. Der EWSA sieht der von den Sozialpartnern in ihrem Arbeitsprogramm 2009-2010 vereinbarten gemeinsamen Überwachung und Bewertung der Flexicurity-Umsetzung mit Interesse entgegen.

    1.7

    Das rasante Tempo und der drastische Charakter des Wirtschaftsabschwungs lässt viele Arbeitgeber an die Jahre der Hochkonjunktur zurückdenken, als sie Schwierigkeiten hatten, in ausreichender Zahl angemessen qualifizierte Arbeitnehmer zu finden. Da sie nunmehr in die Zukunft blicken und sich schon auf den Wirtschaftsaufschwung, der zweifelsohne eintreten wird, einstellen möchten, bauen sie nicht übereilt zu viele Arbeitsplätze ab, wie es bei einer ausschließlichen Ausrichtung auf kurzfristige Kosteneinsparungen geschehen könnte. Dennoch kann es sich kein Unternehmen leisten, die grundlegenden Wirtschaftsregeln zu missachten. Letztendlich ist jedes Unternehmen in erster Linie darauf bedacht, seine Existenz zu sichern. Für die betroffenen Arbeitnehmer ist es von wesentlicher Bedeutung, so schnell wie möglich in eine Beschäftigung zurückzukehren. Der EWSA verweist nachdrücklich auf die Notwendigkeit rascher und effizienter Unterstützungsmaßnahmen. Die Mitgliedstaaten sollten ernsthaft eine Aufstockung des Personals in den Arbeitsagenturen sowie eine Verbesserung ihrer Qualifikationen in Erwägung ziehen, damit sie die Menschen wirklich dabei unterstützen können, so schnell wie möglich wieder auf dem Arbeitsmarkt Fuß zu fassen.

    1.8

    Nach Auffassung des Ausschusses sollte die Union ihre Arbeiten aus einer europäischen Perspektive und unter Wahrung des Subsidiaritätsprinzips fortführen und dabei die nationalen und regionalen Besonderheiten sowie die Unterschiede zwischen den Industriesektoren berücksichtigen. Dadurch wird ein europäischer Rahmen geschaffen, der für die Gewährleistung eines stärkeren europäischen Sozialmodells notwendig ist, das sich wiederum von einem theoretischen Modell hin zu einer unumkehrbaren Realität entwickelt (1). Es muss ein Post-Lissabon-Prozess vorgesehen werden (Lissabon 2010 Plus), um die noch nicht erreichten Ziele in Angriff zu nehmen, sowie jene, die sich erst im Laufe der möglicherweise langwierigen und schwerwiegenden Krise herauskristallisieren werden. Der Flexicurity muss auf jeden Fall eine wichtige Rolle zukommen. Nach Auffassung des Ausschusses müssen die Dimensionen der Flexicurity bei ihrer Umsetzung gleichmäßig zum Tragen kommen.

    1.9

    Der EWSA unterstreicht, dass im Rahmen der Arbeitsmarktreformen in den Mitgliedstaaten vermieden werden muss, dass die Zahl prekärer Arbeitsverhältnisse, die sich durch eine übermäßige Flexibilität zulasten der Sicherheit auszeichnen, nicht wie in den letzten Jahren unaufhörlich ansteigt. Der EWSA teilt die vom Ausschuss der Regionen in seiner Stellungnahme vom 7. Februar 2008 (2) zum Ausdruck gebrachten Bedenken. Eine Dominanz der externen Flexibilität könne dazu führen, dass „damit auch umfassende Deregulierungen des Normalarbeitsverhältnisses in Richtung auf eine Ausweitung prekärer Beschäftigungsverhältnisse inhaltlich vereinbar wären“.

    2.   Hintergrund

    2.1

    Der schwedische Ratsvorsitz ersucht den EWSA, sich zum Thema „Flexicurity“ zu äußern, das zwar bereits Gegenstand von Stellungnahmen des Ausschusses gewesen ist (3), sich nun aber in einem neuen Kontext darstellt. Bei einer vom schwedischen Ratsvorsitz am 7. Juli 2009 in Stockholm veranstalteten Anhörung wurde bekräftigt, dass angesichts der Finanzkrise eine erneute Untersuchung zu diesem Thema dringend erforderlich ist.

    2.2

    Bezüglich des Flexicurity-Konzepts gibt es verschiedene Ansätze. In ihrer Mitteilung (KOM(2007) 359 endg.) definierte die Europäische Kommission dieses Konzept als „integrierte Strategie zur gleichzeitigen Stärkung von Flexibilität und Sicherheit auf dem Arbeitsmarkt“ (4). Da diese Definition auch in die Schlussfolgerungen des außerordentlichen Gipfeltreffens am 7. Mai 2009 in Prag einfloss, beruht diese Stellungnahme ebenfalls auf dieser gemeinsamen Auslegung.

    2.3

    Der EWSA betont, dass die Arbeitsmarktpolitik gemäß dem Subsidiaritätsprinzip in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten fällt. Jeder Versuch einer Harmonisierung des Arbeitsrechts wäre ein Verstoß gegen dieses Prinzip und würde sich als ungeeignet erweisen, da er den Traditionen und geografischen Strukturen abträglich wäre, die ihre Zweckmäßigkeit und Stabilität unter Beweis gestellt haben. Darüber hinaus sollte berücksichtigt werden, dass die Volkswirtschaften der Mitgliedstaaten keinen identischen Entwicklungsstand aufweisen. Das zeigt sich in ihren jeweiligen Sozialsystemen. Nach Auffassung des EWSA sollte sich die EU in diesem Zusammenhang folgender Herausforderung stellen:

    Förderung der Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten mithilfe der europäischen Beschäftigungsstrategie, die seit 2005 Teil des Lenkungsmechanismus für die Lissabon-Strategie ist: In der 21. Leitlinie der Beschäftigungspolitik kommen die Mitgliedstaaten darin überein, die Beschäftigungssicherheit und die Flexibilität gleichermaßen zu fördern. Die EU muss als Katalysator fungieren, damit die Mitgliedstaaten ihren Verpflichtungen nachkommen und gleichzeitig ihre bewährten Verfahren im Rahmen der europäischen Beschäftigungspolitik bekanntmachen und austauschen.

    3.   Neue Gegebenheiten

    3.1   Die Krise

    3.1.1

    Die Auswirkungen der größten Wirtschaftskrise in der Geschichte der Gemeinschaft treten kurzfristig recht deutlich zutage: Die Staatsverschuldung der EU-Mitgliedsländer wächst in bislang ungekanntem Tempo. Obgleich die Zentralbanken weltweit die Märkte mit Geldmitteln überfluten, funktioniert das Bankwesen immer noch nicht so wie in normalen Zeiten. Insbesondere kleine und mittlere Unternehmen (KMU) sowie selbstständig Erwerbstätige haben immense Schwierigkeiten beim Zugang zu neuen Krediten. Die negativen Folgen der Massenarbeitslosigkeit für die Gesellschaft und den Binnenmarkt werden nicht lange auf sich warten lassen. Gleichzeitig ist die Schaffung neuer Arbeitsplätze äußerst schwierig und erfolgt nur punktuell.

    3.1.2

    Nach Auffassung des EWSA, dessen letzte Stellungnahme zu diesem Thema erst vom Frühjahr 2008 datiert, muss das Flexicurity-Modell angesichts der derzeitig sehr ernsten wirtschaftlichen und sozialen Lage kurzfristig angepasst werden. Der Ausschuss begrüßt das Ersuchen des schwedischen Ratsvorsitzes um Untersuchung der Frage, wie die Mitgliedstaaten die Flexicurity bei der Umstrukturierung im Zusammenhang mit der globalen Entwicklung einsetzen können. Der Ausdruck „globale Entwicklung“ bezieht sich auf die Finanzkrise und ihre bedauerlichen Auswirkungen auf Realwirtschaft und Beschäftigung. Es handelt sich dabei um die schwerste Wirtschaftskrise seit 80 Jahren. Sie wird sehr wahrscheinlich noch das ganze 21. Jahrhundert nachwirken. Besonders gravierend ist sie auch deshalb, weil sie mit zwei weiteren Krisen einhergeht, die die ganze Welt vor große Herausforderungen stellen: die Klimakrise und die demografische Krise.

    3.1.3

    Die Krise verändert das sozioökonomische Umfeld, in dem Reformen des Arbeitsmarkts ins Auge gefasst werden können. Das ist eine augenfällige Tatsache - unabhängig davon, ob man solche Strukturreformen in Krisenzeiten für zweckmäßig, durchführbar, sogar notwendig oder unmöglich hält. Allerdings legt der EWSA Wert auf die Feststellung, dass die Eingliederung und Wiedereingliederung von Arbeitslosen in den Arbeitsmarkt höchste Priorität haben müssen.

    3.1.4

    Der EWSA beabsichtigt jedoch, aus seinen Beobachtungen Schlussfolgerungen zu ziehen, um in Bezug auf die Hauptkomponenten der Flexicurity (Flexibilität und Sicherheit) konkrete und positive Vorschläge unterbreiten zu können. Er betont, dass eine ausgewogene Steuerung der Flexibilitäts- und der Sicherheitsmaßnahmen unabdingbar ist, wenn soziale Konflikte - die es ja in Europa bereits gegeben hat - vermieden werden sollen.

    3.2   Interne und externe Flexibilität

    3.2.1

    Die interne Flexibilität muss das Ergebnis des sozialen Dialogs zwischen Unternehmensleitung und Arbeitnehmern bzw. zwischen ihren Vertretern, den Sozialpartnern, auf Ebene des Unternehmens oder des betreffenden Sektors sein. Sie trägt zur Vermeidung von Arbeitsplatzverlusten bei und kann in schwierigen Zeiten als Stabilisierungsinstrument dienen, das wichtig für den sozialen Zusammenhalt in Europa ist. Ein gutes Einvernehmen zwischen Unternehmern und Arbeitnehmern ist notwendig, um zu gewährleisten, dass die Unternehmen soziale Verantwortung übernehmen und die Arbeitnehmer ihren Arbeitsplatz behalten, indem die Beschäftigung gestärkt wird. Bei der Unterstützung dieser Maßnahmen kommt den Regierungen eine wesentliche Rolle zu, wobei jedoch deren Fähigkeit zur Erbringung der wesentlichen Dienstleistungen für die Gesellschaft, wie Sicherheit (z.B. in Bezug auf Lebensmittel, Luftverkehr, Universalität der Leistungen der Daseinsvorsorge oder Polizei) und Bildung (hier im Sinne des lebenslangen Lernens), nicht beeinträchtigt werden darf.

    3.2.2

    Bei allen sozialen Reformen ist der jeweilige sozioökonomische und politische Kontext zu berücksichtigen. Die Flexicurity wirft während einer Krise zweifelsohne schwierige Fragen auf, wenn die für eine hypothetische Beschäftigungsfähigkeit erforderlichen Einschnitte nicht mit Sicherheiten einhergehen. Man muss sich also im Klaren darüber sein, dass die Flexicurity nur dann nützlich ist, wenn sie von beiden Sozialpartnern einvernehmlich ausgelegt und nicht nur von einer Seite in bestimmter Weise verstanden wird. In diesem Zusammenhang muss man sich ernsthaft mit der Sicherheit und mit dem Gleichgewicht zwischen Sicherheit und Flexibilität auseinandersetzen. Deshalb ist der Ausschuss der Auffassung, dass sich die Europäische Kommission verstärkt mit den Möglichkeiten der internen Flexibilität beschäftigen sollte, die ein nützliches Flexicurity-Instrument zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit sein kann (5).

    3.2.3

    Der EWSA ist der Auffassung, dass die Dimensionen der Flexicurity gleichwertig sein müssen; die Sicherheit darf dabei nicht benachteiligt werden. Wie können die Mitgliedstaaten jedoch dieses Gleichgewicht in der Krise gewährleisten? Der Ausschuss schlägt vor, dass die auf dem Flexicurity-Modell beruhenden Reformen in diesen Krisenzeiten sorgfältig überprüft werden, damit es zu keinen unerwünschten sozialen und politischen Folgen kommt. Im Falle der so genannten „externen“ Flexicurity sind solche Vorsichtsmaßnahmen verstärkt zu ergreifen.

    3.2.4

    Im Sinne der bisherigen Ausführungen müssen die Flexicurity-Maßnahmen in jeder Hinsicht glaubwürdig sein, insbesondere was den haushaltspolitischen Aspekt betrifft. Dies wird wahrscheinlich eine Neuausrichtung der Prioritäten bei den Haushaltsausgaben der Mitgliedstaaten und möglicherweise eine Erhöhung der von der Gemeinschaft bereitgestellten Mittel erforderlich machen. Denn: Es gibt keine Flexicurity ohne Sicherheit.

    3.2.5

    Im Gegensatz zu einem umsichtigen Einsatz unterschiedlicher Formen der internen Flexibilität wäre es in der gegenwärtigen Lage riskant, Arbeitsmarktreformen zur verstärkten Förderung der externen Flexibilität durchzuführen. Diese Dimension der Flexicurity stand bisher im Mittelpunkt der Überlegungen der Europäischen Kommission. Zahlreiche Tarifvereinbarungen in Europa enthalten Bestimmungen über die Organisation der Flexibilität im Unternehmen. Eine mögliche Form der internen Flexibilität ist u.a. die Neugestaltung der Arbeitszeit unter Einbeziehung von Fortbildungszeiten.

    3.3   Der soziale Dialog

    3.3.1

    Der EWSA bekräftigt seine Forderung, dass die Sozialpartner die Hauptakteure eines Forums werden, das einen dauerhaften Ideenaustausch zu den Reformen ermöglicht, damit beide Seiten (Arbeitgeber und Arbeitnehmer) darauf achten können, dass ein Gleichgewicht zwischen Flexibilität und Sicherheit erzielt wird und auf Dauer erhalten bleibt. Dieser Ansatz ist für die Zukunft der Beschäftigung in Europa wichtig und interessant. Genau deshalb muss auch die Zivilgesellschaft in die Debatte einbezogen werden. Alle beschäftigungspolitischen Maßnahmen und alle Arbeitsmarktreformen haben erhebliche Auswirkungen auf die Gesellschaft. Diese Reformen dürfen jedoch nicht losgelöst von den wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Entwicklungsperspektiven einer Gesellschaft umgesetzt werden.

    3.3.2

    Flexicurity ist ein wichtiges Instrument, um die Folgen der Krise der Finanzwelt und der Realwirtschaft für Arbeit und Beschäftigung abzufedern. Gleichzeitig darf sie aber nicht missbraucht werden, um etwa Entlassungen in Ländern zu erleichtern, in denen das Arbeitsrecht einen gewissen Schutz gegen sog. hire and fire-Praktiken gewährleistet. Der Ausschuss begrüßt, dass die Europäische Kommission klargestellt hat, dass Flexicurity keinesfalls zu einem Kündigungsrecht werden darf.

    3.3.3

    Der Ausschuss betont, dass alle Reformen des Arbeitsrechts in Zusammenarbeit mit den Sozialpartnern zu entwickeln sind, da sie andernfalls zum Scheitern verurteilt wären. Der soziale Dialog ist ein Garant für eine partizipative, moderne und soziale Demokratie. Jede Änderung des Arbeitsrechts muss aus einer Verhandlung mit den Arbeitnehmervertretern hervorgehen. Der soziale Dialog ermöglicht es darüber hinaus, verschiedene Formen der internen Flexibilität festzulegen, die den Unternehmen einen großen Handlungsspielraum bieten - unabhängig davon, ob sich die Unternehmenstätigkeit im Aufwärts- oder im Abwärtstrend befindet.

    3.3.4

    Der EWSA begrüßt die Anstrengungen und die gemeinsame Arbeit der europäischen Sozialpartner im Bereich der Flexicurity. Er begrüßt insbesondere, dass die europäischen Sozialpartner die Weiterverfolgung und Bewertung der Umsetzung der Flexicurity in ihr Arbeitsprogramm 2009-2010 aufgenommen haben. Schon vor der Vorlage des erwarteten Evaluierungsberichts geht der EWSA davon aus, dass die gemeinsame Bewertung einen großen Einfluss auf die Konzipierung der verschiedenen Flexicurity-Formen in den einzelnen Mitgliedstaaten haben wird.

    3.4   Kurz- und mittelfristige europäische Ziele

    3.4.1

    Kurzfristig müssen die Untersuchung und die Anwendungsmöglichkeiten der Flexicurity - immer unter Berücksichtigung eines sozialen Dialogs auf allen Ebenen als Voraussetzung, der finanziellen Zwänge und der Rolle der Regierungen - auf das Ziel ausgerichtet sein, möglichst viele Arbeitsplätze mit hohem Mehrwert zu erhalten und den Sozialschutz für alle Arbeitnehmer - unabhängig von ihrer Situation auf dem Arbeitsmarkt - auszubauen.

    3.4.2

    Der EWSA erinnert an die Schlussfolgerungen des Berichts des Rates vom 8./9. Juni über die Flexicurity in Krisenzeiten. Für Arbeitslose ist eine möglichst rasche Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt von entscheidender Bedeutung. Der EWSA unterstreicht, dass sie sehr frühzeitig eine effiziente Hilfe, Unterstützung und Beratung erhalten müssen. Die Mitgliedstaaten müssen dazu angehalten werden, die verfügbaren europäischen Finanzmittel besser zu nutzen. Sie müssen auch gänzlich dazu verpflichtet werden, die Qualität aller Beschäftigungsförderungsinstrumente zu verbessern, z.B. zur Stärkung der Aktivität und Effizienz der Agenturen für hochwertige Beschäftigung.

    3.4.3

    Der EWSA teilt die Auffassung der Kommission, dass Abkommen über die Zahlung von Kurzarbeitergeld ein kurzfristig nützliches Instrument sein können, um Arbeitsplätze zu sichern, Arbeitslosigkeit zu vermeiden und die Kaufkraft zu erhalten. Mit diesem Mittel werden drei Wirkungen erzielt: dem Unternehmen bleiben das Fachwissen und die Fachkompetenzen der Arbeitnehmer erhalten; die Beschäftigten werden nicht von der Arbeitswelt ausgeschlossen; und die Volkswirtschaft bleibt stabil, womit ein Anstieg der Arbeitslosigkeit vermieden wird. Die Krise hat die Notwendigkeit von Arbeitszeitkonten und einem flexiblen Arbeitszeitmanagement vor Augen geführt. Unternehmen mit Arbeitszeitkonten sind sehr viel besser in der Lage, auf neue Arbeitsmarktsituationen rasch zu reagieren und sich auf plötzliche Nachfrageeinbrüche einzustellen. Der EWSA ersucht die Mitgliedstaaten, dieses Instrument für die Beschäftigten und die Unternehmen so attraktiv wie möglich zu gestalten.

    3.4.4

    Der EWSA fordert die Sozialpartner aller Ebenen - einschließlich der mikroökonomischen - auf, den sozialen Dialog und auch die Kompromisse, die in dieser schweren Krise allen Partnern abverlangt werden, auf den Erhalt und die Schaffung von Arbeitsplätzen unter Wahrung der Gesamtkaufkraft der Arbeitnehmer zu konzentrieren. Die Regierungen müssen Mittel und Wege finden, um eine Katalysatorrolle zu spielen und diese Art von Abkommen zu fördern oder sogar zu belohnen. Der EWSA schlägt dem schwedischen Ratsvorsitz und der Europäischen Kommission vor, eine Internetplattform einzurichten, die - unter Beachtung der Unterschiedlichkeit der Situation auf nationaler, regionaler und lokaler Ebene - zum Austausch praktischer Informationen und Erfahrungen im Zusammenhang mit Initiativen der Sozialpartner beitragen kann.

    3.4.5

    Der EWSA ist der Auffassung, dass die vier Dimensionen der Flexicurity und ihre Grundsätze, so wie sie von der Europäischen Kommission definiert wurden, einen effektiven Beitrag zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit in Europa leisten könnten. Gleichwohl muss darauf geachtet werden, dass hochwertige Arbeitsplätze geschaffen werden. Dabei spielt ein echter Sozialschutz eine sehr wichtige Rolle. Er ist für den sozialen Zusammenhalt in der EU von grundlegender Bedeutung. In diesem Zusammenhang unterstreicht der EWSA, dass im Rahmen der Arbeitsmarktreformen in den Mitgliedstaaten vermieden werden muss, dass die Zahl prekärer Arbeitsverhältnisse, die sich durch übermäßige Flexibilität zulasten der Sicherheit auszeichnen, nicht wie in den letzten Jahren unaufhörlich zunimmt. Die Kommission sollte hierbei helfen und in regelmäßigen Abständen in einer zu verbreitenden Bestandsaufnahme ermitteln, inwieweit die Flexicurity-Grundsätze in die Gesetze und Verordnungen betreffend den Arbeitsmarkt aufgenommen wurden. Der EWSA hält es für notwendig, die Flexicurity-Grundsätze enger in die Post-Lissabon-Agenda einzubeziehen. Darüber hinaus sollten die Arbeiten der europäischen Sozialpartner mit dieser Agenda koordiniert werden.

    3.5   Eine neue europäische Debatte

    3.5.1

    Der EWSA erachtet es als zweckdienlich, dass der schwedische Ratsvorsitz eine Debatte über die Aspekte der Flexicurity einleitet, die nach dem Vorbild mehrerer Mitgliedstaaten, in denen sie bereits zum Einsatz kommt, dazu beitragen könnten, dass die Union in der derzeitigen weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise möglichst viele Arbeitsplätze erhält, um ihren sozialen Zusammenhalt nicht zu gefährden. Die EU hat ein besonderes Interesse daran, die Qualifikationen ihrer Arbeitnehmer zu erhalten, auf die sie nach der Krise angewiesen sein wird. Dies trifft umso mehr zu, als die demografische Entwicklung das Potenzial der qualifizierten Arbeitskräfte in den meisten europäischen Ländern beträchtlich schwächen wird.

    3.5.2

    Die Entlassung von qualifiziertem Personal in Krisenzeiten stellt angesichts des zu erwartenden Konjunkturaufschwungs eine Gefahr dar. Der Mangel an Sachwissen könnte noch gravierendere Formen annehmen. Schlimmer noch, zahlreiche europäische Unternehmen streichen offensichtlich ihre Lehrstellen oder die für junge Hochschulabsolventen vorgesehenen Arbeitsplätze. Dadurch gefährden sie ihre eigene Zukunft. Die Flexicurity kann nur dann funktionieren, wenn die Arbeitnehmer über eine gute Ausbildung verfügen. Ein Einstellen der Ausbildungsmaßnahmen liefe diesem Reforminstrument zuwider. Neue Kompetenzen und die Schaffung neuer Arbeitsplätze hängen eng miteinander zusammen. Die Strategie „Lissabon 2010 Plus“ wird Lösungen für diese Probleme vorgeben müssen. Die Unternehmen müssen in die Fortbildung ihrer Arbeitnehmer investieren. Gleichzeitig muss auch jeder Arbeitnehmer für seine kontinuierliche Fortbildung Sorge tragen.

    3.5.3

    Das lebenslange Lernen im Rahmen der Flexicurity muss Teil des Konzepts einer nachhaltigen Entwicklung der Gesellschaften in der Europäischen Union werden und weltweit als gutes Beispiel dienen. Die Fortbildung der Arbeitnehmer muss auf das Ziel der Union, mehr qualitativ hochwertige Arbeitsplätze zu schaffen und sich um die Entwicklung einer nachhaltigen Wirtschaft zu bemühen, ausgerichtet werden.

    3.5.4

    Das Flexicurity-Konzept funktioniert im Grunde nur, wenn eine bessere Beschäftigungsfähigkeit gegeben ist. Diese wiederum hängt von einem Bildungssystem der Spitzenklasse und der Effizienz der Maßnahmen im Bereich der ständigen Weiterbildung ab. Solange die Mitgliedstaaten das lebenslange Lernen befürworten, ohne jedoch ihre Bildungssysteme zu reformieren, ohne der Vorschulbildung eine größere Bedeutung einzuräumen, ohne mehr Mittel für die Bildung bereitzustellen und schließlich ohne die berufliche und kontinuierliche Weiterbildung am Arbeitsplatz mit finanziellen Mitteln zu fördern und zu erleichtern, kann eine wichtige Voraussetzung der Flexicurity nicht erfüllt werden. Der Ausschuss fordert die nationalen Regierungen dazu auf, all diese mit der Bildung zusammenhängenden Fragen zu ihrer höchsten Priorität zu machen. Der Ausschuss spricht sich für gemeinsame Maßnahmen der Mitgliedstaaten zur Förderung des Bildungswesens und der Weiterbildung in Europa aus.

    3.6   Die Flexicurity vor dem Hintergrund des Vertrags von Lissabon

    3.6.1

    Im Vertrag von Lissabon, dem der Ausschuss große Bedeutung beimisst und von dem er hofft, dass er von den 27 EU-Mitgliedstaaten ratifiziert wird, wird der Binnenmarkt als soziales Wirtschaftssystem gekennzeichnet. Unter den in Artikel 2 des EG-Vertrags genannten Zielen der Gemeinschaft ist die „soziale Marktwirtschaft“. Dies ist eine wichtige Neuerung. Diese neue Ausrichtung, die für eine soziale Auslegung des Gemeinschaftsrechts viel größeren Spielraum schafft, wird sich auf die künftige europäische Rechtsetzung und insbesondere auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes auswirken.

    3.6.2

    Bestimmte politische Entwicklungen in einigen wenigen europäischen Ländern geben zwar Anlass zu Beunruhigung hinsichtlich der Chancen auf eine erfolgreiche vollständige Ratifizierung des Vertrags, doch bleibt der Ausschuss nach wie vor optimistisch, denn es gibt keine Alternative - keinen „Plan B“. Die Institutionen müssen insbesondere in Krisenzeiten angemessener funktionieren können, als dies in einer EU-27 im Rahmen des Nizza-Vertrages möglich ist. Deshalb ist es nach Auffassung des Ausschusses erforderlich, dass die europäischen Institutionen das Dossier „Flexicurity“ mit Blick auf ein Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon noch in diesem Jahr bzw. spätestens 2010 und unter Berücksichtigung der Entwicklung der Krise ausarbeiten. Dieses Inkrafttreten wird u.a. zur Folge haben, dass im Rahmen des Gemeinschaftsrechts einer neuen, aktuelleren Dimension der „Sicherheit“ Rechnung getragen wird.

    Brüssel, den 1. Oktober 2009

    Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

    Mario SEPI


    (1)  ABl. C 309 vom 16.12.2006, S. 119; Initiativstellungnahme des EWSA zum Thema „Sozialer Zusammenhalt: Ein europäisches Sozialmodell mit Inhalt füllen“.

    (2)  ABl. C 105 vom 25.4.2008, S. 16 (vgl. Ziffer 22).

    (3)  ABl. C 256 vom 27.10.2007, S. 108. ABl. C 211 vom 19.8.2008, S. 48;

    Stellungnahme des EWSA zur Mitteilung „Gemeinsame Grundsätze für den Flexicurity-Ansatz herausarbeiten: Mehr und bessere Arbeitsplätze durch Flexibilität und Sicherheit“.

    (4)  Es sei auf den genauen Wortlaut der Kommissionsmitteilung verwiesen, in dem die vier Grundsätze der Flexicurity beschrieben werden: „Bei der Flexibilität […] geht es [zum einen] um erfolgreiche ‚Übergänge‘ im Laufe des Lebens: von der Schule ins Arbeitsleben, von einer Arbeitsstelle zur anderen, zwischen Arbeitslosigkeit oder Nichterwerbstätigkeit und Beschäftigung sowie von der Berufstätigkeit in den Ruhestand. Sie beschränkt sich nicht auf umfassendere Befugnisse für Unternehmen, Personal einzustellen und zu entlassen, und besagt nicht, dass das Konzept unbefristeter Verträge veraltet ist. Es geht um die Übernahme besserer Arbeitsplätze durch die Arbeitnehmer, den ‚sozialen Aufstieg‘ und die optimale Entwicklung von Fähigkeiten. Es handelt sich auch um flexible Formen der Arbeitsorganisation, mit denen man neue Bedürfnisse und Fertigkeiten im Produktionsbereich rasch und wirksam in den Griff bekommen kann, und darum, die Vereinbarkeit von Beruf und privaten Pflichten zu erleichtern. Sicherheit zum andern ist mehr als nur die Gewissheit, die Arbeitsstelle zu behalten: es geht darum, Menschen die Fähigkeiten zu vermitteln, die sie in die Lage versetzen, im Laufe ihres Berufslebens voranzukommen, und ihnen dabei zu helfen, eine neue Beschäftigung zu finden. Es geht auch um angemessene Leistungen bei Arbeitslosigkeit, damit Übergänge erleichtert werden. Schließlich schließt Sicherheit auch Fortbildungsmöglichkeiten für alle Arbeitnehmer ein (insbesondere geringqualifizierte und ältere). “

    (5)  ABl. C 105 vom 25.4.2008, S. 16: Der Ausschuss der Regionen hat bereits vor der Finanzkrise seine Bedenken bezüglich der Dominanz der externen Flexibilität im Rahmen des Ansatzes der Kommission zum Ausdruck gebracht. Der Ausschuss der Regionen „gibt zu bedenken, dass Formulierungen [der Kommission] wie ‚Flexible und zuverlässige vertragliche Vereinbarungen‘ Anlass zur Sorge geben, da damit auch umfassende Deregulierungen des Normalarbeitsverhältnisses in Richtung auf eine Ausweitung prekärer Beschäftigungsverhältnisse inhaltlich vereinbar wären“.


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