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Document 52009AE0611

    Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Weißbuch Schadenersatzklagen wegen Verletzung des EG-Wettbewerbsrechts

    ABl. C 228 vom 22.9.2009, p. 40–46 (BG, ES, CS, DA, DE, ET, EL, EN, FR, IT, LV, LT, HU, MT, NL, PL, PT, RO, SK, SL, FI, SV)

    22.9.2009   

    DE

    Amtsblatt der Europäischen Union

    C 228/40


    Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Weißbuch „Schadenersatzklagen wegen Verletzung des EG-Wettbewerbsrechts“

    KOM(2008) 165 endg.

    2009/C 228/06

    Die Kommission beschloss am 2. April 2008, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 262 des EG-Vertrags um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

    Weißbuch Schadenersatzklagen wegen Verletzung des EG-Wettbewerbsrechts

    Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion und Verbrauch nahm ihre Stellungnahme am 11. März 2009 an. Berichterstatter war Herr ROBYNS DE SCHNEIDAUER.

    Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 452. Plenartagung am 24./25. März 2009 (Sitzung vom 25. März) mit 54 gegen 4 Stimmen bei 3 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

    1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

    1.1

    Der effektive Zugang zur Justiz ist als Grundrecht in der Europäischen Grundrechtecharta verankert. Daher besteht der EWSA darauf, dass dieser Zugang für die Bürger erleichtert wird, insbesondere bei Verstößen gegen die Vorschriften des Wettbewerbsrechts, deren Leidtragende nicht nur die Wettbewerber, die sich an die Regeln halten, sondern auch die Verbraucher, KMU und Mitarbeiter der beteiligten Unternehmen sind, da ihre Arbeitsplätze gefährdet werden und ihre Kaufkraft geschwächt wird. Der Ausschuss begrüßt das Weißbuch der Kommission, die er in dieser Frage unterstützt. Er betont die Notwendigkeit wirksamerer Instrumente, die die Opfer von Verstößen gegen das Wettbewerbsrecht in die Lage versetzen, für den erlittenen Schaden eine vollständige Wiedergutmachung zu erhalten, wie der EuGH in seiner Rechtsprechung festgestellt hat. Ein ausgewogenes System, das den Interessen aller Rechnung trägt, ist für die Gesellschaft insgesamt von entscheidender Bedeutung.

    1.2

    Das wichtigste Leitprinzip der Wettbewerbspolitik muss nach wie vor lauten, dass die Kommission und die nationalen Wettbewerbsbehörden die öffentlich-rechtliche Durchsetzung von Artikel 81 und 82 des EG-Vertrages strikt beibehalten. Der Ausschuss weiß um die verschiedenen Hindernisse und Hemmnisse, auf die die privatrechtliche Geltendmachung individueller und kollektiver Ansprüche auf vollen Schadenersatz stößt, und begrüßt die Bemühungen der Kommission, diese Probleme auszuräumen. Schadenersatzklagen stellen ein notwendiges Element für eine wirksame Anwendung von Artikel 81 und 82 des EG-Vertrags dar, welche die öffentliche Rechtsdurchsetzung ergänzen, jedoch nicht ersetzen können und auch nicht gefährden dürfen. In der Zukunft wird sich eine Verbesserung der Vorschriften für den privatrechtlichen Schadenersatz insofern günstig auswirken, als damit eine Abschreckung hinsichtlich künftiger Verstöße erreicht wird.

    1.3

    Nach Ansicht des EWSA ist ein rechtlicher Rahmen notwendig, der den Geschädigten eine bessere rechtliche Grundlage für die wirksamere Geltendmachung ihres im EG-Vertrag verankerten Anspruchs auf Wiedergutmachung bei jeglichem durch Verstoß gegen die EG-Wettbewerbsvorschriften entstandenen Schaden verschafft. Dafür müssen auf Gemeinschaftsebene und in den Mitgliedstaaten die notwendigen Maßnahmen (rechtsverbindlicher oder nichtverbindlicher Art) ergriffen werden, um die Gerichtsverfahren in der Europäischen Union zu verbessern und einen zufriedenstellenden Mindestschutz für die Ansprüche der Geschädigten erreichen. Außergerichtliche Streitbeilegungsverfahren kommen nur als Ergänzung dazu in Betracht. Sie können sich - sofern beide Parteien auch wirklich zur Zusammenarbeit bereit sind und ein gerichtlicher Rechtsbehelf effektiv gegeben ist - als interessante Alternative erweisen, weil es sich um weniger streng geregelte und kostengünstigere Verfahren handelt.

    1.4

    Was kollektive Klagen angeht, so müssen nach Auffassung des EWSA im Rahmen eines gemeinsamen europäischen Ansatzes und ausgehend von in der europäischen Rechtskultur und -tradition verwurzelten Maßnahmen geeignete Verfahren für die wirksame Geltendmachung der Ansprüche geschaffen werden, damit die zur Klageeinreichung gesetzlich befugten Einrichtungen und die Gruppen von Geschädigten einfacheren Zugang zum Recht erhalten. Durch Anschlussmaßnahmen sollte der Einführung von bestimmten Merkmalen vorgebeugt werden, die, wie es die Erfahrungen in anderen Rechtsordnungen zeigen, sehr leicht missbräuchlich genutzt werden können. Der Ausschuss ersucht die Kommission um entsprechende Koordinierung mit anderen Initiativen zur Erleichterung von Rechtsbehelfen, insbesondere mit der Initiative, die gegenwärtig von der GD SANCO ausgearbeitet wird.

    1.5

    Die im Weißbuch enthaltenen Vorschläge betreffen einen komplizierten rechtlichen Rahmen, der das nationale Prozessrecht und u.a. die Vorschriften zur Klagebefugnis, den Zugang zu den Beweismitteln, das Verschuldenserfordernis und die Vorschriften für die Kostentragung berührt.

    1.6

    Der Zugang zu Beweismitteln und die Offenlegung von Beweismitteln zwischen den Parteien sollte auf der Grundlage eines Tatsachenvortrags und unter strenger gerichtlicher Prüfung der Plausibilität des Antrags und der Verhältnismäßigkeit des Offenlegungsbegehrens gewährt werden.

    1.7

    Der Ausschuss ersucht die Kommission, umgehend Anschlussmaßnahmen zu dem Weißbuch einzuleiten und geeignete Maßnahmen zur Verwirklichung der Ziele des Weißbuchs unter Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips vorzuschlagen; die Anwendung des Subsidiaritätsprinzips darf jedoch nicht die Beseitigung bestehender Hindernisse bremsen, die den Zugang der Opfer von Verstößen gegen das EG-Wettbewerbsrecht zu wirksamen Rechtsschutzinstrumenten, mit denen der Ersatz des Schadens erwirkt werden kann, erschweren.

    2.   Einleitung

    2.1   Der EWSA unterstreicht, dass Einzelpersonen oder Unternehmen, die durch Verstöße gegen das Wettbewerbsrecht geschädigt werden, in der Lage sein müssen, von der Partei Schadenersatz zu fordern, die den Schaden verursacht hat. Diesbezüglich merkt der Ausschuss an, dass Versicherungsunternehmen nicht für die Folgen vorsätzlicher Verletzungen des Wettbewerbsrechts (vor allem Schadenersatzleistungen) aufkommen. Er ist der Überzeugung, dass davon eine zusätzliche abschreckende Wirkung auf die Unternehmen ausgeht, da diese, wenn sie gegen das Wettbewerbsrecht verstoßen, die vollen Kosten für die Wiedergutmachung des von ihnen angerichteten Schadens tragen und die verhängten Geldbußen zahlen müssen.

    2.2   Wie der Ausschuss bereits früher feststellte (1), hängt die Wettbewerbspolitik eng mit anderen Politikbereichen wie Binnenmarkt und Verbraucherschutz zusammen. Deshalb sollten die Initiativen zur leichteren Inanspruchnahme von Rechtsbehelfen möglichst umfassend koordiniert werden.

    2.3   Der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften hat das Recht der Geschädigten - Privatpersonen wie Unternehmen - auf Ersatz der ihnen durch Verstoß gegen das EU-Wettbewerbsrecht entstandenen Schäden garantiert (2).

    2.4   Infolge der öffentlichen Debatte im Zusammenhang mit der Veröffentlichung des Weißbuchs der Kommission „Schadenersatzklagen wegen Verletzung des EU-Wettbewerbsrechts (3) im Jahr 2005 haben sowohl der EWSA (4) als auch das Europäische Parlament (5) den Standpunkt der Kommission unterstützt und diese aufgefordert, konkrete Maßnahmen einzuleiten. Der EWSA begrüßte die Initiative der Kommission nicht nur, sondern stellte auch die Hindernisse heraus, die den Geschädigten den Weg zur Wiedergutmachung ihres Schadens erschwerten, und erinnerte an das Subsidiaritätsprinzip.

    2.5   Im April 2008 unterbreitete die Kommission in ihrem Weißbuch konkrete Vorschläge (6). Darin werden die mit wettbewerbsrechtlichen Klagen zusammenhängenden Fragen analysiert und Maßnahmen zur Erleichterung derartiger Klagen dargelegt. Die vorgeschlagenen Maßnahmen und rechtspolitischen Optionen betreffen die neun folgenden Themen: Klagebefugnis, Zugang zu Beweismitteln, Bindungswirkung von Entscheidungen nationaler Wettbewerbsbehörden, Verschuldenserfordernis, Schadenersatz, Schadensabwälzung, Verjährung, Kosten einer Schadenersatzklage und Verhältnis zwischen Kronzeugenprogrammen und Schadenersatzklagen.

    2.6   Im Zuge der Erarbeitung des Weißbuchs fanden umfassende Gespräche zwischen der Kommission und Regierungsvertretern der Mitgliedstaaten, Richtern der einzelstaatlichen Gerichte, Vertretern der Industrie und der Verbraucherverbände, Juristen und vielen anderen Betroffenen statt.

    2.6.1   Ein unverfälschter Wettbewerb ist integraler Bestandteil des Binnenmarkts und von maßgeblicher Bedeutung für die Umsetzung der Strategie von Lissabon. Das vorrangige Ziel dieses Weißbuchs besteht darin, die rechtlichen Rahmenbedingungen für die Geschädigten zu verbessern, damit sie ihren im EG-Vertrag verankerten Anspruch auf Ersatz grundsätzlich aller durch Verstöße gegen die EG-Wettbewerbsvorschriften entstandenen Schäden wirksamer geltend machen können. Wichtigstes Leitprinzip ist somit das Ziel einer vollständigen Entschädigung.

    2.6.2   Im Weißbuch werden folgende Aspekte behandelt:

    Klagebefugnis: indirekte Abnehmer und kollektiver Rechtsschutz;

    Zugang zu Beweismitteln: Offenlegung von Beweismitteln zwischen den Parteien;

    Bindungswirkung von Entscheidungen nationaler Wettbewerbsbehörden;

    Verschuldenserfordernis;

    Schadenersatz;

    Schadensabwälzung;

    Verjährung;

    Kosten einer Schadenersatzklage;

    Verhältnis zwischen Kronzeugenprogrammen und Schadenersatzklagen.

    3.   Allgemeine Bemerkungen

    3.1   Der EWSA befürwortet ein wirksameres System, das es den Opfern von Verstößen gegen die EG-Wettbewerbsvorschriften ermöglicht, einen angemessenen Ersatz für den davongetragenen Schaden zu erlangen. Derzeit können die Geschädigten Schadenersatzansprüche im Rahmen der allgemeinen Haftungsvorschriften und des Verfahrensrechts des jeweiligen Mitgliedstaats geltend machen. Aber derartige Verfahren reichen häufig zur Erlangung einer wirksamen Entschädigung nicht aus, insbesondere, wenn zahlreiche Opfer einen gleich gearteten Schaden erlitten haben.

    3.2   Der Ausschuss erkennt die Wichtigkeit der in dem Weißbuch aufgeworfenen Fragen an. Die nachstehenden Bemerkungen konzentrieren sich auf die nach Ansicht des EWSA heikelsten Themen der gegenwärtigen Debatte. Der Ausschuss ersucht die Kommission, sicherzustellen, dass für die Opfer von Verstößen gegen das Wettbewerbsrecht in allen EU-Mitgliedstaaten die Möglichkeit zur wirksamen Durchsetzung der Schadenersatzansprüche gegeben ist, und fordert die Kommission daher auf, die erforderlichen Anschlussmaßnahmen zu dem Weißbuch auf Gemeinschaftsebene vorzuschlagen. Er unterstreicht, dass bei der Prüfung der konkreten Vorschläge auf EU-Ebene das Subsidiaritätsprinzip zu berücksichtigen ist, und erinnert daran, dass die Vorschläge mit den Rechts- und Verfahrensordnungen der Mitgliedstaaten im Einklang stehen müssen.

    3.3   Nach Auffassung des EWSA steht den Geschädigten der vollständige Ersatz des realen Werts der erlittenen Verluste zu. Dieser Anspruch erstreckt sich nicht nur auf den realen Verlust oder materiellen und immateriellen Schaden, sondern auch auf entgangene Gewinne und beinhaltet auch den Anspruch auf Zinsen.

    3.3.1   Der EWSA hält ein Tätigwerden der Gemeinschaft durch die Kommission für angebracht, wobei zweierlei Instrumente kombiniert zum Einsatz kommen sollten:

    Einerseits gilt es, den derzeitigen gemeinschaftlichen Besitzstand (acquis communautaire) zum Umfang des Schadenersatzanspruchs von Opfern von Wettbewerbsverstößen in einem gemeinschaftlichen Rechtsinstrument zu kodifizieren.

    Zum anderen sollte ein unverbindlicher Orientierungsrahmen für die Berechnung des Schadenersatzes ausgearbeitet werden, der z.B. approximative Methoden zur Berechnung oder vereinfachte Regeln zur Schätzung erlittener Verluste enthalten könnte.

    3.4.   Nach Auffassung des Ausschusses hat Anspruch auf Entschädigung, wer einen hinreichenden ursächlichen Zusammenhang zwischen seinem Schaden und der Zuwiderhandlung nachweisen kann. Verhindert werden sollten allerdings Fälle ungerechtfertigter Bereicherung, zum Beispiel wenn die Käufer bzw. Abnehmer Preisaufschläge an ihre Kunden weitergegeben haben. Nach Ansicht des EWSA und unbeschadet der Ebene, auf der eine solche Maßnahme ergriffen wird (nationale oder Gemeinschaftsebene) sollte die beklagte Partei das Recht haben, im Falle einer Schadenersatzklage wegen Preisaufschlägen den Einwand der Schadensabwälzung geltend zu machen. Die für diesen Einwand erforderliche Beweislast sollte jedoch nicht geringer ausfallen als das vom Kläger zum Nachweis des Schadens geforderte Beweismaß.

    3.5   Angesichts der derzeit bestehenden Unterschiede bei der Berechnung der Verjährungsfristen ist es im Sinne der Rechtssicherheit erforderlich, hier die Kriterien zu vereinheitlichen. Deshalb spricht sich der EWSA für Folgendes aus:

    Die Verjährungsfrist sollte nicht beginnen, bevor eine dauernde oder fortgesetzte Zuwiderhandlung eingestellt wurde und bevor von dem Geschädigten vernünftigerweise Kenntnis der Zuwiderhandlung und des ihm dadurch verursachten Schadens erwartet werden kann.

    In jedem Fall sollte eine neue Verjährungsfrist von mindestens zwei Jahren beginnen, sobald die Entscheidung, auf die sich die eine Folgeklage erhebende Partei beruft, bestandskräftig wird.

    3.6   Zusammenspiel von behördlicher Durchsetzung und Schadenersatzklagen

    3.6.1

    Da die Regulierung der Märkte und die Durchsetzung der Wettbewerbsregeln in der EU von öffentlichem Interesse ist, muss die primäre Zuständigkeit dafür bei den öffentlichen Instanzen verbleiben. Der EWSA ist daher der Auffassung, dass bei allen künftigen Maßnahmen eine wirksame behördliche Durchsetzung gewährleistet bleiben muss und es gleichzeitig den Opfern von Verstößen gegen das Wettbewerbsrecht leichter gemacht werden muss, Ersatz für den erlittenen Schaden zu erlangen. Die öffentliche Rechtsdurchsetzung spielt eine zentrale Rolle bei der Bekämpfung wettbewerbswidrigen Verhaltens, zumal die Kommission und die nationalen Wettbewerbsbehörden über einzigartige Befugnisse zur Nachprüfung und Streitbeilegung verfügen.

    3.6.2

    Während bei der behördlichen Durchsetzung die Einhaltung der Vorschriften und die Abschreckung im Vordergrund stehen, geht es bei Schadenersatzklagen darum, den vollen Ausgleich für erlittene Schäden zu erhalten. Dieser volle Ausgleich muss also den realen Wert des Verlusts, die entgangenen Gewinne und die Zinsen abdecken.

    3.6.3

    Was die Prüfung der Maßnahmen zugunsten des konkreten und vollständigen Schadenersatzes angeht, so erwartet der EWSA, dass der geplante Orientierungsrahmen für die Berechnung des Schadenersatzes, der im Weißbuch genannt wird, pragmatische Richtgrößen für die Gerichte der Mitgliedstaaten enthält.

    3.7   Außergerichtliche Streitbeilegungsverfahren

    3.7.1

    Ein besserer Rechtsrahmen für eine wirksamere Entschädigung der Opfer von wettbewerbsrechtlichen Verstößen ist unerlässlich, aber der EWSA begrüßt auch, dass die Kommission Impulse gibt, damit die Mitgliedstaaten Verfahrungsregeln konzipieren, die Vergleiche begünstigen. Als Alternative zum gerichtlichen Rechtsbehelf kann außergerichtlichen Formen der Streitbeilegung eine wichtige ergänzende Rolle bei der Durchsetzung von Schadenersatzansprüchen zukommen, ohne dass der Zugang zu den Gerichten auf irgendeine Weise eingeschränkt wird. Sie könnten die Möglichkeit eröffnen, schneller und kostengünstiger zu einer gerechten Lösung zu gelangen, das Klima zwischen den Parteien weniger konfrontativ zu gestalten und gleichzeitig die Arbeitsbelastung der Gerichte zu verringern. Deshalb fordert der EWSA die Kommission auf, den Einsatz außergerichtlicher Streitbeilegungsverfahren in der EU zu fördern und ihre Anwendung und Qualität zu verbessern. Der EWSA merkt allerdings an, dass alternative Streitbeilegungsverfahren bei der Durchsetzung von Schadenersatzansprüchen nur dann als eine glaubwürdige Alternative in Frage kommen, wenn die Instrumentarien für einen wirksamen gerichtlichen Rechtsbehelf - einschließlich kollektiver Rechtsdurchsetzungsmaßnahmen - vorhanden sind. Wo wirksame Instrumente für einen gerichtlichen Rechtsbehelf fehlen, gibt es keine ausreichenden Anreize für eine faire und schnelle Einigung.

    4.   Besondere Bemerkungen zum Weißbuch

    4.1   Als Folge des derzeitigen, äußerst umfangreichen Rechtsverkehrs besteht die Notwendigkeit, in den einzelnen Rechtsordnungen Mechanismen der Klagehäufung vorzusehen, bei denen die Klagen mehrerer durch Wettbewerbsverstöße geschädigter Einzelkläger zusammengefasst werden.

    4.1.1   Der EWSA schließt sich dem Standpunkt der Kommission an, wonach zur Gewährleistung einer effektiven kollektiven Wiedergutmachung für die Schäden der Opfer folgende beide Mechanismen kombiniert werden sollten:

    Verbandsklagen, die von qualifizierten Einrichtungen (Verbraucherverbänden, Umweltschutzverbänden, Unternehmerverbänden, Zusammenschlüssen von Geschädigten) erhoben werden. In den meisten Fällen hat sich der EWSA zu der Zulässigkeit dieser Klagemöglichkeiten geäußert (7);

    Opt-in-Gruppenklagen, zu denen sich einzelne Opfer zusammenschließen, um ihre jeweiligen Schadenersatzansprüche in einer einzigen Klage zusammenzufassen.

    4.2   Bemerkungen zum „kollektiven Rechtsschutz“:

    4.2.1

    Eine zufriedenstellende Entschädigung der Opfer von wettbewerbsrechtlichen Verstößen – faire Wettbewerber, Verbraucher, KMU und Mitarbeiter der beteiligten Unternehmen als indirekte Leidtragende von Praktiken, die ihre Arbeitsplätze gefährden und ihre Kaufkraft schwächen - ist für den EWSA ein zentrales Anliegen. Er hat seine Auffassung zum Thema „Definition der Rolle von Sammelklagen und der entsprechenden Vorschriften im Rahmen des EU-Verbraucherrechts“ in einer eigenen Initiativstellungnahme deutlich gemacht (8). In Übereinstimmung mit früheren Stellungnahmen bringt er zum Ausdruck, dass die Anerkennung der Notwendigkeit des Rechtsschutzes mit geeigneten Verfahren zur Anerkennung und Durchsetzung der Ansprüche einhergehen muss. Die Einführung einer europäischen Sammelklage ist eine von mehreren Möglichkeiten, die in der Debatte über die wirksame Gestaltung dieses Rechtsschutzes erörtert werden. Der EWSA vertritt die Ansicht, dass Anschlussmaßnahmen ausgewogen sein und einen effektiven Schutz gegen missbräuchliche Praktiken bieten sollten. Außerdem sollten sie auch mit anderen Vorschlägen für kollektive Rechtsdurchsetzungsverfahren, insbesondere denjenigen, die gegenwärtig von der GD SANCO ausgearbeitet werden, im Einklang stehen und im Zusammenhang mit diesen auf koordinierte Weise behandelt werden, um unnötige Mehrfachregelungen zu vermeiden, die in den Mitgliedstaaten enorme Umsetzungs- und Anwendungsprobleme verursachen.

    4.2.2

    Die EWSA begrüßt den breiten Konsens, der bei den europäischen Politikern und Interessenträgern darüber besteht, dass die EU die Gefahr missbräuchlicher Praktiken amerikanischer Prägung vermeiden muss. Anschlussmaßnahmen sollten die europäische Rechtskultur und -tradition widerspiegeln, zum Ziel allein Schadenersatz haben und ein ausgewogenes Verhältnis zwischen den Parteien herstellen, d.h. letztlich zu einem System führen, das die Interessen der Gesellschaft insgesamt schützt. Der EWSA dringt darauf, Erfolgshonorare und Regelungen, die wirtschaftliche Anreize für Dritte beinhalten, zu verhindern.

    4.3   Bemerkungen zu den Beweismitteln

    4.3.1

    Im Hinblick auf einen effektiven Zugang zu Beweismitteln, der Bestandteil des Rechts auf einen wirksamen Rechtsschutz ist, begrüßt der EWSA die Tatsache, dass bei Schadenersatzklagen wegen Verstoß gegen das Wettbewerbsrecht EU-weit ein Mindestniveaus der Offenlegung zwischen den Parteien gewahrt wird. Dazu beitragen könnte eine Erweiterung der Befugnisse der einzelstaatlichen Gerichte zur Erhebung bestimmter, genau definierter Kategorien von Beweismitteln, und zwar im Rahmen der durch die Rechtsprechung des EuGH gesetzten Grenzen, insbesondere im Hinblick auf die Zulässigkeit, Notwendigkeit und Angemessenheit des jeweiligen Beweismittels.

    4.3.2

    Der EWSA ist sich bewusst, dass es den Geschädigten schwer gemacht wird, ihren Fall zu belegen, und begrüßt die Bemühungen der Kommission, den Zugang zu Beweismitteln zu verbessern. Er betont, dass die Unterschiede zwischen den in den Mitgliedstaaten geltenden Verfahrensregeln nicht außer Acht gelassen werden dürfen. Offenlegungspflichten sollten jedenfalls mit präzisen Sicherungen versehen sein und im richtigen Verhältnis zur Streitsache stehen.

    4.3.3

    Der EWSA ersucht die Kommission, die Offenlegungspflichten mit präzisen Sicherungen zu unterlegen, da es darauf ankommt, ein System zu wahren, in dem der effektive Zugang zu Beweismitteln und das Recht auf Verteidigung in ausgewogenem Verhältnis zueinander stehen. Die strenge Beaufsichtigung durch einen Richter könnte nach Ansicht des Ausschusses dabei hilfreich sein.

    4.3.4

    Wenn die Gemeinschaft einen Verstoß gegen Artikel 81 oder Artikel 82 EG-Vertrag feststellt, können sich die Opfer dieser Zuwiderhandlung gemäß Artikel 16 Absatz 1 der Verordnung (EG) Nr. 1/2003 des Rates in zivilrechtlichen Schadenersatzprozessen auf diese Entscheidung als verbindlichen Beweis berufen. Nach Auffassung des EWSA sollte es im Sinne des Grundsatzes gleichwertiger Verfahrensvorschriften eine ähnliche Bestimmung für die Entscheidungen der nationalen Wettbewerbsbehörden geben, in denen ein Verstoß gegen Artikel 81 oder 82 EG-Vertrag festgestellt wird.

    4.4   Bemerkungen zu der Beteiligung und Vertretung der Geschädigten

    4.4.1

    Bei „Opt-in-“ und „Opt-out“-Sammelklagen verweist der EWSA auf die Vor- und Nachteile dieser Mechanismen, wie sie in seiner Stellungnahme vom 14. Februar 2008 dargelegt sind (9). In dieser Stellungnahme hat der Ausschuss insbesondere darauf hingewiesen, dass die Opt-in-Regelung zwar gewisse Vorteile bietet, jedoch umständlich und kostenaufwändig ist, die Verfahren erheblich verzögert und für einen Großteil der Verbraucher ungeeignet ist, weil sie nicht über die notwendigen Informationen über die Existenz solcher Verfahren verfügen. Der EWSA stellt fest, dass verschiedene Mitgliedstaaten unterschiedliche Modelle des gerichtlichen Rechtsbehelfs sowohl mit Opt-in- als auch Opt-out-Regelungen eingeführt haben.

    4.4.2

    Diese Feststellungen gelten auch für „Verbandsklagen“. Da im Weißbuch nicht nur von genau bezeichneten, sondern auch von identifizierbaren Einzelpersonen die Rede ist, sind anscheinend Klagen im Namen einer Gruppe ungenannter Personen nicht ausgeschlossen. Zwar trägt die Identifizierung der einzelnen Geschädigten zur Ermittlung der Forderungen bei, doch könnte es unter Umständen – wenn sehr viele Geschädigte betroffen sind – angezeigt sein, die Streitsache auf alle etwaigen Geschädigten auszudehnen. Der EWSA schlägt vor, dass die Kommission diesen Vorschlag präzisiert.

    4.4.3

    Der EWSA erinnert an seine in vorangegangenen Stellungnahmen gegebenen Empfehlungen zur wichtigen Rolle des Gerichts. Die Richter können durch spezielle Schulungen unterstützt werden, damit sie besser in der Lage sind, die Zulässigkeit einer Klage zu prüfen sowie Beweismittel zu erheben und zu würdigen, denn Sammelklagen würden per Definition voraussetzen, dass mit individuellen Klagen wahrscheinlich nicht zu rechnen ist. Richter spielen also eine wichtige und aktive Rolle bei einer frühzeitigen Entscheidung über die Legitimität von Klagen und ihre Zulassung.

    4.4.4

    Qualifizierte Einrichtungen wie Verbraucherverbände und berufsständische Organisationen kommen ihrem Wesen nach für die Vertretung der Geschädigten bei Verbandsklagen in Betracht. Im Weißbuch der Kommission wird ausdrücklich zugelassen, dass berufsständische Organisationen bei entsprechender Ermächtigung im Namen ihrer Mitglieder Verbandsklage erheben können. Da auch andere anerkannte Organisationen, die bestimmte Kriterien erfüllen, legitime Gründe für Klagen im Namen einer Gruppe haben könnten, muss sorgfältig geprüft werden, ob dies dazu führen könnte, dass gleichzeitig mehrere Klagen wegen Schädigungen infolge ein und desselben Verstoßes erhoben werden. Es sollte möglich gemacht werden, dass die Geschädigten gemeinsam von einem einzigen bevollmächtigten Organ vertreten werden, um ihrer Klage Nachdruck verleihen zu können.

    4.5   Bemerkungen zur Bindungswirkung von bestandskräftigen Entscheidungen nationaler Wettbewerbsbehörden:

    4.5.1

    Im Prinzip geht der EWSA mit der Kommission darin konform, dass bestandskräftige Entscheidungen in Folgeklagen auf Schadenersatz als unwiderleglicher Beweis für den festgestellten Verstoß anzusehen sind. Er ist aber der Ansicht, dass die einzelstaatlichen Gerichte am besten imstande sind, den Kausalzusammenhang zwischen dem Verstoß und dem verlangten Schadenersatz zu beurteilen, und dass auch weiterhin nur sie dazu befugt sein sollten.

    4.5.2

    Ferner stellt der EWSA fest, dass das Gewicht der bestandskräftigen Entscheidungen nationaler Wettbewerbsbehörden Veranlassung gibt, der Harmonisierung der Kontrollmechanismen und der Verfahrensgarantien in den Mitgliedstaaten gebührende Beachtung zu schenken.

    4.6   Bemerkungen zum Verschuldenserfordernis:

    4.6.1

    In einigen Mitgliedstaaten ist der Kausalzusammenhang zwischen Verschulden und Schadenersatz ein konstitutiver Bestandteil der Verschuldenshaftung, und der Kläger muss sowohl den eigenen Anspruch auf Schadenersatz als auch das Verschulden des Beklagten nachweisen. Der EWSA empfiehlt der Kommission, diese Unterschiede zu berücksichtigen, da sie sich aus der historischen Entwicklung der nationalen Rechtsordnungen ergeben. Er fordert die Kommission nachdrücklich auf, sicherzustellen, dass jede künftige Regelung ein faires Verfahren gewährleistet, das immer auf hinreichenden Beweismitteln beruht und das Ziel einer raschen und wirksamen Entschädigung verfolgt.

    4.7   Bemerkungen zu Kronzeugenprogrammen:

    4.7.1

    Kronzeugenprogramme haben enorme Auswirkungen auf die Zahl der aufgedeckten Kartelle und somit erhebliche abschreckende Wirkung. Deshalb ist ihre reibungslose Funktionsweise in erster Linie für Geschädigte von Interesse. Die Gefahr, dass vertrauliche Informationen an die Öffentlichkeit gelangen, hätte negative Auswirkungen auf die Aufdeckung von Kartellen und somit auf die Möglichkeiten der Geschädigten, Schadenersatz einzuklagen. Deshalb begrüßt der Ausschuss Maßnahmen zum Erhalt der Wirksamkeit von Kronzeugenprogrammen. Allerdings sollten durch Kronzeugenprogramme Kartellteilnehmer nicht über das unbedingt notwendige Maß hinaus vor den zivilrechtlichen Folgen ihrer unerlaubten Tätigkeit zum Nachteil der Geschädigten geschützt werden.

    4.8   Bemerkungen zu den Kosten einer Schadenersatzklage:

    4.8.1

    Im Weißbuch werden verschiedene Ansätze zur Minderung des finanziellen Risikos bei der Erhebung von Schadenersatzklagen dargelegt. Der EWSA teilt die Auffassung, dass das Recht auf Entschädigung nicht durch unvertretbar hohe Kosten eines Rechtsstreits beeinträchtigt werden sollte. Der EWSA hat sich in seiner Stellungnahme zum Grünbuch zu den Kosten dieser Verfahren geäußert (10).

    4.8.2

    Im Weißbuch werden die Mitgliedstaaten aufgefordert, ihre Vorschriften für die Kostentragung zu überprüfen und den einzelstaatlichen Gerichten in Ausnahmefällen die Möglichkeit einzuräumen, von dem derzeit in den meisten nationalen Rechtsordnungen geltenden Grundsatz abzuweichen, dass die unterlegene Partei die Kosten zu tragen hat. Der EWSA fordert die Kommission auf, die gebotene Aufmerksamkeit auf Verfahren zu verwenden, mit denen einerseits ein fairer Zugang zu Gerichtsverfahren und andererseits die Begründetheit von Klagen gewährleistet werden kann.

    4.8.3

    Nach Auffassung des EWSA sollten die Mitgliedstaaten ihre Vorschriften über die entsprechenden Verfahrenskosten überdenken, und die Kommission sollte sämtliche in der Europäischen Union bestehenden diesbezüglichen Vorschriften prüfen. Begründete Schadenersatzklagen sollten ermöglicht werden, ohne dass hohe Verfahrenskosten diese Möglichkeit einschränken. Dessen ungeachtet können die Mitgliedstaaten Verfahrensregeln gestalten, die Vergleiche als Mittel der Kostensenkung begünstigen.

    4.8.4

    Der EWSA erinnert daran, dass die Einführung eines Systems, das Erfolgshonorare zulässt, nicht wünschenswert ist und der europäischen Rechtstradition zuwiderläuft. Wie er bereits in einer früheren Stellungnahme erläutert hat (11), ist ein solches System in den meisten EU-Mitgliedstaaten entweder gesetzlich oder gemäß dem Verhaltenskodex der Anwälte verboten.

    4.8.5

    Schließlich ist der EWSA der Auffassung, dass die Benachrichtigung und Erfassung potenzieller Kläger mit Hilfe eines öffentlichen elektronischen Klageregisters auf europäischer Ebene, das von Geschädigten in der gesamten Europäischen Union eingesehen werden kann, effizient und kostengünstig durchgeführt werden könnte.

    Brüssel, den 25. März 2009

    Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

    Mario SEPI


    (1)  ABl. C 162 vom 25.6.2008, Franco Chiriaco, Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Bericht der Kommission – Bericht über die Wettbewerbspolitik 2006“, KOM(2007) 358 endg., Ziffer 7.1.1, Brüssel, 13. Februar 2008.

    (2)  Stellvertretend für sämtliche Urteile seien als Beispiel die Entscheidungen in den Rechtssachen „Courage & Crehan“ (C-453/99) und „Manfredi“ (C-295/4) angeführt.

    (3)  KOM(2005) 672 endg., Grünbuch „Schadenersatzklagen wegen Verletzung des EG-Wettbewerbsrechts“, Brüssel, 19. Dezember 2005, S. 1-13.

    (4)  ABl. C 324 vom 30.12.2006, Berichterstatterin: Frau Sánchez Miguel. Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Grünbuch „Schadenersatzklagen wegen Verletzung des EG-Wettbewerbsrechts“, Brüssel, 26. Oktober 2006, S. 1-10.

    (5)  Entschließung des Europäischen Parlaments vom 25. April 2007.

    (6)  KOM(2008) 165 endg., Weißbuch „Schadenersatzklagen wegen Verletzung des EG-Wettbewerbsrechts“, Brüssel, 2. April 2008.

    (7)  ABl. C 162 vom 25.6.2008, Jorge Pegado Liz, Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Thema „Sammelklagen und entsprechende Vorschriften im Rahmen des EU-Verbraucherrechts“, Brüssel, 14. Februar 2008, S. 1-21.

    (8)  Siehe ebenda, Fußnote 7.

    (9)  Ebenda, Fußnote 7.

    (10)  ABl. C 324 vom 30.10.2006, Ziffer 5.4.5. (Berichterstatterin: Frau Sánchez Miguel).

    (11)  Ebenda, Fußnote 7.


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