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Document 52015IE2060

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Die Gemeinwohl-Ökonomie: Ein nachhaltiges Wirtschaftsmodell für den sozialen Zusammenhalt“ (Initiativstellungnahme)

ABl. C 13 vom 15.1.2016, p. 26–32 (BG, ES, CS, DA, DE, ET, EL, EN, FR, HR, IT, LV, LT, HU, MT, NL, PL, PT, RO, SK, SL, FI, SV)

15.1.2016   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 13/26


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Die Gemeinwohl-Ökonomie: Ein nachhaltiges Wirtschaftsmodell für den sozialen Zusammenhalt“

(Initiativstellungnahme)

(2016/C 013/06)

Berichterstatter:

Carlos TRIAS PINTÓ

Mitberichterstatter:

Stefano PALMIERI

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss am 19. Februar 2015, gemäß Artikel 29 Absatz 2 seiner Geschäftsordnung eine Initiativstellungnahme zu folgendem Thema zu erarbeiten:

Die Gemeinwohl-Ökonomie: Ein nachhaltiges Wirtschaftsmodell für den sozialen Zusammenhalt.

(Initiativstellungnahme)

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Wirtschafts- und Währungsunion, wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt nahm ihre Stellungnahme am 10. Juli 2015 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 510. Plenartagung am 16./17. September 2015 (Sitzung vom 17. September) mit 144 gegen 13 Stimmen bei 11 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Nach Auffassung des EWSA sollte das Gemeinwohl-Ökonomie-Modell (1) sowohl in den europäischen als auch die einzelstaatlichen Rechtsrahmen integriert werden. Ziel ist es, die Verwirklichung des Binnenmarkts über eine verstärkt ethische Wirtschaft voranzubringen, die auf europäischen Werten und der Wahrnehmung gesellschaftlicher Verantwortung gründet und diese synergetisch untermauert.

1.2.

Die Gemeinwohl-Ökonomie (GWÖ) beruht auf einem holistischen Ansatz, dessen Konzepte den Grundwerten der Sozialwirtschaft, Kreislaufwirtschaft, Wirtschaft des Teilens (Share Economy), Functional Economy, ressourcenbasierten Wirtschaft und Blue Economy nahe stehen.

1.3.

Die Gemeinwohl-Ökonomie wird von zivilgesellschaftlichen Organisationen, Unternehmen und Hochschulen unterstützt und als praxistaugliches Modell erachtet, das europäische Werte stärkt, den sozialen Zusammenhalt festigt und ein verantwortliches Wirtschaftssystem fördert. Die GWÖ wird von mehr als 100 lokalen Gruppen, nahezu 2 000 Unternehmen (2) und sozialen Organisationen unterstützt.

1.4.

Im Einklang mit der Europa-2020-Strategie soll der Aufbruch zu einer europäischen ethischen Marktwirtschaft erfolgen, die soziale Innovationen, Beschäftigung und Umwelt fördert. Die europäische ethische Marktwirtschaft kann mittels mehrerer Strategien verwirklicht werden:

1.4.1.

Messung von Wohlergehen und sozialer Entwicklung anhand von Indikatoren über das BIP hinaus (3) wie des Gemeinwohl-Produkts und der Gemeinwohl-Bilanz.

1.4.2.

Entwicklung von Maßnahmen zur Anerkennung von Unternehmen, die bspw. durch ethisches Beschaffungsmanagement und ethischen Binnenhandel stärker zum Gemeinwohl beitragen.

1.4.3.

Förderung des ethischen Außenhandels als europäisches Markenzeichen. Auf diese Weise wird Europa als ethische Marktwirtschaft Anerkennung erlangen, und die europäischen Unternehmen werden auf dem ethischen Markt weltweit führend sein und zur Wahrung der Menschenrechte, zur Einhaltung der Arbeitsnormen und zum Schutz der Umwelt beitragen.

1.4.4.

Förderung aller Arten von Unternehmern, die gemeinwohlorientierte Organisationen gründen.

1.4.5.

Förderung des ethischen Konsums und Sensibilisierung der europäischen Verbraucher.

1.4.6.

Ausweitung des Spektrums des Finanzökosystems durch die Förderung von Netzwerken ethischer Banken und Börsen in der EU.

1.5.

Der EWSA fordert die Europäische Kommission auf, im Rahmen der neuen EU-Strategie für die soziale Verantwortung der Unternehmen (CSR) einen qualitativen Schritt vorwärts zu machen und Unternehmen (mit öffentlichen Aufträgen, Zugang zu Außenmärkten, Steuervorteilen usw.) für den Nachweis höherer ethischer Leistungen zu belohnen.

2.   Einleitung

2.1.

Wirtschaft und folglich Wirtschaftspolitik spielen in der heutigen Gesellschaft eine maßgebliche Rolle und sind ausschlaggebend für den Erfolg oder Misserfolg anderer, für das Wohlergehen der Bürger wesentlicher politischer Strategien, bspw. in den Bereichen Bildung, Gesundheit, soziale Dienste, Kultur, Umwelt, Technologie und Innovation, die weitgehend von den Auswirkungen der wirtschaftlichen Lage auf die verschiedenen lokalen und regionalen Ebenen abhängen.

2.2.

Die Krise, die die Volkswirtschaften der Mitgliedstaaten und die Lebensqualität der europäischen Bürger nach wie vor beeinträchtigt, hat die geringe Widerstandsfähigkeit des wirtschaftlichen und sozialen Systems der EU an den Tag gebracht.

2.3.

Laut der Weltweiten IGB-Umfrage 2014 (4) gibt es kein Land, in dem die Bürger mehrheitlich das Wirtschaftssystem für gerecht halten. Fast vier von fünf Personen (78 %) glauben, dass das Wirtschaftssystem die Reichen begünstigt. So wünschen sich 88 % der Deutschen und 90 % der Österreicher eine „neue Wirtschaftsordnung“ (laut einer Umfrage der Bertelsmann-Stiftung (5)), und zweifelsohne auch die Einwohner derjenigen Länder, die am meisten unter der Wirtschaftskrise leiden, wie Griechenland, Portugal, Irland, Spanien oder Italien.

2.4.

Angesichts der Fortschritte der Europäischen Kommission im Bereich soziale Innovation und eingedenk der EWSA-Stellungnahme „Bestandsaufnahme der Strategie Europa 2020 für intelligentes, nachhaltiges und integratives Wachstum“ (SC/39), des Berichts zur Halbzeitüberprüfung der Europa-2020-Strategie und der Initiative des Lenkungsausschusses Europa 2020 „Und wo bleibt das Glück? — über das BIP hinaus“ ist es offensichtlich, dass eine wirksame Förderung von Wettbewerbsfähigkeit und sozialem Zusammenhalt einen Paradigmenwechsel erfordert. Es geht darum, die wirtschaftlichen, ökologischen und sozialen Zielsetzungen wahrhaftig eng miteinander zu verflechten und mit einem holistischen Ansatz mehr Ausgewogenheit zwischen den qualitativen und quantitativen Aspekten der Entwicklung zu erreichen.

2.5.

Das Modell der „Gemeinwohl-Ökonomie“ (GWÖ) bietet sich als angemessene, in der europäischen Gesellschaft akzeptierte Ergänzung an. Die Ziele und Werte der GWÖ gehen über die herkömmlichen Vorschläge zur gesellschaftlichen Verantwortung der Unternehmen hinaus. Ihre holistische Vision hebt auf ein gemeinsames Handeln der unterschiedlichsten gesellschaftlichen Akteure ab.

2.6.

In gerade einmal vier Jahren hat sich die GWÖ zu einer sozialen Bewegung entwickelt, der sich mehr als 100 lokale Gruppen, nahezu 2 000 Unternehmen und soziale Organisationen sowie zunehmend auch Hochschulen — u. a. in Österreich, Deutschland, der Schweiz, Italien und Spanien — angeschlossen haben. Die italienische Provinz Südtirol und verschiedene lokale Gebietskörperschaften in mehreren europäischen Ländern haben sich der Gemeinwohl-Ökonomie verschrieben.

3.   Die Gemeinwohl-Ökonomie: Ziele, Werte, Strategie und Indikatoren

3.1.

Eine Gesellschaft muss im Einklang mit ihrer Verfassung das Wohlergehen jedes ihrer Mitglieder zum Ziel haben.

3.2.

In Übereinstimmung mit Artikel 3 Absatz 1, 2 und 3 des EU-Vertrags (6) folgt die GWÖ dem Leitgedanken, dass die Wirtschaft den Menschen dienen , in anderen Worten, auf das Gemeinwohl ausgerichtet sein muss . Dazu muss von dem Ansatz ausgegangen werden, dass Geld und Kapital für Börsenhandel und Investitionen Mittel zum Zweck, niemals aber der Zweck selbst sind.

3.3.

Das gemeinwohlorientierte Wirtschaftsmodell gründet auf universell anerkannten Werten: Menschenwürde, Solidarität, ökologische Nachhaltigkeit, soziale Gerechtigkeit, Transparenz und demokratische Beteiligung.

3.4.

Das Gemeinwohl als zentrales Ziel wirtschaftlichen Handelns erfordert eine besondere Methodik zur Messung des wirtschaftlichen Erfolgs nicht nur an den Mitteln, sondern am Zweck, wie dem Gemeinwohl-Produkt, der Gemeinwohl-Bilanz und der Gemeinwohl-Bonitätsprüfung, die das BIP bzw. die Finanzbilanz bzw. die finanzielle Bonitätsprüfung ergänzen.

3.5.

Die GWÖ ist ein ganzheitliches Modell, das eine Integration der Wirtschaft in den sozialen, kulturellen und ökologischen Kontext der europäischen Gesellschaft anstrebt. Aus der folgenden Tabelle wird ersichtlich, dass das GWÖ-Modell die grundlegenden Werte verschiedener Wirtschaftskonzepte aufgreift:

GWÖ-WERTE/MODELLE

Menschenwürde

Solidarität/ Zusammenarbeit

Ökologische Nachhaltigkeit

Soziale Gerechtigkeit

Demokratie

Sozialwirtschaft

X

X

X

X

X

Kreislaufwirtschaft

 

 

X

 

 

Partizipative Wirtschaft

 

X

 

 

X

Functional Economy

 

X

X

 

 

Ressourcenbasierte Wirtschaft

 

 

X

X

 

Blue Economy

 

 

X

 

 

Quelle: Original.

3.6.

Das GWÖ-Modell kann erfolgreich zur Umsetzung der Europa-2020-Strategie beitragen, indem es

die Beschäftigungsquote steigert und die Qualität bestehender Arbeitsplätze verbessert (die Werte „Menschenwürde“ und „soziale Gerechtigkeit“);

soziale Innovationen in der Zivilgesellschaft, Wirtschaft und Politik fördert (die Werte „Partizipation und Demokratie“);

die Senkung der CO2-Emissionen, die Förderung erneuerbarer Energien, die Verbesserung der Energieeffizienz und die Senkung des Energieverbrauchs unterstützt (der Wert „ökologische Nachhaltigkeit“);

die Zahl der von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedrohten Menschen senkt (die Werte „Solidarität“ und „soziale Gerechtigkeit“).

3.6.1.

Die GWÖ fördert und unterstützt im Wege „sozialer Innovation“ und eines positiven unternehmerischen Klimas neue Ansätze, die sozialen Bedürfnissen entsprechen, neue soziale Beziehungen schaffen und die wirtschaftliche Wertschöpfung stärken. „Innovation“ beinhaltet in diesem Kontext die Fähigkeit, Ideen zu entwickeln und umzusetzen und damit Wert zu schaffen; „sozial“ beschreibt die Ausrichtung auf Lebensqualität, Solidarität, Glück und Wohlergehen.

3.7.

Die GWÖ ist ein Instrument zum Aufbau eines widerstandsfähigen Sozial- und Wirtschaftssystems, das der europäischen Zivilgesellschaft Schutz und Entwicklungsmöglichkeiten bieten kann, zur Entwicklung von Lösungen und, wo möglich, zur Verhinderung von Krisen beiträgt und zusätzlich den wirtschaftlichen und sozialen Wandel voranbringt. Die GWÖ rückt die Widerstandsfähigkeit in den Mittelpunkt bei der Überwindung der Krise und dem Übergang zu Erholung und Entwicklung.

3.7.1.

Der Faktor Widerstandsfähigkeit beeinflusst die Fähigkeit der Zivilgesellschaft, auf tiefgreifende Veränderungen zu reagieren, Spannungen zu überwinden und unvorhergesehene Krisen zu bewältigen. Instrumente zur Vorbereitung der Zivilgesellschaft auf die Krisenprävention und -bewältigung gibt es bereits, doch erfordern sie eine wirksamere Handhabung und eine stärkere Zusammenarbeit auf sämtlichen Ebenen der Vertretung institutioneller, wirtschaftlicher und sozialer Interessen.

3.8.

Die Verbesserung der Fähigkeit der Wirtschafts- und Sozialpartner, die Auswirkungen von Krisen und Strukturwandel abzufedern, zu lenken und zu verhindern ist ein wichtiges Erfordernis für die Zivilgesellschaft, damit Lebensstandards gefördert werden können, die den Bedürfnissen der Menschen gerecht werden. Ferner wird dadurch die wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit unter Berücksichtigung des sozialen Zusammenhalts und der Nachhaltigkeit gefördert, sodass die Chancen der künftigen Generationen nicht geschmälert werden.

3.9.

Das GWÖ-Modell stützt sich auf die direkte Partizipation der Bevölkerung auf wirtschaftlicher und politischer Ebene. Instrumente wie der Gemeinwohl-Bericht, die Gemeinwohl-Bilanz und insbesondere der kommunale Gemeinwohl-Index werden unter aktiver Beteiligung aller beteiligten Gruppen erstellt.

4.   Der Wandel hin zu einer europäischen ethischen Marktwirtschaft

4.1.

Nach den negativen Auswirkungen der jüngsten Wirtschafts- und Finanzkrise sind die Menschen in Europa nicht mehr bereit, Einkommensverluste, Kürzungen der Sozialleistungen und -dienste, Umweltschäden, wirtschaftliche Ungewissheit und eine unsichere Beschäftigungslage sowie den sinkenden Stellenwert ihrer Sozial-, Verbraucher- und Nutzerrechte klaglos hinzunehmen.

4.2.

Gleichzeitig brauchen die freiwilligen Bemühungen im Rahmen der sozialen Verantwortung der Unternehmen (corporate social responsibility — CSR), die nicht ehrgeizig genug sind und bei denen auch nicht genügend relevante Informationen bereitgestellt werden, neue Impulse, denn in vielen Großunternehmen wächst das Lohngefälle, im Beschlussfassungsprozess sind zu wenig Frauen vertreten und die Förderung der beruflichen Entwicklungsmöglichkeiten für junge Arbeitnehmer lässt nach.

4.3.

Unternehmer und KMU ihrerseits sind durch unlauteren Wettbewerb und unethische Verfahrensweisen existenziell gefährdet. Die Menschen fordern eine Wirtschaft auf der Grundlage der Werte, die zumindest auf dem Papier in den einzelstaatlichen Verfassungen verankert sind.

4.4.

Der Mangel an sozialem Engagement schlägt sich in einem Vertrauensverlust gegenüber den Institutionen und ihren Vertretern nieder. Um dieses Vertrauen wiederzuerlangen und den sozialen und territorialen Zusammenhalt zu festigen, muss die Europäische Union ihre Politik umgestalten und eine neue, auf die Anliegen und Werte der Menschen ausgerichtete Strategie entwickeln.

4.5.

In seiner Stellungnahme zum Jahreswachstumsbericht 2014 forderte der EWSA, das Scoreboard sozialer Indikatoren proaktiv in das Europäische Semester aufzunehmen, mit dem gleichen Gewicht wie makroökonomische und haushaltsspezifische Indikatoren. Darüber hinaus müssen die Ziele, Verfahren und Instrumente des Europäischen Semesters auch weiterhin auf die Ökologisierung der bestehenden branchenspezifischen industriellen Verfahren sowie der gesamten Wirtschaft ausgerichtet werden, um die Krise mit einem nachhaltigeren Entwicklungsmodell zu überwinden.

4.6.

Aus diesem Grund hebt das GWÖ-Modell auf einen Wandel hin zu einer „europäischen ethischen Marktwirtschaft“ ab, in der die Wirtschafts- und Handelspolitik an der Kultur und den von den Menschen als allgemeingültig erkannten Wertvorstellungen ausgerichtet werden. Im Wege einer solchen Strategie könnten die europäische Wirtschaft und ihre Unternehmen ihr internationales „Markenimage“ als Vorreiter bei der Wahrung und Förderung der Menschenrechte, der Sicherung von Qualität und Sinn der Arbeit sowie beim Umweltschutz wiederherstellen.

4.7.

Organisationen, die Produkte und Dienstleistungen im Einklang mit ethischen Standards und der Förderung des Gemeinwohls vermarkten, würden demnach anerkannt. Produkte und Dienstleistungen hingegen, die über ihre Wertschöpfungskette hinweg nicht ethische Mindestanforderungen erfüllen, würden sich nicht mehr rechnen.

4.8.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das GWÖ-Modell in Bezug auf die Werte der herkömmlichen CSR entspricht, jedoch über ihre Ziele und Verfahren hinausgeht. CSR folgte in Europa zunächst dem Grundsatz, „einen Teil der erwirtschafteten Gewinne an die Gesellschaft zurückzugeben“, während nun „die Schaffung gemeinsamer Werte für die Eigentümer/Aktionäre der Unternehmen sowie die übrigen Stakeholder und die gesamte Gesellschaft optimiert werden“ soll (7). Viele Unternehmen haben deshalb CSR auf Wohltätigkeitsaktionen oder publikumswirksame Gesten reduziert.

5.   Weitere Strategien für den Aufbau einer europäischen ethischen Marktwirtschaft

5.1.

Für den Aufbau einer europäischen ethischen Marktwirtschaft werden verschiedene Strategien vorgeschlagen. Zunächst werden die Beiträge der Unternehmen zum Gemeinwohl gemessen und eine harmonisierte europäische nichtfinanzielle Berichterstattung entwickelt. Sodann wird die europäische Zivilgesellschaft durch die Entwicklung ethischer Kennzeichnungen über die diesbezügliche Leistung der Unternehmen informiert. Unternehmen, die durch ethisches Beschaffungsmanagement und Maßnahmen zur Entwicklung eines ethischen Binnenmarkts und Außenhandels mehr zum Gemeinwohl beitragen, werden anerkannt. Schließlich werden auch Unternehmertum, Konsum und Bankenpolitik auf das Gemeinwohlprinzip ausgerichtet. Bei alledem werden unnötiger Verwaltungsaufwand vermieden und Marktmechanismen angewendet.

5.2.

Messung des Gemeinwohlbeitrags der Unternehmen durch die Aufstellung einer Gemeinwohl-Bilanz. Mit der Gemeinwohl-Bilanz wird der nichtfinanzielle unternehmerische Erfolg gemessen: der ethische Erfolg und der Gemeinwohlbeitrag. In der aktuellen Fassung werden in der Gemeinwohl-Bilanz die wichtigsten Verfassungswerte — Menschenwürde, Solidarität, ökologische Nachhaltigkeit, soziale Gerechtigkeit und demokratische Mitbestimmung — in Bezug auf die Berührungsgruppen des Unternehmens gemessen.

5.3.

Um sich von der herkömmlichen CSR abzuheben, soll die Gemeinwohl-Bilanz der GWÖ-Bewegung zufolge acht Meta-Kriterien erfüllen: sie soll 1) universell, 2) objektiv messbar, 3) zwischen Unternehmen vergleichbar, 4) für Interessenträger verständlich, 5) öffentlich, 6) extern auditiert, 7) verpflichtend und 8) an Rechtsfolgen geknüpft sein: je besser das Ergebnis, desto niedriger die Steuern, Zollabgaben, Zinsen usw., ganz nach dem GWÖ-Motto „Mit Ethik zum Erfolg“.

5.4.

Mehr als 200 KMU haben sich der GWÖ-Bewegung angeschlossen, eine Gemeinwohl-Bilanz erstellt und durch eine Peer-Evaluierung oder ein externes Audit abgeschlossen. Eine verpflichtende Bilanz könnte schrittweise eingeführt werden. Die EU hat den ersten Schritt mit ihrer Richtlinie über nichtfinanzielle Berichterstattung getan. In einem zweiten Schritt könnten in die Richtlinie nur die mit den o. g. Meta-Kriterien zu vereinbarenden Standards aufgenommen und ergebnisorientierte rechtliche Vorteile vorgesehen werden. Die verbleibenden Standards könnten letztlich zu einem Standard zusammengefasst und zum nichtfinanziellen Teil der verpflichtenden Unternehmensbilanz werden. Die allgemeine (finanzielle und nichtfinanzielle) Bilanz wäre Zugangsbedingung zum künftigen ethischen Binnenmarkt.

5.5.

Ethische Kennzeichnung. In der GWÖ sollten alle Produkte, die auf dem Binnenmarkt verkauft werden, über ein harmonisiertes Ethik-Kennzeichnungssystem mit Informationen über das ethische Handeln bzw. den Gemeinwohlbeitrag des betreffenden Unternehmens versehen werden. Beispielsweise könnte die Gemeinwohl-Bilanz über ein Fünffarbenschema kodiert werden. Über einen QR-Code könnten die Verbraucher auf die detaillierte Bilanz zugreifen.

5.6.

Ethisches öffentliches Beschaffungswesen. Öffentliche Aufträge könnten vorrangig an diejenigen Organisationen vergeben werden, deren Gemeinwohl-Bilanz den größten Gemeinwohlbeitrag ausweist. Das öffentliche Beschaffungswesen in Europa kann durch die Anwendung von gemeinwohlorientierten und auf die Qualität des sozialen und ökologischen Fußabdrucks ausgerichteten Kriterien gemäß Richtlinie 2014/24/EU des Europäischen Parlaments und des Rates (8) sowie die Umsetzung der betreffenden Sozialklausel als Treiber für einen „europäischen ethischen Markt“ wirken.

5.7.

Ethischer Binnenhandel. Am freien Binnenhandel könnten bevorzugt diejenigen Organisationen beteiligt werden, deren Gemeinwohl-Bilanz den größten Gemeinwohlbeitrag ausweist. Erstens würde der freie Vertrieb und Verkehr von Waren und Dienstleistungen europäischer Unternehmen gefördert, die nachweislich ethische Mindeststandards im Rahmen des „europäischen ethischen Markts“ erfüllen. Zweitens würden auch die Wareneinfuhr, Investitionen und die Bereitstellung von Dienstleistungen durch Unternehmen aus Drittländern erleichtert, die nachweislich ethische Mindeststandards im Rahmen des „europäischen ethischen Markts“ erfüllen. Auf diese Weise würde bei der Anwendung der im Binnenhandel und für Einfuhren geltenden Einfuhrzoll- und Steuerregelungen das ethische Handeln der Unternehmen berücksichtigt.

5.8.

Ethischer Außenhandel. Ethisches Verhalten und Gemeinwohlbeitrag müssen zur Visitenkarte der europäischen Wirtschaft werden bzw. die „Marke Europa“ ausmachen. Europäische Unternehmen müssen als Botschafter der europäischen Gesellschaft, Kultur und Werte ethisch handeln und darüber in ihrer Bilanz Rechenschaft ablegen. Die politischen Maßnahmen der EU zur Förderung des Außenhandels (Außenhandels-Hilfsprogramme, ethische Standards für Handelsvorschriften usw.) sollten daher zunächst denjenigen Unternehmen zugutekommen, die den größten Gemeinwohlbeitrag leisten.

5.9.

Gemeinwohl-Unternehmer. Die Förderung des Unternehmertums ist wesentliche Voraussetzung für die Sicherung der wirtschaftlichen Nachhaltigkeit der EU. Aus dem gleichen Grund muss soziale Innovation definitionsgemäß auf die Bereitstellung gemeinwohlorientierter Produkte und Dienstleistungen abheben. Deshalb würden Maßnahmen zur Unterstützung des Unternehmertums im „europäischen ethischen Markt“ Unternehmensgründungen und die Ausbildung von Unternehmern auf der Grundlage der Werte Menschenwürde, Solidarität, ökologische Nachhaltigkeit, soziale Gerechtigkeit und demokratische Beteiligung fördern. In allen (Gemeinwohl-)Städten könnten Gemeinwohl-Schaltstellen eingerichtet werden, die die Gründung von Unternehmen fördern, die von Anfang an eine Gemeinwohl-Bilanz erstellen oder von vornherein als „Gemeinwohl-Unternehmen“ gegründet werden.

5.10.

Verbraucher und Förderung ethischen Konsums. Der Erfolg des „europäischen ethischen Markts“ hängt von der Nachfrage seitens der europäischen Verbraucher nach gemeinwohlorientierten Produkten und Dienstleistungen ab. Es müssen Strategien und Programme zur Förderung des ethischen Konsums entwickelt und gefördert werden. Im Wege von Erziehungs-, Sensibilisierungs- und Werbekampagnen könnten über diese Programme Informationen über das Wesen des „europäischen ethischen Markts“ verbreitet werden. Geeignete Instrumente wären hierfür im Idealfall die Gemeinwohl-Bilanz in Kombination mit der Gemeinwohl-Kennzeichnung.

5.11.

Ethische Banken und die Aufnahme ethischer Qualitätskriterien in die Basler Vereinbarungen. Seit Ausbruch der Finanzkrise 2008 und den Vorfällen im Banken- und Finanzsektor hat die europäische Öffentlichkeit immer mehr das Vertrauen in das Bankensystem sowie die nationalen und europäischen Regulierungsbehörden verloren. Daraus erwächst ein großes Risiko für die wirtschaftliche Stabilität des Euroraums.

5.11.1.

Es ist daher notwendig, die ethischen Standards in der Finanzbranche anzuheben und gleichzeitig das Spektrum des finanziellen Ökosystems über die Stärkung der Netze ethischer Banken in der ganzen EU (Genossenschaftsbanken, Sparkassen und neue ethische Banken) zu erweitern, die zur Mehrung des Gemeinwohls beitragen. Damit kann ein Bankwesen in Europa gefördert werden, das sich a) auf das Bankenkerngeschäft beschränkt (Spareinlagen, Zahlungsverkehr, Kreditvergabe), b) keine oder nur begrenzt Dividenden ausschüttet und c) bei allen Kreditprojekten eine Gemeinwohlprüfung durchführt. Eine derartige ethische Bonitätsprüfung käme einer Erweiterung der Basler Vereinbarungen um ethische Kriterien gleich. Sie würde den ethischen Mehrwert einer Investition messen.

5.11.2.

Ein erster Prototyp einer solchen Gemeinwohlprüfung wird derzeit im Rahmen des Projekts „Bank für Gemeinwohl“ in Österreich entwickelt. Die Kreditkonditionen könnten an das Ergebnis der Prüfung gekoppelt werden. So könnte der Finanzmarkt zum Instrument für eine nachhaltige soziale und ökologische Entwicklung werden.

5.12.

„(Regionale) Gemeinwohl-Börsen“. Alle gemeinwohlorientierten ethischen Banken könnten gemeinsam eine regionale Gemeinwohl-Börse gründen, die Kreditanträge entgegennimmt, die die ethische Prüfung bestanden haben, nicht aber die Solvenzprüfung. An diesen Börsen würden anders als an den konventionellen Börsen keine Unternehmensanteile gehandelt und keine Renditen erwirtschaftet — es würde also nicht aus diesen Gründen in ein Unternehmen investiert. Investoren würden eine andere Art von Gewinn anstreben, bspw. Sinn, Nutzwerte und Ethik (die sog. „triple Skyline“). Die europäischen Bürger und Unternehmen hätten so die Möglichkeit, ethische Investitionen auf der Grundlage der Werte zu tätigen, die den Verfassungen der Mitgliedstaaten und den EU-Verträgen zugrunde liegen.

Brüssel, den 17. September 2015.

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Henri MALOSSE


(1)  Siehe die Gemeinwohl-Ökonomie-Website.

(2)  Einige davon sind auf sehr wettbewerbsintensiven Märkten tätig.

(3)  Neben dem BIP werden noch weitere Indikatoren berücksichtigt.

(4)  Internationaler Gewerkschaftsbund: Weltweite IGB-Umfrage 2014.

(5)  Bertelsmann-Stiftung „Bürger wollen kein Wachstum um jeden Preis“.

(6)  ABl. C 83 vom 30.3.2010.

(7)  KOM(2011) 681 endgültig.

(8)  ABl. L 94 vom 28.3.2014, S. 65.


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