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Document 61977CC0005

Schlussanträge des Generalanwalts Mayras vom 6. Juli 1977.
Carlo Tedeschi gegen Denkavit Commerciale s.r.l.
Ersuchen um Vorabentscheidung: Pretura di Lodi - Italien.
Rechtssache 5-77.

Sammlung der Rechtsprechung 1977 -01555

ECLI identifier: ECLI:EU:C:1977:119

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS HENRI MAYRAS

VOM 6. JULI 1977 ( 1 )

Herr Präsident,

meine Herren Richter!

Wie sich aus der vom vorlegenden Gericht übermittelten Akte ergibt, kam es aufgrund folgender Umstände zum Rechtsstreit des Vorlageverfahrens:

Die italienische Firma Tedeschi bestellte am 4. September 1976 bei der ebenfalls italienischen Firma Denkavit Commerciale 10 Doppelzentner Milchpulver des Typs „Start“, die zwischen dem 20. und 25. September 1976 geliefert werden sollten. Bei diesem Erzeugnis handelt es sich um ein Alleinfuttermittel, das zum Teil aus Magertnilchpulver und zum Teil aus Molkenpulver besteht Molke ist ein Nebenprodukt der Käseherstellung. Sie enthält Rückstände von Kaliumnitraten, Stoffe, die bei der Käseherstellung verwendet werden.

Am 12. September 1976 wandte sich die Firma Denkavit Commerciale an die Firma Pesch in den Niederlanden, um dort 250 Doppelzentner dieser Ware zubestellen, die bis zum 30. September geliefert werden sollten. Am 16. September bestätigte die Firma Pesch der Firma Denkavit Commerciale, daß 250 Doppelzentner des Alleinfuttermittels des fraglichen Typs per Lkw versandt worden seien. Am folgenden Tag, dem 17. September, bestätigte die Firma Denkavit der Firma Tedeschi den Eingang der Bestellung sowie der geleisteten Anzahlung und bestätigte ferner die Lieferung zum 20. September.

Der Lastwagen, der die Ware aus den Niederlanden transportierte, wurde jedoch am 25. September auf Anordnung des Grenztierarztes an der italienischen Grenze angehalten. Da das fragliche Frachtgut nicht den Bestimmungen eines Eilerlasses des italienischen Gesundheitsministers vom 7. September 1976 entsprach, wurde es zurückgewiesen, und der Lkw fuhr in die Niederlande zurück. In dem genannten Erlaß war der zulässige Höchstgehalt an Kaliumnitraten in Vollmilch oder Magermilch, frisch oder in Pulverform, auf 30 ppm, und in Molkenpulver auf 50 ppm festgesetzt worden. Diese Maßnahme galt für Erzeugnisse, die sowohl zum menschlichen Verzehr als auch zur Fütterung von Tieren bestimmt waren.

Am 5. Oktober 1976 teilte die Firma Denkavit Commerciale der Firma Tedeschi diesen Vorfall mit und bot ihr die Rückzahlung der geleisteten Anzahlung an. Die Firma Tedeschi begehrte jedoch am 21. Oktober 1976 von der Firma Denkavit Commerciale die Zahlung des doppelten Anzahlungsbetrages wegen Nicht erfüllung des Vertrages. Vor der Pretura Lodi, bei der sie Klage erhob, trägt die Klägerin vor, die Firma Denkavit habe den Vertrag zu einem Zeitpunkt geschlossen, als sie die ministeriellen Bestimmungen bereits gekannt habe; sie sei daher bewußt das Risiko eingegangen, daß die Ware an der Grenze angehalten würde. Die Firma Denkavit erwidert, die Nichterfüllung des Vertrages sei dem Einschreiten der italienischen Behörden zuzuschreiben, das im Verstoß gegen geltendes Gemeinschaftsrecht erfolgt sei.

Drei nationale Fachverbände der Futtermittelindustrie sind dem Rechtsstreit auf Seiten der Firma Denkavit Commerciale als Streithelfer beigetreten. In dieser Lage fragt Sie der Pretore von Lodi, ob das von den italienischen Behörden ausgesprochene Verbot weiterer, im Anhang zu der Richtlinie 74/63 des Rates vom 17. Dezember 1973 nicht aufgeführter schädlicher Stoffe sowie die Festlegung von Höchstgehalten an diesen fraglichen Stoffen mit Artikel 5 der genannten Richtlinie vereinbar ist.

Die Firma Tedeschi hat von ihrem Recht zur Abgabe von Erklärungen keinen Gebrauch gemacht, dagegen haben die Beklagte des Ausgangsverfahrens, unterstützt durch die drei vorgenannten nationalen Fachverbände, der Rat, die Kommission, die Regierung des Vereinigten Königreichs und natürlich die Regierung der Italienischen Republik ein großes Interesse für die Rechtssache bekundet.

Es sei noch bemerkt, daß es eine Firma Denkavit Nederland gibt, die ihren Sitz in Voorthuizen unter derselben Anschrift hat wie die Firma Pesch. In der Zeitschrift „Denkavit Aktualiteiten“ Nr. 29 vom September 1969 war ein Kommentar erschienen, nach dem es seinerzeit vier verschiedene Preise für Magermilchpulver gegeben habe, nämlich 150 Gulden für zum menschlichen Verzehr bestimmtes Magermilchpulver, 129 Gulden für zur Kälberfütterung bestimmtes Pulver, 42,50 Gulden für zur Schweine- und Geflügelfütterung bestimmtes Pulver sowie schließlich einen besonderen Preis für zur Ausfuhr nach Drittländern bestimmtes Pulver. In dem Kommentar heißt es weiter, „daß derjenige schön naiv sein muß, der nicht merkt, daß dieses System Betrügereien Tür und Tor offen läßt“.

Wie schon zuvor für Magermilchpulver, wird seit Erlaß der Verordnung Nr. 465/75 des Rates vom 27. Februar 1975 auch für Buttermilchpulver, das für Futterzwecke bestimmt ist, eine gemeinschaftliche Beihilfe gewährt, doch steht die Beihilfegewährung unter dem Vorbehalt, daß „Magermilch und Buttermilch, wie sie bei der Verarbeitung von Milch zu Rahm oder Butter anfallen…, … nicht, insbesondere nicht mit Wasser und/oder Molke, in einer Weise verdünnt werden [dürfen], die angesichts der verwendeten Produktionstechnik unnormal ist“ (Verordnung Nr. 2114/75 der Kommission vom 11. August 1975). Meines Wissens gibt es noch keine Gemeinschaftsregelung, in der bestimmt wäre, bis zu welchem Verhältnis Magermilchpulver mit Molkenpulver „verdünnt“ werden darf, damit hierfür trotzdem weiterhin die Gemeinschaftsbeihilfen gewährt werden können.

Die Firma Denkavit Nederland beschwerte sich am 14. September 1976 unmittelbar bei der Kommission in Brüssel über diese von den italienischen Behörden vorgenommenen Beschränkungen des freien Verkehrs von Waren, die doch der gemeinsamen Marktorganisation unterliegen, und schloß dabei gerichtliche Schritte nicht aus. Sie haben in der mündlichen Verhandlung die fachlichen Erläuterungen eines ihrer Bevollmächtigten gehört

I —

Wie so oft werden Sie im Rahmen von Artikel 177 ersucht, über die Anwendung einer Gemeinschaftsbestimmung durch die Behörden eines Mitgliedstaats in einem bestimmten Fall zu urteilen. Abstrakt formuliert beziehen sich die drei Vorlagefragen des italienischen Gerichts auf den Umfang der Befugnisse, die den Mitgliedstaaten nach der Richtlinie 74/63 des Rates vom 17. Dezember 1973 über die Festlegung von Höchstgehalten an unerwünschten Stoffen und Erzeugnissen in Futtermitteln verbleiben.

Für den Fall, daß den Mitgliedstaaten hierfür nach Artikel 5 der Richtlinie ein Ermessensspielraum zuzuerkennen ist, fragt das italienische Gericht weiter, ob diese Bestimmung nicht unwirksam ist, soweit sie gegen den Grundsatz des freien Warenverkehrs (Artikel 30 des Vertrages) verstößt und nicht durch Artikel 36 des Vertrages gerechtfertigt ist.

Es bringt nicht weiter, wenn wir uns lange mit den Begründungserwägungen aufhalten, die zum Erlaß der hier zu erörternden Richtlinie geführt haben. Ich will lediglich daran erinnern, daß in den Grundverordnungen über die gemeinsame Marktorganisation für Agrarerzeugnisse pflanzlicher oder tierischer Herkunft, vor allem aber in der Verordnung „Milch und Milcherzeugnisse“ Nr. 804/68, nicht sämtliche ökologischen Probleme in Zusammenhang mit der Produktion, dem freien Verkehr und dem Absatz der diesen Verordnungen unterliegenden Waren geregelt werden konnten.

Wie es in den Begründungserwägungen der Richtlinie heißt, nimmt die tierische Erzeugung in der Landwirtschaft der Gemeinschaft einen sehr wichtigen Platz ein, und ihr Erfolg hängt weitgehend vom Einsatz guter und geeigneter Futtermittel ab. In der Tierfütterung werden jedoch immer mehr Zusatzstoffe verwendet, und die den Tieren verabreichten Futtermittel enthalten häufig aus natürlichen Gründen oder wegen der leichtfertigen Beimengung bestimmter Stoffe zu den für ihre Zusammensetzung verwendeten Grunderzeugnissen unerwünschte Bestandteile, die der tierischen Gesundheit und wegen ihres Vorhandenseins in den tierischen Erzeugnissen auch der menschlichen Gesundheit abträglich sein könnten.

Nun gibt es zwischen den Rechtsvorschriften über Futtermittel, die sich also unmittelbar auf das Funktionieren des Gemeinsamen Agrarmarktes auswirken (Artikel 100 des Vertrages), von einem Mitgliedstaat zum anderen beträchtliche Unterschiede; außerdem hängen sie von der Entwicklung der wissenschaftlichen oder technischen Erkenntoisse ab. Daher muß die Regelung im Futtermittelbereich, die ein wesentlicher Faktor zur Steigerung der Produktivität der Landwirtschaft ist, auch darauf abzielen, auf Gemeinschaftsebene die einzelstaatlichen Bestimmungen für derartige Erzeugnisse einander anzugleichen oder zu harmonisieren.

Die Zusatzstoffe in Futtermitteln waren Gegenstand der Richtlinie 70/524 des Rates vom 23. November 1970, geändert durch die Richtlinie 73/103 des Rates vom 28. April 1973.

Was die Festlegung von Höchstgehalten an unerwünschten Stoffen und Erzeugnissen in Futtermitteln anbelangt, so hatte die Kommission ursprünglich vorgeschlagen, hierfür eine Verordnung auf der Grundlage von Artikel 43 zu erlassen; gleichzeitig mit dieser Verordnung hatte sie dem Rat weiter eine Verordnung über den Verkehr mit Futtermitteln vorgeschlagen. Tatsächlich hat der Rat dann eine Richtlinie erlassen, die auf die Artikel 43 und 100 des Vertrages gestützt war; eine besondere Rgelung für den Verkehr hat er dagegen nicht getroffen. Am 23. November 1976 erließ der Rat die Richtlinie 77/101 über den Verkehr mit Einzelfuttermitteln. In dieser Richtlinie, die während des Rechtsstreits veröffentlicht wurde, wird jedoch der Zeitpunkt, zu dem die Mitgliedstaaten die erforderlichen einzelstaatlichen Vorschriften in Kraft gesetzt haben müssen, um der Richtlinie nachzukommen, auf den 1. Januar 1979 festgelegt

Die eingeführte Regelung sieht wie folgt aus: Im Anhang der Richtlinie 74/63 werden die Stoffe und Erzeugnisse aufgezählt, deren Vorhandensein in Futtermitteln über einen bestimmten, ebenfalls im Anhang festgelegten Höchstgehalt hinaus unerwünscht ist Dies bewirkt, daß der Verkehr mit diesen Futtermitteln verboten ist Dieses Verzeichnis wurde von Sachverständigen für jedes Futtermittel erstellt, wobei die jeweiligen Höchstgehalte in ppm (mg/kg), bezogen auf die Originalsubstanz, festgelegt wurden. Der Umstand, daß ein Stoff im Zeitpunkt des Erlasses der Richtlinie nicht in den Anhang aufgenommen wurde, schließt jedoch nicht aus, daß die Richtlinie später auf den neuesten Stand gebracht wird. In der Erwägung, daß der Anhang inhaltlich ständig der Entwicklung der wissenschaftlichen und technischen Erkenntnisse anzupassen ist, heißt es in der Richtlinie: „Den Mitgliedstaaten muß jedoch die Möglichkeit eingeräumt werden, bei Gefahr für die tierische oder menschliche Gesundheit vorübergehend festgelegte Höchstgehalte herabzusetzen oder für andere Stoffe oder Erzeugnisse einen Höchstgehalt festzusetzen oder das Vorhandensein solcher Stoffe oder Erzeugnisse in Futtermitteln zu untersagen.“ Diese Möglichkeit soll durch Artikel 5 der Richtlinie eröffnet werden. Allerdings heißt es in den Begründungserwägungen weiter: „Damit ein Mitgliedstaat keinen unsachgerechten Gebrauch von dieser Möglichkeit macht, ist es geboten, in einem gemeinschaftlichen Dringlichkeitsverfahren aufgrund von Beweismaterial etwaige Änderungen am Anhang zu beschließen.“ Dieses Verfahren wird in Artikel 10 näher ausgestaltet; dabei wird ein „Ständiger Futtermittelausschuß“ eingeschaltet, was auf ähnliche Weise geschieht, wie bei den Verwaltungsausschüssen der Grundverordnungen.

II —

Die italienische Regierung trägt vor, ihre Dienststellen hätten in Wirklichkeit nicht allein die Richtlinie über unerwünschte Stoffe, sondern auch die Richtlinie über Zusatzstoffe anwenden wollen; das Vorgehen der italienischen Behörde sei deshalb in Wahrheit im Lichte dieser Richtlinie zu würdigen.

Gewiß wurde das fragliche Nitrat der Milch zum Zwecke der Verarbeitung zu Käse hinzugefügt, und es ist in der Futtermischung enthalten, weil das Molkenpulver, Nebenprodukt der Käseherstellung, dem Milchpulver hinzugefügt wurde; es ist aber schließlich aus natürlichen Gründen in dieser Mischung enthalten und deshalb unerwünscht. Es ist also zwar nicht falsch zu sagen, durch die Beimischung der Molke zum Magermilchpulver seien die natürlicherweise in der Molke enthaltenen Nitrate dem Mischfuttermittel hinzugefügt worden, doch wurde dieser Stoff dem Futter nicht aus den in der Richtlinie über Zusatzstoffe genannten Gründen, also nicht zur Verbesserung oder Erhöhung der tierischen Erzeugung, hinzugefügt. Daher sind die festgestellten Kaliumnitratgehalte, auf die die italienische Regierung abstellt, kein Indiz für die Beimischung eines nach der Gemeinschaftsregelung (Richtlinie für Zusatzstoffe) nicht zulässigen Stoffes.

Im übrigen gibt es zahlreiche Gemeinsamkeiten zwischen den beiden Richtlinien. In beiden ist die Einschaltung desselben Ständigen Futtermittelausschußes vorgesehen, der durch Beschluß des Rates vom 20. Juli 1970 eingesetzt worden ist, und die Einzelheiten seiner Einschaltung sind in beiden Fällen praktisch dieselben, seit das Verfahren zur Anpassung der Anhänge zur Richtlinie über Zusatzstoffe mit der Richtlinie 73/103 des Rates vom 28. April 1973 dem Verfahren nach der Richtlinie über unerwünschte Stoffe angeglichen wurde.

Aufgrund der Artikel 9 und 10 der Richtlinie 74/63 übt der Ausschuß unmittelbaren Einfluß auf das Rechtsetzungsverfahren aus. Wird auf das in Artikel 9 festgelegte Verfahren Bezug genommen (gemeinschaftsrechtliche Änderung wegen der Entwicklung der wissenschaftlichen oder technischen Erkenntnisse, zum Beispiel Aufnahme der Natriumnitrite durch die Richtlinie 76/934 der Kommission vom 1. Dezember 1976), oder wird darauf nach Artikel 10 (einseitige Änderung durch einen Mitgliedstaat) Bezug genommen, so kann die Kommission die beabsichtigten Maßnahmen nur erlassen, wenn sie der Stellungnahme des Ausschusses entsprechen. Entsprechen sie der Stellungnahme des Ausschusses nicht oder ist die Stellungnahme nicht innerhalb der vom Vorsitzenden des Ausschusses bestimmten Frist (Artikel 9 Absatz 3) beziehungsweise nicht innerhalb einer Frist von zwei Tagen ergangen (Artikel 10 Absatz 3), so schlägt die Kommission dem Rat alsbald die zu treffenden Maßnahmen vor; der Rat entscheidet ohne Anhörung des Parlaments. Hat der Rat nach Ablauf einer Frist von drei Monaten (Artikel 9 Absatz 4) oder von fünfzehn Tagen (Artikel 10 Absatz 4) keine Maßnahme beschlossen, so trifft die Kommission die vorgeschlagenen Maßnahmen in letzter Instanz und sieht sofort deren Anwendung vor.

In der Praxis sind auch die Befugnisse der Mitgliedstaaten dieselben: Für Zusatzstoffe enthält die Richtlinie ein Verzeichnis der zulässigen Stoffe, alle übrigen sind verboten. Ein Mitgliedstaat kann die Genehmigung für die Verwendung eines Zusatzstoffes vorläufig aussetzen oder den festgelegten Höchstgehalt verringern. Die Richtlinie über unerwünschte Stoffe enthält ein Verzeichnis der verbotenen Stoffe; dies bedeutet jedoch nicht, daß alle sonstigen „unerwünschten Stoffe“ zulässig wären; es bleibt vielmehr noch der Vorbehalt der Artikel 5 und 6 zu beachten.

Uber die Stichhaltigkeit oder Erforderlichkeit der Ihnen gestellten Vorlagefragen möchte ich mich nicht auslassen; ich werde mich daher ausschließlich mit der Richtlinie über unerwünschte Stoffe befassen. Jedenfalls ist auch die italienische Regierung — ob zu Recht oder Unrecht — der Ansicht, daß das Vorhandensein von Kaliumnitraten über einen bestimmten Höchstgehalt hinaus, auch wenn es natürliche Gründe hat und nicht gewollt war, unerwünscht ist, was praktisch auf dasselbe hinausläuft, wie wenn es sich um einen nicht genehmigten Zusatzstoff handelte.

III —

Obgleich man sich davor hüten muß, auf die Vereinbarkeit der im Ausgangsverfahren beanstandeten einzelstaatlichen Maßnahme mit dem Vertrag einzugehen, ist doch zu erörtern, unter welchen Umständen die italienische Maßnahme ergangen ist, damit wir uns eine richtige Vorstellung davon machen können, in welchem Rahmen Sie um Vorabentscheidung ersucht werden.

Die Mitgliedstaaten mußten die Rechtsund Verwaltungsvorschriften, die erforderlich waren, um der Richtlinie 74/63 nachzukommen, am 1. Januar 1976 in Kraft setzen.

Die Italienische Republik hat die Bestimmungen dieser Richtlinie durch ministerielle Verordnung vom 30. Dezember 1975, in Kraft getreten am 1. Januar 1976, in ihre Rechtsordnung übernommen. Kaliumnitrate waren unter den im Anhang aufgeführten Stoffen nicht genannt.

Am 5. August 1976 ordnete der italienische Gesundheitsminister mit Eilerlaß an, Einfuhren von Molkenpulver und molkehaltigen Mischfuttermitteln tierärztlich zu untersuchen, wobei der zulässige Höchstgehalt an Kaliumnitraten auf 1 ppm festgelegt wurde. Diese Begrenzung ließ sich aus den seinerzeit geltenden Bestimmungen nicht herleiten; sie stellte daher eine neue Maßnahme dar, deren Einführung sich nach Artikel 5 der Richtlinie zu richten hatte.

Am 7. September erging der im Ausgangsverfahren beanstandete Eilerlaß desselben Ministers (Generaldirektion für Veterinärwesen).

Aus den Antworten und Unterlagen, die wir in der Sitzung erhalten haben, ergibt sich, daß diese einzelstaatlichen Maßnahmen auf Gemeinschaftsebene mit folgenden Schritten und Interventionen einhergingen:

Bereits im Juli 1976 wurde die italienische Regierung wegen des Vorhandenseins eines zu hohen Nitratanteils in Futtermitteln aufgrund der Hinzufügung von Molkenpulver bei den zuständigen französischen, deutschen und niederländischen Stellen vorstellig.

Am 27. Juli 1976 wandte sich die Ständige Vertretung der Italienischen Republik in Brüssel an den Vorsitzenden des Ständigen Futtermittelausschusses, der ein Vertreter der Kommission ist, um zu beantragen, daß auf die Tagesordnung für die nächste Ausschußtagung am 6. und 7. September die Frage des Vorhandenseins von Kaliumnitraten gesetzt werde, da in Molkenpulver aus Frankreich, den Niederlanden und aus Deutschland 40 bis 4000 ppm dieses Stoffes festgestellt worden seien.

Am 9. August 1976 bat die Generaldirektion Landwirtschaft der Kommission die italienische Regierung um Stellungnahme bezüglich der Kontrollen an der italienischen Grenze zur Feststellung des Vorhandenseins von Kaliumnitraten oder Natriumnitriten in zum menschlichen oder tierischen Verzehr bestimmtem Milchpulver und Molkenpulver sowie in Futtermitteln. Sie erinnerte die italienische Regierung daran, daß zur Durchführung des gemeinschaftlichen Verfahrens nach Artikel 5 Absatz 2 der Richtlinie 74/63 eine mit Gründen versebene Mitteilung an die übrigen Mitgliedstaaten sowie an die Kommission gerichtet werden müsse.

Am 10. August fragte der italienische Gesundheitsminister bei der Kommission an, ob sie über das Vorhandensein von Kaliumnitraten in den fraglichen Erzeugnissen unterrichtet sei, und bat sie, das Problem zu prüfen.

Am 20. August wandte sich die Generaldirektion Landwirtschaft an die Ständige Vertretung Italiens und bat die italienische Regierung unter Bezugnahme auf Artikel 7 der Richtlinie um Stellungnahme bis 26. August.

Am 6. und 7. September trat der Ständige Ausschuß zusammen, um die von den italienischen Behörden bereits seit Juli durchgeführten Kontrollen zu erörtern. Einem Fernschreiben, das die Fédération européenne des fabricants d'aliments composés pour animaux, 223, rue de la Loi, Brüssel, am 8. September an ihre Mitglieder richtete, läßt sich wohl entnehmen, daß die Kommission während dieser Sitzung einen Vorschag zur Festlegung der Grenzen für den Gehalt an Nitraten unterbreitete. Da der Ausschuß den Vorschlag nicht annahm, zog ihn die Kommission zurück und beschloß, den „Wissenschaftlichen Futtermittelausschuß“ anzurufen, von dem sogleich noch die Rede sein wird.

Im Interesse einer gemeinschaftlichen Lösung bat die Generaldirektion Landwirtschaft die Ständige Vertretung Italiens am 17. September unter Bezugnahme auf die Sitzung des Ständigen Ausschusses vom 7. September, ihr bis 24. September genaue Mitteilung über die durchgeführten Kontrollen, die diesen zugrundeliegenden wissenschaftlichen Gründe sowie über den Beweis des Vorhandenseins von Molke in den angehaltenen Partien zu machen.

Am 27. September bat die Ständige Vertretung Italiens die Kommission unter Bezugnahme auf die Sitzung des Ständigen Ausschusses vom 6. und 7. September in deren Verlauf die italienischen Sachverständigen Gründe vorgetragen hatten, erneut um konkrete Vorschläge zur „Harmonisierung des Sektors“ gemäß den Anforderungen des öffentlichen Gesundheitswesens.

Schließlich teilte die Ständige Vertretung Italiens am 7. Oktober 1976 mit, der Kommission sei am Vortag eine toxikologische Dokumentation zugesandt worden, die sie demnächst erhalten werde. Dabei handelte es sich um die in Artikel 5 Absatz 1 der Richtlinie genannte „Angabe der Gründe“.

IV —

Dieser trockenen Zusammenstellung lassen sich, wie ich glaube, folgende Feststellungen entnehmen:

Die italienischen Behörden hatten bereits im Juli 1976 eine Maßnahme getroffen, die der beanstandeten ähnelte (Erklärungen der Kommission, S. 5).

Am 19. und 22. Juli sowie am 31. August hatte die italienische Regierung die zuständigen Stellen der Bundesrepublik Deutschland, der Französischen Republik sowie des Vereinigten Königreichs über ihr Problem unterrichtet.

Jedenfalls ist die Frage der etwaigen Schädlichkeit technologischer Kaliumnitratrückstände im Molkenpulver und in Molkenpulver enthaltenden Mischfuttermitteln dem Ständigen Futtermittelausschuß sehr wohl am 6. September vorgelegt worden, also am Tag vor dem Erlaß der italienischen „Eilmaßnahme“, während die Ware erst am 25. September an der Grenze angehalten wurde.

Zwar wurde der Ständige Ausschuß mit der italienischen „toxikologischen Dokumentation“ bis zum 7. Oktober nicht offiziell befaßt, doch hat es den Anschein, daß die Kommission bereits vor diesem Zeitpunkt über das Problem unterrichtet war, da sie die Einsetzung des Wissenschaftlichen Futtermittelausschusses „beschleunigte“ (Beschluß vom 24. September 1976, veröffentlicht im Amtsblatt vom 9. Oktober 1976), um ihm eben dieses Problem zu unterbreiten. Dem Ausschuß gehören wisenschaftlich hochqualifizierte Persönlichkeiten an; anders als der Ständige Ausschuß, der am Entscheidungsprozeß mitwirkt, hat er nur beratende Funktion. Die Kommisson hat bestätigt, daß der Wissenschaftliche Ausschuß, der im Laufe des letzten Trimesters 1976 mehrfach zusammengetreten war, am 9. März 1977 noch nicht in der Lage war, eine Stellungnahme abzugeben.

In jedem Fall war das Verfahren nach Artikel 5 der Richtlinie 74/63 ordnungsgemäß eingeleitet, sobald der Ständige Ausschuß offiziell die Angabe der Gründe der italienischen Regierung erhalten hatte, und es wird sich erst nach Beendigung dieses Verfahrens sagen lassen, ob die italienische Maßnahme gerechtfertigt war.

Läßt sich die Ansicht vertreten, daß die italienische Maßnahme vom 7. September bis zum 7. Oktober„ungültig“ war, nach diesem Zeitpunkt dann aber bis zum Abschluß des Verfahrens nach den Artikeln 5 und 10 der Richtlinie in einem für die Italienische Republik nachteiligen Sinne wieder „vorläufig gültig“ wurde? Zu dieser Frage kann ich mich im Rahmen des vorliegenden Rechtsstreits nicht äußern.

Ich kann jedoch folgendes feststellen:

Wenn es die Kommission sogar vor Erhalt der „Angabe der Gründe“ der italienischen Regierung für richtig hielt, sich durch den Wissenschaftlichen Ausschuß beraten zu lassen, obwohl sie hierzu nicht verpflichtet war, so entband sie dies nicht von der Pflicht, nach einer raschen Lösung zur Beilegung einer für die betroffenen Wirtschaftskreise nur schwer erträglichen Situation zu suchen; es wäre ihre Aufgabe gewesen, dem Ständigen Ausschuß einen „Entwurf für die zu treffenden Maßnahmen“ zu unterbreiten und ihn zu einer Stellungnahme zu veranlassen. Wenn sich der Ausschuß dem Entwurf nicht anschloß oder wenn keine Stellungnahme erging, mußte die Kommission dem Rat alsbald die zu treffenden Maßnahmen vorschlagen. Wenn der Rat die von der Kommission vorgeschlagenen Maßnahmen nicht mit qualifizierter Mehrheit erließ oder keine Maßnahmen beschloß, war es weiter Aufgabe der Kommission, die vorgeschlagenen Maßnahmen zu treffen und sofort deren Anwendung vorzusehen, es sei denn, der Rat hätte sich mit einfacher Mehrheit gegen die genannten Maßnahmen ausgesprochen. Dem von der Kommission am 16. Dezember 1976 eingeleiteten Verfahren wegen Pflichtverletzung gegen die Italienische Republik, dessen Dauer und Ausgang sich noch nicht vorhersagen lassen, liegt nicht derselbe Gegenstand zugrunde; es kann auch das Verfahren nach den Artikeln 5 und 10 der Richtlinie nicht ersetzen, und solange die Kommission keine Entscheidung getroffen hat, „kann der Mitgliedstaat die getroffenen Maßnahmen aufrechterhalten“ (Artikel 5 Absatz 2).

V —

Zwischen der in Artikel 5 der Richtlinie geschaffenen Regelung und Artikel 30 des Vertrages kann es zu Reibungen kommen, doch ist Artikel 30 nur „unbeschadet“ des Artikels 36 anwendbar. Gewiß können sich hinter dem absoluten Vorrang der Gesundheit der Verbraucher und der Tiere in Wahrheit wirtschaftliche Hintergedanken verbergen. Daher bestimmt auch Artikel 36, daß die Verbote oder Beschränkungen „weder ein Mittel zur willkürlichen Diskriminierung noch eine verschleierte Beschränkung des Handels zwischen den Mitgliedstaaten darstellen [dürfen]“. Artikel 5 läßt für sich allein betrachtet die Frage vollständig offen; sie ist im Rahmen des Verfahrens vor dem Ständigen Ausschuß zu prüfen, damit ein mißbräuchliches Vorgehen der Mitgliedstaaten vermieden werden kann. Artikel 10 und die dort vorgesehenen Fristen sollen ein solches Vorgehen gerade unterbinden.

Es ist möglich, daß die italienische Regierung auf die Richtlinien über Zusatzstoffe oder über unerwünschte Stoffe zurückgreifen wollte, um gegen einen Wirtschaftsbetrug anzukämpfen, der eher zur Zuständigkeit des Verwaltungsausschusses für Milch und Milcherzeugnisse gehört hätte. Wenn auf zwei Harmonisierungsrichdinien zu Unrecht zurückgegriffen oder wenn das Verfahren nach Artikel 10 der Richtlinie über unerwünschte Stoffe überhaupt nicht oder nicht richtig beachtet wurde oder wenn es noch nicht abgeschlossen ist, dann kann dies jedoch die Wirksamkeit von Artikel 5 nicht berühren.

Außerdem ist erforderlich, daß dieses Verfahren funktioniert. Das Europäische Parlament hat sich wiederholt energisch dagegen ausgesprochen, daß Sachverständige die Entscheidungsbefugnis der Kommission beschränken können; es hat betont, die Einsetzung solcher Ausschüsse dürfe nicht zu einer Schmälerung der Verantwortlichkeit der Kommission führen. Unter Berücksichtigung dessen kann ich in der Regelung des Artikels 5 nichts Rechtswidriges erblicken.

VI -

Was die Willkürlichkeit der auf diese Weise an der Grenze — und nur dort — ausgeübten Diskriminierung im Handel zwischen den Mitgliedstaaten anbelangt, so werde ich mich auf die Bemerkung beschränken, daß, wie es in Artikel 7 der Richtlinie heißt, „die Mitgliedstaaten … dafür Sorge [tragen], daß Futtermittel, die dieser Richtlinie entsprechen, in bezug auf das Vorhandensein von unerwünschten Stoffen und Erzeugnissen keinen anderen Verkehrsbeschränkungen unterliegen“, und, so Artikel 8 Absatz 1, „die Mitgliedstaaten … alle erforderlichen Maßnahmen [treffen], um die Einhaltung der in dieser Richtlinie vorgesehenen Bestimmungen bei Futtermitteln zumindest durch Stichproben amtlich überwachen zu können“. Wenn die Voraussetzungen dafür, daß ein Futtermittel unmittelbar an Tiere verfüttert wer den darf, auf allen Handelsstufen und bis zur Belieferung des Endverbrauchers erfüllt sein müssen, so müssen sie auch vorliegen, wenn die Waren erstmals in den Verkehr gebracht und wenn sie in einen Mitgliedstaat verbracht wird. Es ist normal, da die amtliche Kontrolle an der Grenze beginnt — nicht allein aus klar zutage liegenden praktischen Gründen, sondern auch, weil die Verteilung oder Vermarktung an der Grenze beginnt, vor allem bei einem Erzeugnis, das im Inland weder im selben Umfang noch unter denselben Bedingungen hergestellt wird.

Jedenfalls ist es nach der schon klassischen Formel vor allem Sache des einzelstaatlichen Gerichts, zu entscheiden, ob die durchgeführten Kontrollen den Charakter von Stichproben haben, ob sie nicht willkürlich sind, ob sich daraus keine „verschleierte“ Beschränkung des Handelsverkehrs zwischen den Mitgliedstaaten ergibt und ob die Festlegung der fraglichen Höchstgehalte nicht in einer die Einfuhren aus den übrigen Mitgliedstaaten rechtlich oder tatsächlich benachteiligenden Weise erfolgte.

Ich beantrage zu erkennen:

1.

Die Mitgliedstaaten sind auch nach Übernahme der Harmonisierungsrichtlinie 74/63 in ihre innerstaatliche Rechtsordnung befugt, bestimmte Stoffe vorläufig für unerwünscht zu erklären, die im Zeitpunkt des Erlasses der Richtlinie 74/63 zwar bekannt waren, aber gleichwohl nicht in das Verzeichnis im Anhang der Richtlinie aufgenommen wurden.

2.

Hierbei ist das Verfahren nach den Artikeln 5 und 10 zu beachten, damit so rasch wie möglich geklärt werden kann, ob die von einem Mitgliedstaat getroffene einseitige Maßnahme mit den Vertragsvorschriften vereinbar ist.

3.

Solange weder der Rat noch die Kommission eine Entscheidung getroffen haben, kann der Mitgliedstaat eine in Kraft gesetzte Maßnahme, mit der er einen Höchstgehalt für einen von ihm für unerwünscht angesehenen Stoff festgelegt hat, aufrechterhalten; er kann die zur Durchführung dieser Maßnahme erforderlichen Handelsbeschränkungen erlassen, vorausgesetzt, daß diese weder eine willkürliche Diskriminierung noch eine verschleierte Beschränkung im Handelsverkehr zwischen den Mitgliedstaaten darstellen.

4.

Die Prüfung der Akten hat nichts ergeben, was die Wirksamkeit von Artikel 5 der Richtlinie 74/63 des Rates beeinträchtigen könnte.


( 1 ) Aus dem Französischen übersetzt

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