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Document 62013CJ0491

Urteil des Gerichtshofs (Dritte Kammer) vom 10. September 2014.
Mohamed Ali Ben Alaya gegen Bundesrepublik Deutschland.
Vorabentscheidungsersuchen des Verwaltungsgerichts Berlin.
Vorlage zur Vorabentscheidung – Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts – Richtlinie 2004/114/EG – Art. 6, 7 und 12 – Bedingungen für die Zulassung von Drittstaatsangehörigen zur Absolvierung eines Studiums – Verweigerung der Zulassung einer Person, die die von dieser Richtlinie vorgesehenen Bedingungen erfüllt – Ermessensspielraum der zuständigen Behörden.
Rechtssache C‑491/13.

Court reports – general

ECLI identifier: ECLI:EU:C:2014:2187

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Dritte Kammer)

10. September 2014 ( *1 )

„Vorabentscheidungsersuchen — Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts — Richtlinie 2004/114/EG — Art. 6, 7 und 12 — Bedingungen für die Zulassung von Drittstaatsangehörigen zur Absolvierung eines Studiums — Verweigerung der Zulassung einer Person, die die von dieser Richtlinie vorgesehenen Bedingungen erfüllt — Ermessensspielraum der zuständigen Behörden“

In der Rechtssache C‑491/13

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Verwaltungsgericht Berlin (Deutschland) mit Entscheidung vom 5. September 2013, beim Gerichtshof eingegangen am 13. September 2013, in dem Verfahren

Mohamed Ali Ben Alaya

gegen

Bundesrepublik Deutschland

erlässt

DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten M. Ilešič, der Richter C. G. Fernlund und A. Ó Caoimh (Berichterstatter), der Richterin C. Toader und des Richters E. Jarašiūnas,

Generalanwalt: P. Mengozzi,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

der deutschen Regierung, vertreten durch T. Henze als Bevollmächtigten,

der belgischen Regierung, vertreten durch L. Van den Broeck und C. Pochet als Bevollmächtigte,

der Regierung von Estland, vertreten durch N. Grünberg als Bevollmächtigte,

der griechischen Regierung, vertreten durch T. Papadopoulou als Bevollmächtigte,

der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten,

der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch L. Christie als Bevollmächtigten im Beistand von J. Holmes, Barrister,

der Europäischen Kommission, vertreten durch G. Wils und M. Condou-Durande als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 12. Juni 2014

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 12 der Richtlinie 2004/114/EG des Rates vom 13. Dezember 2004 über die Bedingungen für die Zulassung von Drittstaatsangehörigen zur Absolvierung eines Studiums oder zur Teilnahme an einem Schüleraustausch, einer unbezahlten Ausbildungsmaßnahme oder einem Freiwilligendienst (ABl. L 375, S. 12).

2

Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Herrn Ben Alaya und der Bundesrepublik Deutschland wegen deren Weigerung, ihm ein Visum zu Studienzwecken zu erteilen.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

3

Die Erwägungsgründe 6, 7, 14, 15 und 24 der Richtlinie 2004/114 lauten:

„(6)

Ein Ziel der bildungspolitischen Maßnahmen der Gemeinschaft ist es, darauf hinzuwirken, dass ganz Europa im Bereich von Studium und beruflicher Bildung weltweit Maßstäbe setzt. Die Förderung der Bereitschaft von Drittstaatsangehörigen, sich zu Studienzwecken in die Gemeinschaft zu begeben, ist ein wesentliches Element dieser Strategie. Dazu gehört auch die Annäherung der innerstaatlichen Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten im Bereich der Einreise- und Aufenthaltsbedingungen.

(7)

Die Zuwanderung zu den in dieser Richtlinie genannten Zwecken, die per definitionem zeitlich begrenzt und von der Situation auf dem Arbeitsmarkt des Aufnahmemitgliedstaats unabhängig ist, stellt sowohl für die betreffenden Personen als auch für ihren Herkunfts- und den Aufnahmestaat eine Bereicherung dar und trägt zugleich allgemein zu einem besseren interkulturellen Verständnis bei.

(14)

Die Zulassung für die in dieser Richtlinie festgelegten Zwecke kann aus besonderen Gründen abgelehnt werden. Insbesondere könnte die Zulassung verweigert werden, falls ein Mitgliedstaat ausgehend von einer auf Tatsachen gestützten Beurteilung zu der Auffassung gelangt, dass der betreffende Drittstaatsangehörige eine potenzielle Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung darstellt. Der Begriff der öffentlichen Ordnung kann die Verurteilung wegen der Begehung einer schwerwiegenden Straftat umfassen. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass der Begriff der öffentlichen Ordnung und der öffentlichen Sicherheit auch Fälle umfasst, in denen ein Drittstaatsangehöriger einer Vereinigung angehört oder angehört hat, die den Terrorismus unterstützt, eine solche Vereinigung unterstützt oder unterstützt hat oder extremistische Bestrebungen hat oder hatte.

(15)

Bestehen Zweifel an den Antragsgründen, so könnten die Mitgliedstaaten alle Nachweise verlangen, die für die Prüfung der Schlüssigkeit des Antrags – insbesondere anhand der Studienpläne des Antragstellers – erforderlich sind, um dem Missbrauch und der falschen Anwendung des in dieser Richtlinie festgelegten Verfahrens vorzubeugen.

(24)

Da das Ziel der vorgeschlagenen Maßnahme, nämlich die Bedingungen für die Aufnahme von Drittstaatsangehörigen zu Studienzwecken oder zur Teilnahme an Schüleraustauschprogrammen, unbezahlter Ausbildung oder Freiwilligendienst festzulegen, auf Ebene der Mitgliedstaaten nicht ausreichend verwirklicht werden kann und daher wegen seines Umfangs oder seiner Wirkungen besser auf Gemeinschaftsebene zu erreichen ist, kann die Gemeinschaft im Einklang mit dem in Artikel 5 des Vertrags niedergelegten Subsidiaritätsprinzip tätig werden. Entsprechend dem in demselben Artikel niedergelegten Verhältnismäßigkeitsgrundsatz geht diese Richtlinie nicht über das zur Erreichung dieses Ziels erforderliche Maß hinaus.“

4

Art. 1 („Gegenstand“) der Richtlinie 2004/114 bestimmt:

„Zweck dieser Richtlinie ist die Festlegung

a)

der Bedingungen für die Zulassung von Drittstaatsangehörigen in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten für einen Zeitraum von mehr als drei Monaten zu Studienzwecken oder zur Teilnahme an einem Schüleraustausch, einer unbezahlten Ausbildungsmaßnahme oder einem Freiwilligendienst;

b)

der Bestimmungen über die Verfahren, nach denen Drittstaatsangehörige in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten zu diesen Zwecken zugelassen werden.“

5

Art. 3 („Anwendungsbereich“) dieser Richtlinie sieht in Abs. 1 vor, dass diese Richtlinie „für Drittstaatsangehörige [gilt], die einen Antrag auf Zulassung ins Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats zu Studienzwecken stellen“, und dass „[d]ie Mitgliedstaaten … ferner beschließen [können], diese Richtlinie auf Drittstaatsangehörige anzuwenden, die einen Antrag auf Zulassung zur Teilnahme an einem Schüleraustausch, einer unbezahlten Ausbildungsmaßnahme oder einem Freiwilligendienst stellen“.

6

In Art. 4 („Günstigere Bestimmungen“) Abs. 2 der Richtlinie heißt es:

„Diese Richtlinie hindert die Mitgliedstaaten nicht daran, günstigere innerstaatliche Bestimmungen für die Personen, auf die sie Anwendung findet, beizubehalten oder einzuführen.“

7

Das Kapitel II der Richtlinie 2004/114 mit der Überschrift „Zulassungsbedingungen“ umfasst die Art. 5 bis 11.

8

Art. 5 („Grundsatz“) der Richtlinie lautet:

„Ein Drittstaatsangehöriger wird nach dieser Richtlinie nur dann zugelassen, wenn sich nach Prüfung der Unterlagen zeigt, dass er die Bedingungen der Artikel 6 und – je nach Kategorie – der Artikel 7, 8, 9, 10 oder 11 erfüllt.“

9

Art. 6 („Allgemeine Bedingungen“) der Richtlinie sieht vor:

„(1)   Ein Drittstaatsangehöriger, der die Zulassung zu den in den Artikeln 7 bis 11 genannten Zwecken beantragt, muss folgende Bedingungen erfüllen:

a)

Er muss ein nach einzelstaatlichem Recht gültiges Reisedokument vorlegen. Die Mitgliedstaaten können verlangen, dass die Geltungsdauer des Reisedokuments mindestens die Dauer des geplanten Aufenthalts abdeckt.

b)

Sofern er nach dem einzelstaatlichen Recht des Aufnahmemitgliedstaats minderjährig ist, muss er eine Erlaubnis der Eltern für den geplanten Aufenthalt vorlegen.

c)

Er muss über eine Krankenversicherung verfügen, die sich auf alle Risiken erstreckt, die normalerweise in dem betreffenden Mitgliedstaat für die eigenen Staatsangehörigen abgedeckt sind.

d)

Er darf nicht als eine Bedrohung für die öffentliche Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit betrachtet werden.

e)

Er muss auf Verlangen des Mitgliedstaats einen Nachweis über die Zahlung der Gebühr für die Bearbeitung des Antrags nach Artikel 20 erbringen.

(2)   Die Mitgliedstaaten erleichtern das Zulassungsverfahren für die in den Artikeln 7 bis 11 bezeichneten Drittstaatsangehörigen, die an Gemeinschaftsprogrammen zur Förderung der Mobilität in die Gemeinschaft oder innerhalb der Gemeinschaft teilnehmen.“

10

Die Art. 7 bis 11 des Kapitels II der Richtlinie 2004/114 betreffen die besonderen Bedingungen für Studenten, Schüler, unbezahlte Auszubildende und Freiwillige. Art. 7 („Besondere Bedingungen für Studenten“) Abs. 1 dieser Richtlinie bestimmt:

„Ein Drittstaatsangehöriger, der die Zulassung zu Studienzwecken beantragt, muss zusätzlich zu den allgemeinen Bedingungen des Artikels 6 folgende Bedingungen erfüllen:

a)

Er muss von einer höheren Bildungseinrichtung zu einem Studienprogramm zugelassen worden sein.

b)

Er muss den von einem Mitgliedstaat verlangten Nachweis erbringen, dass er während seines Aufenthalts über die nötigen Mittel verfügt, um die Kosten für seinen Unterhalt, das Studium und die Rückreise zu tragen. Die Mitgliedstaaten geben bekannt, welchen Mindestbetrag sie als monatlich erforderliche Mittel im Sinne dieser Bestimmung unbeschadet einer Prüfung im Einzelfall vorschreiben.

c)

Er muss auf Verlangen des Mitgliedstaats eine hinreichende Kenntnis der Sprache nachweisen, in der das Studienprogramm, an dem er teilnehmen möchte, erteilt wird.

d)

Er muss auf Verlangen des Mitgliedstaats nachweisen, dass er die von der Einrichtung geforderten Gebühren entrichtet hat.“

11

Kapitel III der Richtlinie 2004/114, das die Überschrift „Aufenthaltstitel“ trägt, enthält Bestimmungen in Bezug auf die Aufenthaltstitel, die jeder der von dieser Richtlinie erfassten Personenkategorien erteilt werden. Art. 12 („Aufenthaltstitel für Studenten“) der Richtlinie sieht vor:

„(1)   Der Aufenthaltstitel wird dem Studenten für mindestens ein Jahr erteilt und kann verlängert werden, wenn der Inhaber die Bedingungen der Artikel 6 und 7 weiterhin erfüllt. Beträgt die Dauer des Studienprogramms weniger als ein Jahr, so wird der Aufenthaltstitel für die Dauer dieses Programms erteilt.

(2)   Unbeschadet des Artikels 16 kann ein Aufenthaltstitel in den Fällen nicht verlängert oder entzogen werden, in denen der Inhaber

a)

die Beschränkungen seines Zugangs zur Erwerbstätigkeit gemäß Artikel 17 dieser Richtlinie nicht einhält;

b)

keine ausreichenden Studienfortschritte gemäß dem einzelstaatlichen Recht oder der einzelstaatlichen Verwaltungspraxis macht.“

Deutsches Recht

12

§ 6 („Visa“) Abs. 3 des Gesetzes über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern im Bundesgebiet (im Folgenden: AufenthG) bestimmt in der Fassung der Bekanntmachung vom 25. Februar 2008 (BGBl. I S. 162):

„Für längerfristige Aufenthalte ist ein Visum für das Bundesgebiet (nationales Visum) erforderlich, das vor der Einreise erteilt wird. Die Erteilung richtet sich nach den für die Aufenthaltserlaubnis, die Blaue Karte EU, die Niederlassungserlaubnis und die Erlaubnis zum Daueraufenthalt – EU geltenden Vorschriften. …“

13

§ 16 („Studium; Sprachkurse; Schulbesuch“) Abs. 1 AufenthG sieht vor:

„Einem Ausländer kann zum Zweck des Studiums an einer staatlichen oder staatlich anerkannten Hochschule oder vergleichbaren Ausbildungseinrichtung eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden. Der Aufenthaltszweck des Studiums umfasst auch studienvorbereitende Sprachkurse sowie den Besuch eines Studienkollegs (studienvorbereitende Maßnahmen). Die Aufenthaltserlaubnis zum Zweck des Studiums darf nur erteilt werden, wenn der Ausländer von der Ausbildungseinrichtung zugelassen worden ist; eine bedingte Zulassung ist ausreichend. Ein Nachweis von Kenntnissen in der Ausbildungssprache wird nicht verlangt, wenn die Sprachkenntnisse bei der Zulassungsentscheidung bereits berücksichtigt worden sind oder durch studienvorbereitende Maßnahmen erworben werden sollen. Die Geltungsdauer bei der Ersterteilung und Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis für ein Studium beträgt mindestens ein Jahr und soll bei Studium und studienvorbereitenden Maßnahmen zwei Jahre nicht überschreiten; sie kann verlängert werden, wenn der Aufenthaltszweck noch nicht erreicht ist und in einem angemessenen Zeitraum noch erreicht werden kann.“

Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage

14

Der am 19. Februar 1989 in Deutschland geborene Herr Ben Alaya ist tunesischer Staatsangehöriger. Er verließ Deutschland im Jahr 1995, um danach in Tunesien zu leben.

15

Nach Erwerb des Abiturs im Jahr 2010 schrieb er sich an der Universität Tunis ein, um Informatik zu studieren, und bemühte sich um die Aufnahme eines Studiums (Bachelor) in Deutschland. Er wurde mehrmals zum Studium im Studiengang Mathematik an der Technischen Universität Dortmund zugelassen. Herr Ben Alaya stellte bei den deutschen zuständigen Behörden mehrere Anträge auf Erteilung eines Studentenvisums, um diese Ausbildung oder einen Sprachkurs zu absolvieren, der von der Universität für Ausländer, die ein Hochschulstudium aufnehmen möchten, angeboten wird. Alle diese Anträge wurden abgelehnt.

16

Am 23. September 2011 erging die letzte dieser Entscheidungen, mit denen es abgelehnt wurde, Herrn Ben Alaya ein Visum zu erteilen. Sie wurde mit Zweifeln an seiner Studienmotivation insbesondere im Hinblick auf seine zuvor erzielten ungenügenden Noten, seine geringen Kenntnisse der deutschen Sprache und den fehlenden Zusammenhang zwischen der angestrebten Ausbildung und seinen beruflichen Plänen begründet.

17

Am 1. November 2011 erhob Herr Ben Alaya beim vorlegenden Gericht Klage gegen diese Entscheidung mit dem Ziel der Erteilung eines Visums zu Studienzwecken gemäß § 16 Abs. 1 AufenthG. Er machte geltend, dass seine Kenntnisse ausreichend seien, um ein Mathematikstudium absolvieren zu können, und dass sein Unterhalt während seines Studiums von seinem in Deutschland lebenden Vater gesichert werde.

18

Das vorlegende Gericht stellt sich die Frage, ob die Richtlinie 2004/114, wenn die in den Art. 6 und 7 der Richtlinie genannten Zulassungsvoraussetzungen erfüllt sind, gemäß Art. 12 einen Anspruch auf Erteilung eines Visums zu Studienzwecken begründet, ohne der innerstaatlichen Verwaltung ein Ermessen einzuräumen. Es weist insoweit darauf hin, dass die deutschen Gerichte der innerstaatlichen Verwaltung einen Ermessensspielraum für die Ablehnung eines Visums zu Studienzwecken einräumten, wobei die Voraussetzungen für die Erteilung dieses Visums in § 16 Abs. 1 AufenthG geregelt seien.

19

Nach Auffassung des vorlegenden Gerichts verschafft die Richtlinie 2004/114 Drittstaatsangehörigen einen Anspruch auf Zulassung zu Studienzwecken, sobald die genannten Voraussetzungen erfüllt sind, ohne dass die staatlichen Behörden in Bezug auf die Zulassungsentscheidung ein Ermessen ausüben könnten.

20

Unter diesen Umständen hat das Verwaltungsgericht Berlin das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:

Begründet die Richtlinie 2004/114 einen gebundenen Anspruch auf Erteilung eines Visums zu Studienzwecken und eines nachfolgenden Aufenthaltstitels gemäß Art. 12 dieser Richtlinie, wenn die Zulassungsvoraussetzungen, das heißt die Bedingungen der Art. 6 und 7 der Richtlinie, erfüllt sind und kein Grund für eine Ablehnung der Zulassung nach Art. 6 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie vorliegt?

Zur Vorlagefrage

21

Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 12 der Richtlinie 2004/114 dahin auszulegen ist, dass der betreffende Mitgliedstaat dazu verpflichtet ist, einen Drittstaatsangehörigen, der sich für mehr als drei Monate zu Studienzwecken in seinem Hoheitsgebiet aufhalten möchte, in sein Hoheitsgebiet zuzulassen, wenn dieser Drittstaatsangehörige die in den Art. 6 und 7 dieser Richtlinie vorgesehenen Zulassungsbedingungen erfüllt.

22

Nach ständiger Rechtsprechung sind bei der Auslegung einer Unionsvorschrift nicht nur deren Wortlaut, sondern auch ihr Zusammenhang und die Ziele zu berücksichtigen, die mit der Regelung, zu der sie gehört, verfolgt werden (vgl. u. a. Urteil Koushkaki, C‑84/12, EU:C:2013:862, Rn. 34 und die dort angeführte Rechtsprechung).

23

Erstens ist in Bezug auf die allgemeine Systematik der Richtlinie 2004/114 zunächst festzustellen, dass gemäß ihrem Art. 5 ein Drittstaatsangehöriger nach dieser Richtlinie nur dann in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats zugelassen wird, wenn sich nach Prüfung der Unterlagen zeigt, dass er die allgemeinen Bedingungen gemäß Art. 6 und, falls er die Zulassung zu Studienzwecken beantragt, die besonderen Bedingungen nach Art. 7 der Richtlinie erfüllt.

24

Insbesondere können die Mitgliedstaaten prüfen, ob gemäß Art. 6 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2004/114 – bei Auslegung dieser Vorschrift im Licht des 14. Erwägungsgrundes der Richtlinie – Gründe vorliegen, aus denen sich eine Bedrohung für die öffentliche Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit ergibt. Solche Gründe können die Ablehnung der Zulassung eines solchen Drittstaatsangehörigen rechtfertigen.

25

Sodann erteilt der Mitgliedstaat, wenn die in den Art. 6 und 7 der Richtlinie genannten allgemeinen und besonderen Bedingungen erfüllt sind, gemäß Art. 12 der Richtlinie einen Aufenthaltstitel für Studenten.

26

Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass Art. 3 der Richtlinie 2004/114 unterscheidet zwischen zum einen Bestimmungen über Drittstaatsangehörige, die einen Antrag auf Zulassung ins Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats zu Studienzwecken stellen, und zum anderen Bestimmungen über Drittstaatsangehörige, die einen Antrag auf Zulassung zur Teilnahme an einem Schüleraustausch, einer unbezahlten Ausbildungsmaßnahme oder einem Freiwilligendienst stellen. Während die erstgenannten Bestimmungen für die Mitgliedstaaten bindend sind, wird die Umsetzung der letztgenannten in ihr Ermessen gestellt. Diese Unterscheidung ist ein Indiz dafür, dass ein bestimmter Grad der Angleichung der nationalen Rechtsvorschriften über die Einreise- und Aufenthaltsbedingungen angestrebt wird.

27

Somit ergibt sich aus der Zusammenschau dieser Bestimmungen der Richtlinie 2004/114, dass gemäß ihrem Art. 12 Studenten aus Drittstaaten ein Aufenthaltstitel erteilt werden muss, wenn sie die in den Art. 6 und 7 der Richtlinie abschließend aufgezählten allgemeinen und besonderen Bedingungen erfüllen.

28

Zweitens geht, was die Ziele der Richtlinie 2004/114 betrifft, aus deren Art. 1 Buchst. a in Verbindung mit ihrem 24. Erwägungsgrund hervor, dass diese Richtlinie die Bedingungen für die Zulassung von Drittstaatsangehörigen in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten für einen Zeitraum von mehr als drei Monaten zu Studienzwecken festlegen soll.

29

In dieser Hinsicht hat der Gerichtshof bereits festgestellt, dass die Richtlinie 2004/114 nach ihren Erwägungsgründen 6 und 7 die Bereitschaft von Studenten, die Drittstaatsangehörige sind, fördern soll, sich zu Bildungszwecken in die Union zu begeben, und dass damit darauf hingewirkt werden soll, dass Europa im Bereich von Studium und beruflicher Bildung weltweit Maßstäbe setzt (Urteil Sommer, C‑15/11, EU:C:2012:371, Rn. 39). Im sechsten Erwägungsgrund dieser Richtlinie heißt es insbesondere, dass die Annäherung der innerstaatlichen Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten im Bereich der Einreise- und Aufenthaltsbedingungen diesem Ziel dient.

30

Erlaubte man aber einem Mitgliedstaat, über die in den Art. 6 und 7 der Richtlinie 2004/114 vorgesehenen Bedingungen hinaus zusätzliche Bedingungen für die Zulassung von Drittstaatsangehörigen zu Studienzwecken einzuführen, liefe dies dem Ziel der Richtlinie zuwider, die Mobilität dieser Drittstaatsangehörigen zu fördern.

31

Daher ergibt sich aus der Systematik und den Zielen der Richtlinie 2004/114, dass die Mitgliedstaaten gemäß Art. 12 dieser Richtlinie verpflichtet sind, einem Antragsteller, der die Bedingungen der Art. 6 und 7 dieser Richtlinie erfüllt hat, einen Aufenthaltstitel für Studienzwecke zu erteilen, da die genannten Vorschriften sowohl die allgemeinen und besonderen Bedingungen, die der Antragsteller für einen Aufenthaltstitel zu Studienzwecken erfüllen muss, als auch die Gründe, die die Ablehnung seiner Zulassung rechtfertigen können, abschließend aufzählen.

32

Außerdem wird eine solche Auslegung des Art. 12 der Richtlinie 2004/114 durch die in Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie vorgesehene Möglichkeit bestätigt, dass die Mitgliedstaaten günstigere innerstaatliche Bestimmungen für die Personen, auf die die Richtlinie Anwendung findet, erlassen können. Die Auffassung, dass die Mitgliedstaaten den in der Richtlinie 2004/114 vorgesehenen Zulassungsbedingungen weitere Zulassungsbedingungen hinzufügen dürften, ließe aber eine Verschärfung der Zulassungsbedingungen für diese Personen zu, was dem mit Art. 4 Abs. 2 verfolgten Ziel zuwiderliefe.

33

Es trifft zwar zu, dass die Richtlinie 2004/114 den Mitgliedstaaten bei der Prüfung der Zulassungsanträge einen Beurteilungsspielraum zuerkennt. Wie jedoch der Generalanwalt in Nr. 49 seiner Schlussanträge festgestellt hat, bezieht sich der Beurteilungsspielraum, über den die innerstaatlichen Behörden verfügen, allein auf die in den Art. 6 und 7 der Richtlinie vorgesehenen Bedingungen und in diesem Rahmen auf die Würdigung der Tatsachen, die für die Feststellung maßgeblich sind, ob die in den genannten Artikeln aufgezählten Bedingungen erfüllt sind, darunter insbesondere für die Feststellung, ob der Zulassung des Drittstaatsangehörigen Gründe entgegenstehen, aus denen sich eine Bedrohung für die öffentliche Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit ergibt.

34

Im Rahmen der Prüfung der Zulassungsvoraussetzungen auf der Grundlage der Richtlinie 2004/114 sind somit die Mitgliedstaaten im Einklang mit dem 15. Erwägungsgrund dieser Richtlinie nicht daran gehindert, alle Nachweise zu verlangen, die für die Prüfung der Schlüssigkeit des Antrags erforderlich sind, um jeder missbräuchlichen oder betrügerischen Inanspruchnahme des in dieser Richtlinie festgelegten Verfahrens vorzubeugen.

35

Im vorliegenden Fall ergibt sich aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten, dass im Ausgangsrechtsstreit Herr Ben Alaya die in den Art. 6 und 7 der Richtlinie 2004/114 vorgesehenen allgemeinen und besonderen Bedingungen offenbar erfüllt. Insbesondere scheint hinsichtlich seiner Person seitens der deutschen Behörden kein in Art. 6 Abs. 1 Buchst. d dieser Richtlinie aufgeführter Grund geltend gemacht worden zu sein. Demnach wäre ihm in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens von den innerstaatlichen Behörden ein Aufenthaltstitel zu erteilen, was zu überprüfen Sache des vorlegenden Gerichts ist.

36

Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 12 der Richtlinie 2004/114 dahin auszulegen ist, dass der betreffende Mitgliedstaat dazu verpflichtet ist, einen Drittstaatsangehörigen, der sich für mehr als drei Monate zu Studienzwecken in seinem Hoheitsgebiet aufhalten möchte, in sein Hoheitsgebiet zuzulassen, wenn dieser Drittstaatsangehörige die in den Art. 6 und 7 dieser Richtlinie abschließend aufgezählten Zulassungsbedingungen erfüllt und der Mitgliedstaat in seinem Fall keinen der in dieser Richtlinie ausdrücklich genannten Gründe geltend macht, die die Versagung eines Aufenthaltstitels rechtfertigen.

Kosten

37

Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Dritte Kammer) für Recht erkannt:

 

Art. 12 der Richtlinie 2004/114/EG des Rates vom 13. Dezember 2004 über die Bedingungen für die Zulassung von Drittstaatsangehörigen zur Absolvierung eines Studiums oder zur Teilnahme an einem Schüleraustausch, einer unbezahlten Ausbildungsmaßnahme oder einem Freiwilligendienst ist dahin auszulegen, dass der betreffende Mitgliedstaat dazu verpflichtet ist, einen Drittstaatsangehörigen, der sich für mehr als drei Monate zu Studienzwecken in seinem Hoheitsgebiet aufhalten möchte, in sein Hoheitsgebiet zuzulassen, wenn dieser Drittstaatsangehörige die in den Art. 6 und 7 dieser Richtlinie abschließend aufgezählten Zulassungsbedingungen erfüllt und der Mitgliedstaat in seinem Fall keinen der in dieser Richtlinie ausdrücklich genannten Gründe geltend macht, die die Versagung eines Aufenthaltstitels rechtfertigen.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Deutsch.

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