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Document 52020AE5266

    Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Die Rolle der Sozialwirtschaft bei der Schaffung von Arbeitsplätzen und der Umsetzung der europäischen Säule sozialer Rechte“ (Sondierungsstellungnahme)

    EESC 2020/05266

    ABl. C 286 vom 16.7.2021, p. 13–19 (BG, ES, CS, DA, DE, ET, EL, EN, FR, HR, IT, LV, LT, HU, MT, NL, PL, PT, RO, SK, SL, FI, SV)

    16.7.2021   

    DE

    Amtsblatt der Europäischen Union

    C 286/13


    Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Die Rolle der Sozialwirtschaft bei der Schaffung von Arbeitsplätzen und der Umsetzung der europäischen Säule sozialer Rechte“

    (Sondierungsstellungnahme)

    (2021/C 286/04)

    Berichterstatter:

    Giuseppe GUERINI

    Mitberichterstatterin:

    Cinzia DEL RIO

    Befassung

    Portugiesischer Ratsvorsitz, 26.10.2020

    Rechtsgrundlage

    Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

    Zuständige Fachgruppe

    Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion, Verbrauch

    Annahme in der Fachgruppe

    31.3.2021

    Verabschiedung im Plenum

    27.4.2021

    Plenartagung Nr.

    560

    Ergebnis der Abstimmung

    (Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

    239/2/1

    1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

    1.1.

    Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) dankt dem portugiesischen Ratsvorsitz für das Ersuchen um diese Stellungnahme. Er ist der Auffassung, dass die Organisationen und Unternehmen der Sozialwirtschaft als strategische Partner für die Umsetzung der europäischen Säule sozialer Rechte und für den Aufbau einer Europäischen Union, die bekräftigt, dass die Wirtschaft hauptsächlich im Dienste des Menschen steht, betrachtet werden müssen. Er empfiehlt in diesem Zusammenhang, dass die Behörden der Mitgliedstaaten in den nationalen Aufbau- und Resilienzpläne zur Überwindung der Pandemiekrise eine umfassende Einbeziehung sozialwirtschaftlicher Unternehmen vorsehen sollten.

    1.2.

    Nach Ansicht des EWSA müssen die von den EU-Institutionen angewandten operativen Kriterien zur Förderung einer angemessenen Anerkennung der sozialwirtschaftlichen Organisationen und Unternehmen in ihren verschiedenen Rechtsformen konsolidiert werden. Diesen Kriterien zufolge haben soziale Ziele von allgemeinem Interesse Vorrang, es gilt eine demokratische Governance unter Beteiligung verschiedener Interessengruppen, und auch bei einer „eingeschränkten Gewinnorientierung“ dient diese der Umsetzung satzungsmäßiger Ziele.

    1.3.

    Nach Auffassung des EWSA braucht die Europäische Union ein dauerhaftes System zur statistischen Erhebung, um über qualifizierte, vergleichbare und aktuelle Daten zur Größe und Wirkung des Sektors zu verfügen und die sozialen Auswirkungen der sozialwirtschaftlichen Organisationen und Unternehmen messen zu können.

    1.4.

    Betrifft die Rolle der Sozialwirtschaft bei der Schaffung und Erhaltung von Arbeitsplätzen benachteiligte Arbeitnehmer und benachteiligte Gebiete, sind nach Ansicht des EWSA angemessene Unterstützungsmaßnahmen erforderlich, die der dem Gemeinwohl dienenden Funktion dieser Organisationen Rechnung tragen. Diese erfüllen trotz privatrechtlicher Natur im Wesentlichen öffentliche Aufgaben.

    1.5.

    Diese Fördermaßnahmen müssen auf vier Ebenen umgesetzt werden:

    steuerpolitische Maßnahmen und Steuersysteme, die Aufgaben von allgemeinem Interesse Rechnung tragen;

    Maßnahmen zur Förderung öffentlicher und privater Investitionen, die die Entwicklung einer sozialwirksamen Finanzierung begünstigen — auch über öffentliche Aufträge und Konzessionen;

    Maßnahmen zur Förderung stabiler Beschäftigung und der zentralen wirtschaftlichen Rolle der Arbeitnehmer in sozialwirtschaftlichen Unternehmen;

    Maßnahmen zur Förderung der Qualifikation des Personals und der technologischen Innovation in sozialwirtschaftlichen Organisationen.

    1.6.

    Bezüglich der Schaffung und des Erhalts von Arbeitsplätzen erachtet der EWSA die Methode des sogenannten „Worker Buyout“ (Unternehmensübernahmen durch die Belegschaft) für eine gute Praxis. Diese ist nicht nur bei der Erholung von Unternehmen in der Krise, sondern auch bei der Übertragung von KMU, deren Gründer keine Nachfolger haben, nützlich. Daher könnte es interessant sein, einen spezifischen europäischen Investmentfonds einzurichten.

    1.7.

    Der EWSA fordert, das wachsende Interesse der Finanzakteure an sozialwirksamen Investitionen auch mittels Anreizmaßnahmen zu unterstützen und zu fördern. Für diese müssen sozialwirtschaftliche Unternehmen zu den wichtigsten Triebkräften bei der Neubelebung von Investitionen zur Verwirklichung sozialer, ökologischer und solidarischer Ziele werden.

    1.8.

    Der EWSA ist der Auffassung, dass sozialwirtschaftliche Unternehmen eine ideale Organisationsform für die neuen Arten des Unternehmertums sein könnten, die durch digitale Plattformen und insbesondere für Aktivitäten der Sharing Economy entstehen, da sie sich für die aktive Einbeziehung der Arbeitnehmer und der Nutzer digitaler Plattformen eignen.

    1.9.

    Der EWSA betont, dass menschenwürdige Arbeitsbedingungen und die demokratische Governance Schlüsselelemente für sozialwirtschaftliche Unternehmen sind. Sind diese wie bei den Arbeits- und Sozialgenossenschaften nicht gesetzlich vorgesehen, sind besondere Formen der Anhörung und Mitbestimmung der Arbeitnehmer vorzusehen.

    1.10.

    Der EWSA ist der Auffassung, dass die Organisationen der Sozialwirtschaft, insbesondere Freiwilligenorganisationen, eine grundlegende Rolle für den Zusammenhalt spielen, da sie das Sozialkapital mehren und eine verantwortungsbewusste Zivilgesellschaft stärken.

    1.11.

    Die Freiwilligenarbeit junger Menschen ist eine grundlegende Ressource für die Erhöhung der Beschäftigungsfähigkeit und des Humankapitals der jüngeren Generationen. Gleichzeitig entsteht ein positiver Effekt der Verbesserung der Beschäftigungsmöglichkeiten. Dies scheint auch sehr nützlich zu sein, um das Phänomen der weder in Beschäftigung noch in Ausbildung befindlichen Jugendlichen (NEET) zu reduzieren. Es sollten Maßnahmen ergriffen werden, um den Übergang von Freiwilligentätigkeiten zu stabilen Formen der bezahlten Beschäftigung zu fördern.

    1.12.

    Schließlich fordert und hofft der EWSA, dass der Aktionsplan für die Sozialwirtschaft die Gelegenheit bietet, konkrete operative Instrumente und Legislativvorschläge auf den Weg zu bringen.

    2.   Allgemeine Anmerkungen

    2.1.

    Der EWSA ist erfreut, mit dieser Sondierungsstellungnahme, um die ihn der portugiesische EU-Ratsvorsitz ersucht hat, einen Beitrag zu den Schwerpunkten des Programms zu leisten. Dies betrifft insbesondere die Förderung des europäischen Sozialmodells. In diesem Zusammenhang möchte er konkrete Vorschläge zur Rolle der sozialwirtschaftlichen Unternehmen bei der Schaffung stabiler und menschenwürdiger Arbeit und einer inklusiveren, nachhaltigeren und resilienteren Wirtschaft vorlegen.

    2.2.

    Die Sozialwirtschaft wird auf internationaler Ebene zunehmend als ein entscheidender und wichtiger Akteur anerkannt, der die Organisations- und Transformationsfähigkeit der Zivilgesellschaft zum Ausdruck bringt. In einer Reihe von Mitgliedstaaten wurden Rechtsvorschriften erarbeitet, in denen ihre Ziele und Funktionen anerkannt sowie die Struktur und Rechtsform der Organisationen beschrieben werden, die anerkanntermaßen zur Sozialwirtschaft zählen (1).

    2.3.

    Der EWSA hat in der Stellungnahme INT/871 (2) in Bezug auf die rechtliche Anerkennung deutlich gemacht, dass die Organisationen und Unternehmen der Sozialwirtschaft sozialen Zielen Vorrang vor der Rolle des Kapitals einräumen, u. a. dank einer demokratischen Governance unter Einbeziehung verschiedener Interessenträger. Sie sind keine privaten gewinnorientierten Unternehmen, und selbst wenn sie eine „begrenzte Rentabilität“ im Rahmen unternehmerischer Tätigkeit erzielen, werden die Gewinne für die Verfolgung ihrer Satzungsziele und die Schaffung von Arbeitsplätzen verwendet.

    2.4.

    Die substanzielle Anerkennung der Sozialwirtschaft stützt sich auf Studien internationaler Institutionen und Gremien wie der OECD, der Vereinten Nationen, der ILO und verschiedener EU-Institutionen sowie des EWSA selbst. In seinen zwischen 2009 und 2020 erarbeiteten 13 Stellungnahmen zur Sozialwirtschaft wurden die Organisationen und Unternehmen der Sozialwirtschaft in vier Kategorien unterteilt: Genossenschaften, Vereinigungen, Gegenseitigkeitsgesellschaften und Stiftungen, denen in jüngerer Zeit auch Sozialunternehmen hinzugefügt wurden.

    2.5.

    Obwohl die repräsentativsten Kriterien und Konzepte der Sozialwirtschaft, wie der Vorrang des Menschen vor dem Kapital, die Reinvestition von Gewinnen und die partizipative Governance von der EU (3) anerkannt wurden, ist es bisher nicht gelungen, sich auf eine einheitliche europäische Rechtsdefinition zu einigen. Im Jahr 2018 schlug das Parlament die Einführung einer Zertifizierung für sozialwirtschaftliche Organisationen auf der Grundlage von Artikel 50 AEUV vor. Damit dies erreicht werden kann, ist nach Auffassung des EWSA eine bessere und homogenere statistische Datenerhebung zur Erfassung der sozialwirtschaftlichen Organisationen und Unternehmen gemäß einer gemeinsamen Arbeitsdefinition erforderlich, wie es in Ländern der Fall ist, die öffentliche Register für sozialwirtschaftliche Organisationen und Unternehmen eingerichtet haben.

    2.6.

    Eine anerkannte und förmlich akzeptierte Arbeitsdefinition, die für die Institutionen der EU Gültigkeit hat, ist nun zunehmend notwendig, insbesondere um den Zugang zu den vielen Möglichkeiten für Wachstum und Entwicklung zu ermöglichen und ein besseres Verständnis der Sozialwirtschaft durch öffentliche und private Institutionen zu fördern.

    2.7.

    Diese Definition ist unabdingbar für einen umfassenden Zugang zu den Kapitalmärkten, die wachsendes Interesse für sozialwirksame Investitionen hegen. Der Aktionsplan für die Sozialwirtschaft ist eine gute Gelegenheit, dieses Thema in Angriff zu nehmen. Auch im Aktionsplan für eine Kapitalmarktunion für die Menschen und Unternehmen (4) sollte die Rolle der Sozialwirtschaft bei der Mobilisierung von Investitionen in Europa für eine menschengerechte Wirtschaft berücksichtigt werden.

    2.8.

    Die Funktion der sozialwirtschaftlichen Organisationen bzw. der wirtschaftliche Wert, der von ihnen generiert wird, erscheint sehr signifikant, sowohl im Hinblick auf die Größe (8 % des europäischen BIP) als auch auf die Qualität und Stabilität dieses Wertes (5), für den auch in den Jahren der Finanzkrise eine Zunahme der produzierten wirtschaftlichen Werte und der Zahl der Beschäftigten verzeichnet wurde.

    2.9.

    Die Sozialwirtschaft spielt eine maßgebliche Rolle bei der Schaffung und Erhaltung von Arbeitsplätzen — mit über 13,6 Mio. Arbeitsplätzen in Europa (was etwa 6,3 % der Erwerbsbevölkerung der EU-28 (6) entspricht), über 232 Mio. Mitgliedern von Genossenschaften, Gegenseitigkeitsgesellschaften und vergleichbaren Einrichtungen sowie über 2,8 Mio. Unternehmen und Organisationen. Von diesen Arbeitnehmern sind etwa 2,6 Mio. in Sozialunternehmen beschäftigt, die die von der Initiative für soziales Unternehmertum 2011 beschriebenen Anforderungen erfüllen.

    2.10.

    Viele Beschäftigte der sozialwirtschaftlichen Organisationen und Unternehmen arbeiten in kleinen Strukturen. Es gibt aber auch Beispiele sozialwirtschaftlicher Unternehmen großen Ausmaßes mit Hunderten und mitunter Tausenden Beschäftigten. Ein großer Teil ist in Organisationen tätig, die sich durch eine demokratische partizipative Governance auszeichnen. Dies verweist auf eine Korrelation zwischen einer breiten Beteiligung von Interessenträgern an der Governance und der Tendenz zur Aufrechterhaltung eines hohen Beschäftigungsniveaus sowie einer besseren Widerstandsfähigkeit gegenüber Schocks (7).

    2.11.

    Signifikant ist der hohe Anteil der weiblichen Beschäftigten in der Sozialwirtschaft: In vielen Fällen übersteigt er 70 % der Belegschaft, liegt aber im Allgemeinen bei über 50 %. Obwohl weitere Schritte für die vollständige Gleichstellung notwendig sind, ist die Präsenz von Frauen in Führungsebenen und Spitzenpositionen vieler Organisationen der Sozialwirtschaft signifikant. In diesen Organisationen und Unternehmen besteht also eine erhebliche Lohngleichheit — sowohl zwischen den verschiedenen Positionen in der Organisationshierarchie als auch bei den Gehältern, die keine übermäßigen Ungleichgewichte zwischen den Geschlechtern aufweisen (8).

    2.12.

    Eine größere Lohngleichheit kompensiert nicht die Tatsache, dass in zahlreichen Fällen das Lohnniveau der Arbeitnehmer in sozialwirtschaftlichen Organisationen und Unternehmen noch immer in den unteren Bereichen der Einkommensverteilung liegt. Dies liegt zum Teil an einer allgemein mangelnden Wertschätzung der Pflegetätigkeit, die in zu vielen Fällen auch in konventionellen Unternehmensformen keine ausreichende wirtschaftliche Anerkennung findet. In diesem Zusammenhang müssen unbedingt die Gewerkschaftsrechte der Arbeitnehmer im Sozial- und Pflegebereich gestärkt werden.

    2.13.

    Wichtig ist auch ihre Aufgabe bei der Förderung und Umsetzung sozialer Innovationen. Das belegt, dass diese Organisationen gesellschaftliche Veränderungen deuten und begleiten können, indem Humanressourcen in Form einer aktiven und solidarischen Beteiligung mobilisiert werden (mit über 82,8 Mio. Freiwilligen).

    2.14.

    Die zahlreichen in wichtigen Sektoren tätigen Personen und die Herausforderungen im Bereich der sozialen und technologischen Innovation, mit denen sozialwirtschaftliche Organisationen und Unternehmen konfrontiert sind, müssen durch geeignete Maßnahmen der beruflichen Weiterbildung und Qualifizierung zur Steigerung beruflicher und organisatorischer Kompetenzen unterstützt werden.

    2.15.

    Der EWSA hält es daher für sehr angebracht, dass die Europäischen Kommission einen Aktionsplan für die Sozialwirtschaft und konkrete Maßnahmen zur Umsetzung der europäischen Säule sozialer Rechte im Zuge eines eigenen spezifischen Aktionsplans, zu dem er sich in der Stellungnahme SOC/614 (9) geäußert hat, angekündigt hat.

    3.   Vorschläge für eine europäische Politik zur Unterstützung und Förderung der Sozialwirtschaft

    3.1.

    Um dem Beitrag sozialwirtschaftlicher Organisationen und Unternehmen weitere Impulse zu verleihen und ein „sozialeres, widerstandsfähigeres und inklusiveres Europa“ zu schaffen, müssen legislative Maßnahmen und europäische wirtschaftspolitische Programme eingeführt werden. Diese sollten auch das Wachstum sozialwirtschaftlicher Organisationen und Unternehmen — angesichts ihres möglichen Beitrags zu einem nachhaltigen, ökologischen und solidarischen Entwicklungsmodell — fördern und begünstigen.

    3.2.

    Dazu sind unserer Auffassung nach Interventionen auf vier Ebenen denkbar:

    ein Steuersystem, in dem die von sozialwirtschaftlichen Unternehmen wahrgenommene Aufgabe von allgemeinem Interesse anerkannt wird, unter besonderer Berücksichtigung derjenigen, die in Sektoren von vorrangigem öffentlichem Interesse, wie Sozial-, Gesundheits-, Bildungs- und soziale Inklusionsdienstleistungen, tätig sind;

    Maßnahmen zur Förderung öffentlicher und privater Investitionen, die die Entwicklung einer sozialwirksamen Finanzierung begünstigen — mit einer weiteren Verbesserung der Zugänglichkeit des Marktes für öffentliche Aufträge und Konzessionen;

    Maßnahmen zur Unterstützung der stabilen Beschäftigung und der wirtschaftlichen Beteiligung von Arbeitnehmern in sozialwirtschaftlichen Unternehmen, insbesondere bezüglich der demokratischen Governance;

    Maßnahmen zur Förderung neuer Kompetenzen sowie der Verbreitung von Innovation und neuen Technologien in der Zivilgesellschaft.

    3.3.

    Der EWSA erkennt zwar die grundlegende Rolle an, die sozialwirtschaftliche Organisationen und Unternehmen bei der Erbringung persönlicher und sozialer Dienstleistungen spielen, ist jedoch der Auffassung, dass die Staaten und öffentlichen Verwaltungen für die Gewährleistung wesentlicher Dienstleistungen für die Bürgerinnen und Bürger weiterhin entscheidende Zuständigkeiten haben.

    3.4.

    Maßnahmen zur Förderung der Beschäftigung in Sozialunternehmen, deren Aufgabe die Integration behinderter oder stark benachteiligter Arbeitnehmer in den Arbeitsmarkt ist, sollten weiter verstärkt werden. Diese Maßnahmen sollten dazu dienen, die Belastung der Arbeitskosten durch Steuer- und Sozialversicherungsbeiträge zu verringern, indem die öffentliche Hand die notwendigen Beiträge übernimmt, um den Versicherungs- und Vorsorgeschutz dieser benachteiligten Arbeitnehmer zu gewährleisten. Solche Anreize sollten nicht als staatliche Beihilfen für sozialwirtschaftliche Unternehmen verstanden werden. Sie dienen vielmehr dazu, die vollständige Eingliederung von stark benachteiligten Menschen in den Arbeitsmarkt zu unterstützen. In jedem Fall sollten nur Organisationen, die die Tarifverträge und die grundlegenden Arbeitnehmerrechte achten, Anreize erhalten.

    3.5.

    In vielen Fällen sind sozialwirtschaftliche Unternehmen die wichtigsten Erbringer wesentlicher Dienstleistungen für die Bevölkerung, wie z. B. in den Bereichen Bildung, Soziales und Gesundheit, Pflege oder Ausbildung und berufliche Eingliederung für benachteiligte Menschen. Zudem steuern sie Tätigkeiten, die — auch bei kommerzieller oder geschäftlicher Natur — immer einen großen Wert für die betreffende Gemeinschaft und Örtlichkeit haben und deren Gewinne für satzungsgemäße Ziele verwendet werden. Es handelt sich um Dienstleistungen, die unter direkter Beteiligung der Empfänger selbst durchgeführt werden und die territorial verwurzelt sind, was Teil der Aufgabe ist, die sie erfüllen. Diese Eigenschaften können daher nicht bedingungslos mit den Regeln des Wettbewerbs auf dem Markt in Einklang gebracht werden. Daher sollten einige der derzeitigen Vorschriften über „staatliche Beihilfen“ gelockert werden, die die Einführung von Besteuerungsregelungen verhindern, die dem sozialen und öffentlichen Nutzen dieser Organisationen Rechnung tragen.

    3.6.

    Aus demselben Grund hält es der EWSA, wie bereits in der Stellungnahme INT/906 (10) betont, für notwendig, den derzeitigen Schwellenwert der DAWI-De-minimis Verordnung von 500 000 EUR in drei Steuerjahren auf mindestens 800 000 EUR pro Steuerjahr zu erhöhen.

    Es bedarf auch Regeln für den Zugang zu öffentlichen Mitteln. Diese müssen auf der Grundlage einheitlicher Kriterien harmonisiert werden, transparent sein und auf der umfassenden Wahrung der geltenden Arbeitsvorschriften und der Anwendung von Branchentarifverträgen beruhen.

    3.7.

    Für die Steigerung sozialwirksamer Investitionen in sozialwirtschaftliche Organisationen müssen entsprechende Instrumente ermittelt werden. Zu diesem Zweck wurden einige interessante Versuche mit spezifischen Anleihen oder Beteiligungspapieren (Eigenkapital oder Quasi-Eigenkapital) in sozialwirtschaftlichen Unternehmen unternommen, die soziale Ziele von allgemeinem Interesse verfolgen.

    3.8.

    Steuervergünstigungen für Investoren im Rahmen dieser Finanzinstrumente könnten relevante Wachstumsimpulse setzen. Denn Daten aus der Vergangenheit bestätigen, dass sozialwirtschaftliche Organisationen auch bei zum damaligen Zeitpunkt begrenzten Investitionen viele Arbeitsplätze und viele soziale Vorteile für die Nutzer der von ihnen angebotenen Dienstleistungen generieren konnten.

    3.9.

    Es müssen jedoch geeignete Parameter vorgesehen werden, die die Messung und den Vergleich der erzielten Ergebnisse ermöglichen, wie z. B. ein stabiles Beschäftigungswachstum, die Anwendung hoher Arbeitssicherheitsstandards und die Überprüfung, ob die der Initiative zugrunde liegenden sozialen Zielsetzungen tatsächlich erreicht wurden. Aus diesem Grund ist es angebracht, dass die Mitgliedstaaten Rahmengesetze zur Sozialwirtschaft verabschieden und aktiv politische Maßnahmen auf den Weg bringen, die das Wachstum und die Entwicklung von sozialwirtschaftlichen Unternehmen fördern.

    3.10.

    Bereits 2011 erkannte die Europäische Kommission die Notwendigkeit, den Kenntnisstand und die öffentliche Erhebung von Daten und Statistiken über sozialwirtschaftliche Unternehmen zu verbessern. Es bleibt jedoch noch viel zu tun, um koordinierte Standards festzulegen. Diese wären zudem besonders nützlich, um „Social Washing“ oder die Erschleichung von Anreizen zu vermeiden.

    3.11.

    Aus diesem Grund könnten in den Ländern, die sie noch nicht umgesetzt haben, nationale Behörden benannt werden, die für die Überwachung und Überprüfung der Einhaltung von Anforderungen und Standards sowie der Übereinstimmung mit sozialen Zielsetzungen zuständig sind.

    3.12.

    Eine der wichtigsten spezifischen Fördermaßnahmen betrifft die Teilnahme am Markt für öffentliche Aufträge und Konzessionen. Dazu wurden in der Richtlinie 2014/24/EU bereits bedeutende Instrumente vorgeschlagen (11), die jedoch nicht in allen Mitgliedstaaten angemessen umgesetzt wurden. Um eine sozial verantwortliche Vergabe öffentlicher Aufträge zu fördern, sollte die Europäische Kommission mit gutem Beispiel vorangehen und ihre eigenen Ausschreibungsverfahren im Hinblick auf sozialpolitische Ziele bestmöglich nutzen.

    3.13.

    Unter den Fördermaßnahmen sind auch die interessant, die auf die Umstellung von Produktions- und Dienstleistungstätigkeiten abzielen, bzw. auf die Übertragung dieser Tätigkeiten von in einer Krise befindlichen Unternehmen oder von am Ende ihrer Karriere stehenden Unternehmern auf Arbeitnehmer, die in Genossenschaften oder in partizipativen Unternehmen organisiert sind.

    3.14.

    Viele dieser Erfahrungen, die als Worker Buyout (WBO) (12) bezeichnet werden, wurden bereits erfolgreich für die Erholung von in Schwierigkeiten geratenen Unternehmen durchgeführt. Immer häufiger bietet sich ein Sozialunternehmen mit Arbeitnehmerbeteiligung für die Übertragung eines Kleinunternehmens an. Dies geschieht insbesondere bei jungen Menschen, die nicht über ausreichendes Kapital verfügen, um eine unternehmerische Tätigkeit aufzunehmen, und die durch Isolation und die Sorge, die Marktschwierigkeiten alleine bewältigen zu müssen, oft davon abgehalten werden.

    3.15.

    Um das Potenzial solcher Initiativen zu erhöhen, sind Investitionen und Unterstützungsmaßnahmen für die Aufnahme unternehmerischer Aktivitäten mittels einer Kapitalbeteiligung der Arbeitnehmer von in Schwierigkeiten geratenen Unternehmen erforderlich, die sich für eine Wiederaufnahme der Geschäftstätigkeit in Form einer Genossenschaft entscheiden. In einigen Ländern konnten mit solchen Initiativen mehrere Unternehmen saniert und Tausende Arbeitsplätze gerettet werden.

    3.16.

    Die Gewerkschaften spielen bei diesen industriellen Umwandlungsprozessen eine entscheidende Rolle. Formen der Selbstständigkeit wie WBO sind ein integraler Bestandteil der aktiven Arbeitsmarktpolitik. Die in Italien zwischen den drei Genossenschaftsverbänden und den drei repräsentativsten Gewerkschaften unterzeichnete Vereinbarung über eine systematische Zusammenarbeit bei WBO ist im Hinblick auf die Zusammenarbeit zwischen Genossenschaften und Gewerkschaften von großem Interesse (13).

    3.17.

    Der EWSA hofft, dass mit dem Aktionsplan für die Sozialwirtschaft ähnliche Initiativen in allen Mitgliedstaaten gefördert werden. Dafür könnte eine besondere Struktur im Rahmen des Europäischen Investitionsfonds oder des Europäischen Fonds für die Anpassung an die Globalisierung geschaffen werden mit dem Ziel, praktische Instrumente zur Förderung der Wiederaufnahme der durch die Pandemiekrise unterbrochenen Wirtschaftstätigkeiten zu haben.

    4.   Neue Formen der Sozialwirtschaft

    4.1.

    Die sozialwirtschaftlichen Unternehmen sind dabei, auch im Bereich der grünen Wirtschaft und zur Förderung der nachhaltigen Entwicklung neue Arbeitsplätze und Initiativen der sozialen Innovation zu konzipieren. Immer mehr sozialwirtschaftliche Organisationen verfügen über Erfahrungen mit der Kreislaufwirtschaft und schaffen neue Arbeitsplätze im Bereich der Wiederverwendung und der sozialen Landwirtschaft. Bislang ist es aufgrund des Rechtsrahmens und der Politik in vielen Mitgliedstaaten nicht möglich, Maßnahmen für die Entwicklung von Genossenschaften zur Arbeitsmarktintegration umzusetzen. Daher sind Maßnahmen auf EU-Ebene wünschenswert, um diesbezüglich Fortschritte zu erzielen.

    4.2.

    Besonders interessant ist die Rolle, die Arbeitsgenossenschaften (14) dabei spielen können, die neuen Formen des Unternehmertums, die durch digitale Plattformen entstehen, inklusiver und damit die Teilhabe von Arbeitnehmern und Nutzern nachhaltiger und umfassender zu gestalten. Sie können neue Formen der Gegenseitigkeit und Solidarität durch digitale Technologien entwickeln, die eine breite Beteiligung begünstigen. Es wird davon ausgegangen, dass der Schutz von Plattformarbeitern und Personen in atypischen Beschäftigungsverhältnissen notwendigerweise die Unterzeichnung von entsprechenden Tarifverträgen mit den Gewerkschaften erfordert.

    4.3.

    Sozialwirtschaftliche Unternehmen bieten Chancen für die Beschäftigung und die lokale Entwicklung, indem sie die Beteiligung der Bürger bei der Erbringung von Dienstleistungen, wie der Versorgung mit erneuerbaren Energien oder für die Organisation von Dienstleistungen in dezentralen und ländlichen Gebieten organisieren. Ein Beispiel hierfür bieten die französischen Regionalen Cluster für wirtschaftliche Zusammenarbeit (PTCE), bei denen sich Verbände, Genossenschaften, lokale Behörden, traditionelle Unternehmen und Hochschulen im Rahmen von Projekten in den Bereichen soziale Landwirtschaft, nachhaltiger Tourismus und Entwicklung von Umwelt- oder Kulturgütern austauschen.

    4.4.

    In der Sozialwirtschaft ist die Funktion der Freiwilligentätigkeiten von grundlegender Bedeutung. Sie ist maßgeblich für die jungen Generationen, aber auch für ältere Menschen, für die diese Tätigkeiten in einigen Fällen eine wichtige Gelegenheit darstellen, um eine aktive soziale und zivilgesellschaftliche Rolle zu behalten, die zur Verbesserung ihrer Lebensqualität beiträgt. Daher müssen die Synergien zwischen Ausbildungssystemen und Freiwilligentätigkeiten verstärkt werden, um die berufliche Eingliederung im sozialen Sektor zu fördern. Eine bessere Abstimmung zwischen den Zeiten für Freiwilligentätigkeiten und für Praktika könnte die Ausbildung von jungen und qualifizierten Arbeitnehmern erleichtern.

    4.5.

    Die positiven Erfahrungen mit dem „Europäischen Solidaritätskorps“ könnten als Grundlage dienen und durch die Einrichtung einer Art „Erasmus für Sozialunternehmer“ zur Förderung der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit in der Sozialwirtschaft erweitert werden.

    4.6.

    Dies scheint auch sehr nützlich zu sein, um das komplexe Phänomen der NEET in den Griff zu bekommen. Es sollten Anreizmaßnahmen ergriffen werden, um den Übergang von Freiwilligentätigkeiten zu stabiler Beschäftigung zu fördern.

    Brüssel, den 27. April 2021

    Die Präsidentin des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

    Christa SCHWENG


    (1)  https://oeil.secure.europarl.europa.eu/oeil/popups/ficheprocedure.do?reference=2016/2237(INL)&l=en

    https://betterentrepreneurship.eu

    https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/de/MEMO_11_735

    https://cecop.coop/works/cecop-report-on-social-enterprises-laws-in-europe-a-worker-and-social-coops-perspective

    (2)  https://www.eesc.europa.eu/de/our-work/opinions-information-reports/opinions/towards-appropriate-european-legal-framework

    (3)  Initiative für soziales Unternehmertum: https://ec.europa.eu/growth/sectors/social-economy/enterprises_de

    Schlussfolgerungen des Rates zur Förderung der Sozialwirtschaft 2015: https://data.consilium.europa.eu/doc/document/ST-15071-2015-INIT/de/pdf

    Charta der Sozialwirtschaft 2002: https://www.socialeconomy.eu.org/wp-content/uploads/2020/04/2019-updated-Social-Economy-Charter.pdf

    (4)  Eine Kapitalmarktunion für die Menschen und Unternehmen (neuer Aktionsplan), COM(2020) 590 final.

    (5)  Die Daten entstammen folgender Veröffentlichung der Europäischen Kommission: https://ec.europa.eu/social/BlobServlet?docId=22304&langId=en

    (6)  Die Daten entstammen folgender Studie des EWSA https://www.eesc.europa.eu/sites/default/files/files/qe-04-17-875-de-n.pdf entnommen.

    (7)  The resilience of the cooperative model, CECOP, 2012 https://www.cecop.coop/works/the-resilience-of-the-cooperative-model.

    (8)  Las mujeres en las cooperativas de trabajo, COCETA, 2019 https://www.coceta.coop/publicaciones/estudio-mujer-cooperativismo-coceta-2019.pdf.

    (9)  ABl. C 14 vom 15.1.2020, S. 1.

    (10)  ABl. C 429 vom 11.12.2020, S. 131.

    (11)  https://ec.europa.eu/info/policies/public-procurement/support-tools-public-buyers/social-procurement_de.

    (12)  Business transfers to employees under the form of a cooperative in Europe: opportunities and challenges, CECOP, 2013(ABl. C 191 vom 29.6.2012, S. 24).

    (13)  Italy, historic agreement between unions and coops on worker buyouts, CECOP, 2021: https://cecop.coop/works/italy-historic-agreement-between-unions-and-coops-to-promote-worker-buyouts.

    (14)  All for one — Worker-owned cooperatives’ response to non-standard employment, CECOP 2019: https://cecop.coop/works/cecop-report-all-for-one-reponse-of-worker-owned-cooperatives-to-non-standard-employment.


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