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Document 52020AE1921

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zur „Rolle der EU-Struktur- und Kohäsionspolitik beim intelligenten und innovativen wirtschaftlichen Wandel“ (Sondierungsstellungnahme)

EESC 2020/01921

ABl. C 429 vom 11.12.2020, p. 153–158 (BG, ES, CS, DA, DE, ET, EL, EN, FR, HR, IT, LV, LT, HU, MT, NL, PL, PT, RO, SK, SL, FI, SV)

11.12.2020   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 429/153


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zur „Rolle der EU-Struktur- und Kohäsionspolitik beim intelligenten und innovativen wirtschaftlichen Wandel“

(Sondierungsstellungnahme)

(2020/C 429/21)

Berichterstatter:

Gonçalo LOBO XAVIER

Befassung

18. Februar 2020 — Schreiben von Peter ALTMAIER, deutscher Bundesminister für Wirtschaft und Energie

Rechtsgrundlage

Artikel 304 AEUV

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Wirtschafts- und Währungsunion, wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt

Annahme in der Fachgruppe

20.7.2020

Verabschiedung im Plenum

18.9.2020

Plenartagung Nr.

554

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

217/0/3

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) fordert die Europäische Kommission auf, die Kohäsionspolitik als grundlegendes Instrument zur Bewältigung der enormen Herausforderungen infolge der Coronavirus-Pandemie anzuerkennen. Es besteht dringender Handlungsbedarf, und die finanziellen Mittel zur Unterstützung der Mitgliedstaaten müssen unter Einhaltung der einschlägigen Kriterien, aber auch mit Mut eingesetzt werden. Europa braucht mehr denn je einen differenzierten Ansatz für diese eine Herausforderung.

1.2.

Um die Auswirkungen der Coronavirus-Krise zu bewältigen, sind entschlossene und konkrete Maßnahmen zur Wiederankurbelung der europäischen Wirtschaft erforderlich. Die Folgen für die öffentliche Gesundheit sowie für das wirtschaftliche, gesellschaftliche und politische Leben sind schwer zu beziffern und unterscheiden sich zudem von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat. Der EWSA teilt die Auffassung, dass die Prioritäten des deutschen Ratsvorsitzes schwerpunktmäßig auf diese neuen Umstände abstellen müssen, und fordert Maßnahmen zum Schutz der Beschäftigung und der sozialen Rechte in der gesamten Union.

1.3.

Der EWSA ist der Auffassung, dass das Konjunkturprogramm für Europa in jedem Fall den Auswirkungen dieser Krise Rechnung tragen muss, insbesondere der Tatsache, dass Europa in Bezug auf bestimmte Produkte und Dienstleistungen von anderen Wirtschaftsräumen abhängig ist. Es liegt auf der Hand, dass Europa seine Handelspolitik auf den Prüfstand stellen, Innovationen fördern und seine Strategie für intelligente Spezialisierung, die sich auf die Regionen und einen branchenspezifischen industriepolitischen Ansatzes stützt, positiv nutzen muss. Die Kohäsionspolitik war in der Vergangenheit von grundlegender Bedeutung, um geeignete Voraussetzungen für die Entwicklung von Lösungen in Industrie, FuE und Infrastruktur zu schaffen. Der EWSA ist der Auffassung, dass die aktuelle Situation eine noch entschlossenere Politik erfordert, um die Industrie bei der Rückverlagerung von Standorten nach Europa zu unterstützen. Die Reindustrialisierung ist notwendig, und jetzt ist der richtige Zeitpunkt dafür.

1.4.

Nach Ansicht des EWSA muss die Digitalisierung der Dienstleistungen auch künftig eine Priorität für alle Mitgliedstaaten sein. Diese Krise hat gezeigt, dass einfachere und umfassendere Dienstleistungen erforderlich sind, um alle Bürger in Europa zu unterstützen, insbesondere diejenigen, die zusätzliche Unterstützung benötigen. Für den EWSA ist klar, dass es in den Mitgliedstaaten unterschiedliche Sichtweisen und Probleme in Bezug auf die Digitalisierung gibt. Die bestehende Infrastruktur ist unzureichend, weshalb zusätzliche Investitionen in diesen Bereichen Vorrang haben müssen. Die Mitgliedstaaten sollten darin bestärkt werden, in eine bessere Infrastruktur zu investieren, um günstige Bedingungen für neue Unternehmen und neue Dienstleistungen zu schaffen. Dazu sind kreative und einfach zu handhabende Finanzinstrumente nötig.

1.5.

Der EWSA teilt die Auffassung, dass nach wie vor Investitionen in flächendeckende Breitbandsysteme erforderlich sind, um in ländlichen Gebieten moderne Verfahren in Landwirtschaft und Tourismus zu ermöglichen. Die kohäsionspolitischen Instrumente berücksichtigen diese Tatsache bisher nicht, zumindest wurden die Mitgliedstaaten eher abgehalten, die bestehenden Möglichkeiten im Rahmen der Finanzierungsprogramme zu nutzen. Um die Entwicklung einer „neuen Form der Landwirtschaft“, neuer Tourismusaktivitäten und neuer „Industrien“ zu ermöglichen, sollten die Regierungen der Mitgliedstaaten ermutigt werden, in Breitbandinfrastrukturen zu investieren.

1.6.

Der EWSA ist der festen Überzeugung, dass E-Business infolge der Auswirkungen der COVID-19-Pandemie auf Gesellschaft und Wirtschaft von grundlegender Bedeutung für die „neue Normalität“ ist. Es wird notwendig sein, unterschiedliche Optionen sowohl für Unternehmen als auch für Verbraucher vorzusehen. Auch KMU können von diesem neuen Ansatz profitieren, weshalb Strukturfondsmittel bereitgestellt werden müssen, damit Unternehmen neue Märkte und neue Chancen erschließen können. Der EWSA fordert die Europäische Kommission nachdrücklich auf, diese Herausforderungen flexibel anzugehen und Unternehmen so die Möglichkeit zu bieten, sich mit Partnerschaften und intelligenten Investitionen im Internet zu präsentieren. So können sie sich nicht nur im Binnenmarkt, sondern auch weltweit dem Wettbewerb stellen. Damit Unternehmen und Verbraucher besser interagieren können, sind nachhaltigere vernetzte Lieferketten unbedingt erforderlich.

1.7.

Der EWSA ist der Auffassung, dass KMU und ihre Tragfähigkeit dringend geschützt werden müssen. Daher müssen die gängigen europäischen Instrumente wie der Europäische Sozialfonds sehr kreativ und dabei unkompliziert eingesetzt werden. Welche Auswirkungen die Krise auf die Beschäftigungsquoten hat, liegt auf der Hand. Ohne eine angemessene Strategie für Aus- und Weiterbildung und Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt wird der Wiederaufbau für Europa kaum gelingen. Auch aus diesem Grund muss bei den Entscheidungen über den Einsatz von Finanzinstrumenten berücksichtigt werden, dass KMU nach wie vor mit erheblichem bürokratischen Aufwand konfrontiert sind, wenn sie diese Regelungen in Anspruch nehmen wollen. Der EWSA fordert Maßnahmen, um die Belastung in diesem Bereich zu verringern, damit die KMU hier vorankommen können.

1.7.1.

Es ist unerlässlich, langfristige Kredite zu günstigen Konditionen für KMU zu gewährleisten, um sie in dieser schwierigen Zeit zu unterstützen, und wir sollten den Kohäsionsfonds nutzen, um ein wirksames Finanzinstrument zu schaffen, mit dessen Hilfe rasch reagiert werden kann.

1.7.2

In diesem Sinne müssen auch günstige Bedingungen für öffentliche Investitionen in Programme für das lebenslange Lernen und entsprechende Mechanismen gefördert und geschaffen werden, damit die Menschen ihre Kompetenzen jetzt an die Erfordernisse des Marktes anpassen können und die Voraussetzungen dafür geschaffen werden, künftigen Generationen neue Kompetenzen zu vermitteln.

1.8.

Der EWSA teilt ferner die Auffassung, dass der Grüne Deal unterstützt werden muss, und fordert die Europäische Kommission auf, die Mitgliedstaaten besser zu informieren, wie die 40 Milliarden Euro aus dem Fonds für einen gerechten Übergang zur Dekarbonisierung der Wirtschaft eingesetzt werden können. Dies ist ein Beispiel für eine gute Idee und ein gutes Konzept, für die in den Mitgliedstaaten geworben werden sollte, bei denen allerdings noch immer nicht ganz klar ist, wie dies in die Praxis umgesetzt werden soll.

1.9.

Der EWSA begrüßt das Programm REACT, in dessen Rahmen 55 Milliarden Euro zur Unterstützung der Kohäsionspolitik investiert werden sollen, fordert die Europäische Kommission jedoch auf, die Mitgliedstaaten rasch zu informieren und die Bedingungen und Verteilungskriterien zu präzisieren, zumal die Mittel bis Ende 2022 zugewiesen werden müssen. Bei der Verteilung der REACT-EU-Mittel auf die Mitgliedstaaten werden ihr relativer Wohlstand und das Ausmaß der Auswirkungen der derzeitigen Krise auf ihre Volkswirtschaft und ihre Gesellschaft, einschließlich der Jugendarbeitslosigkeit, berücksichtigt. Um Ergebnisse zu erzielen, sind allerdings genauere Informationen erforderlich. Jetzt muss erst einmal die Umsetzung sichergestellt werden, bevor über konkrete Beträge gesprochen werden kann. Europa braucht ein flexibles, schnelles und unkompliziertes Programm mit einfacheren Verfahren, das den Zugang zu Finanzmitteln erleichtert, unabhängig von Größe, Herkunft oder Branche eines Unternehmens, um insbesondere Beschäftigung und Wertschöpfung zu gewährleisten.

1.10.

Der EWSA schlägt vor, bei der Festlegung der regionalpolitischen Strategie die Konsultation und umfassende Einbeziehung der Organisationen der Zivilgesellschaft sicherzustellen, um von den vorhandenen und praxisrelevanten Kenntnissen der Interessenträger zu profitieren und so die Umsetzung der Strategie zu fördern. Jetzt gilt es, die Sozialpartner in die Festlegung und Umsetzung der Politik einzubeziehen, um einen partnerschaftlichen Ansatz zu gewährleisten, der tatsächlich etwas bewirkt.

2.   Allgemeine Bemerkungen

2.1.

Der deutsche EU-Ratsvorsitz steht unter ganz besonderen Vorzeichen und stellt eine große Herausforderung für das europäische Projekt dar. Die Coronavirus-Situation, die sich auf die Entwicklung von Menschen, Unternehmen und Branchen auswirken und die Resilienz Europas nach der Pandemie auf die Probe stellen wird, könnte dazu führen, dass der Vorsitz viele seiner Ziele überarbeiten muss.

2.2.

Obwohl sich Prioritäten immer ändern lassen, können trotz der Situation einige zentrale Ideen beibehalten werden. Digitalisierung, Haushaltsrisiken und eine intelligente und wachstumsorientierte Wirtschaft sind Herausforderungen, die bereits im Blickpunkt standen.

2.3.

Neben der Digitalisierung werden auch die Themen Datenpolitik, künstliche Intelligenz und digitaler Binnenmarkt im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen. Die Offenheit des Binnenmarktes muss weiterhin gewährleistet sein. Dies ist ein Ziel, das im Kontext der Debatte über den EU-Aufbauplan zu sehen ist. Der digitale Binnenmarkt wird weiterentwickelt, um die Wettbewerbsfähigkeit Europas zu erhöhen. Die EU setzt sich für Interoperabilität, Normung und Open-Source-Technologie ein.

2.4.

Die derzeitige Lage birgt auch die Gefahr, dass die wirtschaftlichen und sozialen Unterschiede, einschließlich der regionalen und territorialen Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten und innerhalb der Mitgliedstaaten, zunehmen. Nachfrageverlagerungen und die Fähigkeit der Unternehmen, sich wieder zu erholen, werden die Regionen und Gebiete in den Mitgliedstaaten aufgrund ihrer unterschiedlichen sektoralen Spezialisierung asymmetrisch betreffen. Dienstleistungen, die einen unmittelbaren Kontakt zum Verbraucher erfordern, dürften allerdings erheblich beeinträchtigt werden, vor allem mit Umsatz- und Beschäftigungsrückgängen bei KMU.

2.5.   Reindustrialisierung in ländlichen Gebieten

2.5.1.

Mitgliedstaaten, die über einen erheblichen haushaltspolitischen Spielraum verfügen, können es sich leisten, Unternehmen und private Haushalte großzügiger und länger zu unterstützen. Vor dem Hintergrund der größeren Dringlichkeit, eine hochwertige Gesundheitsversorgung und eine dauerhafte Sozialfürsorge für die Betroffenen zu gewährleisten, werden sie auch besser in der Lage sein, höhere öffentliche Defizite und Schuldenstände auszugleichen. Ganz allgemein unterscheiden sich die Mitgliedstaaten in ihren Möglichkeiten, die Investitionen zu finanzieren, die für den Neustart ihrer Wirtschaft und die Finanzierung des ökologischen und digitalen Wandels erforderlich sind. Diese Unterschiede könnten zu einer Verzerrung der Wettbewerbsbedingungen im Binnenmarkt und größeren Differenzen im Lebensstandard führen.

2.6.

Jean-Claude Juncker sagte: „Es fehlt an Europa in dieser Union. Und es fehlt an Union in dieser Union.“ Die derzeitige Krise hat erneut deutlich gemacht, dass in schwierigen Zeiten jeder auf sich allein gestellt ist. Die von einigen Mitgliedstaaten vorübergehend verhängten Ausfuhrverbote für bestimmte geschützte Waren und die derzeit bestehenden Grenzschließungen sind sehr nationale Antworten auf eine globale Krise. Dies sollte Anlass zur Sorge geben. Die Kohäsionspolitik könnte diese Auswirkungen korrigieren.

3.   Kohäsionspolitik als Stärke Europas zur Förderung des Binnenmarkts

3.1.

Der Binnenmarkt ist das Kernelement des europäischen Projekts. Ein gut funktionierender Binnenmarkt soll den Bürgerinnen und Bürgern der EU eine größere Auswahl an Dienstleistungen und Produkten und bessere Beschäftigungsmöglichkeiten bieten. Der Binnenmarkt soll Handel und Wettbewerb fördern und ist von entscheidender Bedeutung für das Gelingen des ökologischen und digitalen Wandels in der EU. Eine angemessene und ausgewogene Kohäsionspolitik ist für die Vollendung des Binnenmarktes von grundlegender Bedeutung.

3.2.

Trotz der zahlreichen Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten ist die Kohäsionspolitik nach wie vor ein entscheidendes Instrument, um ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Entwicklung, Schaffung von Chancen und Anhebung der Standards herzustellen. Es darf nicht vergessen werden, dass die Kohäsionspolitik auf der europäischen Solidarität beruht und Auswirkungen auf alle Mitgliedstaaten hat, auf die Empfänger von Mitteln wie auf die Nettozahler.

3.3.

Zudem muss auf ein Problem, das sich in den einzelnen Mitgliedstaaten unterschiedlich auswirkt, mit gezielten Maßnahmen reagiert werden. Europa braucht mehr denn je einen differenzierten Ansatz für diese eine Herausforderung. Die Mitgliedstaaten benötigen deshalb ein unterschiedliches Maß an Unterstützung, und dies ist der größte Vorteil einer wirksamen Kohäsionspolitik: intelligente und wirksame Antworten auf unterschiedliche Auswirkungen wie etwa die Folgen der COVID-19-Krise.

3.4.

Nach Auffassung des EWSA ist eine gut koordinierte europäische Industriepolitik erforderlich, die sowohl auf die gegenwärtigen Probleme in der COVID-19-Krise als auch auf die danach anstehenden Herausforderungen eingeht und im Zeichen von Digitalisierung und Nachhaltigkeit steht.

3.4.1.

Schlüsselindustrien und -branchen müssen ermittelt und unterstützt werden, von den Humanressourcen bis hin zur Forschung. Dies erfordert eine europäische Industriepolitik, die diese strategischen Sektoren vor dem Markt schützt und in einer Pandemie die Versorgungssicherheit bei wichtigen Gütern wie Beatmungsgeräten, Masken und anderen Produkten gewährleistet.

3.4.2.

Europa muss Aktivitäten finanzieren, die zwei Kriterien erfüllen: Rückverlagerung strategischer Produktion, um Europa unabhängig zu machen, insbesondere im Bereich des Gesundheitsschutzes und der gesundheitlichen Notversorgung, was auch hochwertige Arbeitsplätze schafft, und Fokussetzung auf nachhaltige Investitionen, die sozial verantwortlich und umweltfreundlich sind. KMU können ebenso wie Großunternehmen und sozialwirtschaftliche Unternehmen eine entscheidende Rolle bei der Umstrukturierung des europäischen Produktionssystems spielen.

3.5.

In Bezug auf Resilienz und Wiederaufbau sollten KMU und Organisationen der Zivilgesellschaft im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehen. Die Kohäsionsprogramme sollten neu strukturiert und wesentlich einfacher und wirksamer gestaltet werden, damit mittlere und kleine Begünstigte wirklich davon profitieren können.

3.6.

Tourismus und Kultur sind zwei Schlüsselbranchen, die schwer unter der Pandemie leiden. Die europäischen Fonds sollten sich darauf konzentrieren, Instrumente zur Unterstützung von Unternehmen, die in den Bereichen Tourismus und Kultur tätig sind, durch Innovation, Digitalisierung und branchenübergreifende Zusammenarbeit zu entwickeln.

4.   Kohäsionspolitik und Situation nach der COVID-19-Pandemie

4.1.

Die außergewöhnlichen Umstände der COVID-19-Krise stellen einen Härtetest für die Kohäsionspolitik dar. Mehr denn je müssen die Werte des territorialen Zusammenhalts wie Digitalisierung, Bekämpfung des Klimawandels und soziale Inklusion ihren Niederschlag in den Konjunkturprogrammen der Mitgliedstaaten finden. Ein systematischer und ehrgeiziger Aufbauplan für Europa und alle EU-Mitgliedstaaten hängt entscheidend von der Kohäsionspolitik ab, unabhängig von der Größe oder anderen Merkmalen eines Landes.

4.2.

Einer der wichtigsten Aspekte der Strategie für den Wiederaufbau ist der Finanzrahmen für die Kohäsionspolitik. Mehr denn je hat die Pandemie Ungleichheiten zwischen Bürgern und zwischen Mitgliedstaaten offengelegt und sogar verschärft. Alle sind dem Virus gleichermaßen ausgesetzt, aber die Art und Weise, wie Bürger, Gesellschaften und Mitgliedstaaten mit ihm umgehen, ist unterschiedlich. Die schlechte Finanzlage infolge der Krise wird dramatische Auswirkungen auf bestimmte Länder und Teile der Gesellschaft haben, und eine europäische Reaktion muss diesem Umstand Rechnung tragen.

4.3.

Zusammenarbeit ist entscheidend, damit Ergebnisse erzielt werden können. Es ist jetzt nicht die Zeit, Kritik an Maßnahmen der Vergangenheit zu üben. Vielmehr ist jetzt wichtig, sich auf die Gegenwart und die Zukunft zu konzentrieren, mit vereinbarten Hauptzielen, die auch unter diesen kritischen Umständen Bestand haben.

4.4.

Der durch die COVID-19-Krise verursachte Schaden für das europäische Projekt und die Welt wird den Schaden noch verstärken, der durch den Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU entstanden ist. Dies könnte bedeuten, dass die Unterschiede zwischen den EU-Mitgliedstaaten in Bezug auf die wirtschaftliche Entwicklung, die sozialen Garantien und das Wohlstandsniveau nach der Pandemie zunehmen.

4.5.

Es gibt nicht keine Patentlösung für die Krise. Vielmehr ist eine angemessene und ausgewogene Kohäsionspolitik seit jeher die Antwort, um Unterschiede zu überwinden und Solidarität zwischen allen Mitgliedstaaten zu schaffen.

4.6.

Der Wiederaufbau Europas sollte auf dem Solidarprinzip beruhen, dabei müssen jedoch immer noch Fehler der Vergangenheit korrigiert werden. Mitgliedstaaten mit übermäßiger Staatsverschuldung müssen dabei unterstützt werden, rascher einen nachhaltigen Wiederaufbau zu vollziehen, doch muss diese Unterstützung robuste Antworten mit ausgewogenen Maßnahmen auf der Grundlage der länderspezifischen Empfehlungen des Europäischen Semesters verbinden. Es ist an der Zeit, mutig zu handeln und nicht auf nationaler Ebene politisch Profit schlagen zu wollen.

4.7.

Der Grüne Deal ist nach wie vor relevant, und der EWSA ist der Auffassung, dass seine Hauptziele von grundlegender Bedeutung sind, um Europas globale Führungsrolle in vielerlei Hinsicht durchzusetzen.

4.8.

In diesem Zusammenhang begrüßt der EWSA nachdrücklich und uneingeschränkt die Vorschläge der Europäischen Kommission: den „Next Generation EU“-Plan, einschließlich REACT-EU, und den langfristigen EU-Haushalt für 2021-2027. Da die Krisenbewältigungsmaßnahmen der neuen Kohäsionspolitik mit REACT-EU weitergeführt und ausgeweitet werden, empfiehlt der EWSA nachdrücklich, alle möglichen administrativen Hürden und Belastungen sowohl für die nationalen als auch für die europäischen öffentlichen Verwaltungen zu beseitigen‚ damit sich die Anstrengungen vor allem auf die Bewältigung der Probleme im Zusammenhang mit der Epidemie richten können.

4.9.

Der EWSA ist deshalb der festen Überzeugung, dass REACT-EU in den entscheidenden ersten Jahren des Wiederaufbaus Investitionen mobilisieren und finanzielle Unterstützung vorziehen wird, indem zusätzliche Mittel für die Realwirtschaft bereitgestellt werden. Die Erhaltung und Schaffung von Arbeitsplätzen, insbesondere für junge Menschen, und die Investitionsförderung für KMU sind wichtige Bereiche, die durch zusätzliche Mittel von REACT-EU unterstützt werden müssen.

4.10.

Bei den Investitionsprioritäten für die Zeit nach der Pandemie müssen die unverhältnismäßig starken Auswirkungen der Pandemie auf bestimmte Bevölkerungsgruppen berücksichtigt werden, insbesondere auf ältere Menschen, Menschen mit Behinderungen, Migranten und Flüchtlinge sowie die Roma-Gemeinschaft. Es wird von größter Bedeutung sein, diesen Gruppen dabei zu helfen, wieder Stabilität zu erlangen, und dafür zu sorgen, dass sie beim Wiederaufbau nach der dadurch verursachten Krise nicht zurückgelassen werden, wie es nach der letzten Finanzkrise in Europa der Fall war.

5.   Europäisches Semester und länderspezifische Empfehlungen

5.1.

In Bezug auf das Europäische Semester gibt es nach wie vor zahlreiche Probleme, deren Bewältigung mit der derzeitigen Krise noch wichtiger geworden ist. Dazu zählen die mangelnde Eigenverantwortung für die vorgeschlagenen Reformen und die schleppende Umsetzung der länderspezifischen Empfehlungen.

5.2.

Die Einbindung der organisierten Zivilgesellschaft in das Europäische Semester ist deshalb von grundlegender Bedeutung, da Mitverantwortung der Interessenträger für Reformen dazu beiträgt, dass diese besser umgesetzt und positive Ergebnisse erzielt werden.

5.3.

Insofern wird das Europäische Semester bei der Überwachung und Bewertung der Maßnahmen im Rahmen des Aufbauinstruments Next Generation EU immer wichtiger werden. Der EWSA ist deshalb der Auffassung, dass die Wirtschafts- und Sozialpartner und die Organisationen der Zivilgesellschaft als wichtige Akteure in diesem Prozess anerkannt werden sollten.

5.4.

Die Partner der Zivilgesellschaft, die lokalen Akteure und die Verbände müssen zusammen mit dem Europäischen Parlament in alle Ausgabenentscheidungen im Zusammenhang mit den Mitteln für den Wiederaufbau sowie in die Ex-post-Kontrolle einbezogen werden, bei der geprüft wird, ob die Mittel im Interesse der Unionsbürger ausgegeben wurden. Die obligatorische Einbeziehung ist von entscheidender Bedeutung, um sicherzustellen, dass die Mittel in Projekte fließen, die der Erholung und dem Wiederaufbau der europäischen Wirtschaft dienen.

6.   Wirksame kohäsionspolitische Instrumente

6.1.

Die Kohäsionspolitik ist eine moderne, wirksame und flexible EU-Investitionspolitik. Einerseits bietet sie im Rahmen ihrer mehrjährigen Programmplanung eine Antwort auf langfristige Herausforderungen. Andererseits kann sie in Krisensituationen wie der aktuellen, von COVID-19 verursachten Krise äußerst flexibel sein, wo durch rasche Änderungen bei den Regeln den Mitgliedstaaten Unterstützung in Höhe von (zunächst einmal) 8 Milliarden Euro zur Verfügung gestellt werden konnte.

6.1.1.

Die Kohäsionspolitik hat erhebliche Auswirkungen auf die Volkswirtschaften der Mitgliedstaaten. Dank der kohäsionspolitischen Maßnahmen 2014-2020 dürfte das BIP in der EU-13 nach Ablauf dieses Zeitraums um rund 3 % gestiegen sein. Die Auswirkungen auf weniger entwickelte Regionen der EU sind ebenfalls beträchtlich. Zum Beispiel dürfte das BIP in einigen der weniger entwickelten Regionen Ungarns zum Ende des Programmplanungszeitraums um mehr als 8 % höher ausfallen als ohne die Kohäsionspolitik.

6.1.2.

EU-Mittel spielten bereits nach der Wirtschafts- und Finanzkrise eine stabilisierende Rolle dabei, in vielen Politikbereichen höhere öffentliche Investitionen zu gewährleisten, von großen Infrastrukturprojekten über die Finanzierung von KMU bis hin zu Bildungsmaßnahmen für Arbeitnehmer und Arbeitslose.

6.1.3.

Im Zeitraum 2021-2027 werden im Rahmen der Kohäsionspolitik weiterhin alle Regionen in allen Mitgliedstaaten unterstützt und unterschiedlichste Investitionen finanziert, die den Regionen der EU dabei helfen werden, die zweifache Umstellung, nämlich den technologischen Wandel und die Klimawende, wirksam zu bewältigen, unter anderem durch ganz neue Initiativen wie den Fonds für einen gerechten Übergang.

6.2.

Der Vorschlag für die künftige Kohäsionspolitik beruht auf drei zentralen Grundsätzen:

6.2.1.

Eine Politik für alle Regionen: Drei Viertel der kohäsionspolitischen Investitionen konzentrieren sich auf die am wenigsten entwickelten Regionen, doch sind weiterhin Bestimmungen für Regionen im industriellen Wandel sowie für Regionen in äußerster Randlage der EU vorgesehen. Darüber hinaus wurden die grenzübergreifende Zusammenarbeit intensiviert und die Rolle der Städte, Ballungsräume und lokalen Initiativen gestärkt, wobei eine neue Priorität der „Bürgernähe Europas“ gewidmet wurde. Trotz der generellen Kürzung des EU-Haushalts sollten die Mittel auch künftig vor allem an die ärmsten Mitgliedstaaten und Regionen gehen. Im Vorschlag der Kommission ist dieser Schwerpunkt noch ausgeprägter als im aktuellen Zeitraum, und die ärmsten Mitgliedstaaten erhalten nach wie vor erheblich mehr als weiter entwickelte Mitgliedstaaten. Die Unterstützung geht dorthin, wo sie am dringendsten benötigt wird — 62 % der Mittel für das Ziel „Beschäftigung und Wachstum“ sollen an die weniger entwickelten Regionen gehen (im Zeitraum 2014-2020 lag dieser Anteil bei 52 %). Trotz knapper Haushaltsmittel konnten die realen Mittelzuweisungen für die weniger entwickelten Regionen (+ 8 %) und Übergangsregionen (+ 17 %) (gemessen an den Preisen von 2018) aufgestockt werden. Dies ist der Kerngedanke der Kohäsionspolitik: die praktische Anwendung des Grundsatzes der Solidarität.

6.2.2.

Eine modernere Politik: Drei Viertel der Investitionen sind für die Vorbereitung der Regionen auf die zweifache Umstellung, auf eine digitale, moderne Wirtschaft einerseits und eine klimaneutrale Kreislaufwirtschaft andererseits, bestimmt, denn dies sind die wichtigsten Herausforderungen, denen unsere Gesellschaft im kommenden Jahrzehnt gegenüberstehen wird. Dieser notwendige Schwerpunkt wird über verschiedene Maßnahmen vermittelt, die der Verbesserung der Qualität und der Wirkung der Investitionen dienen: etwa der Schaffung günstiger, auf die Investitionen zugeschnittener Bedingungen, mit denen sichergestellt wird, dass das Umfeld für eine erfolgreiche Umsetzung stimmt.

6.2.3.

Eine einfachere und dynamischere Politik: Es wurden 80 verwaltungstechnische Vereinfachungen vorgeschlagen, um die Vorschriften zu sämtlichen Aspekten zu straffen, angefangen bei der Einrichtung der Programme bis hin zu den Rechnungsprüfungs- und Erstattungsverfahren, um mit einem einzigen Regelwerk klare und einfache Vorschriften für sieben EU-Fonds zu gewährleisten, für die die geteilte Mittelverwaltung gilt. Dieses einheitliche Regelwerk wird sowohl denjenigen, die die Programme verwalten, als auch den Begünstigten die Arbeit erleichtern und Synergien zwischen den sieben Fonds sowie mit anderen haushaltspolitischen Instrumenten der EU wie der Gemeinsamen Agrarpolitik, dem Innovationsprogramm Horizont Europa, dem EU-Instrument für Lernmobilität (Erasmus+) und LIFE, dem Programm für Umwelt- und Klimapolitik, begünstigen.

6.3.

Zusammen mit einem weiteren Ausbau der Verwaltungskapazitäten wird dies einen schnelleren und besseren Start der neuen Programme ermöglichen.

6.4.

Die neue Kohäsionspolitik wird also zielgerichteter sein und einen größeren europäischen Mehrwert schaffen, so dass es nicht nur eine Frage der Größe, sondern auch eine der Ergebnisse ist.

6.5.

Gleichzeitig werden die lokalen Gebietskörperschaften größere Anstrengungen unternehmen müssen, um die Eigenverantwortung bei der Umsetzung von EU-finanzierten Projekten zu stärken. Das bedeutet, dass die Höhe der nationalen Kofinanzierung wieder das Vorkrisenniveau erreicht. Die Reduzierung des EU-Kofinanzierungssatzes könnte als potenzieller Auslöser für Spannungen in den öffentlichen Haushalten, zugleich jedoch auch als Chance für bessere Projekte und mehr Eigenverantwortung und Kontrolle gesehen werden. Dies gilt auch für den bereits erwähnten verstärkten thematischen Schwerpunkt, der auf zentrale politische Ziele gelegt wird, die den europäischen Prioritäten und Herausforderungen wie einem intelligenten und grünen Europa entsprechen.

6.6.

Eine wichtige Voraussetzung dafür ist, dass Europa die Defizite im Bereich der Öffentlichkeitsarbeit zum Thema Kohäsionspolitik behebt, unter der Projekte, die im Rahmen dieser Politik finanziert werden, allzu oft leiden. Der EWSA stellt zwar fest, dass die Kommission verschiedene Kommunikationsleitlinien erlassen hat, doch liegt es auf der Hand, dass diese nicht annähernd ausreichen. Oft ist kaum oder gar nicht bekannt, dass bestimmte Projekte durchgeführt wurden und/oder gar dass die EU sie kofinanziert. Dies führt dazu, dass der Kohäsionspolitik nur wenig oder gar keine Wertschätzung entgegengebracht wird.

6.7.

Der EWSA fordert die Kommission auf, die Überarbeitung der derzeitigen Bekanntmachungspflichten fortzusetzen und sie unter Berücksichtigung der Möglichkeiten, die moderne digitale Kommunikationskanäle bieten und die Teil der Digitalen Agenda sind, grundlegend zu modernisieren. Best-Practice-Projekte sollten stärker als praktische Beispiele genutzt werden, um eine umfassendere und effizientere Inanspruchnahme der Mittel zu fördern.

6.8.

Der EWSA fordert die Kommission auf, in Zusammenarbeit mit allen betroffenen Partnern, einschließlich zivilgesellschaftlicher Organisationen, lokaler Akteure und der Öffentlichkeit, einen strategischen Kommunikationsplan zu erarbeiten. Die Mitgliedstaaten und die Begünstigten müssen jetzt mehr denn je für eine wirksamere Verbreitung von und einen leichteren Zugang zu bewährten Verfahren sorgen.

Brüssel, den 18. September 2020

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Luca JAHIER


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