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Document 52020AE1432

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum „Europäischen Klimapakt“ (Sondierungsstellungnahme)

EESC 2020/01432

ABl. C 364 vom 28.10.2020, p. 67–76 (BG, ES, CS, DA, DE, ET, EL, EN, FR, HR, IT, LV, LT, HU, MT, NL, PL, PT, RO, SK, SL, FI, SV)

28.10.2020   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 364/67


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum „Europäischen Klimapakt“

(Sondierungsstellungnahme)

(2020/C 364/10)

Berichterstatter:

Dimitris DIMITRIADIS

Mitberichterstatter:

Peter SCHMIDT

Befassung

Europäische Kommission, 11.3.2020

Rechtsgrundlage

Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Landwirtschaft, ländliche Entwicklung, Umwelt

Annahme in der Fachgruppe

29.6.2020

Verabschiedung auf der Plenartagung

16.7.2020

Plenartagung Nr.

553

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

206/4/2

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Wir befinden uns im Klimanotstand. Angesichts der globalen Gesundheitskrise und der sich abzeichnenden Wirtschaftskrise infolge der COVID-19-Pandemie muss die EU ihr Bekenntnis zur Umstellung auf eine nachhaltige, resiliente, klimaneutrale und ressourceneffiziente Ökonomie des Wohlergehens bekräftigen. Wir brauchen eine tiefgreifende Umgestaltung von Kultur, Infrastruktur, Verhalten, Partizipation und Lebensgewohnheiten, die zwar Veränderungen für die Bürgerinnen und Bürger bedeutet, aber auch in vieler Hinsicht ihre Handlungskompetenz stärkt.

1.2.

Der Klimawandel ist eine Bedrohung für uns alle, aber wie die Pandemie wirkt sich auch der Klimawandel am stärksten auf die schwächsten und am stärksten ausgegrenzten Bevölkerungsgruppen aus. Bei diesem Wandel darf niemand zurückgelassen werden.

1.3.

Der EWSA betont, dass die aktive Teilhabe aller Teile der Gesellschaft — Unternehmen, Arbeitnehmer, Wissenschaftler, Verbraucher und Bürger sowie ihre Organisationen — eine entscheidende Voraussetzung ist, um den Übergang zur Klimaneutralität auf den Weg zu bringen.

1.4.

Der EWSA schließt sich daher der Forderung an, dass die Europäische Union sich auf die Erreichung von Klimaneutralität bis 2050 festlegen und dementsprechend ihr Emissionssenkungsziel für 2030 anpassen sollte. Laut Bericht des UN-Umweltprogramms (UNEP) zu den globalen Emissionen (Emissions Gap Report) 2019 müssen die weltweiten Emissionen ab sofort um 7,6 % jährlich gesenkt werden, um die globale Erwärmung auf 1,5 oC zu begrenzen. Umgerechnet würde dies ein Emissionsreduktionsziel von mindestens 68 % bis 2030 bedeuten.

1.5.

Auf allen Ebenen muss ein Übergang zu einem partizipativen Modell erfolgen. Durch die Umsetzung des Klimapakts hat die Kommission eine maßgebliche Gelegenheit — und Verpflichtung — einen modellhaften innovativen Ansatz zu entwickeln, der die Aktionen, die in der Zivilgesellschaft in Gemeinschaften, Städten und Regionen bereits stattfinden, abbildet, unterstützt und inspiriert.

1.6.

Wenn die Partizipation thematisch zu eng eingegrenzt ist bzw. nicht zulässt, das ganze Ausmaß des Wandels auszuloten, oder wenn das Ergebnis von der Institution, die das betreffende Modell eingeführt hat, einfach außer Acht gelassen werden kann, dann bewirkt sie lediglich, dass engagierte Menschen abgelenkt und desillusioniert werden.

1.7.

Europa muss den für den Schutz des Klimas erforderlichen systemischen Wandel durch (technologische und soziale) Innovationen katalysieren und das Angebot an Innovationen mit den Akteuren auf der Nachfrageseite, Verantwortungsträgern und Wandelwilligen vernetzen. Der digitale Wandel sollte an den Nachhaltigkeitszielen ausgerichtet werden, um Risiken, auch für die Wahrung der Arbeitnehmerrechte, zu vermeiden (1). Die Umsetzung der europäischen Säule sozialer Rechte in Verbindung mit dem europäischen Grünen Deal (EGD) bietet die Chance, einen gerechten Übergang mit dem Ziel hochwertiger Arbeitsplätze für alle zu gewährleisten.

1.8.

Die Klimaschutzakteure der Zivilgesellschaft haben vor allem mit folgenden Problemen zu kämpfen: fehlender Zugang zu Finanzierung, fehlendes Fachwissen, Personalmangel, fehlende Anerkennung und fehlendes kohärentes Narrativ der EU und der nationalen Regierungen.

1.9.

Die Verwirklichung der Klimaziele der EU und der internationalen Gemeinschaft erfordert umfangreiche Finanzmittel. Die Mittel des EGD (öffentliche und private Mittel) und die 750 Mrd. EUR des Aufbaufonds mit einer Anbindung an das Europäische Semester sollten auf einen nachhaltigen Aufbau unter Berücksichtigung von Klimamaßnahmen ausgerichtet sein.

1.10.

Bei der Planung des Wiederaufbaus nach der COVID-19-Krise sollte die Finanzierung in allen Bereichen standardmäßig an Nachhaltigkeitsauflagen gebunden werden, um eine Ausrichtung auf die Agenda 2030 der Vereinten Nationen für nachhaltige Entwicklung und das Übereinkommen von Paris sicherzustellen. Bei diesem Wiederaufbau sollte es nicht um die Wiederherstellung des Vorkrisenzustands gehen, sondern um den Aufbruch in eine neue und bessere Welt.

1.11.

Alle Interessenträger sind auf Kapazitätsaufbau und technische Unterstützung angewiesen, um die Weichen für eine widerstandsfähigere und nachhaltige Zukunft stellen zu können. Die Einrichtung eines EU-Forums für Klimaschutzfinanzierung würde den Zugang zu Finanzmitteln fördern und Hindernisse abbauen.

1.12.

Der EWSA schlägt vor, eine Plattform der Interessenträger für den Europäischen Klimapakt zu errichten, die auf Inklusion, Transparenz und einer echten Teilhabe und Eigenverantwortung der Klimaschutzakteure auf allen Ebenen gründet.

1.13.

Der europäische Klimapakt sollte darauf ausgerichtet sein, die Handlungskompetenz der Menschen zu fördern, damit sie durch Forschung, Erprobung und Demonstration systemische Veränderungen herbeiführen können. Ein Mehrebenenansatz, Zukunftsentwürfe, Narrative und Entwicklungspfade werden allesamt entscheidend sein. Ein breitgefächertes Spektrum an Klimaschutzinitiativen sollte gefördert und begleitet werden.

2.   Einleitung

2.1.

Die Lösung der Klima- und Umweltprobleme wird immer dringender und macht eine drastische Überarbeitung der aktuellen, nicht nachhaltigen wirtschaftlichen und sozialen Konzepte erforderlich. Die COVID-19-Pandemie hat verdeutlicht, dass es nicht damit getan ist, unsere Lebensweisen und Systeme ein bisschen anzupassen. Grundlegende Veränderungen der Produktionsmethoden, die sich auf Unternehmen, Arbeitnehmer und Arbeitsorganisation auswirken, hatten bereits vor der Pandemie eingesetzt und könnten in der Folge beschleunigt werden. Die Europäische Kommission nahm den EGD als neuen Fahrplan für die Umstellung auf ein nachhaltiges, saubereres, sichereres und gesünderes Wirtschaft-, Sozial- und Finanzierungsmodell für die EU an.

2.2.

Nach der COVID-19-Krise müssen die Maßnahmen für Erholung und Wiederaufbau und die dafür eingesetzten Mittel die EU aus einem kohlenstoffintensiven Zukunftsentwurf befreien und dazu eine Verpflichtung auf Klimaschutz und Nachhaltigkeit zugrunde legen. Maßnahmen für die Zeit nach der Krise müssen darauf ausgelegt werden, die Belastbarkeit der Systeme zu verstärken, die biologische Vielfalt zu schützen und wiederherzustellen, der öffentlichen Gesundheit Vorrang einzuräumen und dabei niemanden zurückzulassen sowie die Weichen für eine Ökonomie des Wohlergehens zu stellen. Der EGD seinerseits darf nicht aufgegeben oder verzögert, sondern muss mit Nachdruck verfolgt werden.

2.3.

Der Erfolg des EGD wird weitgehend davon abhängen, dass die EU ihn ihren Bürgerinnen und Bürgern vermitteln kann. Deshalb will die Kommission einen europäischen Klimapakt ins Leben rufen, um verschiedene Akteure zu beteiligen, u. a. die Regionen, lokalen Behörden und Gemeinschaften, die Zivilgesellschaft, Bildungseinrichtungen, Unternehmen und individuelle Bürgerinnen und Bürger.

3.   Notwendige Klimakommunikation mit der Zivilgesellschaft und den Bürgerinnen und Bürgern

3.1.

Wir stehen vor dem globalen Klimanotstand. Die Regierungen haben bislang nicht angemessen auf die Klimakrise reagiert und die Welt ist nicht auf Kurs für die Ziele des Übereinkommens von Paris und die Nachhaltigkeitsziele (SDG). Junge Klimaaktivisten und andere zivilgesellschaftliche Akteure haben dezidiert weitaus ehrgeizigere und dringende Klimaschutzmaßnahmen gefordert. Es ist die Aufgabe der Entscheidungsträger, die die Agenda 2030 und das Übereinkommen von Paris unterzeichnet haben, diese Forderungen unverzüglich aufzugreifen, in entschiedene ehrgeizige politische Beschlüsse umzusetzen und auf ein neues Modell für inklusives Klimahandeln unter aktiver Einbeziehung sämtlicher Interessenträger umzusteigen.

3.2.

Der EWSA schließt sich daher der Forderung an, dass die Europäische Union sich auf die Erreichung von Klimaneutralität bis 2050 festlegen und dementsprechend ihr Emissionssenkungsziel für 2030 (2) anpassen sollte. Er erwartet, dass sich das neue Ziel für 2030 auf eine umfassende Überprüfung und angemessene Folgenabschätzung stützen wird. Außerdem sprechen seiner Meinung nach triftige Gründe für ein Reduktionsziel von mindestens 55 % bis 2030, damit die EU ihren Teil zu den notwendigen massiven weltweiten Emissionssenkungsanstrengungen beiträgt. Bspw. ist laut dem Bericht des UN-Umweltprogramms (UNEP) zu den globalen Emissionen (Emissions Gap Report) 2019 (3) bis 2030 ein noch viel ehrgeizigeres Emissionssenkungsziel erforderlich, um das im Übereinkommen von Paris festgelegte 1,5 oC-Ziel zu erreichen (4).

3.3.

Bei einer Eurobarometer-Erhebung 2019 gaben 93 % der Befragten an, dass sie den Klimawandel für ein ernstes Problem halten, und 79 % bezeichneten ihn als ein sehr ernstes Problem. Eine breite Mehrheit der Befragten hielt es für wichtig, dass ihre nationale Regierung ehrgeizige Ziele für die verstärkte Nutzung erneuerbarer Energieträger setzt (92 %) und die Energieeffizienz verbessert (89 %).

3.4.

Mit dem Klimapakt sollten die Menschen in Europa in die Lage versetzt werden, den im EGD skizzierten Zukunftsentwurf einer wohlhabenden, inklusiven und klimaresilienten Gesellschaft mit einer klimaneutralen Kreislaufwirtschaft bis 2050 umzusetzen. Laut dem Sonderbericht „1,5 oC Globale Erwärmung“ des Weltklimarats sind rasche, weitreichende und bislang beispiellose Veränderungen in allen Bereichen der Gesellschaft erforderlich. Schrittweise Veränderungen werden nicht ausreichen. Ein verengter Blickwinkel auf die Reduzierung der CO2-Emissionen behindert das Engagement und die Überlegungen an der Basis und bremst erheblich die Umsetzung kreativer Veränderungen. Wir brauchen jetzt eine grundlegende Transformation der Wirtschafts-, Sozial- und Finanzsysteme, um die Defossilierung exponentiell zu steigern und die Klimaresilienz zu stärken. Hierfür werden umfassende und vielfältige Narrative als Inspirationsquelle gebraucht, die erklären, warum die Welt sich wandeln muss.

3.5.

In der aktuellen weltweiten Krise infolge der COVID-19-Pandemie hat sich klar gezeigt, dass die Regierungen fähig sind, drastische Maßnahmen zur Eindämmung einer existenziellen Bedrohung zu ergreifen, und dass die Menschen zumindest kurzfristig imstande sind, sich an die neuen, durch diese Maßnahmen auferlegten Beschränkungen ihres Alltags anzupassen. Aber auch Gemeinschaften, Unternehmen, Sozialpartnern und anderen nichtstaatlichen Akteuren kommt bei der Bewältigung der Pandemie eine wichtige Rolle zu, denn sie können häufig besser Bedürfnisse erkennen und schneller, wirksamer und kreativer bedarfsgerechte Lösungen entwickeln und umsetzen, als dies in Top-down-Verfahren möglich wäre.

3.6.

Die nächste Etappe zur Bewältigung der Folgen von COVID-19 birgt enorme Chancen, aber auch enorme Risiken. Die wirtschafts- und finanzpolitischen Maßnahmen zur Unterstützung und Wiederankurbelung der europäischen Wirtschaft müssen das EU-weite Klassifikationssystem für nachhaltige Investitionen (Taxonomie) berücksichtigen und denjenigen Finanzmittel zukommen lassen, die bereits nachhaltig handeln oder aber Nachhaltigkeitspotenzial aufweisen und sich verpflichten, umgehend die erforderlichen Veränderungen zu ermitteln und durchzuführen und sich dabei kontrollieren zu lassen.

3.7.

Die durch COVID-19 verursachte dramatische Notsituation, die zur Aussetzung der Haushaltsvorschriften geführt hat, zeigt, dass ein Perspektivenwechsel möglich ist, wenn Menschenleben, ganze Volkwirtschaften und den Fortbestand des Lebens auf der Erde auf dem Spiel stehen. Bei der Vorstellung eines nur auf dem Streben nach Steigerung des Bruttoinlandsprodukts (BIP) beruhenden sozialen Fortschritts werden wesentliche Aspekte, die indes für das Wohlergehen des Einzelnen und der Gesellschaft von Bedeutung sind, nicht berücksichtigt und ökologischen und sozialen Erwägungen nicht angemessen Rechnung getragen. Deshalb muss die Umstellung von der BIP-orientierten Wirtschaftsweise auf die Ökonomie des Wohlergehens vollzogen werden (5)(6).

3.8.

Eine Möglichkeit zur Förderung von Klimaschutzbemühungen ist die Schaffung geeigneter Rahmenbedingungen für ein verstärktes Klimahandeln nichtstaatlicher Akteure, also z. B. von verschiedenen Arten von Unternehmen, darunter kleine, mittlere und Kleinstunternehmen, Sozialpartner, Investoren, Genossenschaften, Städte und Regionen, Gewerkschaften, lokale Gemeinschaften und Bürgervereinigungen, Landwirte, Schulen, Glaubensgemeinschaften, Jugendgruppen und andere Nichtregierungsorganisationen.

3.9.

Ein solcher geeigneter Rahmen entsteht, wenn Konsultation und Top-down-Einbeziehung durch Ko-Design, Ko-Kreation und eigenverantwortliches Handeln ersetzt werden. Die gängigen Konsultationsmodelle sind meist nur auf sehr begrenzte, angemessen ausgestattete gesellschaftliche Gruppen ausgerichtet. Einzelpersonen, Organisationen und Unternehmen, die den größten Nutzen vom Wandel haben und am meisten dazu beitragen können, muss echte Gelegenheit zur Mitwirkung an der Beschlussfassung gegeben werden, wenn sie darin Zeit und Energie investieren sollen.

3.10.

2018 sprach sich der EWSA für einen „europäischen Dialog über nichtstaatliche Klimaschutzmaßnahmen“ aus (7). Der Dialog sollte nicht nur zum Ziel haben, Maßnahmen bekannt zu machen und zu präsentieren, sondern auch, auf die Bedürfnisse nichtstaatlicher Akteure einzugehen und neue Partnerschaften zwischen ihnen und verschiedenen staatlichen Ebenen anzuregen, Peer-Learning, Schulungen und gegenseitige Beratung zu fördern und Zugang zu Finanzierung zu erleichtern.

3.11.

Der EWSA schlug vor (8), einen ständigen Dialog mit den Bürgerinnen und Bürgern einzurichten, der obligatorischer Bestandteil der Vorbereitung aller wichtigen politischen Entscheidungen und relevanten Initiativen auf allen Ebenen sein sollte.

3.12.

Die Europäische Kommission hat diese Empfehlungen bislang nicht befolgt (9). Der Klimapakt bietet den Institutionen Gelegenheit, in enger Zusammenarbeit einen Förderrahmen für die Einbeziehung der Zivilgesellschaft und der Bürger zu schaffen, dazu bei den bestehenden Konsultationsverfahren anzusetzen und diese weiterzuentwickeln.

4.   Erkenntnisse aus bestehenden Verfahren für die Beteiligung der Zivilgesellschaft und Bürger

4.1.

Beispiele für Bürgerversammlungen, Bürgerdialoge und vergleichbare Mitwirkungsverfahren auf nationaler, regionaler und kommunaler Ebene (10) veranschaulichen die Fähigkeit und den Wunsch der Bürgerinnen und Bürger, bei der Suche nach Auswegen aus der Klimakrise Verantwortung zu übernehmen. Häufig führen breiter angelegte partizipative Ansätze mit einem sorgfältig abgesteckten Rahmen zu beträchtlichen Nachhaltigkeitsgewinnen, ohne dass notwendigerweise die Klimakrise thematisiert wird. Sie zeugen nicht nur von dem großen Verlangen nach partizipativer Demokratie, sondern auch von der Fähigkeit der Regierungen, entsprechende Foren einzurichten und ihre Vorschläge politisch umzusetzen.

4.1.1.

2019 begannen 150 nach dem Zufallsprinzip ausgewählte französische Bürgerinnen und Bürger darüber zu beraten, wie bis 2030 „im Geiste der sozialen Gerechtigkeit eine Verringerung der Treibhausgasemissionen um mindestens 40 % gegenüber 1990“ erreicht werden kann. Dieser Bürgerkonvent tagt im Sitz des französischen Rats für Wirtschaft, Soziales und Umwelt. Die Regierung will zu den vom Konvent erarbeiteten Vorschlägen öffentlich Stellung nehmen und einen ersten Zeitplan für ihre Umsetzung aufstellen (11).

4.1.2.

Der 2016 eingerichteten irischen Bürgerversammlung (Citizens‘ Assembly) gehören 100 Bürgerinnen und Bürger an, die zufällig ausgewählt und für die irische wahlberechtigte Bevölkerung repräsentativ sind. Die Bürgerversammlung wurde beauftragt, über Themen vom verfassungsmäßigen Abtreibungsverbot bis hin zu der Frage, wie Irland Vorreiter im Klimaschutz werden kann, zu beraten. Der parlamentarische Ausschuss, der sich mit den Empfehlungen der Bürgerversammlung zum Klimawandel befasste, beeinflusste maßgeblich den im Juni 2019 veröffentlichten wegweisenden irischen Klimaschutz-Aktionsplan.

4.1.3.

In den beiden größten Städten Spaniens wurden Bürgerdialoge und lokale Foren eingerichtet, um die Bürgerinnen und Bürger sowie die zivilgesellschaftlichen Organisationen umfassender an bestimmten haushaltspolitischen Entscheidungen zu beteiligen und gemeinsam mit ihnen Ideen für die Zukunft ihrer Stadt zu entwickeln.

4.1.4.

Der im dänischen Energie-, Versorgungs- und Klimaministerium angesiedelte Jugendklimarat strebt ein Umdenken in der Klimapolitik an und berät den Umweltminister bei der Entwicklung künftiger Klimaschutzlösungen.

4.1.5.

Die polnische Stadt Gdańsk (Danzig) hat drei Bürgerversammlungen zu den Themen Anpassung an Extremwetterereignisse, Verringerung der Luftverschmutzung und Verbesserung der Bürgerbeteiligung organisiert.

4.1.6.

Am ersten finnischen Bürgerpanel zur nachhaltigen Entwicklung in Finnland nahmen 500 Bürgerinnen und Bürger teil und machten eine diesbezügliche Bestandsaufnahme. Die Ergebnisse werden von der finnischen Regierung und dem finnischen Parlament in der Nachhaltigkeitspolitik berücksichtigt.

4.1.7.

In Italien brachten Vertreter der Zivilgesellschaft nach der COP 25 einen Legislativvorschlag ein, eine Bürgerversammlung nach französischem Vorbild einzuberufen. Auch im Vereinigten Königreich findet mit der Bürgerversammlung „Climate Assembly UK: the path to net zero“ ein solcher Prozess statt.

4.1.8.

In Bologna, Italien, richtete die Stadtverwaltung ein „Ufficio Immaginazione Civica“ ein, um das Engagement der Bürgerinnen und Bürger zu fördern. In sechs „Labors“ werden über Open Space und andere Tools Zukunftsentwürfe entwickelt. Wenn tragfähige Projektideen entstehen, schließt die Stadtverwaltung mit dem betreffenden Stadtviertel einen „Pakt“ zur Umsetzung. In den vergangenen fünf Jahren sind so mehr als 500 Pakte geschlossen worden, um bspw. neue Bänke an Straßen aufzustellen oder noch weitaus größere und ehrgeizigere Vorhaben durchzuführen. Auch wird auf diesem Wege eine partizipative Finanzierung geregelt.

4.2.

Über viele weitere Basisinitiativen werden die Menschen vor Ort erfolgreich und beispielhaft mobilisiert, um eine nachhaltigere Zukunft zu gestalten. Die „Quartiers Durables“ (nachhaltige Stadtviertel) in Brüssel, die im Scottish Communities Climate Action Network vernetzten 120 Klimaschutz-Interessengruppen, die Erneuerbare-Energien-Genossenschaft (RESCoop) Coopérnico in Portugal und die Transition-Bewegung, die mittlerweile in über 50 Ländern in Form bürgerschaftlicher Initiativen zur Stärkung der Resilienz aktiv ist, regen Menschen an, ihr Handeln und ihre Lebensweise zu überdenken. Das Aktionsprogramm „Communities for Future“ des Europäischen Netzwerks für Initiativen lokaler Akteure gegen Klimawandel und für Nachhaltigkeit (Ecolise), das im Sommer anlaufen soll, kann dazu beitragen, den institutionellen Rahmen für die Beteiligung der Öffentlichkeit abzustecken.

4.3.

Auf europäischer Ebene ist eine strukturierte zivilgesellschaftliche Teilhabe notwendig und sollte im Rahmen eines klaren Mandats zur Beteiligung der Zivilgesellschaft an der Entwicklung, Umsetzung und Überwachung von Maßnahmen und Strategien zur Erreichung von Klimaneutralität sichergestellt werden.

4.3.1.

Die Multi-Stakeholder-Plattform für die Umsetzung der Nachhaltigkeitsziele in der EU leistete einen wichtigen Beitrag, wies aber Raum für Verbesserungen auf, bspw. hinsichtlich ihrer Mittelausstattung, der Sitzungshäufigkeit, der eigenständigen Agendasetzung, der Möglichkeiten für einen ausführlicheren Austausch sowie für Beteiligung und der Erleichterung häufigerer, transparenter und zugänglicher Konsultationen der Öffentlichkeit.

4.3.2.

Die Europäische Plattform der Interessenträger für die Kreislaufwirtschaft, die gemeinsam vom EWSA und der Europäischen Kommission betrieben wird, bietet einem breiten Spektrum von Interessenträgern Raum für den Austausch von bewährten Verfahren und Ideen sowie zum Aufbau wertvoller Netze. Von der Multi-Stakeholder-Plattform für die Umsetzung der Nachhaltigkeitsziele in der EU unterscheidet sie sich insofern, als sie von den Interessenträgern eigenverantwortlich betrieben wird. Diesbezüglich sollte sie als Vorbild dienen.

4.4.

Die Ziele des Übereinkommens von Paris können ohne starkes Engagement der Sozialpartner auf allen Ebenen und insbesondere in stark von Dekarbonisierung und Digitalisierung betroffenen Branchen nicht erreicht werden. Die Umsetzung der europäischen Säule sozialer Rechte gekoppelt an den EGD bietet die Chance, einen gerechten Übergang mit dem Ziel hochwertiger Arbeitsplätze für alle zu gewährleisten. Der soziale Dialog zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern bietet sich als ein ideales Forum zur Sensibilisierung für die Klimakrise an. Sie sind die wichtigsten Protagonisten des mit dem EGD anvisierten sozial gerechten Wandels der Produktions- und Geschäftsmodelle. Die Möglichkeiten erstrecken sich von europäischen Gipfeltreffen für den sozialen Dialog über grenzübergreifende Dialoge, die die europäische soziale Integration fördern, bis hin zu Tarifverträgen für Branchen und Unternehmen. Die Arbeitnehmerbeteiligung ist ein integraler Bestandteil der Demokratie am Arbeitsplatz und bietet Arbeitnehmern Gelegenheit, aktiv an den Entscheidungen an ihrem Arbeitsplatz mitzuwirken, die einen positiven Beitrag zum Klimaschutz leisten können.

4.5.

Im Rahmen der Klima-KIC (Wissens- und Innovationsgemeinschaft) des Europäischen Innovations- und Technologieinstituts werden unternehmerische Experimente und „Deep Demonstration“-Projekte zur Förderung des systemischen Wandels entwickelt, durchgeführt und vernetzt. Die EIT-Klima-KIC verwaltet Experimente, die neue Denkweisen erschließen, die Wirkkraft von neuen Technologien, Netzwerken und Community-Mitgliedern bündeln und exponentiell steigern und so dem Wandel durch Wissenserwerb vorauseilen wollen (12).

5.   Erkenntnisse aus Reaktionen der Wirtschaft

5.1.

Innovation bezieht sich auf neue Entwicklungen bei Diensten und Produkten auf dem Markt oder in der Öffentlichkeit, die unerfüllten Bedürfnissen entsprechen oder Probleme der Gegenwart lösen. Technologische Innovation betrifft die technologischen Aspekte eines Produkts oder Dienstes. Soziale Innovationen sind neue soziale Praktiken, die darauf abzielen, den sozialen Bedürfnissen, bspw. in Verbindung mit Arbeitsbedingungen, Bildung, Gemeinschaftsentwicklung oder Gesundheit, besser gerecht zu werden als die bestehenden Lösungen. Die Digitaltechnik trägt über IKT-Anwendungen wie Online-Netze und andere digitale Instrumente wesentlich zu sozialen Innovationen bei.

5.2.

Alle Interessenträger sollten zu vertretbaren Kosten am Prozess der systemischen Innovation teilhaben können, um gemeinsam die Lösungen zu entwickeln, die die notwendige Nachhaltigkeitswende ermöglichen. Die finanzielle Leistbarkeit ist eine Voraussetzung dafür, dass bei der Umsetzung des europäischen Grünen Deals der soziale Zusammenhalt sichergestellt und niemand zurückgelassen wird. In diesem Sinn sollten gemeinwohlrelevante Aspekte des systemischen Wandels von der öffentlichen Hand finanziert oder finanziell unterstützt werden, was zur verstärkten Mobilisierung privater Mittel für Klimaschutzinvestitionen beitragen kann.

5.3.

Gemeinschaften, denen es gelingt, Probleme richtig zu analysieren, Lösungsmöglichkeiten auszuloten und Lösungskonzepte entsprechend den Erfordernissen und Gegebenheiten verschiedener Orte und Zusammenhänge auszuwählen, sind auch bei systemischen Innovationen erfolgreich. Demnach müssen die über diese Kompetenzen verfügenden Gemeinschaften in Europa gestärkt und geeignete Rahmenbedingungen für ein verstärktes Tätigwerden nichtstaatlicher Akteure geschaffen werden.

5.4.

Es werden dringend innovative Finanzierungsmechanismen benötigt, um dem Potenzial und den Herausforderungen gemeinschaftlicher Initiativen für systemische Innovation gerecht zu werden, die auf flexible und grundlegende Unterstützung angewiesen sind, um ihre Tragfähigkeit sicherzustellen, auf Risiko-Startkapital im Falle größerer Projekte sowie auf professionelles Mentoring und sachkundige Unterstützung. Durch den Klimapakt könnte ein äußerst nützliches Forum für soziale Innovatoren entstehen, um Rückmeldungen zu politischen Maßnahmen und wirtschaftlichen Hemmnissen zu geben, die sie behindern und benachteiligen und häufig unverzichtbare wandelorientierte Vorhaben undurchführbar machen.

5.5.

Die Reaktionen von Unternehmen bieten eine wichtige Orientierung, so z. B.:

die Bewerbung einer Secondhand-Verkaufslinie als Recyclingstrategie durch Wegwerfmode produzierende multinationale Unternehmen;

die Beratung großer Mineralöl- und Versicherungsgesellschaften, die ihre Geschäftstätigkeit umorientieren müssen.

5.6.

Als Beispiele für die Reaktionen des Finanzsektors wären u. a. folgende zu nennen:

Die Entscheidung von Investitionsfonds, nicht in klimaunverträgliche Projekte zu investieren;

das von acht Zentralbanken und Aufsichtsbehörden gegründete Netzwerk für die Ökologisierung des Finanzsystems (Network for Greening the Financial System).

6.   Informationsaustausch und öffentliches Klimaschutzverständnis

6.1.

Es müssen direkte Dialoge mit den Bürgerinnen und Bürgern aufgenommen werden, um sie für die Notwendigkeit des Übergangs zu nachhaltigeren Gesellschaften und gesünderen lokalen Gemeinschaften zu sensibilisieren. Diese Dialoge sind am sinnvollsten, wenn sie auf lokaler, regionaler oder nationaler Ebene geführt werden. Allerdings wäre eine Orientierung, Koordinierung und Unterstützung seitens der EU-Ebene wichtig.

6.2.

Es sollte in erster Linie Aufgabe der einzelnen Länder sein, ein ihrer Umwelt und deren Erfordernissen angepasstes System für das Umweltmanagement zu entwickeln, das auch der nachhaltigen Entwicklung ihres Landes Rechnung trägt. Die Anerkennung der Rechte der Natur wären ebenfalls ein wichtiges Element (13).

6.3.

Jeder Mechanismus auf EU-Ebene sollte gemeinsam mit den Anwendern gestaltet werden. Bei der Modellierung sollten die auf anderen Ebenen existierenden partizipativen Ansätze abgebildet und inspiriert werden. Die Auslegung und Nutzung innovativer Räume für kollaborative Zusammenarbeit, inspirierende Erzähltechnik und die Nutzung innovativer Technologie müssen fachlich sowie finanziell unterstützt werden. Der Erfolg des Klimapakts hängt davon ab, dass die beteiligten Gemeinschaften inspirierende Narrative entwickeln, um die von ihnen angestrebte veränderte Zukunft zum Leben zu erwecken, bestehende Bedürfnisse und Wünsche auszuloten und zu begreifen und die Handlungsfähigkeit der Bürgerinnen und Bürger zu stärken.

6.4.

Voraussetzung für eine Netzwerkumgebung zur Förderung und Unterstützung von Klimaschutzmaßnahmen ist eine Online-Plattform, um Verfahren und Erfahrungen aus Vorhaben und Ansätzen auszutauschen. Durch die Förderung von Peer-Learning und gegenseitiger Beratung würde eine solche partizipative Plattform den Akteuren auch Hilfestellung bei der Überwindung regulatorischer Hindernisse geben. Durch Online-Kurse, Webinare und Workshops könnten Bildungs- und Schulungsmaßnahmen sowie Innovationen angeregt werden.

6.5.

Die Anerkennung und glaubwürdige Kommunikation bestehender Maßnahmen können ein starker Anreiz sein, Klimaschutzmaßnahmen zu ergreifen. Finanzmittel und andere Ressourcen, fachliche Unterstützung und Einflussmöglichkeiten auf arbeitsrelevante Entscheidungen können eine breitere Anwendung bewährter Ansätze bewirken.

6.6.

Klimaschutzbotschafter könnten beauftragt werden, Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Akteuren zu vermitteln, strategische/thematische Prioritäten zu setzen, Veranstaltungen zu organisieren und neue Klimaschutzmaßnahmen anzuregen.

6.7.

Solche „Klimapaktbotschafter“ könnten als Anlaufstellen für verschiedene Wirtschaftsbereiche dienen. Es sollten Sonderbotschafter für Jugendliche, für lokale Gemeinschaften sowie für Städte und Regionen bestellt werden. Botschafter auf EU-Ebene hätten einen anderen Auftrag als Botschafter auf nationaler, regionaler oder lokaler Ebene. Zwischen den verschiedenen Ebenen müsste eine Koordinierung stattfinden.

6.8.

Durch die Ernennung von Mitgliedern des EWSA und des AdR als EU-Botschafter ihrer zivilgesellschaftlichen Organisationen bzw. Wahlkreise könnten ihre ausgedehnten Netze in der Zivilgesellschaft und unter den lokalen und regionalen Gebietskörperschaften genutzt sowie die Zusammenarbeit zwischen den beiden beratenden Einrichtungen und der Europäischen Kommission ausgebaut werden.

6.9.

Gewerkschaften und Unternehmensverbände sind an der Basis verankert und nehmen die demokratische Vertretung ihrer Mitglieder in verschiedenen Bereichen wahr. Sie sorgen maßgeblich dafür, dass die verschiedenen Maßnahmen entsprechend den Bedürfnissen der Arbeitnehmer und Unternehmen gestaltet und die Herausforderungen erkannt werden. Klimaschutzbotschafter auf verschiedenen Ebenen im Gewerkschafts- und Unternehmensumfeld könnten auf den Stärken des sozialen Dialogs aufbauen, den Austausch von Informationen fördern und Klimaschutzmaßnahmen anstoßen. Diese Tätigkeit setzt ein institutionelles Umfeld voraus, das die Rechte bei der Arbeit fördert.

6.10.

Der digitale Wandel verändert die Organisation und Produktionsabläufe in Unternehmen, und viele KMU haben mit gravierenden Mängeln bei der Digitalisierung zu kämpfen. Viele Arbeitnehmer sind besorgt über die Auswirkungen der Digitalisierung auf ihre Arbeitsplätze, die zum Anstieg der Arbeitslosigkeit und zu verstärkter Ungleichheit führen kann.

6.11.

Zur Förderung der Finanzierung sowie grüner Investitionen und zur Gewährleistung eines gerechten Übergangs im Rahmen des europäischen grünen Deals hat die Kommission eine Taxonomie entwickelt, um Investitionen in 8 große Wirtschaftsgruppen und 70 Tätigkeitsbereiche zu fördern, die ihre Produktion umfassend umstellen sowie die Anzahl und Qualität ihrer Arbeitsplätze einschneidend verändern werden. In dieser Taxonomie, dem Eckpfeiler des Investitionsplans für den europäischen Grünen Deal, wird nur einmal auf die Arbeitsrechte nach Maßgabe der grundlegenden ILO-Standards Bezug genommen.

7.   Schaffung echter und virtueller Räume für den Austausch von Klimawissen

7.1.

Der europäische Klimapakt sollte darauf ausgerichtet sein, die Handlungskompetenz der Menschen zu fördern, damit sie durch Forschung, Erprobung und Demonstration systemische Veränderungen herbeiführen können. Bildungs- und Schulungsprogramme müssen aufgelegt werden, die sich an das gesamte Spektrum der Zivilgesellschaft und sonstige nichtstaatliche Akteure richten. Es muss für eine bessere Kenntnis und ein besseres Verständnis der Klimaproblematik gesorgt werden, indem mehr in die Tiefe und in die Breite gegangen und die Qualität der diesbezüglichen Diskussionen und Gespräche unter den Interessenträgern verbessert wird.

7.2.

Es werden gebrauchsfertige Instrumente für eine strukturierte Auseinandersetzung mit den Herausforderungen benötigt, um das Potenzial von Nachhaltigkeitsinnovationen zu erschließen und Nachhaltigkeitsübergänge zu bewerkstelligen. Im Rahmen des Programms Horizont 2020 der Europäischen Kommission wurden zahlreiche einschlägige Instrumente entwickelt und erprobt. In multidisziplinären Zusammenhängen sollte als Ansatz Praxislernen durch eine anwendungsbezogene Nutzung der Instrumente gewählt werden.

7.3.

Der Umgang mit den Interessenträgern, ein Mehrebenenansatz, Zukunftsentwürfe und Entwicklungspfade sowie Nischenmanagement werden für einen dynamischen Klimapakt entscheidend sein. Mit dieser Struktur soll die Lösungsfindung erleichtert werden, indem ein Weg für die Systeminnovation zur Verwirklichung von Klimaschutz und europäischem Grünen Deal vorgezeichnet wird.

7.4.

Der Erfolg des Klimapakts wird u. a. davon abhängen, dass es Unternehmern und Unternehmen gelingt, finanzielle Fördermittel aus öffentlichen, philanthropischen und privaten Quellen zu mobilisieren. Diese Finanzmittel sollten zur Behebung des klimawandelrelevanten Marktversagens dienen. Sie können disruptive Veränderungen fördern und einen beachtlichen Umfang erreichen. Der multilaterale Förderrahmen der EU, zweckorientierte europäische und internationale öffentliche und private Fonds, die systemische Veränderungen in den Bereichen Klimaschutz und Klimafolgenanpassung antreiben wollen, kann zur Mobilisierung von Milliarden für innovatives Klimahandeln genutzt werden. Übergeordnetes Ziel sollte sein, Ressourcen zu generieren, Erfahrungen zusammenzutragen und Kompetenzen zu entwickeln, um konkrete Verbesserungen bei Emissionssenkungen und Klimaresilienz zu erreichen, die skalierbar sind, den Wandel antreiben können und Anlass zu Hoffnung geben. Der Klimapakt sollte ein Engagement des nationalen und internationalen Finanzsektors wie auch der einschlägigen multilateralen und privaten Fonds positiv aufnehmen. Zudem sollte das Steuersystem dem Grundsatz der umfassenden Förderung einer tragfähigen Ökonomie des Wohlergehens Rechnung tragen.

7.5.

Es sollte auch erwogen werden, im Rahmen bestehender zivilgesellschaftlicher Organisationen reale und virtuelle Klimaforen einzurichten, die dann über die Plattform der Interessenträger für den Klimapakt im Austausch stehen würden.

7.5.1.

Für den Aspekt Arbeitswelt wäre es angebracht, mit materieller Unterstützung der Kommission und unter Beteiligung der Gewerkschaften, Arbeitgeber und Verwaltungen auf europäischer und nationaler Ebene Beobachtungsstellen für Vorausschau, Analyse und Interpretation des Wandels in den Bereichen Arbeit, Organisation und Technologie, bezogen auf die acht Wirtschaftsgruppen der Taxonomie, einzurichten.

8.   Aufbau von Kapazitäten für die Erleichterung von Basisinitiativen

8.1.

Der allgemeine Rahmen sollte klar abgesteckt werden, um Widersprüche mit dem EGD zu vermeiden.

8.2.

Die Klimaschutzakteure der Zivilgesellschaft haben vor allem mit folgenden Problemen zu kämpfen: fehlender Zugang zu Finanzierung, fehlendes Fachwissen, Personalmangel, fehlende Anerkennung (14) und fehlendes kohärentes Narrativ der EU und der nationalen Regierungen.

8.3.

Diverse Interessenträger haben darauf hingewiesen, dass Klimaschutzmaßnahmen durch das komplexe Regulierungsumfeld und den hohen Verwaltungsaufwand behindert werden. Zivilgesellschaftliche Organisationen und Basisinitiativen könnten durch Kapazitätsaufbau bei der Überwindung regulatorischer und administrativer Hemmnisse unterstützt werden.

8.4.

Wesentliche Voraussetzungen für den Betrieb einer „Plattform der Interessenträger für den europäischen Klimapakt“, die die Förderung von Klimaschutzmaßnahmen vor Ort zum Ziel hat, sind die materielle (technische Hilfe, Aufbau von Kapazitäten, Finanzierung usw.) und die nicht-materielle (Anerkennung, höherer Bekanntheitsgrad usw.) Unterstützung sowie die Förderung der Vernetzung und der Verknüpfung mit bestimmten Politikbereichen und Prozessen.

8.5.

Der Zugang zur Finanzierung von Klimaschutzprojekten wird den nichtstaatlichen Akteuren in verschiedener Weise erschwert, bspw. durch unrealistische Anforderungen hinsichtlich der Skalierbarkeit des Projekts, durch die Zurückhaltung privater Geldgeber bei der Projektfinanzierung und durch komplizierte Verfahren und Auflagen für die Mittelbeantragung und –nutzung (15). Weitere Erschwernisse sind die fehlende Kenntnis der Klimaschutzfinanzierungsmöglichkeiten, der Mangel an Verwaltungskapazitäten und fachlichem Know-how zur Sicherung der Finanzierung, finanzielle und regulatorische Auflagen, die Gewährleistung der Bankfähigkeit potenzieller Investitionen, politische Zwänge und Schwierigkeiten, allzu detaillierte Förderfähigkeitskriterien als Voraussetzung für die Bereitstellung von EU- und internationalen Mitteln zu erfüllen (16).

8.6.

Der EWSA hat vorgeschlagen, ein Forum für Klimaschutzfinanzierung einzurichten, in dem die zentralen Akteure zusammenkommen würden, um die Hauptanliegen zu erörtern, Hindernisse zu ermitteln, Lösungen zu konzipieren und die wirksamsten Verfahren für eine verbesserte Verteilung der Finanzmittel im Einklang mit dem Subsidiaritätsprinzip auszumachen. Zurzeit läuft eine Studie (17), auf deren Grundlage ein Aktionsplan vorgeschlagen und letztlich der Zugang der nichtstaatlichen Klimaschutzakteure zur Finanzierung verbessert werden soll.

9.   Auf dem Weg zu einer Plattform der Interessenträger für den europäischen Klimapakt

9.1.

In Anbetracht der positiven Erfahrungen mit der Europäischen Plattform der Interessenträger für die Kreislaufwirtschaft schlägt der EWSA vor, auch für den europäischen Klimapakt eine entsprechende Plattform zu errichten.

9.2.

Die Plattform sollte sich auf folgende Grundsätze stützen: Inklusivität, Transparenz sowie echte Partizipation und eigenverantwortliche Teilhabe der Klimaschutzakteure vor Ort.

9.3.

Der EWSA fordert, den Übergang zu einer nachhaltigen, klimaneutralen und ressourceneffizienten Wirtschaft gerecht zu gestalten, damit keine Haushalte, Gemeinschaften, Regionen, Wirtschaftszweige und Minderheiten zurückgelassen werden (18). Zusammen mit der Plattform der Interessenträger für den europäischen Klimapakt sollte eine Beobachtungsstelle für den Übergang zur Klimaneutralität errichtet werden, um die Durchführung der EU-Klimapolitik auf nationaler und regionaler Ebene zu überwachen und Daten zur Unterstützung der Politikgestaltung auf allen Ebenen zu erheben.

9.4.

Der EWSA unterstützt die Veranstaltung von Bürgerversammlungen in den Mitgliedstaaten, um zu informieren, motivieren und Verständnis zu fördern und um alle Governance-Ebenen in klimapolitischen Fragen zu beraten. Die Plattform der Interessenträger für den europäischen Klimapakt könnte bewährte Erfahrungen bekanntmachen und Länder, Regionen und Städte, die ihrerseits Bürgerversammlungen einberufen möchten, beraten und über bewährte Verfahrensweisen informieren.

9.5.

Überdies könnte die Plattform der Interessenträger für den europäischen Klimapakt beauftragt werden, auf EU-Ebene eine Bürgerversammlung einzuberufen, die gemeinsam vom EWSA, AdR und Europäischen Parlament mit Unterstützung der Kommission organisiert würde.

9.6.

Wichtig wäre es, dass die Plattform auch als Knotenpunkt für Kapazitätsaufbau und Finanzierung fungiert und dementsprechend Beratungs-, Informations- und Bildungsangebote für Klimaschutzmaßnahmen und -strategien bereitstellt sowie den Zugang zu Finanzierung für kleine Projekte erleichtert. Der Knotenpunkt auf EU-Ebene und die nationalen Knotenpunkte könnten in Zusammenarbeit mit den lokalen und regionalen Gebietskörperschaften eingerichtet werden.

9.7.

Der Online-Auftritt der Plattform der Interessenträger für den europäischen Klimapakt würde dazu beitragen, Räume für den Austausch von Informationen und Wissen zu schaffen sowie Vernetzung und Engagement zu fördern.

9.8.

Für die Plattform der Interessenträger für den europäischen Klimapakt wäre eine für die Interessenträger repräsentative Koordinierungsgruppe einzusetzen. Ihre Mitglieder würden anhand transparenter und klarer Kriterien ausgewählt, um Inklusivität und Repräsentativität zu gewährleisten, wobei gleichzeitig eine wirksame Governance bedacht werden müsste. Folgende Interessenträger sollten vertreten sein: EU-Institutionen und die Zivilgesellschaft, d. h. Unternehmen, Gewerkschaften, lokale und regionale Gebietskörperschaften, die Wissenschaftsgemeinschaft, die Finanzwelt, junge Menschen usw. Für Interessenträger von Institutionen und Bereichen, die über weniger Ressourcen verfügen, sollten ausreichende Mittel bereitgestellt werden, damit sie teilhaben und sich in die Entscheidungsfindung einbringen können.

Brüssel, den 16. Juli 2020

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Luca JAHIER


(1)  Netz der Vereinten Nationen für nachhaltige Entwicklung (SDSN): „Six Transformations to achieve the Sustainable Development Goals“.

(2)  Die Berichterstatterin des EP für das Europäische Klimagesetz (COM(2020) 80 final), Jytte Guteland, schlägt „die Anhebung der klimapolitischen Vorgabe der Union für 2030 auf eine Emissionsreduktion um 65 % gegenüber 1990“ vor. „Folglich sollte die Kommission bis zum 30. Juni 2021 bewerten, wie die Rechtsvorschriften der Union zur Umsetzung dieses höheren Ziels entsprechend geändert werden müssten.“

(3)  Emissions Gap Report 2019.

(4)  Laut Bericht des UN-Umweltprogramms (UNEP) zu den globalen Emissionen (Emissions Gap Report) 2019 müssen die weltweiten Emissionen ab sofort um 7,6 % jährlich gesenkt werden, um die globale Erwärmung auf 1,5 oC zu begrenzen. Für die EU würde dies ein Emissionsreduktionsziel von mindestens 68 % bis 2030 bedeuten.

(5)  EWSA-Stellungnahme „Die nachhaltige Wirtschaft, die wir brauchen“ (ABl. C 106 vom 31.3.2020, S. 1).

(6)  Wohlfahrtsökonomik: Zweig der Wirtschaftswissenschaften, der die Wirtschaftspolitik unter dem Gesichtspunkt ihrer Auswirkungen auf das Wohlergehen der Gemeinschaft analysiert. Sie hat sich im 20. Jahrhundert als genau definierter Zweig der Wirtschaftstheorie etabliert.

(7)  EWSA-Stellungnahme „Förderung von Klimaschutzmaßnahmen nichtstaatlicher Akteure“ (ABl. C 227 vom 28.6.2018, S. 35).

(8)  EWSA-Stellungnahme „Strategie zur langfristigen Senkung der Treibhausgasemissionen der EU“ (ABl. C 282 vom 20.8.2019, S. 51).

(9)  Empfehlung bereits aus der EWSA-Stellungnahme „Schaffung eines Bündnisses der Zivilgesellschaft und der subnationalen Gebietskörperschaften zur Erfüllung der Verpflichtungen im Rahmen des Übereinkommens von Paris“ (ABl. C 389 vom 21.10.2016, S. 20).

(10)  https://www.thersa.org/discover/publications-and-articles/rsa-blogs/2018/07/our-call-for-action-on-deliberative-democracy.

(11)  https://www.conventioncitoyennepourleclimat.fr/en/.

(12)  Die „Deep Demonstrations“ der EIT-Klima-KIC können sich als Wachstumsvorteil erweisen und den ehrgeizigsten Verantwortungsträgern in Europa ihre Problemstellungen begreiflich machen. Designer werden beauftragt, das System abzubilden und die verschiedenen Stellen für Eingriffe in einem Portfolio darzustellen.

(13)  EWSA-Stellungnahme zum Reflexionspapier „Auf dem Weg zu einem nachhaltigen Europa bis 2030“ (ABl. C 14 vom 15.1.2020, S. 95); EWSA-Stellungnahme Klimagerechtigkeit (ABl. C 81 vom 2.3.2018, S. 22).

(14)  EWSA-Studie.

(15)  EWSA-Stellungnahme „Erleichterung des Zugangs nichtstaatlicher Akteure zur Klimaschutzfinanzierung“ (ABl. C 110 vom 22.3.2019, S. 14).

(16)  Rossi, L., Gancheva, M. and O'Brien, S., 2017.

(17)  Climate Finance Forum — modalities and first tasks, vom EWSA bei der Milieu Consulting SPRL in Auftrag gegebene Studie.

(18)  EWSA-Stellungnahme „Niemanden bei der Umsetzung der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung zurücklassen“ (ABl. C 47 vom 11.2.2020, S. 30).


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