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Document 52016AE2846

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der „Mitteilung der Kommission: Hinweisendes Nuklearprogramm — Vorlage gemäß Artikel 40 des Euratom-Vertrags zur Stellungnahme durch den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss“ (COM(2016) 177 final)

ABl. C 487 vom 28.12.2016, p. 104–110 (BG, ES, CS, DA, DE, ET, EL, EN, FR, HR, IT, LV, LT, HU, MT, NL, PL, PT, RO, SK, SL, FI, SV)

28.12.2016   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 487/104


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der „Mitteilung der Kommission: Hinweisendes Nuklearprogramm — Vorlage gemäß Artikel 40 des Euratom-Vertrags zur Stellungnahme durch den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss“

(COM(2016) 177 final)

(2016/C 487/17)

Berichterstatter:

Brian CURTIS

Befassung

Europäische Kommission, 4.4.2016

Rechtsgrundlage

Artikel 40 Euratom-Vertrag

Zuständige Fachgruppe

Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft

Annahme in der Fachgruppe

7.9.2016

Verabschiedung auf der Plenartagung

22.9.2016

Plenartagung Nr.

519

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

210/2/11

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Zur Unterstützung der neuen Initiative für die Energieunion werden derzeit zahlreiche Rechtsvorschriften im Energiebereich überprüft und Initiativen ausgearbeitet, die im Lauf der kommenden 12 Monate vorgelegt werden. Man hätte daher erwarten können, dass in dieser strategischen Überprüfung als Beitrag zu diesem umfassenden Legislativpaket die wichtigsten Belange der Kernenergieerzeugung, Nuklearforschung und Stilllegung von Kernkraftwerken beleuchtet werden. Das hinweisende Nuklearprogramm (PINC) bietet jedoch keinen klaren und umfassenden Ansatz für einen planvollen Umgang mit der komplexen Zukunft der Kernenergie im europäischen Energiemix.

1.2.

Die Kernenergieerzeugung ist in den meisten Mitgliedstaaten ein politisch heikles Thema und wird von sich ändernden sozialen und wirtschaftlichen Fragestellungen auf nationaler Ebene beeinflusst. Der EWSA fordert die Europäische Kommission auf, diese Gelegenheit zu nutzen, um ein klares Analyseverfahren und eine schlüssige Methodik vorzuschlagen, die einen kohärenten freiwilligen Rahmen für die nationale Entscheidungsfindung in Bezug auf die etwaige Rolle der Kernenergie im Energiemix bieten.

1.3.

Der EWSA fordert daher, den Entwurf des PINC, wie in Ziffer 4.3 erläutert, zu ändern und um spezifische Kapitel zu folgenden Punkten zu ergänzen:

kurz-, mittel- und langfristige Wettbewerbsfähigkeit der Kernkraft;

die damit verbundenen wirtschaftlichen Aspekte;

Beitrag zur Versorgungssicherheit;

Klimawandel und CO2-Ziele;

öffentliche Akzeptanz, Atomhaftung, Transparenz und effektiver Dialog auf nationaler Ebene.

1.4.

Eine transparente Überwachung ist sowohl für die nukleare Sicherheit als auch das öffentliche Vertrauen von grundlegender Bedeutung. Daher schlägt der EWSA vor, dass die Vorschläge der Europäischen Gruppe der Regulierungsbehörden für nukleare Sicherheit (ENSREG) für Überwachung und Berichterstattung in den nationalen Aktionsplänen der Mitgliedstaaten im PINC ausdrücklich befürwortet werden sollten. Es sollten größere Anstrengungen unternommen werden, um benachbarte Drittländer miteinzubeziehen.

1.5.

Im Zusammenhang mit dem öffentlichen Vertrauen sollte außerdem auf die ausführlichen Arbeiten zur anlagenexternen und grenzüberschreitenden Notfallvorsorge im Nuklearbereich („Review of Current Off-site Nuclear Emergency Preparedness and Response Arrangements in EU Member States and Neighbouring Countries“, Euratom, Dezember 2013) sowie auf die Schlussfolgerungen des Gipfels zur Nuklearsicherheit 2016 verwiesen werden, insbesondere in Verbindung mit möglichen terroristischen Bedrohungen.

1.6.

In Anerkennung des starken Engagements der EU in der Erforschung der Stromerzeugung durch Kernfusion wäre es sinnvoll, einen Fahrplan in das PINC aufzunehmen, um den Weg bis zur kommerziellen Nutzung zu skizzieren.

1.7.

Die strategischen Auswirkungen des Ausgangs des Brexit-Referendums im Vereinigten Königreich und insbesondere seine Bedeutung für den Euratom-Vertrag sollten beleuchtet werden. So sollte im PINC ausdrücklich auf die Notwendigkeit hingewiesen werden, über die möglicherweise weitreichenden Folgen zu beraten.

2.   Einleitung

2.1.

Gemäß Artikel 40 des Euratom-Vertrags „veröffentlicht die Kommission in regelmäßigen Abständen hinweisende Programme, insbesondere hinsichtlich der Ziele für die Erzeugung von Kernenergie und der im Hinblick hierauf erforderlichen Investitionen aller Art. Vor der Veröffentlichung holt die Kommission die Stellungnahme des Wirtschafts- und Sozialausschusses zu diesen Programmen ein.“ (COM(2003) 370 final). Seit 1958 wurden fünf derartige hinweisende Nuklearprogramme (PINC) erarbeitet, wobei das letzte Programm 2007 veröffentlicht und 2008 aktualisiert wurde. Die endgültige Fassung wird nach Eingang der Stellungnahme des EWSA veröffentlicht.

2.2.

Wie schon bei früheren Gelegenheiten weiß der EWSA die Möglichkeit zu schätzen, Stellung zu einem Entwurf der Europäischen Kommission beziehen zu können, ehe die endgültige Fassung an den Rat und das Europäische Parlament übermittelt wird. Der EWSA appelliert nachdrücklich an die Europäische Kommission, die in Ziffer 1 dieser Stellungnahme enthaltenen Empfehlungen in ihren Entwurf einzuarbeiten, um mit einem umfassenderen und strategischer ausgerichteten PINC einen größeren Beitrag zu dem Paket zur Energieunion zu leisten.

2.3.

Kernenergie ist eine der grundlegenden Primärenergiequellen in der EU. Im Bericht über den Stand der Energieunion 2015 ist festgehalten: Mit „27 % aus erneuerbaren Energiequellen und weiteren 27 % aus Kernenergie“ ist „die EU […] derzeit eine der drei großen Volkswirtschaften, die mehr als die Hälfte ihres Stroms ohne Treibhausgasemissionen erzeugen.“ Außerdem wird in diesem Bericht darauf hingewiesen, dass durch das Programm „mehr Klarheit über den langfristigen Investitionsbedarf und den Umgang mit den Verbindlichkeiten im Nuklearbereich geschaffen werden“ soll (COM(2015) 572 final).

2.4.

Die Energiestrategie der EU ist seit dem letzten PINC umfänglich weiterentwickelt worden und hat hohe Priorität. So wurden Ziele für 2020, 2030 und 2050 festgelegt, es gibt allerdings weiterhin erhebliche Variablen und Unwägbarkeiten. Dazu zählen u. a. die Frage, inwieweit das Übereinkommen von Paris zum Klimawandel umgesetzt wird, die Volatilität der internationalen Märkte für fossile Brennstoffe, die Durchsetzungsrate neuer Technologien, die Zusammensetzung der EU in Bezug auf ihre Mitgliedstaaten, der Einfluss der weltweiten Konjunkturaussichten und das Ausmaß, in dem die geplanten massiven Investitionen in die gesamte Energiekette auch wirklich getätigt werden.

2.5.

Ungeachtet der EU-Energiepolitik bleiben die grundlegenden Entscheidungen über den Energiemix das Vorrecht der Mitgliedstaaten. Die EU-Energiepolitik kann als Referenzrahmen für diese Entscheidungen dienen, aber Energie ist ein politisch äußerst heikler Themenbereich und wird daher vom wechselnden gesellschaftlichen und politischen Klima in den Mitgliedstaaten beeinflusst. Die EU-Politikgestaltung muss auf einem klaren Analyseverfahren und einer schlüssigen Methodik beruhen, die einen kohärenten Rahmen für die Entscheidungsfindung auf nationaler Ebene bieten. Das PINC kann diese Möglichkeit für Mitgliedstaaten, die die Nutzung von Kernenergie in Betracht ziehen, für Mitgliedstaaten, die Kernenergie nutzen, und für Mitgliedstaaten, die die Zukunft ihrer Kernenergie überdenken, eröffnen.

3.   Wesentlicher Inhalt der Kommissionsmitteilung

3.1.

Die Kommissionsmitteilung beginnt mit der Feststellung „Das PINC liefert die Grundlage für die Erörterung der Frage, wie die Kernenergie zu den Zielen der EU im Energiebereich beitragen kann“ und endet mit der Aussage „Als CO2-arme Technologie und bedeutender Faktor im Hinblick auf Versorgungssicherheit und Diversifizierung dürfte die Kernenergie bis 2050 weiterhin ein wichtiger Bestandteil des Energiemixes der EU bleiben.“

3.2.

Im Mittelpunkt der Mitteilung stehen die Investitionen in die Verbesserung der Sicherheit nach dem Unfall von Fukushima und in den sicheren Betrieb vorhandener Anlagen. Außerdem wird der geschätzte Finanzierungsbedarf für die Stilllegung von Kernkraftwerken und die Entsorgung radioaktiver Abfälle und abgebrannter Brennelemente beleuchtet.

3.3.

In 14 Mitgliedstaaten sind 129 Kernreaktoren in Betrieb; in zehn dieser Mitgliedstaaten ist der Bau neuer Reaktoren geplant. Die EU verfügt über den fortschrittlichsten rechtsverbindlichen Rahmen für die nukleare Sicherheit weltweit, der im Zuge einer regelmäßigen Überarbeitung der Richtlinie über nukleare Sicherheit (1) aufrechterhalten und aktualisiert wird.

3.4.

Die Nuklearindustrie der EU operiert auf einem globalen Markt mit einem Volumen von 3 Billionen EUR bis 2050 und ist einer der technischen Marktführer. Sie stellt zwischen 400 000 und 500 000 direkte sowie etwa 400 000 weitere indirekte Arbeitsplätze.

3.5.

EU-Unternehmen sind stark in der weltweiten Herstellung von Kernbrennstoffen vertreten, wobei sie eng mit der Euratom-Versorgungsagentur zusammenarbeiten, und decken den Bedarf für die Reaktoren westlicher Bauart der EU, verfügen aber auch über die Kapazitäten zur Entwicklung von Brennelementen für Reaktoren russischer Bauart. (Derzeit sind 19 Kernkraftwerke russischer Bauart in der EU in Betrieb).

3.6.

Die Europäische Kommission rechnet mit einem Rückgang der derzeitigen Kapazitäten zur Erzeugung von Kernenergie in der EU (120 GWe) bis 2025 und anschließend mit einer Umkehr dieser rückläufigen Entwicklung bis 2030. Um das Jahr 2050 dürften die Nuklearkapazitäten konstant zwischen 95 und 105 GWe liegen, sofern 90 % der bestehenden Kernkraftwerke bis dahin ersetzt werden. Die Investitionen liegen schätzungsweise zwischen 350 und 450 Mrd. EUR, wodurch die Stromerzeugung bis Ende des Jahrhunderts gesichert wäre.

3.7.

Kostenüberschreitungen und lange Verzögerungen bei neuen Projekten sowie unterschiedliche Ansätze der nationalen Genehmigungsbehörden haben Investitionen behindert. Die Standardisierung von Reaktorkonzepten und die Verbesserung der Zusammenarbeit zwischen den Regulierungsbehörden der Mitgliedstaaten sind grundlegende Elemente der künftigen Politik.

3.8.

Es wird an Programmen zur Verlängerung der Lebensdauer vieler EU-Reaktoren (um 10 bis 20 Jahre) gearbeitet, für die schätzungsweise 45 bis 50 Mrd. EUR veranschlagt werden müssen; die gemäß der Richtlinie über nukleare Sicherheit maßgeblichen Verfahrensschritte sollten vorweggenommen und geplant werden.

3.9.

Bis 2025 werden voraussichtlich 50 Reaktoren stillgelegt. Auch wenn die Frage politisch heikel ist, müssen die Mitgliedstaaten rasch Entscheidungen mit Blick auf die Maßnahmen und Investitionen für die geologische Endlagerung und die langfristige Entsorgung der radioaktiven Abfälle sowie weitere einschlägige Aspekte der Reaktorstilllegung treffen.

3.10.

Es besteht umfangreiches Know-how über die Lagerung und Entsorgung schwach- und mittelradioaktiver Abfälle; in Finnland, Schweden und Frankreich werden zwischen 2020 und 2030 die ersten Endlager in tiefen geologischen Formationen für hoch radioaktive Abfälle in Betrieb gehen. Ein Austausch dieses Know-hows und eventuelle gemeinsame Endlager von Mitgliedstaaten würden sowohl in Sachen Effizienz als auch Sicherheit Vorteile bringen. Die Einrichtung eines europäischen Exzellenzzentrums wird dies noch weiter fördern.

3.11.

Betreiber kerntechnischer Anlagen schätzen die Kosten für Stilllegung und Entsorgung radioaktiver Abfälle auf 253 Mrd. EUR; 133 Mrd. EUR davon sind in Form spezieller Fonds eingeplant. Die Mitgliedstaaten müssen dafür sorgen, dass die Betreiber ihrer Verantwortung in vollem Umfang nachkommen und die Stilllegung in einem klaren Zeitrahmen erfolgt.

3.12.

Für die nicht der Stromerzeugung dienenden Verwendungszwecke von Nuklear- und Strahlentechnologien ist eine stärkere Koordinierung in den Bereichen technische Entwicklung und Vermarktung notwendig. So weist beispielsweise der Markt für bildgebende Geräte im medizinischen Bereich in Europa allein ein Volumen von 20 Mrd. EUR jährlich auf. Auch in Landwirtschaft, Industrie und Forschung kommt diese Technologie zunehmend zum Einsatz. Sowohl in die Forschung auf den Gebieten Kernkraftwerke der neuen Generation und modulare Kernspaltung als auch zur Aufrechterhaltung der Führungsrolle in der Fusionsforschung werden weiterhin erhebliche Investitionen getätigt; dies ist entscheidend, um das Fachwissen, die beruflichen Laufbahnen und einen weltweiten Einfluss beizubehalten. Dies ist umso wichtiger, als die Kernkraft zwar nicht in Europa, aber weltweit stetig ausgebaut wird.

4.   Allgemeine Bemerkungen

4.1.

Der EWSA hat regelmäßig zur Sicherheit und zur Rolle der Kernenergie im EU-Energiemix Stellung genommen (2). Diese Mitteilung enthält das erste hinweisende Nuklearprogramm (PINC) der Europäischen Kommission seit Fukushima. Obwohl sie in dem vorhergehenden Programm versprochen hatte, „ihr hinweisendes Nuklearprogramm künftig in kürzeren Abständen vor[zu]legen“ (COM(2007) 565 final), ist nichts dergleichen geschehen. Das PINC 2016, dem zwar ein umfangreiches Arbeitsdokument der Kommissionsdienststellen beigefügt ist, ist nur halb so lang wie die Mitteilung aus dem Jahr 2007. Der EWSA schlägt vor, durch Aufnahme einiger Punkte in das Programm zu einem strategischen Dokument zu gelangen, in dem die für Investitionsentscheidungen und Zielsetzungen maßgeblichen Kontextfaktoren erörtert werden.

4.2.

Der EWSA begrüßt die in dem Programm enthaltene umfangreiche Analyse der Investitionen im gesamten Kernbrennstoffkreislauf und nimmt zur Kenntnis, dass sowohl die Herausforderungen als auch die Chancen des Sektors erläutert werden. Er begrüßt ebenfalls, dass der Schwerpunkt auf die höchsten Sicherheitsstandards und die Notwendigkeit gelegt wird, eine umfassende Finanzierung für alle Aspekte der Stilllegung sicherzustellen. Das Arbeitsdokument ist diesbezüglich vergleichsweise detailliert; es wird auch auf die Bedeutung der Weiterführung der Forschung hingewiesen. Gleichzeitig werden in anderen Bereichen viele Aspekte nicht angesprochen, was den strategischen Wert der Mitteilung abschwächt.

4.3.

Der Entwurf für das PINC 2016 bedeutet eine grundlegende Änderung in der Herangehensweise der Europäischen Kommission. In vorhergehenden Programmen wurde die Überarbeitung in den Kontext der energiepolitischen Herausforderungen für die EU und die internationale Gemeinschaft gestellt. So enthielt beispielsweise das PINC 2007 Abschnitte, die eine klare strategische Linie aufzeichneten, 2016 aber verworfen wurden. Sie sollten in den vorliegenden Entwurf wiederaufgenommen werden und folgende Bereiche umfassen:

Wettbewerbsfähigkeit: Faktoren, die heute und in Zukunft die Wettbewerbsfähigkeit der Kernenergie beeinflussen, so z. B. die Rolle staatlicher Förderung, insbesondere finanzieller und steuerlicher Begünstigungen, Entwicklungstrends bei den Baukosten, Kapitalkosten, Abfallentsorgung, Genehmigungsverfahren, Verlängerung der Lebensdauer und relative Kosten anderer Energieträger;

wirtschaftliche Aspekte: Die Struktur des Energiemarktes ist weiterhin ungewiss, was von langfristigen Investitionen abschreckt, und die wirtschaftlichen Risiken der Kernkraft sind in Zeiten finanzieller und politischer Unsicherheit beträchtlich;

Versorgungssicherheit: Weltweit steigt die Energienachfrage, auch wenn sie in Europa stabil ist bzw. sogar zurückgeht. Den Auswirkungen dieser Entwicklung sowie den politischen und außenpolitischen Aspekten muss mehr Aufmerksamkeit gewidmet werden. Da die Versorgungsquellen für Kernbrennstoff (Uran) derzeit anscheinend sicherer sind als für Erdöl oder Erdgas, kann die Kernenergie insbesondere zur Energiesicherheit beitragen und tut dies auch (3).

Klimawandel: Kernenergie liefert 50 % des CO2-arm erzeugten Stroms in Europa;

Öffentliche Akzeptanz: Die Variationsbreite der Meinungen in der EU zur Kernkraft ist schwer zu durchschauen, aber entscheidend für die politische Akzeptanz.

Diese Fragen sind in den letzten neun Jahren immer wichtiger geworden, da der Schwerpunkt im aktuellen PINC jedoch auf der Sicherheit und dem Brennstoffkreislauf liegt, werden diese Fragen in der Mitteilung und dem Arbeitsdokument nur gestreift. So wird weder die Art der Debatte über diese Themen, die vielfach kontrovers und umstritten sind (beispielsweise die Aufrechterhaltung hoher Standards in der Arbeit der Unterauftragnehmer), umrissen, noch werden Leitlinien oder ein strategisches Konzept für die Debatte über die Kernenergie im Gesamtenergiemix vorgegeben. Dies entspricht dem Ansatz, der auch für das Paket zur Energieunion gewählt wurde; auch hier wurde davor zurückgescheut, die Auswirkungen einer europäischen Energiestrategie auf die Debatten in den Mitgliedstaaten über die potenzielle künftige Rolle der Kernenergie im Energiemix auszuloten.

4.4.

Wie bereits erwähnt, ist in der Mitteilung festgehalten, dass das „PINC die Grundlage für die Erörterung der Frage [liefert], wie die Kernenergie zu den Zielen der EU im Energiebereich beitragen kann“, da sie „bis 2050 weiterhin ein wichtiger Bestandteil des Energiemixes der EU bleiben“ dürfte. Der Inhalt dieses Dokuments wird derartigen Aussagen nicht in vollem Umfang gerecht. Vorhergehende PINC enthielten eine grundlegende analytische Überprüfung der Rolle der Kernenergie sowie Leitlinien für die künftige Politik.

4.5.

Insbesondere die Analyse des Investitionsbedarfs im Kernenergiebereich (ein erhebliches Problem unter den heutigen Umständen) muss doch nun in den Kontext der notwendigen Gesamtinvestitionen zur Verwirklichung der Ziele der Energieunion gestellt werden, da es bei den Investitionsentscheidungen über sämtliche Produktionstechnologien und -infrastrukturen hinweg Wechselwirkungen und Zielkonflikte gibt.

4.6.

Darüber hinaus gibt es viele weitere kontextuelle Faktoren, die politische und wirtschaftliche Entscheidungen im Kernenergiebereich beeinflussen, aber nicht umfassend erörtert werden. Aufgrund laufender Überarbeitungen und Überprüfungen kann sich die Europäische Kommission auch kaum dazu äußern. U. a. geht es dabei um die Funktionsweise des Emissionshandelssystem (EU-ETS), Vorschläge für Beihilfen für Kapazitätssicherungsmechanismen und die Entwicklung der erneuerbaren Energien.

4.7.

Derzeit entfallen 28 % der inländischen Energieerzeugung und 50 % der emissionsarmen Stromerzeugung in der EU auf die Kernenergie (Eurostat, Mai 2015). Die Verringerung der CO2-Emissionen ist ein grundlegendes Ziel der Energiepolitik der EU und weltweit. Zur Verwirklichung des Ziels einer Begrenzung der Erderwärmung auf 2 oC ist eine Minderung der globalen CO2-Emissionen im Energiebereich um durchschnittlich 5,5 % jährlich im Zeitraum 2030-2050 notwendig. Im Energiefahrplan 2050 ist dargelegt, wie der Beitrag der EU zur Verwirklichung dieses Ziels erreicht werden kann. Hierfür werden verschiedenste Szenarien beleuchtet, wie sich der Energiemix aufgrund unterschiedlicher politischer, wirtschaftlicher und sozialer Faktoren gestalten könnte (COM(2011) 885 final). Auf der Grundlage der von den Mitgliedstaaten übermittelten Daten geht die Europäische Kommission in ihrer Mitteilung von Nuklearkapazitäten von rund 100 GWe im Jahr 2050 aus, angesichts der aktuellen Debatte scheint diese Annahme allerdings ungewiss.

4.8.

Der EWSA verweist auf das jüngste Beispiel Schweden, das nach der Veröffentlichung des Programms (weshalb dieses Beispiel auch nicht darin aufgenommen werden konnte) den Beschluss fasste, die stillgelegten Kraftwerke schrittweise durch zehn neue Reaktoren zu ersetzen und sich parallel und ergänzend dazu zu Maßnahmen verpflichtete, um bis 2040 die Energieversorgung zu 100 % aus erneuerbarer Energie zu decken (Financial Times, 10. Juni 2016). In diesem Fall ist das Zusammenspiel aus einer starken Politik für Erneuerbare und einer zusätzlichen Kapazität zur Bereitstellung von Niedrigemissions-Energie für Nachbarländer politisch für alle Parteien akzeptabel und somit im europäischen Kontext von strategischer Bedeutung. Dieses Beispiel sollte daher in die Mitteilung aufgenommen werden.

4.9.

Der EWSA hat sich über viele Jahre konsequent für einen strategischer ausgerichteten Ansatz in Energiefragen ausgesprochen und auf eine stärkere Förderung eines breiten öffentlichen Dialogs zu Energieerzeugung und -nutzung gedrungen (4). Technologie ist nicht wertefrei, und gerade in Bezug auf die Energietechnologien gibt es ein breites Spektrum an ethischen, gesellschaftlichen und politischen Anschauungen. Der Energiemix liegt im Ermessen der Mitgliedstaaten. Lediglich in der Hälfte der Mitgliedstaaten werden Kernkraftwerke betrieben. Seit Veröffentlichung des letzten PINC sind die Meinungen zur Kernkraft immer weiter auseinandergegangen. Dieses Programm, ein wichtiges Dokument für die zyklische Bewertung, hätte von einer objektiven Darstellung des Themas und der grundlegenden Aspekte in Verbindung mit der „Erörterung der Frage, wie die Kernenergie zu den Zielen der EU im Energiebereich beitragen kann“, profitiert. Daher wird vorgeschlagen, eine Reihe neuer Kapitel in das endgültige Dokument aufzunehmen, die in Ziffer 4.3 dargelegt werden. Außerdem soll die Strategie insgesamt den besonderen Bemerkungen in Ziffer 5.3.1 bis 5.3.4 stärker Rechnung tragen.

5.   Besondere Bemerkungen

5.1.

In der Mitteilung wird die Bedeutung einer stärkeren Koordinierung zwischen den Mitgliedstaaten, einer besseren Zusammenarbeit aller Beteiligten sowie von mehr Transparenz und einer stärkeren Beteiligung der Öffentlichkeit in nuklearen Fragen betont. Dabei wird auf die wichtige Rolle der Europäischen Gruppe der Regulierungsbehörden für nukleare Sicherheit (ENSREG) sowie die anhaltenden Bemühungen hingewiesen, „den Dialog zwischen den Beteiligten im Rahmen des Europäischen Kernenergieforums [zu] fördern“. Im Dezember 2015 veröffentlichte die ENSREG eine Erklärung zu den Fortschritten bei der Umsetzung der nationalen Aktionspläne nach Fukushima, in der sie festhielt, dass die Umsetzung unterschiedlich weit fortgeschritten ist und das Tempo der sicherheitstechnischen Nachrüstung angezogen werden sollte, um die vereinbarten Fristen für die Umsetzung einzuhalten. Sie sprach die Empfehlung aus, dass die beteiligten Mitgliedstaaten regelmäßig einen aktualisierten Bericht über den Stand der Umsetzung ihres nationalen Aktionsplans veröffentlichen sollten, um eine transparente Überwachung zu gewährleisten und 2017 einen Bericht über die Umsetzung zu veröffentlichen (Vierter Bericht der ENSREG, November 2015). Der EWSA schlägt vor, dass die Europäische Kommission diese Empfehlung im PINC unterstützen sollte.

5.2.

In der Mitteilung wird außerdem auf die Beziehungen zu Nachbarländern der EU, die Kernkraft nutzen, eingegangen. Nach Ansicht des EWSA wäre insbesondere eine stärkere Zusammenarbeit mit Weißrussland hilfreich, um Transparenz- und Sicherheitsbedenken im Zusammenhang mit dem Bau des ersten weißrussischen Kernkraftwerks in Ostrovets auszuräumen. Die Kontakte sollten vorrangig über die ENSREG laufen.

5.3.

In Bezug auf Dialog und Transparenz ganz allgemein unterstreicht der EWSA, dass die Rolle, die Ressourcen, die Kapazitäten und der Status des Europäischen Kernenergieforums (ENEF) in der Praxis in den letzten beiden Jahren erheblich geschmälert wurden. Es ist wichtig, dass die im Dialog über die europäische Kernenergiepolitik anstehenden grundlegenden Fragen weiter ergründet werden und ein gemeinsamer Rahmen für die Debatte in den Mitgliedstaaten vorgeschlagen wird. Diese Aufgabe wird nun wohl kaum innerhalb des ENEF vorangebracht werden, und sie wird auch im PINC mit keinem Wort erwähnt. Ein derartiger Rahmen wäre auch für die künftige Governance der Energieunion sinnvoll und sollte konsequent auf alle Primärenergiequellen Anwendung finden. Zur Klärung sollte das PINC daher eigene Kapitel zu den Auswirkungen der Fragestellungen und ihrer Bedeutung für die Investitionspolitik im Nuklearbereich enthalten. Diese Fragen, die in den folgenden vier Ziffern näher erläutert werden, sind grundlegende Punkte in der Debatte und wesentlicher Bestandteil jedweder strategischen Vision.

5.3.1.

Die Umstellung auf Strom und die Frage, inwieweit eine kohärente Stromversorgung aus Primärenergiequellen gewährleistet werden kann: Einerseits kann die Kernenergie zur Energiesicherheit beitragen, da große Mengen an planbarem Strom kontinuierlich über längere Zeiträume hinweg erzeugt werden können und sie sich positiv auf die Stabilität der Elektrizitätssysteme auswirken kann (z. B. Aufrechterhaltung der Netzfrequenz). Andererseits jedoch sind die Kapital- und Baukosten hoch, neue Sicherheitsanforderungen anspruchsvoll, die Finanzierung unsicher und die künftigen Marktbedingungen weitgehend unvorhersehbar. Alle Mitgliedstaaten, die über Kernenergieerzeugungskapazitäten verfügen, stehen vor diesen Problemen, die von entscheidender Bedeutung dafür sein könnten, wie bzw. ob überhaupt realistische nationale Pläne zur Verwirklichung der übergeordneten Energie- und Klimaziele der EU umgesetzt werden können. Das PINC sollte mit einem gemeinsamen Rahmen für die Diskussion über diese Fragen verknüpft werden, wie die Europäische Kommission ihn bereits in anderen strategischen Mitteilungen zur Energiepolitik vorgeschlagen hat, um zu einer ausgewogenen Analyse der Rolle der Kernenergie zu gelangen.

5.3.2.

Bewusstsein, Einstellungen und Risikowahrnehmung der Öffentlichkeit in Verbindung mit der Energieerzeugung: Die nukleare Sicherheit, die Auswirkungen von Tschernobyl und Fukushima und die offenen Fragen in Verbindung mit der Stilllegung von Anlagen und der Entsorgung radioaktiver Abfälle rufen in einigen Mitgliedstaaten schwerwiegende öffentliche Bedenken hervor. Indes weisen auch andere Primärenergiequellen erhebliche negative Faktoren auf, die oftmals heruntergespielt werden. Der EWSA hat immer wieder darauf hingewiesen, wie wichtig es ist, dass die Bürger das „Energiedilemma“ begreifen, bei dem es im Wesentlichen um die Frage geht, wie ein Gleichgewicht zwischen den ineinandergreifenden und manchmal widersprüchlichen Zielen Energiesicherheit, Erschwinglichkeit und ökologische Nachhaltigkeit erreicht werden kann. Der politische Wille wird in großem Maße von öffentlichen Einstellungen beeinflusst, und das nur schwach ausgeprägte Energieverständnis kann zu suboptimalen politischen Entscheidungen führen. Eine Aufstockung der Ressourcen und ein unterstützender Rechtsrahmen, der die Einrichtung lokaler Informationsausschüsse wie beispielsweise in Frankreich ermöglicht, wären hilfreich.

5.3.3.

Eine Methodik zur Bewertung der Kosten und der Wettbewerbsfähigkeit: Zur Verwirklichung der vereinbarten Klima- und Energieziele ist erschwingliche Niedrigemissions-Energie notwendig, allerdings ist dieser Bereich vom freien Spiel der Marktkräfte ausgenommen. Darüber hinaus gibt es derzeit keine gängige oder brauchbare Methode, mit der die Mitgliedstaaten künftige Kosten alternativer Optionen in ihrem Energiemix bewerten können, ehe sie eine politische Entscheidung treffen (die wieder von anderen Faktoren beeinflusst wird).

5.3.4.

Die Bedeutung einer aktiven Forschungs- und Stromerzeugungsbasis für eine führende Rolle auf dem Markt, im Technologie- und im Sicherheitsbereich: Wie wichtig ist die Erhaltung einer bedeutenden und sich ständig weiterentwickelnden Nuklearindustrie für die Aufrechterhaltung der Beschäftigung sowie des Einflusses und der Führungsrolle der EU in einem weltweit expandierenden Industriesektor? (US Energy Information Administration: „World nuclear generation to double by 2040“, Mai 2016). China beispielsweise beabsichtigt, seine Nuklearkapazitäten bis 2020/2021 auf mindestens 58 GWe zu verdoppeln und bis 2030 auf 150 GWe auszubauen. Die Bedeutung qualitativ hochwertiger und gut bezahlter Arbeitsplätze in der EU ist bekannt; für einen etwaigen schrittweisen Abbau dieser Arbeitsplätze müsste ein Programm zur Gewährleistung eines fairen Übergangs mit entsprechender Unterstützung aufgelegt werden.

5.4.

Der Löwenanteil der EU-Mittel für die Nuklearforschung wird für die Entwicklung des gemeinsamen Programms für Kernfusion (ITER — Internationaler Thermonuklearer Versuchsreaktor) bereitgestellt. In dem Fahrplan für das EFDA-Übereinkommen (Europäisches Übereinkommen zur Entwicklung der Fusionsforschung) wird die Entwicklung von den laufenden Fusionsexperimenten bis zu einem Demonstrations-Fusionskraftwerk skizziert, das netto Netzstrom erzeugt. Der EWSA fordert die Europäische Kommission auf, den möglichen Beitrag von Strom aus Fusionskraftwerken in allen kosteneffizienten Post-2050-Szenarien zu berücksichtigen. Außerdem sollte die Forschung in Reaktoren der 4. Generation, die eine Kostensenkung und eine erhebliche Verringerung hochradioaktiver Abfälle versprechen, weiterhin unterstützt werden.

5.5.

Der Programmentwurf wurde vor dem Brexit-Referendum im Vereinigten Königreich ausgearbeitet. Nach der gegenwärtigen Rechtsauffassung tritt ein Mitgliedstaat beim Verlassen der Europäischen Union gleichzeitig auch aus Euratom aus. Dies hat erhebliche strategische Auswirkungen, vor allem auf die Energieziele für 2030, aber auch auf die Zusammenarbeit in den Bereichen Forschung, Regulierung, Lieferketten und Sicherheit. Dieser Problematik muss deshalb in diesem Entwurf Rechnung getragen werden, auch wenn die Auswirkungen im Einzelnen gegenwärtig nicht absehbar sind.

Brüssel, den 22. September 2016

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Georges DASSIS


(1)  ABl. L 219 vom 25.7.2005, S. 42.

(2)  ABl. C 341 vom 21.11.2013, S. 92; ABl. C 133 vom 14.4.2016, S. 25.

(3)  ABl. C 182 vom 4.8 2009, S. 8.

(4)  ABl. C 291 vom 4.9 2015, S. 8.


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