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Dokument 52020AE0358
Opinion of the European Economic and Social Committee on ‘Decent minimum wages across Europe’ (exploratory opinion requested by the European Parliament/Council)
Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Angemessene Mindestlöhne in ganz Europa (Sondierungsstellungnahme auf Ersuchen des Europäischen Parlaments/des Rates)
Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Angemessene Mindestlöhne in ganz Europa (Sondierungsstellungnahme auf Ersuchen des Europäischen Parlaments/des Rates)
EESC 2020/00358
ABl. C 429 vom 11.12.2020, p. 159–172
(BG, ES, CS, DA, DE, ET, EL, EN, FR, HR, IT, LV, LT, HU, MT, NL, PL, PT, RO, SK, SL, FI, SV)
11.12.2020 |
DE |
Amtsblatt der Europäischen Union |
C 429/159 |
Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Angemessene Mindestlöhne in ganz Europa
(Sondierungsstellungnahme auf Ersuchen des Europäischen Parlaments/des Rates)
(2020/C 429/22)
Berichterstatter: |
Stefano MALLIA und Oliver RÖPKE |
Befassung |
Europäisches Parlament, 30.1.2020 |
Rechtsgrundlage |
Artikel 304 Absatz 1 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union |
Zuständige Fachgruppe |
Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft |
Annahme in der Fachgruppe |
9.7.2020 |
Verabschiedung im Plenum |
18.9.2020 |
Plenartagung Nr. |
554 |
Ergebnis der Abstimmung (Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen) |
209/0/8 |
1. Schlussfolgerungen und Empfehlungen
1.1. |
Die COVID-19-Pandemie hat Europa schwer getroffen. Die Europäische Union und ihre Mitgliedstaaten sehen sich einer wirtschaftlichen Rezession historischen Ausmaßes gegenüber, die dramatische Folgen für die Menschen und Unternehmen haben wird. Es bedarf koordinierter und entschlossener kurz- und mittelfristiger Maßnahmen, um Beschäftigung und Einkommen zu sichern und eine rasche und nachhaltige Wiederbelebung der Wirtschaftstätigkeit und Wettbewerbsfähigkeit sowie ein gut funktionierendes Sozial- und Wirtschaftsmodell zu gewährleisten. Teil der Lösung müssen hochwertige Arbeitsplätze mit gerechten Löhnen sein, einschließlich angemessener Mindestlöhne in ganz Europa. Zu berücksichtigen sind auch wirtschaftliche Faktoren, darunter die Produktivität und die Nachhaltigkeit der Unternehmen. Entscheidend, um positive Ergebnisse erzielen und das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger aufrechterhalten zu können, ist ein wirksamer bürgerschaftlicher Dialog. Ein entschlossener und wirksamer sozialer Dialog und Tarifverhandlungen sind ebenfalls von zentraler Bedeutung, um die Herausforderungen für Wirtschaft und Arbeitsmarkt anzugehen und für den wirtschaftlichen Wiederaufbau zu sorgen. |
1.2. |
Diese Sondierungsstellungnahme wird auf Ersuchen des Europäischen Parlaments mit Blick auf eine geplante Initiative der Kommission zu gerechten Mindestlöhnen erarbeitet. Die Gruppe Arbeitnehmer des EWSA und die Gruppe Vielfalt Europa unterstützen die Auffassung, dass alle Arbeitnehmer in der EU durch gerechte Mindestlöhne geschützt werden sollten, die einen angemessenen Lebensstandard ermöglichen, unabhängig davon, wo sie arbeiten. Dies ist ein Grundrecht. Die Gruppe Arbeitgeber ist der Ansicht, dass die Festlegung von Mindestlöhnen eine Angelegenheit der nationalen Ebene ist, die entsprechend den Besonderheiten der jeweiligen nationalen Systeme zu regeln ist. |
1.3. |
Bei den gesetzlichen Mindestlöhnen in den Mitgliedstaaten bestehen nach wie vor erhebliche Unterschiede, die auf die jeweils unterschiedliche wirtschaftliche und soziale Entwicklung zurückzuführen sind, und in einigen Fällen liegt das Niveau deutlich unter der Armutsschwelle. Der EWSA hat bereits seine Überzeugung zum Ausdruck gebracht, dass weitere Anstrengungen in Bezug auf die Angleichung der Löhne und die Festlegung von Mindestlöhnen in den Mitgliedstaaten erforderlich sind, und dabei auch betont, dass „die Kernkompetenz und die Autonomie der einzelstaatlichen Sozialpartner in der Lohnfindung gemäß den nationalen Gepflogenheiten uneingeschränkt geachtet werden müssen“ (1). Diese Anstrengungen sollten auch darauf abzielen, die Tarifverhandlungen zu stärken, was auch zu gerechteren Löhnen im Allgemeinen beitragen würde. |
1.4. |
Löhne, darunter auch Mindestlöhne, sind ein wichtiger Aspekt des EU-Modells der sozialen Marktwirtschaft. Die Gewährleistung angemessener Mindestlöhne in allen Mitgliedstaaten würde dazu beitragen, eine Reihe von EU-Zielen zu erreichen, darunter die Aufwärtskonvergenz bei den Löhnen, die Verbesserung des sozialen und wirtschaftlichen Zusammenhalts, die Beseitigung des geschlechtsspezifischen Lohngefälles, die Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen im Allgemeinen und die Gewährleistung gleicher Wettbewerbsbedingungen im Binnenmarkt. Löhne stellen eine Vergütung für geleistete Arbeit dar und sind einer der Aspekte, die im Interesse sowohl der Unternehmen als auch der Arbeitnehmer liegen. Sie sind abhängig von der wirtschaftlichen Situation eines Landes, einer Region oder Branche. Veränderungen können sich auf die Beschäftigung, die Wettbewerbsfähigkeit und die gesamtwirtschaftliche Nachfrage auswirken. |
1.5. |
Mindestlöhne sollten im Verhältnis zur Lohnstruktur in den einzelnen Ländern gerecht sein, wobei ihre Höhe auch hinsichtlich der realen Preise adäquat sein sollte, sodass sie einerseits einen angemessenen Lebensstandard ermöglichen, aber auch die Tragfähigkeit jener Unternehmen sicherstellen, die hochwertige Arbeitsplätze zur Verfügung stellen. |
1.6. |
Der EWSA ist weiter besorgt darüber, dass Armut im Allgemeinen sowie Erwerbsarmut in vielen Mitgliedstaaten nach wie vor ein erhebliches Problem darstellen. Es bedarf eines umfassenden Ansatzes auf Ebene der EU und der Mitgliedstaaten, um diese Probleme aufzugreifen, einschließlich Verfahren für die wirksame aktive Eingliederung, die durch grundlegende und auf Qualifizierung abstellende soziale Dienstleistungen gefördert werden muss. Darüber hinaus sind gut funktionierende Arbeitsmärkte, öffentliche Arbeitsverwaltungen und aktive arbeitsmarktpolitische Maßnahmen erforderlich. Ferner hat der EWSA einen schrittweisen Ansatz für die Schaffung gemeinsamer EU-Mindeststandards im Bereich der Arbeitslosenversicherung in den EU-Mitgliedstaaten vorgeschlagen (2). Außerdem hat der EWSA bereits die Einführung eines verbindlichen europäischen Rahmens für ein angemessenes Mindesteinkommen gefordert (3). Die darin skizzierte Vision eines verbindlichen Instruments für ein Mindesteinkommen auf europäischer Ebene wurde von der Gruppe Arbeitnehmer und der Gruppe Vielfalt Europa des EWSA unterstützt, nicht jedoch von der Gruppe Arbeitgeber. |
1.7. |
Die Europäische Kommission hat mitgeteilt, dass sie beabsichtigt, ein Rechtsinstrument vorzuschlagen, um sicherzustellen, dass jeder Arbeitnehmer in der Europäischen Union einen gerechten Mindestlohn erhält. Für die Gruppe Arbeitnehmer und die Gruppe Vielfalt Europa ist diese Initiative der Kommission ein zentraler Aspekt der Umsetzung von Grundsatz 6 der europäischen Säule sozialer Rechte. Die Kommission hat deutlich gemacht, dass sie nicht beabsichtigt, einen einheitlichen „europäischen Mindestlohn“ einzuführen, die Höhe der Mindestlöhne in der gesamten EU direkt zu harmonisieren oder gesetzliche Mindestlöhne in Mitgliedstaaten einzuführen, in denen eine hohe Tarifbindung herrscht und die Löhne ausschließlich durch Tarifverträge festgelegt werden. Sie hat ferner betont, dass sie die nationalen Zuständigkeiten, Traditionen und Besonderheiten jedes Landes und die Vertragsfreiheit und -autonomie der Sozialpartner in vollem Umfang achten wird und dass ihre Maßnahmen nicht dazu führen werden, dass gut funktionierende Tarifverhandlungssysteme untergraben werden. |
1.8. |
In ihrem an die europäischen Sozialpartner gerichteten Konsultationspapier der zweiten Phase über eine mögliche Maßnahme zur Bewältigung der Herausforderungen im Zusammenhang mit gerechten Mindestlöhnen hat die Kommission festgestellt, dass innerhalb der Grenzen des Subsidiaritätsprinzips und des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit und der Grenzen des Artikels 153 Absatz 5 AEUV ihrer Auffassung nach legislative und nichtlegislative Maßnahmen auf EU-Ebene gemäß Artikel 153 Absatz 1 Buchstabe b AEUV möglich sind. Sie verweist auf eine Richtlinie und eine Empfehlung als Rechtsinstrumente, die geprüft werden. Im EWSA gibt es jedoch unterschiedliche Auffassungen darüber, ob eine EU-Rechtsetzungsinitiative gemäß Artikel 153, insbesondere eine Richtlinie, legitim wäre. Der EWSA stellt auch fest, dass die europäischen Sozialpartner die Möglichkeit haben, nach Artikel 155 AEUV Vereinbarungen auszuhandeln und abzuschließen. |
1.9. |
Der EWSA weist daher darauf hin, dass Bedenken hinsichtlich möglicher Maßnahmen der EU in diesem Bereich bestehen. Zu den wichtigsten Bedenken zählt, dass die EU nicht befugt ist, in Bezug auf das „Entgelt“, einschließlich des Lohnniveaus, tätig zu werden, und dass ein solches Vorgehen die Autonomie der Sozialpartner beeinträchtigen und die Tarifverhandlungssysteme untergraben könnte, insbesondere in den Mitgliedstaaten, in denen Mindestlohnuntergrenzen durch Tarifverträge festgelegt werden. Darüber hinaus gibt es unterschiedliche Auffassungen über den europäischen Mehrwert eines solchen Tätigwerdens, auch im Ausschuss selbst: Während eine Mehrheit eine solche Maßnahme für sinnvoll hält, sind andere gegenteiliger Auffassung. |
1.10. |
Die Gruppe Arbeitnehmer und die Gruppe Vielfalt Europa sind der Auffassung, dass Maßnahmen erforderlich sind, da es in der EU Arbeitnehmer gibt, insbesondere schutzbedürftige Arbeitnehmer, die vom gesetzlichen Mindestlohn ausgeschlossen sind und/oder bei denen die Höhe des Mindestlohns nicht ausreicht, um einen angemessenen Lebensstandard zu gewährleisten. Eine Einigung auf gemeinsame EU-Schwellenwerte zur Bestimmung dessen, was einem „angemessenen Lebensstandard“ gleichkommt, wäre daher von Vorteil. Die Gruppe Arbeitgeber ist der Auffassung, dass die Frage der Schwellenwerte nicht durch Maßnahmen der EU angegangen werden darf, da die EU keine Zuständigkeit im Bereich des Lohnniveaus hat. |
1.11. |
Der EWSA ist sich der Komplexität der Probleme durchaus bewusst. Es ist wichtig, dass jede Maßnahme der EU auf einer genauen Analyse und einem genauen Verständnis der Situation und der Empfindlichkeiten in den Mitgliedstaaten beruht und die Rolle und Autonomie der Sozialpartner sowie die verschiedenen Modelle der Beziehungen zwischen den Sozialpartnern in vollem Umfang achtet. Es ist deshalb unerlässlich, dass jedwede EU-Initiative die Modelle derjenigen Mitgliedstaaten achtet, in denen die Sozialpartner gesetzliche Mindestlöhne nicht für notwendig halten. |
1.12. |
Je nach den auf nationaler Ebene getroffenen Entscheidungen sind die Sozialpartner unter uneingeschränkter Achtung ihrer Autonomie und auf der Ebene ihrer Wahl die am besten geeigneten Akteure für die Festlegung von Löhnen und Gehältern. Bei den Systemen zur Festlegung der gesetzlichen Mindestlöhne ist die rechtzeitige und angemessene Konsultation der Sozialpartner wichtig, um sicherzustellen, dass den Bedürfnissen beider Seiten Rechnung getragen wird. Der EWSA bedauert, dass die Sozialpartner in einigen Mitgliedstaaten nicht angemessen in die gesetzlichen Lohnfindungssysteme oder die Anpassungsmechanismen einbezogen oder dazu konsultiert werden. Der EWSA begrüßt, dass die Kommission einräumt, dass es Spielraum für EU-Maßnahmen gibt, um die Rolle der Tarifverhandlungen im Interesse angemessener und flächendeckender Mindestlöhne zu fördern. Maßnahmen zur Unterstützung von Tarifverhandlungen könnten in die Maßnahmen der EU zu Mindestlöhnen aufgenommen werden, wobei die unterschiedlichen nationalen Systeme der Beziehungen zwischen den Sozialpartnern zu beachten sind. Dies geht in Richtung früherer Empfehlungen des EWSA zur Stärkung der Tarifverhandlungen und des sozialen Dialogs sowie zur Unterstützung des Kapazitätsaufbaus bei den Sozialpartnern. Öffentliche Aufträge könnten auch als zusätzliche Möglichkeit zur Unterstützung von Tarifverhandlungen in der gesamten EU genutzt werden. |
2. Hintergrund und Kontext
2.1. |
Das Europäische Parlament hat um diese Sondierungsstellungnahme mit Blick auf die künftige Rechtsetzungsinitiative der Kommission zu gerechten Mindestlöhnen ersucht. Auch der im Juli 2020 beginnende deutsche Vorsitz hat darauf hingewiesen, dass Mindestlöhne zu seinen Prioritäten gehören werden. Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) begrüßt die Gelegenheit, einen weiteren Beitrag zur Diskussion darüber zu leisten, welche Maßnahmen unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Gegebenheiten in den Mitgliedstaaten und der Aufteilung der Kompetenzen zwischen der EU und der nationalen Ebene auf europäischer Ebene ergriffen werden könnten. |
2.2. |
Die COVID-19-Pandemie stellt den größten gesundheitlichen, sozialen und wirtschaftlichen Notstand seit einer Generation dar. Zusätzlich zu den ergriffenen Notfallmaßnahmen sind umfassende, koordinierte sowie entschlossene kurz- und mittelfristige politische Maßnahmen erforderlich, um langfristige negative Auswirkungen auf Gesellschaft, Wirtschaft und Arbeitswelt zu vermeiden. |
2.3. |
Die EU und ihre Mitgliedstaaten sind mit einer wirtschaftlichen Rezession historischen Ausmaßes konfrontiert. Laut Frühjahrsprognose der Europäischen Kommission könnte das Gesamt-BIP der EU im Jahr 2020 um 7,5 % sinken und im Jahr 2021 um etwa 6 % steigen, wenn auch mit großen Unterschieden zwischen den Mitgliedstaaten (4). Unternehmen, insbesondere KMU und Kleinstunternehmen, haben mit beispiellosen wirtschaftlichen Folgen und schwierigen Entscheidungen zur Sicherung ihres Fortbestands zu kämpfen, auch was die Weiterbeschäftigung oder die Entlassung von Mitarbeitern betrifft. Viele Wirtschaftszweige wurden von den Ausgangsbeschränkungen hart getroffen, und viele Unternehmen befürchten eine drohende Insolvenz, etwa im Dienstleistungssektor, im Hotel-, Restaurant- und Gaststättengewerbe sowie im Kultursektor. |
2.4. |
Die öffentlichen Dienste wurden hart getroffen, insbesondere die Gesundheits- und Sozialschutzsysteme, die unter dem Druck stehen, Menschen in Not zu versorgen. Ohne entschlossene öffentliche Maßnahmen und Unterstützung könnte die COVID-19-Krise auch zu mehr Arbeitslosigkeit, Unterbeschäftigung und Armut führen. Mehr als ein Viertel der Befragten einer Eurofound-Umfrage zu COVID-19 gaben an, ihren Arbeitsplatz entweder vorübergehend (23 %) oder dauerhaft (5 %) verloren zu haben (5). Die Kommission geht davon aus‚ dass die Arbeitslosenquote in der EU von 6,7 % auf 9 % im Jahr 2020 ansteigen und dann 2021 auf rund 8 % sinken könnte, wobei wiederum Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten bestehen (6). |
2.5. |
Mehr als deutlich gezeigt hat sich in der COVID-19-Krise auch die besondere Schutzbedürftigkeit von Selbstständigen und Arbeitnehmern in atypischen oder prekären Beschäftigungsverhältnissen, die allzu oft von den Sozialschutznetzen ausgeschlossen sind, die ihren Einkommens- bzw. Arbeitsplatzverlust abfedern könnten. Arbeitnehmer, die oftmals unter persönlichem Risiko systemrelevante Dienstleistungen erbringen, wurden öffentlich für ihren gesellschaftlichen Beitrag gelobt. Ihre Arbeit, z. B. in den Bereichen Gesundheits- und Sozialdienste, Einzelhandel und Lieferdienste sowie Reinigung, ist für die gesamte Gesellschaft wichtig, wird jedoch häufig nicht entsprechend wertgeschätzt und muss mehr Anerkennung finden. |
2.6. |
Frauen, Wanderarbeitnehmer und Angehörige ethnischer Minderheiten, die in einigen dieser systemrelevanten Branchen überrepräsentiert sind, müssen stärker in den Blickpunkt genommen werden, um sicherzustellen, dass sie alle Arbeitnehmerrechte genießen, und benötigen gegebenenfalls einen besseren Schutz durch die Netze der sozialen Sicherheit. Junge Menschen unter 25 Jahren sind besonders stark von Arbeitsplatzverlust (einschließlich Lehrlingsausbildungsprogrammen) und der Unterbrechung ihrer allgemeinen und beruflichen Bildung betroffen. Sie stehen nun noch größeren Hindernissen beim Eintritt in den Arbeitsmarkt gegenüber, ebenso wie andere gefährdete Gruppen wie Menschen mit Behinderungen und weitere diskriminierte Gruppen, die beim Zugang zum Arbeitsmarkt bereits zuvor benachteiligt waren. |
2.7. |
Europa kann es sich nicht leisten, ein weiteres Jahrzehnt zu verlieren. Kurzfristig muss der Schwerpunkt auf die Rettung von Unternehmen und die Sicherung von Arbeitsplätzen gelegt werden. Aus den Reaktionen auf die Wirtschafts- und Finanzkrise von 2008, die erhebliche Langzeitfolgen für die EU und ihre Bürgerinnen und Bürger hatte, müssen die entsprechenden Lehren gezogen werden. Es müssen Maßnahmen ergriffen werden, um Beschäftigung und Einkommen zu sichern und eine sichere und rasche Wiederankurbelung der Wirtschaftstätigkeit zu ermöglichen und so nachhaltiges Wachstum, eine stabilere Erholung, Wettbewerbsfähigkeit sowie ein gerechteres, produktives und gut funktionierendes Sozial- und Wirtschaftsmodell zu gewährleisten. Der zivile Dialog und die wirksame Einbeziehung aller Interessenträger sind von entscheidender Bedeutung, um eine wirksame Reaktion auf COVID-19 zu gewährleisten und das Vertrauen der Bevölkerung zu erhalten. |
2.8. |
Teil der Lösung müssen die Schaffung hochwertiger Arbeitsplätze sowie gerechte Löhne sein, einschließlich Mindestlöhnen, die allen Arbeitnehmern einen angemessenen Lebensstandard ermöglichen und auch wirtschaftlichen Faktoren, darunter auch der Produktivität, Rechnung tragen. Tarifverhandlungen und der soziale Dialog spielen eine entscheidende Rolle bei diesen Bemühungen und müssen entsprechend den nationalen Beziehungen zwischen den Sozialpartnern auf sämtlichen Ebenen gestärkt und/oder unterstützt werden. |
Die europäische Säule sozialer Rechte und das erneuerte Engagement für gerechte Löhne und Tarifverhandlungen in der EU
2.9. |
Durch die Proklamation der europäischen Säule sozialer Rechte (im Folgenden kurz „die Säule“) auf dem Göteborger Gipfel im November 2017 bekräftigten das Europäische Parlament, der Rat und die Kommission ihre Entschlossenheit, auf ein faireres und gerechteres Europa hinzuarbeiten. Die Säule soll als Richtschnur für eine erneuerte Aufwärtskonvergenz dienen, die sich in besseren Arbeits- und Lebensbedingungen niederschlägt, und Leitlinien für Reformen in den Bereichen Arbeitsmarkt und Sozialpolitik vorgeben. |
2.10. |
Der EWSA hat stets betont, dass konkrete Maßnahmen erforderlich sind, um die Grundsätze der Säule in die Tat umzusetzen. Neben der Steigerung von Wettbewerbsfähigkeit und Produktivität sollte der Hauptschwerpunkt der Konvergenzbemühungen im Einklang mit Grundsatz 6 der Säule auf der Förderung angemessener Mindestlöhne liegen, die den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern und ihren Familien unter Berücksichtigung der jeweiligen wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen in den einzelnen Mitgliedstaaten einen angemessenen Lebensstandard ermöglichen und gemäß den nationalen Verfahren und unter Wahrung der Tarifautonomie auf transparente und verlässliche Weise festgelegt werden (7). |
3. Allgemeine Bemerkungen
3.1. Allgemeine Erwägungen
3.1.1. |
In ihren politischen Leitlinien für die Europäische Kommission 2019–2024 (8) erklärte Präsidentin Ursula von der Leyen ihre Absicht, „ein Rechtsinstrument“ vorzuschlagen, „mit dem sichergestellt werden soll, dass jeder Arbeitnehmer in unserer Union einen gerechten Mindestlohn erhält“. Am 14. Januar 2020 leitete die Europäische Kommission die erste Phase der Konsultation der Sozialpartner gemäß Artikel 154 AEUV zu einer möglichen Maßnahme zur Bewältigung der Herausforderungen im Zusammenhang mit gerechten Mindestlöhnen ein. In der zweiten, seit 3. Juni laufenden Phase der Konsultation erläutert die Kommission die Notwendigkeit von EU-Maßnahmen sowie ihr Ziel, die Arbeit an einem möglichen Rechtsinstrument, d. h. einer Richtlinie oder einer Empfehlung, fortzusetzen. |
3.1.2. |
Der EWSA hat bereits seine Überzeugung zum Ausdruck gebracht, dass weitere Anstrengungen in Bezug auf die Angleichung der Löhne und die Festlegung von Mindestlöhnen in den Mitgliedstaaten erforderlich sind, und dabei auch betont, dass „die Kernkompetenz und die Autonomie der einzelstaatlichen Sozialpartner in der Lohnfindung gemäß den nationalen Gepflogenheiten uneingeschränkt geachtet werden müssen“ (9). Ziel sollte es sein, sicherzustellen, dass die Mindestlöhne in allen EU-Mitgliedstaaten sämtlichen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern einen angemessenen Lebensstandard sichern und dabei auch wirtschaftlichen Faktoren Rechnung tragen. Dies würde auch zur Verwirklichung des Ziels der EU, die Lebens- und Arbeitsbedingungen ihrer Bürgerinnen und Bürger zu verbessern, sowie zur Umsetzung des Vorhabens der Kommission, eine „Union, die nach mehr strebt“ zu schaffen, beitragen. |
3.1.3. |
Der EWSA hat außerdem seine Besorgnis über das Fehlen eines sozialen Dialogs in einigen Mitgliedstaaten geäußert und betont, dass der soziale Dialog und die Tarifverhandlungen auf allen geeigneten Ebenen entsprechend dem jeweiligen nationalen System der Beziehungen der Sozialpartner gefördert werden müssen. |
3.2. Der breitere Kontext
3.2.1. |
Weiter gefasste wichtige Überlegungen — z. B. zur Funktionsfähigkeit bzw. Wirksamkeit der Arbeitsmärkte, der öffentlichen Arbeitsverwaltungen, der aktiven Arbeitsmarktpolitik, der Besteuerung, der Systeme der sozialen Sicherheit (einschließlich der Leistungen bei Arbeitslosigkeit), der Sozialsysteme, der Systeme der allgemeinen und beruflichen Bildung sowie des Binnenmarkts — wirken sich auf die wirtschaftliche und soziale Aufwärtskonvergenz und die Bekämpfung der Armut aus. |
3.2.2. |
Die Löhne sind abhängig von der wirtschaftlichen Situation eines Landes, einer Region oder Branche. Veränderungen können sich auf die Beschäftigung, die Wettbewerbsfähigkeit und die gesamtwirtschaftliche Nachfrage auswirken. Die Produktivität ist relevant für das Funktionieren der Arbeitsmärkte, die Beschäftigungsperspektiven — insbesondere von Geringqualifizierten und Arbeitsmarkteinsteigern — sowie die berufliche Weiterentwicklung von Mindestlohnbeziehern. Alle Arbeitnehmer — auch jene mit den niedrigsten Löhnen — sollten von der Produktivitätsentwicklung und dem Wachstum profitieren. Gleichzeitig ist es vor dem Hintergrund der steigenden Gesamtkosten für die Beschäftigung von Arbeitnehmern auch wichtig, die Produktivität anzuheben, um die Wettbewerbsfähigkeit der EU-Wirtschaft sicherzustellen. Steuern und Lohnnebenkosten einschließlich Sozialversicherungsbeiträge von Arbeitgebern und Arbeitnehmern können zu großen Unterschieden zwischen Brutto- und Nettolöhnen führen und sich dadurch auf die Höhe des Reinverdienstes von Arbeitnehmern sowie auf die Kosten der Arbeitgeber auswirken. |
3.2.3. |
Außerdem haben Mindestlöhne einen Ausstrahlungseffekt auf die Lohnstruktur insgesamt. Der prozentuale Anteil der Mindestlohnbezieher, die Lohnentwicklung, das Preisniveau und die Kaufkraft sowie die Höhe der Mindestlöhne im Verhältnis zur gesamten Lohnstruktur im jeweiligen Land sind weitere wichtige Faktoren, die zu berücksichtigen sind. Mindestlöhne sollten im Verhältnis zur Lohnstruktur in den einzelnen Ländern gerecht sein, wobei ihre Höhe auch hinsichtlich der realen Preise adäquat sein sollte, sodass sie einerseits einen angemessenen Lebensstandard ermöglichen, aber auch die Tragfähigkeit jener Unternehmen sicherstellen, die hochwertige Arbeitsplätze zur Verfügung stellen. Seit 2010 ist in der EU bei den nationalen Mindestbruttolöhnen in Kaufkraftstandards eine Aufwärtskonvergenz zu verzeichnen, da sich insbesondere die mittel- und osteuropäischen Länder dem EU-Durchschnitt annähern (10). Die Unterschiede sind jedoch nach wie vor sehr groß, und das Tempo der Konvergenz hat sich in den letzten Jahren verlangsamt (11). |
3.3. Notwendigkeit angemessener Mindestlöhne in ganz Europa
3.3.1. |
Das Recht auf faire und gerechte Arbeitsbedingungen und Entlohnung ist ein in internationalen und europäischen Menschenrechtsinstrumenten verankertes Grundrecht. Löhne, darunter auch Mindestlöhne, sind ein wichtiger Aspekt des EU-Modells der sozialen Marktwirtschaft. Als Bezahlung für eine erbrachte Arbeitsleistung sind sie einer der Faktoren, die den beiderseitigen Nutzen für Unternehmen und Arbeitnehmer im Rahmen gut funktionierender Arbeitsmärkte gewährleisten, und sie sind häufig ein Schlüsselelement von Tarifverhandlungen. |
3.3.2. |
Mindestlöhne haben auch andere Funktionen, z. B. den Schutz der Arbeitnehmer vor unverhältnismäßig niedrigem Lohn und Armut trotz Erwerbstätigkeit (12). Während hochwertige Beschäftigung weiterhin der beste Weg aus der Armut ist, schützt ein Arbeitsplatz aktuell nicht unbedingt vor Armut, was insbesondere auf Teilzeitkräfte zutrifft. In der EU liegt der Lohn von einem von zehn Arbeitnehmern knapp über oder sogar unter dem nationalen gesetzlichen Mindestlohn (13). Im Jahr 2018 war einer von zehn Arbeitnehmern im Alter ab 18 Jahren von Armut bedroht, und in acht Mitgliedstaaten lagen die Reallöhne der Arbeitnehmer unter dem Niveau zu Beginn der Krise im Jahr 2008. Darüber hinaus ist der Anteil der von Armut bedrohten Erwerbstätigen in den letzten zehn Jahren in den meisten Mitgliedstaaten gestiegen, auch wenn er in einigen Ländern gleich geblieben oder zurückgegangen ist. In einigen Ländern sind die bestehenden Mindestlohnuntergrenzen derzeit nicht ausreichend, um Arbeitnehmer allein durch Beschäftigung aus der Armut zu befreien (14). |
3.3.3. |
Es gibt einen Konsens, dass die Europäische Union und die Mitgliedstaaten mehr tun müssen, um die Armut einschließlich der Erwerbsarmut zu bekämpfen. In ihren Dokumenten zur Konsultation zu gerechten Mindestlöhnen weist die Kommission darauf hin, dass angemessene Mindestlöhne eine wichtige Rolle dabei spielen können, Erwerbsarmut zu verringern. Der EWSA ist der Auffassung, dass die wirksamste Möglichkeit zur Verringerung von Erwerbsarmut im Einklang mit der Empfehlung der Kommission aus dem Jahr 2008 in angemessenen Mindestlöhnen sowie auf den Menschen ausgerichteten, integrierten und aktiven Eingliederungsmaßnahmen besteht, die den Zugang zu einem angemessenen Mindesteinkommen, zu Arbeitsvermittlungsdiensten und hochwertigen Arbeitsplätzen sowie zu grundlegenden und auf Qualifizierung abstellenden sozialen Dienstleistungen fördern. |
3.3.4. |
Erwerbsarmut hat viele Ursachen. Eurofound (15) kommt zu dem Schluss, dass ein angemessener Mindestlohn zwar ein Grundpfeiler eines jeden Sozialschutzmodells für erwerbstätige Arme ist, die Wechselwirkung zwischen Mindestlöhnen und Erwerbsarmut jedoch komplex ist. Ein wichtiger zu berücksichtigender Faktor ist die Zusammensetzung des Haushalts: Der Mindestlohn mag in manchen Ländern ausreichen, um einen allein lebenden Erwachsenen vor dem Risiko der Armut zu schützen, ist jedoch häufig nicht hoch genug, um mehr als eine Person zu versorgen, wenn dem Haushalt kein anderes Arbeitseinkommen zur Verfügung steht. |
3.3.5. |
Die Höhe der Lebenshaltungskosten kann ebenfalls ein Schlüsselfaktor für das Abrutschen von Haushalten in die Armut sein. Dem sollte — gegebenenfalls auch auf nationaler Ebene — bei der Bewertung der Angemessenheit von Mindestlöhnen Rechnung getragen werden. Lohnergänzungsleistungen, Sozialleistungen, Sozialtransfers und Familienzulagen können je nach Haushaltszusammensetzung ebenfalls eine wichtige Rolle bei der Linderung oder Verhinderung von Erwerbsarmut spielen. |
3.3.6. |
Viele Regierungen haben sich dafür entschieden, die Einkommenssteuer und Sozialversicherungsbeiträge zu senken, damit Mindestlohnbezieher und andere Geringverdiener ein höheres Nettoeinkommen erhalten. Allerdings kann dies umfassendere politische Auswirkungen haben und u. a. das staatliche Gesundheits- und Sozialsystem und die öffentlichen Dienste insgesamt schwächen. Neben diesen direkten Maßnahmen wird in dem Eurofound-Bericht auch die Anwendung indirekter Maßnahmen zur Bekämpfung von Armut trotz Erwerbstätigkeit (16) erwogen; allerdings sind deren Auswirkung nicht einfach zu bewerten und müssen spezifischer evaluiert werden. |
3.3.7. |
In Bezug auf das generelle Problem der Armutsbekämpfung hat der EWSA bereits in einer Stellungnahme die Einführung eines verbindlichen europäischen Rahmens für ein angemessenes Mindesteinkommen gefordert, damit die Mindesteinkommenssysteme in den Mitgliedstaaten allgemein angewandt, unterstützt und angemessen ausgestaltet werden können, was eine erste wichtige europäische Reaktion auf das gravierende und hartnäckige Problem der Armut in Europa wäre (17). Die darin skizzierte Vision eines verbindlichen Instruments für ein Mindesteinkommen auf europäischer Ebene wurde von der Gruppe Arbeitnehmer und der Gruppe Vielfalt Europa des EWSA unterstützt, nicht jedoch von der Gruppe Arbeitgeber, die sich stattdessen für die offene Koordinierungsmethode aussprach (18). Außerdem hat der EWSA einen schrittweisen Ansatz für die Schaffung gemeinsamer Mindeststandards im Bereich der Arbeitslosenversicherung in den Mitgliedstaaten vorgeschlagen, um ein angemessenes Sicherheitsnetz für Arbeitnehmer, die ihren Arbeitsplatz verlieren, sowie einen Schutz vor Armut zu schaffen, (19) Dies würde auch als automatischer Stabilisator fungieren und die Aufwärtskonvergenz in der EU fördern. |
3.3.8. |
Zudem bedarf es eines umfassenden Ansatzes, der u. a. auch wirksame Mindesteinkommensregelungen, angemessene Reformen der Sozialversicherungssysteme und mehr Investitionen in öffentliche Dienstleistungen umfasst. Um Menschen aus der Armut zu befreien, muss auf EU-Ebene insbesondere weiter darüber diskutiert werden, wie der EU-Indikator für die Armutsgefährdungsquote (europäischer AROP-Indikator (20)) unter Hinzuziehung nationaler Referenzbudgets zur Berechnung der Kosten für wesentliche Güter und Dienstleistungen (unter Berücksichtigung der verschiedenen dafür angewandten Methoden) eingehalten werden kann. Dabei sollten die soziale Umverteilung, die Besteuerung und der Lebensstandard in den einzelnen EU-Mitgliedstaaten (21) berücksichtigt werden, was dazu beitragen würde, die AROP-Schwelle an die vielschichtige Realität der Armut anzupassen. |
3.3.9. |
In fast allen Mitgliedstaaten sind Frauen unter den Geringverdienern überrepräsentiert (22). Es gibt Belege dafür, dass sich angemessene Mindestlöhne auch positiv auf das geschlechtsspezifische Lohngefälle am unteren Ende der Lohnskala auswirken können, wenn begleitend dazu Maßnahmen zur Beseitigung der strukturellen Ungleichbehandlung von Frauen und Männern auf dem Arbeitsmarkt und in der Gesellschaft ergriffen werden. Auch andere benachteiligte Gruppen wie Wanderarbeitnehmer, Menschen mit Behinderungen und ethnische Minderheiten würden erheblich von angemessenen Mindestlöhnen profitieren. Um die Beschäftigungsquote von Arbeitnehmern mit Behinderungen zu verbessern, sollten den Arbeitgebern von den zuständigen Stellen Lohnzuschüsse oder Steuererleichterungen gewährt werden, um die mit der Beschäftigung dieser Arbeitnehmer verbundenen zusätzlichen Kosten zu decken. |
3.3.10. |
In Bezug auf angemessene Löhne in Europa betont der EWSA ferner, dass gut funktionierende Tarifverhandlungssysteme, insbesondere Branchentarifverhandlungen, eine wichtige Rolle bei der Gewährleistung gerechter und menschenwürdiger Löhne in der gesamten Lohnstruktur, einschließlich gegebenenfalls gesetzlicher Mindestlöhne, spielen. Sie sind auch notwendig, um die Aufwärtskonvergenz bei den Löhnen zwischen und innerhalb der Mitgliedstaaten zu fördern und um soziale und wirtschaftliche Erwägungen gleichermaßen zu berücksichtigen. |
3.4. Notwendigkeit und Machbarkeit von Maßnahmen auf EU-Ebene
3.4.1. |
In der ersten Phase der Konsultation der Sozialpartner legte die Kommission mehrere Wege dar, wie die EU-Maßnahmen einen Mehrwert schaffen können: Beitrag zur Sicherstellung gerechter Mindestlöhne, Unterstützung der Mitgliedstaaten bei der Erreichung einer Aufwärtskonvergenz bei den Arbeitsbedingungen, Sicherstellung der Wettbewerbsgleichheit auf dem Binnenmarkt und Steigerung der Kaufkraft von Geringverdienern. |
3.4.2. |
In der zweiten Phase der Konsultation der Sozialpartner erläutert sie die Ziele von EU-Maßnahmen und die strategischen Ziele einer möglichen Initiative (23). Nach Angaben der Kommission würden die allgemeinen Ziele einer solchen Initiative darin bestehen, sicherzustellen, dass alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in der EU durch einen gerechten Mindestlohn geschützt werden, der ihnen unabhängig von ihrem Arbeitsort einen angemessenen Lebensstandard ermöglicht, sowie dass Mindestlöhne in angemessener Höhe festgesetzt werden, wobei der Zugang zu Beschäftigung zu gewährleisten ist und die Auswirkungen auf die Schaffung von Arbeitsplätzen und die Wettbewerbsfähigkeit zu berücksichtigen sind. Der EWSA begrüßt mehrheitlich die von der Kommission festgelegten Ziele und ist der Auffassung, dass sie durch EU-Maßnahmen zu gerechten Mindestlöhnen umgesetzt werden sollten. Eine Minderheit ist jedoch der Ansicht, dass ein Tätigwerden der EU in Bezug auf einige dieser Ziele nicht angemessen wäre. |
3.4.3. |
Die Kommission betont in diesem Zusammenhang, dass sie nicht beabsichtigt, einen einheitlichen „europäischen Mindestlohn“ einzuführen oder die Höhe der Mindestlöhne in der gesamten EU direkt zu harmonisieren und dass sie die nationalen Zuständigkeiten und Traditionen, die Besonderheiten jedes Landes sowie die Vertragsfreiheit der Sozialpartner uneingeschränkt achten wird. |
3.4.4. |
Zwar gibt es in den meisten Mitgliedstaaten einen gesetzlichen oder nationalen Mindestlohn, doch bestehen erhebliche Unterschiede zwischen den Niveaus dieser gesetzlichen bzw. nationalen Mindestlöhne, die das unterschiedliche Niveau der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung widerspiegeln. Mit Stand Januar 2020 lagen die gesetzlichen Mindestlöhne in den Mitgliedstaaten zwischen 312 und 2 142 Euro pro Monat. Im Osten der EU liegen die monatlichen Mindestlöhne in der Regel unter 600 Euro und im Nordwesten über 1 500 Euro (24). In dem Dokument zur zweiten Phase der Konsultation weist die Kommission darauf hin, dass sich die Angemessenheit der Mindestlöhne in den meisten Mitgliedstaaten verbessert hat (25). Allerdings gibt es nach wie vor Unterschiede und in zahlreichen Mitgliedstaaten liegt der gesetzliche Mindestlohn bei oder unter 50 % des Vollzeitbruttomedianlohns (26) sowie erheblich unter der Armutsgefährdungsschwelle von 60 % des Medianeinkommens und trägt somit für sich genommen nicht dazu bei, Arbeitnehmer aus der Armut zu befreien. |
3.4.5. |
Mindestlöhne sollten einen angemessenen Lebensstandard gewährleisten. Die Gruppe Arbeitnehmer und die Gruppe Vielfalt Europa sind der Auffassung, dass die Mindestlöhne in einer Reihe von Mitgliedstaaten nach wie vor nicht angemessen sind und dass der gesetzliche „Referenz“-Nettomindestlohn deutlich über der Armutsgrenze liegen muss, die im EU-Kontext mit Hilfe des Indikators AROP (60 % des nationalen verfügbaren Medianäquivalenzeinkommens der Haushalte nach Sozialtransfers) festgelegt wird, und dass er im Verhältnis zu den Löhnen auf dem Arbeitsmarkt insgesamt gerecht sein muss. Ein solcher Richtwert würde ein angemessenes Leistungsniveau gewährleisten und verhindern, dass Arbeitnehmer in prekäre Beschäftigungsverhältnisse mit negativen Bedingungen im Zusammenhang mit Mindesteinkommensregelungen gedrängt werden. Eine Anhebung im Niedriglohnsegment durch die Einführung armutssicherer Mindestlöhne würde auch die Steuerbemessungsgrundlage für die Regierungen erweitern und zur Finanzierung angemessener Sozialschutzsysteme beitragen. Die Gruppe Arbeitgeber ist jedoch der Auffassung, dass die EU zu dieser Frage keine Maßnahmen ergreifen darf, da sie keine Zuständigkeit im Bereich des Arbeitsentgelts hat, insbesondere in Bezug auf die Höhe des Arbeitsentgelts, wie der EuGH in seiner Rechtsprechung festgestellt hat. Nach Ansicht der Befürworter der letztgenannten Auffassung könnte allenfalls im Rahmen der offenen Koordinierungsmethode oder des Europäischen Semesters diskutiert werden, wie ein angemessenes Leistungsniveau und angemessene Mindesteinkommensregelungen sichergestellt werden können und wie dies neben der Beschäftigung die Finanzierung angemessener Sozialschutzsysteme unterstützen kann. |
3.4.6. |
Der EWSA räumt ein, dass es unterschiedliche Bedenken bezüglich möglicher EU-Maßnahmen auf diesem Gebiet gibt. Insbesondere hinsichtlich der Zuständigkeit der EU bestehen sehr unterschiedliche Auffassungen. Einige argumentieren, dass Artikel 153 Absatz 5 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union eine legislative Zuständigkeit der EU für den Bereich „Arbeitsentgelt“ ausschließt und somit kein Handlungsspielraum auf EU-Ebene gegeben ist. Andere (einschließlich der Kommission) machen wiederum geltend, dass sehr wohl Handlungsmöglichkeiten auf EU-Ebene bestehen und Artikel 153 Absatz 5 keinen Hinderungsgrund darstellt. |
3.4.7. |
Außerdem bestehen vor allem in den Mitgliedstaaten, in denen die Lohnuntergrenze ausschließlich oder vorwiegend im Zuge von Tarifverhandlungen festgesetzt wird, Bedenken, dass derartige Maßnahmen einen Eingriff in die Autonomie der Sozialpartner darstellen. Es ist daher unerlässlich, dass jedwede EU-Initiative die Modelle derjenigen Mitgliedstaaten achtet, in denen die Sozialpartner gesetzliche Mindestlöhne nicht für notwendig halten. Gleichzeitig gilt es, bei Maßnahmen zur Förderung von Tarifverhandlungen und vor allem von branchenspezifischen Tarifverhandlungen, die unterschiedlichen nationalen Arbeitsbeziehungssysteme vollumfänglich zu respektieren und nicht auf einen einheitlichen Ansatz zu dringen. |
3.4.8. |
Anlass zur Sorge bereitet auch, dass eine europäische Mindestlohnpolitik negative Auswirkungen auf die Beschäftigung, vor allem im Fall von jungen Menschen und Geringqualifizierten, zeitigen und zu mehr Verstößen führen könnte, wodurch wiederum Geringverdiener in informelle Beschäftigungsverhältnisse abgedrängt werden könnten (27). Dem kann jedoch gegengesteuert werden, wenn das Niveau des Mindestlohns angemessen festgesetzt wird, d. h. das Einkommen des Arbeitnehmers wird unterstützt, ohne die Beschäftigung zu unterminieren, und zwar abhängig von landesspezifischen Faktoren wie beispielsweise den Verhaltensweisen von Arbeitgebern, der Intensität des Wettbewerbs auf den Güter- und Arbeitsmärkten sowie dem Wechselspiel mit anderen Bereichen der Politik, vor allem betreffend Steuern und Sozialleistungen (28). So gibt es konkrete Beispiele für Mitgliedstaaten, in denen die Einführung von Mindestlöhnen keine negativen Auswirkungen auf die Entstehung von Arbeitsplätzen hatte und selbst erhebliche Erhöhungen des Mindestlohns positive makroökonomische Auswirkungen hatten, einschließlich eines gesteigerten Beschäftigungszuwachses (29). |
3.4.9. |
Der EWSA ist sich der Komplexität der Fragen bewusst, die in dieser Debatte aufgeworfen werden, und vertritt die Auffassung, dass Mindestlöhne kein Allheilmittel zur Lösung aller Probleme sind. Durch einen gemeinsamen EU-Ansatz mit klaren politischen Zielen, die die Mitgliedstaaten mit unterschiedlichen Mitteln erreichen können, und die Einbeziehung der Sozialpartner im Rahmen gut funktionierender Tarifverhandlungssysteme könnte jedoch sichergestellt werden, dass die Rechte der Arbeitnehmer auf gerechte Entlohnung und Vereinigungsfreiheit sowie die Bedürfnisse der Arbeitgeber in Bezug auf Produktivität und Wettbewerbsfähigkeit gewahrt bleiben. In Kombination mit umfassenderen Maßnahmen könnte so auch zur Aufwärtskonvergenz und zum sozialen Fortschritt in der gesamten EU beigetragen werden, indem die Einkommens- und Lohnunterschiede zwischen den Mitgliedstaaten und die Erwerbsarmut verringert sowie gleiche Wettbewerbsbedingungen im Binnenmarkt geschaffen werden. |
3.4.10. |
Jede europäische Initiative im Bereich gerechter Mindestlöhne muss auch dem Aspekt der Förderung und Unterstützung gut funktionierender Tarifverhandlungen im Hinblick auf die Lohnfestsetzung Rechnung tragen und auf der Grundlage einer präzisen Analyse und eines genauen Verständnisses der Lage in den einzelnen Mitgliedstaaten konzipiert werden, wobei die Rolle und Autonomie der Sozialpartner sowie die verschiedenen Modelle der Beziehungen zwischen den Sozialpartnern uneingeschränkt geachtet werden müssen. |
4. Für eine europäische Rechtsetzungsinitiative zu gesetzlichen Mindestlöhnen, in der auch vorgesehen ist, die Einbeziehung der Sozialpartner zu unterstützen und zu fördern
4.1. Konzept des Mindestlohns
4.1.1. |
Die Löhne werden von einer Reihe verschiedener Faktoren beeinflusst, wie z. B. Sektor und Branche, Wettbewerbsdruck, dem Letztere auf den globalen Märkten ausgesetzt sind, Lebenshaltungskosten, Marktangebot und -nachfrage, Produktivität, Einkommensverteilung, Höhe der Tariflöhne, individuelle Kompetenz und Leistung, sowie auch von der Frage, wie diese Faktoren berücksichtigt und gewichtet werden. Sie stellen eine Entschädigung für die im Einklang mit den geltenden Rechtsvorschriften, Tarifverträgen und der Praxis geleistete Arbeit dar. Je nachdem, wie der Gesamtlohn in den einzelnen Mitgliedstaaten, Regionen oder aufgrund unterschiedlicher Tarifverträge festgelegt wird, umfasst er eine Reihe verschiedener Elemente. |
4.1.2. |
Mindestlöhne werden von der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO) definiert als „der Mindestbetrag einer Vergütung, die ein Arbeitgeber an seine Lohnempfänger für die während einer bestimmten Zeit ausgeführte Arbeit zu zahlen hat, der nicht durch Tarifverträge oder einen individuellen Vertrag reduziert werden kann“ (30). Entsprechend dem IAO-Übereinkommen Nr. 131 über die Festsetzung von Mindestlöhnen (31) bedeutet die Festlegung von gerechten Mindestlöhnen, dass sowohl den Bedürfnissen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und ihrer Familien, der Gesamtlohnstruktur und den Lebenshaltungskosten im jeweiligen Land als auch wirtschaftlichen Faktoren wie Produktivität und Beschäftigung Rechnung getragen wird. Außerdem sieht das Übereinkommen vor, dass die Sozialpartner bei der Festlegung von Mindestlöhnen hinzugezogen werden sollen. In allen zehn EU-Mitgliedstaaten (32), die das Übereinkommen ratifiziert haben, gibt es ein gesetzliches Mindestlohnsystem. |
4.1.3. |
Die Wirksamkeit gesetzlicher Mindestlöhne hängt von vielen Faktoren ab, die je nach nationalem Kontext unterschiedliches Gewicht haben: Inwieweit gelten sie für Arbeitnehmer? Werden sie auf einem angemessenen Niveau festgelegt bzw. angepasst, das den Bedürfnissen der Arbeitnehmer und ihrer Familien und gleichzeitig auch wirtschaftlichen Faktoren wie der Produktivität Rechnung trägt? Halten Arbeitgeber die Vorschriften in Bezug auf Mindestlöhne ein? usw (33). Außerdem ist sie davon abhängig, ob die Einbindung der Sozialpartner gefördert wird und ob es ein wirksames Tarifverhandlungssystem gibt, das die Festsetzung des gesetzlichen Mindestlohns ergänzt. EU-Maßnahmen sollten u. a. die notwendigen Verbesserungen in diesen Bereichen fördern. |
4.1.4. |
In den Mitgliedstaaten, in denen die Sozialpartner für die Festlegung von Lohnuntergrenzen zuständig sind, schwankt der Anteil der Arbeitnehmer, die formell nicht unter solche Vereinbarungen fallen, zwischen 2 % in Österreich, etwa 10 % in Schweden, Finnland und Italien und etwa 20 % in Dänemark. In Schweden und Dänemark ist zu berücksichtigen, dass es sich bei den meisten der Arbeitnehmer, für die kein formeller Mindestlohn gilt, entweder um hoch entlohnte Angestellte handelt, die weit über den tariflichen Mindestlöhnen verdienen, oder um berufstätige Studierende oder andere junge Arbeitnehmer, die gerade erst in den Arbeitsmarkt eintreten. Arbeitgeber wenden die branchenspezifischen Mindestlöhne, ohne dazu verpflichtet zu sein, häufig auch auf Arbeitnehmer an, für die die Mindestlöhne formell nicht gelten. In Italien handelt es sich bei den überwiegend jungen Arbeitnehmern, die nicht unter eine Mindestlohnregelung fallen, jedoch sowohl um informell beschäftigte Arbeitnehmer als auch um Selbständige, die nur phasenweise und unter individuell festgelegten Bedingungen arbeiten. |
4.1.5. |
Die Europäische Kommission, der Rat und die europäischen Sozialpartner haben allesamt betont, wie wichtig es ist, den sozialen Dialog zu fördern und die Autonomie der Sozialpartner zu achten. Zudem haben sie die Mitgliedstaaten aufgefordert, die Verbesserung und Funktionsweise des nationalen sozialen Dialogs zu unterstützen (34). Es ist wichtig, dass etwaige Initiativen im Bereich Mindestlöhne nicht die Tarifverhandlungssysteme in einem Mitgliedstaat schwächen, indem beispielsweise die Kontrolle der Sozialpartner über die Löhne reduziert wird. |
4.2. Nationale Lohnfindungssysteme und -institutionen in der Europäischen Union
4.2.1. |
Die Verfahren, nach denen Mindestlöhne festgelegt werden, und die Rolle und Kapazitäten der Sozialpartner variieren zwischen den Mitgliedstaaten erheblich. Dies liegt an den unterschiedlichen nationalen Traditionen sowie an verschiedenen wirtschaftlichen und sozialen Faktoren und an dem politischen und verfassungsrechtlichen Rahmen des jeweiligen Landes. |
4.2.2. |
Einige Mitgliedstaaten haben sich für gesetzliche Mindestlöhne entschieden, die mindestens einem gesetzlich vorgegebenen Mindestniveau entsprechen müssen. In diesen Ländern kann es auch (höhere) branchenspezifische und branchenübergreifende Mindestlöhne geben, die von den Sozialpartnern festgelegt werden. In anderen Ländern ohne einen gesetzlichen Mindestlohn werden die Löhne im Rahmen von Tarifverträgen auf nationaler, sektoraler und/oder betrieblicher Ebene ausschließlich oder hauptsächlich von den Sozialpartnern festgelegt. |
4.2.3. |
In Mitgliedstaaten mit gesetzlichen Mindestlöhnen ist generell die überwiegende Mehrheit der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer tarifvertraglich geschützt; wobei Ausnahmen für bestimmten Kategorien vorgesehen sein können, was bedeutet, dass der Lohn der betreffenden Arbeitnehmer unter dem gesetzlichen Minimum liegt. Zudem werden in elf Mitgliedstaaten (35) spezielle Tarife für bestimmte Arbeitnehmergruppen angewandt. Diese gelten hauptsächlich für jüngere oder weniger erfahrene Arbeitnehmer und/oder Auszubildende, aber auch für ungelernte Arbeitnehmer, Menschen mit Behinderungen usw. Einige Länder sehen außerdem höhere Tarife entsprechend den Qualifikationen des Arbeitnehmers vor. (36) Wie die Kommission festgestellt hat, kann eine lückenhafte Abdeckung negative Folgen für die betroffenen Arbeitnehmer und die Wirtschaft insgesamt haben. Die Auswirkungen dieser Ausnahmeregelungen sowie einer höheren tarifvertraglichen Abdeckung müssen bewertet werden, um die unterschiedlichen nationalen Ansätze, die möglichen für diese Ausnahmen sowie deren Folgen nachvollziehen zu können. |
4.2.4. |
In Ländern ohne gesetzliche Mindestlöhne gelten Mindestlöhne nur für jene Arbeitnehmer, die von Tarifverträgen abgedeckt sind. Obwohl es in einem Großteil dieser Länder eine hohe Tarifbindung gibt (über 80 %), fallen bestimmte Arbeitnehmer teils aus dem Raster (37). |
4.2.5. |
Die Angemessenheit ist ein entscheidendes Kriterium bei der Beurteilung der Frage, ob gesetzliche Mindestlöhne gerecht sind und ob sie Arbeitnehmern und ihren Familien einen angemessenen Lebensstandard ermöglichen. Auch die Höhe der Mindestlöhne im Verhältnis zur gesamten Lohnstruktur im jeweiligen Land sollte berücksichtigt werden. Die Gruppe Arbeitnehmer und die Gruppe Vielfalt Europa sind der Auffassung, dass EU-weite Kriterien für Schwellenwerte, die einen „angemessenen Lebensstandard“ sichern, von Vorteil wären. Es gibt verschiedene Möglichkeiten zur Festlegung solcher Schwellenwerte, z. B. die Verwendung eines Referenzkorbs von Waren, die mehr als das reine Überleben ermöglichen, und/oder die Festlegung solcher Schwellenwerte im Verhältnis zu einem gewissen Anteil des Vollzeitmedianlohns oder des Vollzeitbruttodurchschnittslohns. Es bedarf weiterer Beratungen darüber, wo diese Schwellenwerte liegen und wie sie schrittweise erreicht werden könnten. Die Gruppe Arbeitgeber ist der Auffassung, dass die Frage der Schwellenwerte nicht durch Maßnahmen der EU angegangen werden darf, da die EU keine Zuständigkeit im Bereich des Lohnniveaus hat, wie der EuGH in seiner Rechtsprechung (38) festgestellt hat. Außerdem ist es wichtig, sicherzustellen, dass bei der Überprüfung der gesetzlichen Mindestlöhne deren Angemessenheit und die Regelmäßigkeit der Prüfungen berücksichtigt werden und dass es ein klares Verfahren gibt, in das die Sozialpartner voll einbezogen sind. |
4.2.6. |
Nach Auffassung des Europäischen Ausschusses für soziale Rechte des Europarats (ECSR) geht das Konzept des „angemessenen Lebensstandards“ über die rein materiellen grundlegenden Bedürfnisse wie etwa Lebensmittel, Kleidung und Wohnen hinaus und umfasst auch die Ressourcen, die notwendig sind, um an kulturellen, Bildungs- und sozialen Aktivitäten teilzunehmen. In einer seiner jüngsten Schlussfolgerungen (39) kam der ECSR zu dem Ergebnis, dass die Mindestlöhne in verschiedenen Mitgliedstaaten keinen angemessenen Lebensstandard für die Arbeitnehmer und ihre Familien sicherstellen. |
4.2.7. |
Mehrere Mitgliedstaaten gestatten Arbeitgebern derzeit Abzüge von den gesetzlichen Mindestlöhnen (z. B. für Pausen oder den Kauf von Ausrüstung) oder auch die Einberechnung zusätzlicher Zahlungen (z. B. Überstunden, Boni) in die Berechnung der Löhne. Der ECSR sowie Aufsichtsorgane auf UN- und IAO-Ebene haben entschieden, dass dadurch das Recht der Arbeitnehmer auf gerechte Bezahlung in einigen Mitgliedstaaten nicht gewahrt ist. |
4.3. Rolle der Sozialpartner bei der Festlegung gesetzlicher Mindestlohnsysteme
4.3.1. |
Bei der Beteiligung der Sozialpartner an den Systemen zur Festsetzung des gesetzlichen Mindestlohns bestehen große Unterschiede. In einigen Ländern haben Regierungen bedauerlicherweise einseitige Entscheidungen über Mindestlöhne getroffen, ohne dass die Sozialpartner angemessen einbezogen oder konsultiert wurden. |
4.3.2. |
Verfahren, die eine rechtzeitige und angemessene Anhörung der Sozialpartner erlauben, tragen dazu bei, dass verschiedene wirtschaftliche und arbeitsmarktrelevante Situationen berücksichtigt werden. Überdies können sie dazu beitragen, Vereinbarungen zwischen den zuständigen nationalen Behörden und den Sozialpartnern zu finden und ein ausgewogenes Ergebnis zu erzielen, das den Bedürfnissen der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer Rechnung trägt. |
4.3.3. |
Transparente, eindeutige und stabile Kriterien für die Anpassung der gesetzlichen Mindestlöhne, die deren Angemessenheit sicherstellen und gleichzeitig wirtschaftliche Faktoren berücksichtigen, führen zu einem besseren Verständnis und besserer Vorhersehbarkeit für Arbeitgeber, Arbeitnehmer und ihre Vertreter. Leider fehlen derartige Kriterien in einigen Mitgliedstaaten. |
4.3.4. |
Die Sozialpartner sollten auf angemessene Weise entsprechend den Bedürfnissen sowohl der Arbeitnehmer als auch der Arbeitgeber in die Beratungen über gesetzliche Mindestlöhne involviert werden, im Zuge derer auch die entsprechenden Kriterien für die Definition eines angemessenen Niveaus festgelegt und etwaige Anpassungen bewertet werden sollten. Darüber hinaus können die EU und die Mitgliedstaaten den nationalen Sozialpartnern durch Unterstützung beim Aufbau von Kapazitäten dabei helfen, sich in Tarifverhandlungen — gegebenenfalls auch zur Festlegung von Löhnen — sowie in Debatten über gesetzliche Mindestlöhne einzubringen. |
4.4. Rolle von Tarifverhandlungen bei der Festlegung von Mindestlöhnen
4.4.1. |
Die von den Sozialpartnern ausgehandelten Löhne beruhen auf einer von beiden Seiten getroffenen ausgewogenen Vereinbarung, was wichtig ist, um sicherzustellen, dass die Löhne für beide Seiten gerecht sind. Fünf der sechs Länder, in denen Lohnuntergrenzen im Rahmen von branchenspezifischen Tarifverhandlungen festgelegt werden, zählen zu denjenigen mit der höchsten Tarifbindung. |
4.4.2. |
Der EWSA begrüßt den Hinweis der Kommission, dass eine Initiative „nicht darauf abzielen [würde], einen gesetzlichen Mindestlohn in Ländern mit hoher Reichweite von Tarifverhandlungen einzuführen, wo die Lohnfestsetzung ausschließlich auf diesem Wege erfolgt“ (40). Hier spiegelt sich die Tatsache wider, dass die Sozialpartner entsprechend der auf nationaler Ebene getroffenen Entscheidungen unter vollumfänglicher Achtung ihrer Autonomie und auf der von ihnen gewählten Ebene am besten dazu in der Lage sind, Lohngestaltungspolitik und -mechanismen festzulegen und umzusetzen. |
4.4.3. |
Tarifverhandlungen sind bei der Festlegung des Lohnniveaus in vielen Ländern, die einen gesetzlichen Mindestlohn haben, von großer Bedeutung, und die von der Regierung festgelegten Tarife werden durch die ausgehandelten Vereinbarungen werden oftmals noch aufgestockt. |
4.5. Tarifverhandlungen in den Mitgliedstaaten unterstützen und fördern
4.5.1. |
Die Wirkung und Höhe gesetzlicher Mindestlöhne hängt davon ab, wie sie mit anderen politischen Maßnahmen und Arbeitsmarktinstitutionen interagieren. Eine solche Wechselwirkung besteht zwischen Mindestlöhnen und Tarifverhandlungen. Die relative Stärke der Tarifverhandlungen in den verschiedenen Ländern ist einer der wichtigsten Faktoren für das Zustandekommen und das Ausmaß von Ausstrahlungseffekten (41). |
4.5.2. |
Gut funktionierende Tarifverhandlungssysteme fördern eine höhere Beschäftigung und geringere Arbeitslosigkeit für alle Arbeitnehmer. Die Koordination zwischen den einzelnen Akteuren der Tarifverhandlungen hilft den Sozialpartnern, der Konjunkturlage und den makroökonomischen Auswirkungen von Lohnvereinbarungen auf die Wettbewerbsfähigkeit Rechnung zu tragen (42). |
4.5.3. |
Das Recht auf Vereinigung, Gründung von Gewerkschaften und Tarifverhandlungen ist ein in internationalen und europäischen Menschenrechtsinstrumenten verankertes Grundrecht. Alle Mitgliedstaaten haben die IAO-Übereinkommen Nr. 87 über die Vereinigungsfreiheit und den Schutz des Vereinigungsrechtes und Nr. 98 über die Anwendung der Grundsätze des Vereinigungsrechtes und des Rechtes zu Kollektivverhandlungen ratifiziert. Die Ebenen, auf denen die Tarifverhandlungen geführt werden, und die Tarifbindung, die von 7 % in Litauen bis zu 98 % in Österreich reicht, sind in den einzelnen Mitgliedstaaten sehr unterschiedlich. Seit dem Jahr 2000 ist die Tarifbindung in 22 Mitgliedstaaten zurückgegangen, laut Schätzungen sind heute mindestens 3,3 Millionen Arbeitnehmer weniger tarifvertraglich abgesichert. |
4.5.4. |
Laut einem OECD-Bericht bestehen in Bezug auf Tarifverhandlungen sowohl seit Längerem existierende Herausforderungen, wie z. B. die rückläufige Tarifbindung und der sinkende gewerkschaftliche Organisationsgrad, als auch neue, etwa die steigende Zahl von Arbeitnehmern in atypischen Beschäftigungsverhältnissen (befristete Teilzeitbeschäftigung und Selbstständigkeit), die möglicherweise keinen Zugang zu Tarifverhandlungen haben (43). Seit Beginn der Wirtschafts- und Sozialkrise, aufgrund derer es in einer Reihe von Ländern zu Änderungen der Tarifverhandlungssysteme kam und sich der bestehende Trend zur Dezentralisierung weiter verstärkte, ist die Tarifbindung in fast allen Mitgliedstaaten rückläufig (44). Dies ist auf unterschiedliche nationale Bedingungen und in manchen Fällen auf EU-Auflagen als Voraussetzung für wirtschaftliche Rettungsmaßnahmen zurückzuführen. |
4.5.5. |
Der EWSA hat mehrfach auf die Herausforderungen hingewiesen, die durch neue und flexible Arbeitsformen entstehen, sowie darauf, dass viele Arbeitnehmer aus den Tarifverhandlungssystemen herausfallen und nicht mehr von Gewerkschaften vertreten werden. Er hat ferner betont, dass die Rolle des sozialen Dialogs und der Tarifverhandlungen gestärkt werden muss‚ u. a. durch die EU-Unterstützung für den Aufbau von Kapazitäten, die Schaffung günstiger und unterstützender nationaler Rahmenbedingungen, die Gewährleistung der organisatorischen Stärke sowohl auf Arbeitnehmer- als auch auf Arbeitgeberseite sowie die Gewährleistung gut funktionierender Tarifverhandlungssysteme (45). |
4.5.6. |
Die Vereinigungsfreiheit und das Recht auf gewerkschaftliche Organisation müssen ebenfalls respektiert und gefördert werden. Auf nationaler und EU-Ebene muss darüber diskutiert werden, wie sichergestellt werden kann, dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer Zugang zu gewerkschaftlicher Vertretung haben und das Recht auf gewerkschaftliche Organisation und Arbeitskampfmaßnahmen ausüben können. |
4.5.7. |
Der EWSA begrüßt, dass die Kommission einräumt, dass es Spielraum für EU-Maßnahmen gibt, um die Rolle der Tarifverhandlungen im Interesse angemessener und flächendeckender Mindestlöhne zu fördern. Maßnahmen zur Unterstützung von Tarifverhandlungen könnten in die Maßnahmen der EU zu Mindestlöhnen aufgenommen werden, wobei die unterschiedlichen nationalen Systeme der Beziehungen zwischen den Sozialpartnern zu beachten sind. Dies entspricht früheren Empfehlungen des EWSA, in denen eine Stärkung der Tarifverhandlungen und des sozialen Dialogs gefordert wird. |
5. Beitrag der Interessenträger: virtuelle Länderbesuche und öffentliche Anhörung
5.1. Überblick/Hintergrund der Besuche
5.1.1. |
Bei der Erarbeitung der Stellungnahme war es für den EWSA wichtig, die Standpunkte der einschlägigen Interessenträger auf nationaler und europäischer Ebene einzuholen. Zu diesem Zweck wurden Länderbesuche sowie eine öffentliche Anhörung mit Akteuren der EU-Ebene geplant. Für die Länderbesuche wurden fünf Mitgliedstaaten (Deutschland, Polen, Rumänien, Spanien und Schweden) auf der Grundlage von Kriterien für die Gremien zur Festlegung von Mindestlöhnen in den Mitgliedstaaten ausgewählt, die die Europäische Kommission in der ersten Phase der Konsultation der Sozialpartner ermittelt hat. Geplant waren Gespräche mit Vertretern der Regierung, der nationalen Gremien für die Festlegung der Löhne, der nationalen Sozialpartner und der Organisationen zur Armutsbekämpfung. Aufgrund des Ausbruchs der COVID-19-Pandemie konnten die Besuche nicht stattfinden und wurden durch einen teilstrukturierten Fragebogen sowie anschließende Videokonferenzen mit den einschlägigen Interessenträgern ersetzt. |
5.2. Zusammenfassung der Videokonferenzen
5.2.1. |
Die größten Bedenken und Widerstände gegen eine EU-Rechtsetzungsinitiative zu Mindestlöhnen wurden von den schwedischen Vertretern geäußert, bei denen allgemeiner Konsens darüber bestand, dass die EU nicht befugt ist, Maßnahmen in Bezug auf Löhne zu ergreifen. Die schwedischen Sozialpartner befürchten, dass eine EU-Initiative unter anderem in die nationalen Gepflogenheiten für die Aushandlung der Löhne eingreifen und die Autonomie der Sozialpartner beeinträchtigen würde. Stattdessen schlugen sie nichtverbindliche Initiativen zur Förderung des sozialen Dialogs und der Tarifverhandlungen vor und betonten, dass die nationalen Systeme das Ergebnis jahrzehntelanger Entwicklungen seien und nicht von einem Land auf ein anderes übertragen werden könnten. In Schweden beträgt die Tarifbindung 90 %, und weniger als 1 % der Arbeitnehmer verdienen weniger als 60 % des Medianlohns (46). Der Vertreter der schwedischen Regierung unterstützte die Standpunkte der Sozialpartner und erklärte, dass der EU eine wichtige Rolle bei der Schaffung von Arbeitsplätzen und der Verbesserung der sozialen Entwicklung zukommt. Die Bewältigung der sozialen Herausforderungen sei wichtig für den Zusammenhalt der Union und den Binnenmarkt. Man halte eine rechtsverbindliche Initiative, einschließlich einer Richtlinie, jedoch nicht für den richtigen Weg. Eine EU-Initiative dürfe nicht dazu führen, dass die Mitgliedstaaten allgemein verbindliche Tarifverträge oder gesetzliche Mindestlöhne einführen müssten. |
5.2.2. |
Gewerkschaften und Organisationen der Zivilgesellschaft in den anderen vier Ländern sprachen sich für Maßnahmen auf EU-Ebene aus, und einige meinten sogar, dass diese in Form einer Rahmenrichtlinie erfolgen könnten. Zu den Argumenten für eine solche Initiative gehören die damit einhergehenden Möglichkeiten zur Koordinierung der internationalen Lohnpolitik, die Bekämpfung von Sozialdumping, die Förderung der Lohnkonvergenz, die Verringerung der Erwerbsarmut, der Schutz von Arbeitnehmern, für die keine Tarifverträge gelten, die Vermeidung der Ausbeutung gefährdeter Gruppen von Arbeitnehmern wie Migranten sowie der Beitrag zur Verringerung des geschlechtsspezifischen Lohngefälles. Einige Vertreter verwiesen auch auf die Möglichkeit gemeinsamer EU-Kriterien für Mindestschwellen für die Angemessenheit von Mindestlöhnen, beispielsweise durch die Verwendung eines Referenzkorbs von Waren und wichtigen Dienstleistungen, die jeder benötigt. Mehrere Vertreter wiesen ferner darauf hin, dass eine EU-Initiative zu Mindestlöhnen durch weitere Maßnahmen flankiert werden sollte, insbesondere eine Richtlinie über ein angemessenes Mindesteinkommen und eine Initiative zur Stärkung der Rolle des sozialen Dialogs und der Vertretung der Gewerkschaften. |
5.2.3. |
Die Arbeitgeberverbände in drei Ländern (47) äußerten Bedenken hinsichtlich verbindlicher Maßnahmen oder sprachen sich dagegen aus. Einige wiesen ausdrücklich darauf hin, dass die EU gemäß Artikel 153 AEUV keine Zuständigkeit für das Arbeitsentgelt habe und dass sich die Diskussion darauf konzentrieren sollte, wie das Verfahren des Europäischen Semesters verbessert werden könne. Die Arbeitgeberverbände lehnten eine Gesetzesinitiative mit der Begründung ab, dass dies in die nationalen Lohnfindungssysteme eingreifen und sich negativ auf die Wettbewerbsfähigkeit der Mitgliedstaaten und die Beschäftigung sowie auf die Eingliederung von Arbeitslosen in den Arbeitsmarkt auswirken würde. Sie wiesen ferner darauf hin, dass sich die Diskussionen über den Mindestlohn nicht von allgemeineren Fragen trennen ließen, die sich auf den Arbeitsmarkt, einschließlich der Systeme der sozialen Sicherheit, auswirkten. In einigen Ländern äußerten Arbeitgebervertreter Bedenken hinsichtlich der Anhebung des gesetzlichen Mindestlohns auf der Grundlage politischer Entscheidungen der Regierung, die Mindestlöhne ohne Berücksichtigung wirtschaftlicher Faktoren anzuheben. In einem Land wurde auch darauf hingewiesen, dass in den länderspezifischen Empfehlungen auf die negativen Auswirkungen des Mindestlohns auf die Wettbewerbsfähigkeit hingewiesen worden sei. In einem Land wurde eine nichtverbindliche Empfehlung als mögliches Instrument genannt, und es wurde festgestellt, dass die Stärkung der Tarifverhandlungen eine Angelegenheit der nationalen Ebene und dafür Unterstützung durch die EU erforderlich sei, insbesondere im Hinblick auf den Aufbau von Kapazitäten der Sozialpartner. |
5.2.4. |
Die Regierungsvertreter formulierten ihre Positionen nicht so direkt wie die Sozialpartner und die Organisationen der Zivilgesellschaft. Einige begrüßten die Förderung einer Rahmeninitiative, ohne sich konkreter zu äußern (Deutschland), andere unterstützten eine Rahmenrichtlinie (Spanien). In Bezug auf die nächsten Schritte bekräftigten die deutschen Vertreter, dass der deutsche Vorsitz den laufenden Prozess im zweiten Halbjahr 2020 unterstützen wolle. |
5.3. Öffentliche Anhörung
5.3.1. |
Am 25. Juni fand eine öffentliche Online-Anhörung statt, an der der für Beschäftigung und soziale Rechte zuständige EU-Kommissar Nicolas Schmit, die Berichterstatter des Europäischen Parlaments zum Thema „Verringerung der Ungleichheiten mit besonderem Augenmerk auf der Erwerbstätigenarmut“ und die Koordinatoren für Beschäftigung und soziale Angelegenheiten der Fraktionen EVP und S&D sowie Vertreter von EGB und BusinessEurope sowie der Sozialplattform teilnahmen. Die Kommission bekräftigte ihre Absicht, ein Rechtsinstrument für gerechte Mindestlöhne in Europa vorzuschlagen, das die Autonomie der Sozialpartner achtet, die nationalen Tarifverhandlungssysteme respektiert und nicht in gut funktionierende Tarifverhandlungssysteme eingreift. Sie erkennt ferner an, dass gerechte Mindestlöhne ein schwieriges und kontroverses Thema sind. Unter den drei MdEP herrschte politischer Konsens darüber, dass die EU tätig werden und sich dafür einsetzen muss, dass die Arbeitnehmer in Europa einen angemessenen Lebensstandard haben und Erwerbsarmut bekämpft wird. Die europäischen Sozialpartner waren dabei, ihre Beiträge zu der zweiten Phase der Konsultation der Kommission zu erarbeiten, doch ist offensichtlich, dass sie unterschiedliche Auffassungen über die Notwendigkeit, Durchführbarkeit und Rechtsgrundlage von EU-Maßnahmen vertreten. Die Sozialplattform betonte, wie wichtig sowohl angemessene Mindesteinkommen als auch Mindestlöhne sind und dass der Mindestlohn höher sein muss als das Mindesteinkommen. |
6. Umfang der Maßnahmen auf EU-Ebene
6.1. EU-Besitzstand
6.1.1. |
Der EWSA weist darauf hin, dass das Konzept einer „gerechten“ Entlohnung, die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern sowie ihren Familien einen „angemessenen Lebensstandard“ sichert, in einer breiten Palette an europäischen und internationalen Instrumenten verankert ist und von diesen gestützt wird (48). Der EWSA stellt fest, dass vorgeschlagen wird, im Rahmen des Titels „Sozialpolitik“ des AEUV eine EU-Rechtsinitiative zu „gerechten Mindestlöhnen“ anzuregen. Dies sollte mit den in Artikel 3 des Vertrags festgeschriebenen Zielen der Union verknüpft werden: Förderung einer wettbewerbsfähigen sozialen Marktwirtschaft mit dem Ziel der Vollbeschäftigung, des sozialen Fortschritts, des Wohlergehens der Bürgerinnen und Bürger und der nachhaltigen Entwicklung Europas. |
6.1.2. |
Zudem räumt der EWSA ein, dass die Rechtslage bezüglich einer EU-Initiative zu Mindestlöhnen hochkomplex ist. Die EU kann Rechtsinstrumente zu Arbeitsbedingungen auf Grundlage der Artikel 151 und 153 Absatz 1 Buchstabe b AEUV erlassen. Der Vertrag sieht vor, dass Artikel 153 keine Anwendung auf das „Arbeitsentgelt“ findet. Andererseits wurde das Arbeitsentgelt in der EU-Rechtsprechung und in geltenden Richtlinien als wesentliche Arbeitsbedingung eingestuft. Zu dieser Frage gibt es offensichtlich unterschiedliche Meinungen, und der EWSA ist der Auffassung, dass die Kommission einen ausgewogenen und umsichtigen Ansatz anwenden muss. |
6.1.3. |
Die europäischen Sozialpartner verfügen nach Artikel 155 des Titels Sozialpolitik des AEUV ebenfalls über die Kompetenz, Vereinbarungen zu schließen. |
6.2. Mögliche EU-Initiative zu gerechten Mindestlöhnen: Richtlinie oder Empfehlung des Rates
6.2.1. |
In Sachen Mindestlöhne liegt die Verantwortung für die Erfüllung der Verpflichtungen aus der europäischen Säule sozialer Rechte in erster Linie bei den einzelnen Mitgliedstaaten. Die Kommission hat festgestellt, dass EU-Maßnahmen zu gerechten Mindestlöhnen erforderlich sind, und Möglichkeiten dafür aufgezeigt. Die Mehrheit der EWSA-Mitglieder ist der Ansicht, dass ein solches Vorgehen einen Mehrwert bringen könnte, einige Mitglieder sind jedoch anderer Auffassung. Bei jedweder Maßnahme auf EU-Ebene muss die Autonomie der Sozialpartner und die Aufteilung der Zuständigkeiten zwischen der EU und den Mitgliedstaaten uneingeschränkt geachtet werden. |
6.2.2. |
In ihrem Dokument zur zweiten Phase der Konsultation der Sozialpartner weist die Kommission darauf hin, dass als EU-Instrumente entweder eine Richtlinie oder eine Empfehlung des Rates in Frage kommen. Im EWSA gibt es unterschiedliche Auffassungen darüber, ob eine EU-Rechtsinitiative nach Artikel 153, insbesondere eine Richtlinie, rechtskonform wäre, da gemäß Artikel 153 Absatz 5 EUV die Bestimmungen dieses Artikels nicht für das Arbeitsentgelt gelten. Im Anschluss an die Anhörung der Sozialpartner und in Ermangelung von Verhandlungen zwischen den Sozialpartnern sollte das Ziel — unabhängig davon, welches Instrument die Kommission für eine Initiative zu gerechten Mindestlöhnen in Betracht zieht — darin bestehen, sicherzustellen, dass die gesetzlichen Mindestlöhne — soweit vorhanden — im Verhältnis zur Lohnstruktur im jeweiligen Land gerecht sind sowie dass das Recht der Arbeitnehmer auf eine gerechte Entlohnung gewahrt wird und ihnen sowie ihren Familien zumindest ein angemessener Lebensstandard gesichert wird. Auch wichtige wirtschaftliche Aspekte wie etwa die Produktivität sind zu berücksichtigen. |
6.2.3. |
Nach Ansicht der Kommission sind sowohl legislative als auch nichtlegislative Instrumente möglich. Sie weist darauf hin, dass eine Richtlinie zu den Arbeitsbedingungen es den Mitgliedstaaten überlassen würde, darüber zu entscheiden, wie die einzuhaltenden Mindestanforderungen und Verfahrenspflichten umzusetzen sind. Die Kommission weist auch darauf hin, dass die Umsetzung einer Empfehlung des Rates, sollte eine solche vorgeschlagen werden, mittels eines spezifischen, in das Europäische Semester zu integrierenden Benchmarking-Rahmens überwacht werden könnte. Dabei könnten unter anderem grundsätzliche Fragen in Bezug auf Verfahren für wirksame gesetzliche Lohnfindungssysteme, die Einbeziehung der Sozialpartner und die Frage der Angemessenheit erörtert und überwacht werden. |
6.3. Nutzung des öffentlichen Auftragswesens
6.3.1. |
Öffentliche Stellen auf EU- und nationaler Ebene können die Vergabe öffentlicher Aufträge nutzen, um angemessene Löhne, faire Arbeitsbedingungen und Tarifverhandlungen zu fördern und gleichzeitig Ziele in Bezug auf die Wirtschaftlichkeit, die Erbringung hochwertiger Dienstleistungen und die Wahrung des öffentlichen Interesses umzusetzen. Dies kann im Einklang mit dem IAO-Übereinkommen Nr. 94 über die Arbeitsklauseln in den von Behörden abgeschlossenen Verträgen gewährleistet werden, indem soziale Kriterien im bestehenden EU-Vorschriften über die Vergabe öffentlicher Aufträge besser genutzt werden. |
6.3.2. |
Auch die Einführung von Klauseln über Tarifverhandlungen im EU-Vergaberecht, in denen die Wahrung des Rechts auf Tarifverhandlungen und Tarifverträge als Bedingung für die Vergabe öffentlicher Aufträge verankert wird, könnte eine wirksame flankierende Maßnahme zur Förderung von Tarifverhandlungen in der EU sein. |
6.4. Verbesserung der Datenerhebung
6.4.1. |
Es gibt eine Reihe von Bereichen, in denen die EU die Mitgliedstaaten in Bezug auf die Entwicklung der gesetzlichen Mindestlöhne durch die Erhebung von Daten und, in Absprache mit den Sozialpartnern, durch Hilfestellung bei der Konzipierung von Indikatoren und Instrumenten zur Durchsetzung der Mindestlöhne unterstützen könnte. |
Brüssel, den 18. September 2020
Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses
Luca JAHIER
(1) ABl. C 125 vom 21.4.2017, S. 10.
(2) ABl. C 97 vom 24.3.2020, S. 32.
(3) ABl. C 190 vom 5.6.2019, S. 1.
(4) https://ec.europa.eu/info/business-economy-euro/economic-performance-and-forecasts/economic-forecasts/spring-2020-economic-forecast-deep-and-uneven-recession-uncertain-recovery_en
(5) Eurofound: Leben, Arbeiten und Covid-19: Erste Ergebnisse — April 2020, Dublin.
(6) Siehe Fußnote 5.
(7) Grundsatz 6 — Europäische Säule sozialer Rechte.
(8) Eine Union, die mehr erreichen will. Meine Agenda für Europa, Politische Leitlinien für die Europäische Kommission 2019–2024.
(9) Siehe Fußnote 1.
(10) Minimum wages in 2019 — Annual review, Eurofound, 2019.
(11) B. Galgóczi und J. Drahokoupil, Galgóczi, Condemned to be left behind? Can Central and Eastern Europe emerge from its low-wage model?, ETUI, 2017.
(12) Mindestlohnbezieher benötigen jedoch unter Umständen — je nach Haushaltszusammensetzung — weiterhin Leistungen aus anderen Sozialschutzsystemen, Lohnergänzungsleistungen und/oder Steuervergünstigungen bzw. -gutschriften, um einen akzeptablen Lebensstandard zu erreichen.
(13) Eurofound (2019), Mindestlöhne 2019 — Jahresüberblick.
(14) Statutory Minimum Wages in the EU: Institutional Settings and Macroeconomic Implications, IZA Policy Paper No. 124, Februar 2017.
(15) Eurofound (2017), In-work poverty in the EU.
(16) Es werden fünf Kategorien indirekter Maßnahmen genannt, die zur Bekämpfung von Erwerbsarmut beitragen können: die Bereitstellung bezahlbarer Kinderbetreuung, flexible Arbeitszeitregelungen, Maßnahmen, die den beruflichen Aufstieg fördern oder die Qualifikationen der Menschen verbessern, Maßnahmen, die zur Verbesserung des Lebensstandards von Geringverdienern beitragen, sowie Maßnahmen, die inklusive Arbeitsumgebungen schaffen, um die Chancen für Migranten, Menschen mit Behinderungen und andere Gruppen benachteiligter Arbeitnehmer zu verbessern (siehe Seite 41).
(17) ABl. C 190 vom 5.6.2019, S. 1. (Diese Stellungnahme erhielt nicht die Unterstützung der Gruppe Arbeitgeber, siehe Gegenstellungnahme im Anhang zur EWSA-Stellungnahme).
(18) Siehe Gegenstellungnahme im Anhang zur EWSA-Stellungnahme (ABl. C 190 vom 5.6.2019, S. 1).
(19) Siehe Fußnote 2.
(20) Anteil der Personen mit weniger als 60 % des verfügbaren Medianäquivalenzeinkommens nach dem Erhalt sozialer Transferleistungen.
(21) Dies steht im Einklang mit der EWSA-Stellungnahme „Für eine europäische Rahmenrichtlinie zum Mindesteinkommen“ aus dem Jahr 2019 (ABl. C 190 vom 5.6.2019 S. 1). Siehe Fußnote 13.
(22) Eurofound (2019), Minimum wages in 2019: Annual review.
(23) Zweite Phase der Konsultation der Sozialpartner gemäß Artikel 154 AEUV zu einer möglichen Maßnahme zur Bewältigung der Herausforderungen im Zusammenhang mit gerechten Mindestlöhnen.
(24) Disparities in minimum wages across Europe, Eurostat, 3.2.2020, https://ec.europa.eu/eurostat/web/products-eurostat-news/-/DDN-20200203-2.
(25) Kommissionsdokument zur zweiten Phase der Konsultation der Sozialpartner.
(26) Informationen aus der ersten Phase der Anhörung der Sozialpartner (Seite 2), die sich auf die Eurostat-Einkommensstrukturerhebung und die EU-SILC-Erhebung beziehen (Fußnoten 6 und 7).
(27) Eurofound (2019), Upward convergence in employment and socioeconomic factors.
(28) Good Jobs for All in a Changing World of Work, The OECD Jobs Strategy.
(29) Dube, The impact of minimum wages — review of the international evidence, 2019, London: HM Treasury: https://www.gov.uk/government/publications/impacts-of-minimum-wages-review-of-the-international-evidence; A. Godøy, M. Reich, Minimum Wage Effects in Low-Wage Areas, IRLE Working Paper 106-19, Juni 2019.
(30) IAO-Sachverständigenausschuss für die Durchführung der Übereinkommen und Empfehlungen (2014): General Survey on Minimum Wage Systems, Ziffer 68.
(31) Übereinkommen über die Festsetzung von Mindestlöhnen, 1970 (Nr. 131) https://www.ilo.org/dyn/normlex/en/f?p=NORMLEXPUB:12100:0::NO::P12100_ILO_CODE:C131.
(32) Bulgarien, Frankreich, Lettland, Litauen, Malta, Niederlande, Portugal, Rumänien, Slowenien und Spanien.
(33) ILO Minimum Wage Policy Guide.
(34) Siehe Schlussfolgerungen des Rates: Ein Neubeginn für einen starken sozialen Dialog http://data.consilium.europa.eu/doc/document/ST-10449-2016-INIT/de/pdf; Erklärung der Europäischen Sozialpartner, der Europäischen Kommission und des Vorsitzes des Rates der Europäischen Union https://ec.europa.eu/social/main.jsp?langId=de&catId=89&newsId=2562.
(35) Belgien, Frankreich, Irland, Litauen, Luxemburg, Malta, Niederlande, Portugal, Rumänien, Spanien und Ungarn.
(36) Siehe Fußnote 22.
(37) Siehe Fußnote 22.
(38) EuGH, Rechtssache C-268/06, Impact.
(39) https://www.coe.int/en/web/european-social-charter/-/protection-of-workers-rights-in-europe-shortcomings-found-but-also-positive-developments-in-certain-areas.
(40) https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/de/fs_20_51.
(41) Grimshaw, D., Bosch, G., und Rubery, J. (2013), „Minimum wages and collective bargaining: what types of pay bargaining can foster positive pay equity outcomes?“ British Journal of Industrial Relations, D OI 10.1111 / bji r.12021.
(42) OECD: Negotiating our way up: Collective bargaining in a changing world of work.
(43) Siehe Fußnote 42.
(44) Eurofound: Developments in collectively agreed pay 2000–2017 — Anhang 1 https://www.eurofound.europa.eu/sites/default/files/ef_publication/field_ef_document/ef18049en.pdf.
(45) ABl. C 303 vom 19.8.2016, S. 54, ABl. C 434 vom 15.12.2017, S. 30, ABl. C 13 vom 15.1.2016, S. 161, ABl. C 125 vom 21.4.2017, S. 10.
(46) Laut dem schriftlichen Beitrag der zivilgesellschaftlichen Organisation zur Armutsbekämpfung EAPN SE sei es wichtig, dass die EU auf die Einführung eines Systems zur Regelung von Mindestlöhnen in allen Mitgliedstaaten hinarbeitet. Ebenso wichtig sei es jedoch, diejenigen Länder zu respektieren, die über ein System der Tarifverhandlungen zur Regelung von Mindestlöhnen verfügen.
(47) Die spanische Arbeitgeberorganisation CEOE konnte an der Videokonferenz nicht teilnehmen, äußerte jedoch in ihrem schriftlichen Beitrag die gleichen Ansichten.
(48) Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte von Arbeitnehmern, 1989, http://aei.pitt.edu/4629/1/4629.pdf; Artikel 23 Absatz 3 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, https://www.ohchr.org/EN/UDHR/Pages/Language.aspx?LangID=ger; Artikel 7 des Internationalen Pakts über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, https://www.sozialpakt.info/internationaler-pakt-ueber-wirtschaftliche-soziale-und-kulturelle-rechte-3111/; Artikel 4 Absatz 1 der Europäischen Sozialcharta (ESC) von 1961; UN-Nachhaltigkeitsziele, v.a. SDG1, SDG8, SDG 10; IAO-Übereinkommen über den Lohnschutz, 1949 (Nr. 95); Artikel 4 Absatz 5 ESC; IAO-Übereinkommen über den Schutz der Forderungen der Arbeitnehmer bei Zahlungsunfähigkeit ihres Arbeitgebers, 1992 (Nr. 173); Artikel 25 der revidierten Europäischen Sozialcharta (RESC 1996) https://rm.coe.int/CoERMPublicCommonSearchServices/DisplayDCTMContent?documentId=090000168006b748.