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Document 52020IE1448

    Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Zwischen transeuropäischem Supernetz und lokalen Energieinseln — die richtige Mischung aus dezentralen Lösungen und zentralen Strukturen für eine wirtschaftlich, sozial und ökologisch nachhaltige Energiewende“ (Initiativstellungnahme)

    EESC 2020/01448

    ABl. C 429 vom 11.12.2020, p. 85–92 (BG, ES, CS, DA, DE, ET, EL, EN, FR, HR, IT, LV, LT, HU, MT, NL, PL, PT, RO, SK, SL, FI, SV)

    11.12.2020   

    DE

    Amtsblatt der Europäischen Union

    C 429/85


    Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Zwischen transeuropäischem Supernetz und lokalen Energieinseln — die richtige Mischung aus dezentralen Lösungen und zentralen Strukturen für eine wirtschaftlich, sozial und ökologisch nachhaltige Energiewende“

    (Initiativstellungnahme)

    (2020/C 429/12)

    Berichterstatter:

    Lutz RIBBE

    Mitberichterstatter:

    Thomas KATTNIG

    Beschluss des Plenums

    20.2.2020

    Rechtsgrundlage

    Artikel 32 Absatz 2 der Geschäftsordnung

     

    Initiativstellungnahme

    Zuständige Fachgruppe

    Fachgruppe Verkehr, Energie, Infrastrukturen und Informationsgesellschaft

    Annahme in der Fachgruppe

    3.9.2020

    Verabschiedung auf der Plenartagung

    18.9.2020

    Plenartagung Nr.

    254

    Ergebnis der Abstimmung

    (Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

    216/2/2

    1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

    1.1.

    Die Frage, wie zentral oder dezentral das zukünftige Energiesystem der EU gestaltet sein wird, ist politisch ungeklärt. Weder von der Kommission noch von den Mitgliedstaaten sind hierzu klare Aussagen erkennbar. Klar ist nur, dass erst das Aufkommen der erneuerbaren Energien dezentrale Strukturen überhaupt erst ermöglicht haben.

    1.2.

    Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) hat in vielen Stellungnahmen darauf hingewiesen, wie wichtig es ist zu erkennen, dass die Energiewende nicht allein eine technologische Frage ist, sondern eine zutiefst soziale und politische Herausforderung. Die von der Politik versprochene Teilhabe der Beschäftigten und Gewerkschaften sowie Verbraucherinnen und Verbraucher an dieser Energiewende ist zu gewährleisten und wird vom EWSA mit Nachdruck eingefordert. Doch Kommission und Mitgliedstaaten lassen auch hier mehr Fragen offen als sie beantworten. Mehr noch: Die derzeit eingeleiteten energiepolitischen Initiativen werden eine breite Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger eher verhindern als fördern.

    1.3.

    Der EWSA ist überzeugt, dass im künftigen europäischen Energiesystem sowohl zentrale als auch dezentrale Elemente aufzufinden sein werden. Dies darf aber nicht zu Beliebigkeit verführen. Es braucht eine klare Zielvorstellung, ob vorrangig eine Dezentralisierung oder eine Zentralisierung verfolgt werden soll. Denn die europäische Energiewende braucht vor allem Investitionssicherheit — für die öffentliche Hand wie für private Akteure. Diese kann nur durch klare Grundsatzentscheidungen erreicht werden.

    1.4.

    In einem dezentralen Energiesystem treten ähnlich hohe Systemkosten auf wie in einem zentralen. Allerdings fallen die Kosten für unterschiedliche Systemkomponenten an: In einem zentralen System sind es eher große Anlagen und die Übertragungsnetze; in einem dezentralen System neben kleineren Erzeugungsanalgen vor allem Flexibilitätsoptionen, die auch bei den Verbraucherinnen und Verbrauchern angesiedelt sind. Darüber hinaus spielen die Verteilnetze eine größere Rolle, insbesondere auch intelligente Netze, die die Voraussetzungen für intelligente Märkte und damit für systemdienliches Verhalten der einzelnen Akteure sind. Diese technische Entwicklung erlaubt mehr Autonomie und selbstregulierende dezentralere Netzeinheiten.

    1.5.

    Damit einher gehen Unterschiede bei der Verteilung der Wertschöpfung und damit auch unterschiedliche wirtschafts- und sozialpolitische Implikationen. In einem zentralen System ist die Wertschöpfung typischerweise auf wenige Akteure konzentriert. In einem dezentralen System können Verbraucherinnen und Verbraucher als aktive Kunden, Bürgerenergiegemeinschaften, Landwirte, KMU und kommunale Unternehmen an der Wertschöpfung teilnehmen.

    1.6.

    Deshalb ist die Frage, wie das neue Energiesystem ausgerichtet wird, weit mehr als nur eine technische, sondern vielmehr eine hoch politische: In einer „just and fair transition“ geht es darum, wer welche Rolle spielen kann (und sollte), und somit — um es auf den Punkt zu bringen — auch um die Frage, wer zukünftig mit Energie Geld verdienen kann und darf, und wer folglich wirtschaftlich an der Energiewende teilhaben kann. Diese Frage wird auch darüber entscheiden, wie sehr die Energiewende Innovationen anreizen wird.

    1.7.

    Wichtige Hinweise, in welche Richtung die Entwicklung eigentlich gehen sollte, sind im Paket „Saubere Energie“ niedergelegt. Darin wird von einer Energieunion gesprochen, die (u. a.) Energieimporte reduzieren soll und „in deren Mittelpunkt die Bürger und Bürgerinnen stehen, die ihrerseits Verantwortung für die Umstellung des Energiesystems übernehmen, neue Technologien zur Senkung ihrer Energiekosten nutzen, aktiv am Markt teilnehmen, (…) [und] zu aktiven Produzenten und Marktteilnehmern“ werden.

    1.8.

    Die Kommission und fast alle Mitgliedstaaten haben es nach Auffassung des EWSA in den letzten fünf Jahren allerdings versäumt, wirkliche Klarheit bezüglich zukünftiger Strukturen und Aufgabenverteilung zu schaffen.

    1.9.

    Auch der Rat hat bislang wenig zu einer hinreichend klaren Energiepolitik beigetragen. Der EWSA nimmt in diesem Zusammenhang mit Bedauern zur Kenntnis, dass der deutsche Ratsvorsitz einseitig auf Technologien (wie „Wind Offshore“ oder „Wasserstoff aus erneuerbaren Energien“) setzt, die damit einhergehenden wichtigen strukturellen Fragen aber völlig ausklammert. Der EWSA will deutlich betonen, dass die Folgen solcher Technologiepräferenzen gesehen werden müssen: etwa Konzentration auf wenige Akteure und massive Investitionen in Transportkapazitäten, also in natürliche Monopole.

    1.10.

    Voraussetzung für eine volle Teilhabe neuer Marktteilnehmer ist, dass sie Zugang zu allen relevanten Elektrizitätsmärkten, insbesondere auch zu den Flexibilitätsmärkten, haben. Das ist in fast allen Mitgliedstaaten nicht der Fall. Die Mitgliedstaaten sind daher dringend aufgefordert, ihre regulativen Rahmen so anzupassen, dass die Grundideen des Pakets „Saubere Energie“ voll zur Geltung kommen und Chancengleichheit hergestellt wird. Dann können auch regionale Märkte dank der Digitalisierung hocheffiziente Lösungen erreichen, und, wenn sie intelligent vernetzt sind, zu einer stabilen und resilienten Versorgungssicherheit beitragen.

    1.11.

    Hinsichtlich der wirtschafts- und sozialpolitischen Folgen erneuert der EWSA seine Position, dass dezentrale Energiesysteme wichtige Impulse für die regionale Entwicklung geben und die Schaffung neuer, hochwertiger und qualifizierter Arbeitsplätze in den Regionen bewirken können (1).

    1.12.

    Das Problem verletzlicher Verbraucherinnen und Verbraucher und der Energiearmut wird von der Politik zwar teilweise angesprochen, es werden aber weder Lösungsoptionen aufgezeigt, noch wird das Problem mit der zukünftigen Gestaltung des Energiesystems verbunden. Der EWSA fordert die Kommission auf, zur besseren Erfassung von Energiearmut die Einführung gemeinsamer Kriterien für ihre Definition und gemeinsamer Indikatoren auf europäischer Ebene vorzuschlagen. Die Mitgliedstaaten müssen mehr statistische Instrumente entwickeln, die eine wirksame Ausrichtung auf prekäre Haushalte ermöglichen. Gleichzeitig ist dafür Sorge zu tragen, dass einkommensschwache Haushalte die Möglichkeit haben, Energieeffizienzmaßnahmen umzusetzen, um auch ihren Energieverbrauch zu senken.

    1.13.

    Es stellt sich die grundsätzliche Frage, ob die kritische Infrastruktur „Stromnetz“ als natürliches Monopol und im Sinne einer nachhaltigen Versorgungssicherheit nicht in öffentliche Hand gehört, zumal es mithilfe massiver öffentlicher Mittel geschaffen wurde und erweitert wird. Diese Frage sollte in einer EWSA-Stellungnahme einer weiteren Klärung unterzogen werden.

    1.14.

    Mit dem Aufbauplan („recovery plan“) und dem MFR 2021-2028 werden nun viele hundert Milliarden Euro in Energieinfrastrukturen und -technologien investiert. Es muss gewährleistet werden, dass diese Investitionen tatsächlich im Sinne einer Energiewende verwendet werden, in deren Mittelpunkt die Bürgerinnen und Bürger und nicht die bisher am fossilen Energiesystem Beteiligten stehen. Der EWSA fordert die Kommission, den Rat und das Europäische Parlament auf, möglichst zeitnah im Dialog mit der Zivilgesellschaft und den Gebietskörperschaften in einem breit, strukturierten Dialog Klarheit über die in dieser Initiativstellungnahme aufgeworfenen Fragen zu schaffen.

    2.   Hintergrund für diese Initiativstellungnahme

    2.1.

    Europa steckt mitten im schwierigen Transformationsprozess hin zur Klimaneutralität, die im Jahr 2050 erreicht sein soll. Dieser macht eine gravierende Umgestaltung des Energiesystems nötig. Dabei wird es u. a. um grundlegende technische Veränderungen, aber auch um strukturelle Fragen bei Produktion, Handel und Vermarktung sowie gesellschaftspolitische Veränderungsprozesse gehen. Doch wie genau die Veränderungen aussehen werden, wie weit sie gehen sollen, darüber ist noch keine abschließende Klärung erfolgt. Wesentlich ist zu erkennen, dass die Energiewende nicht allein eine technologische Frage ist, sondern zutiefst eine soziale Herausforderung. Die Teilhabe der Beschäftigten und Gewerkschaften sowie Verbraucherinnen und Verbraucher an dieser Energiewende ist zu gewährleisten.

    2.2.

    In den letzten Jahren wurden von der Kommission eine Vielzahl an politischen Absichtserklärungen abgegeben und neuen Regeln erlassen. Der EWSA hat diese jeweils kommentiert und in den meisten Fällen begrüßt und unterstützt. Gleichzeitig hat er aber kritisiert, dass viele dieser Verlautbarungen zu vage und unkonkret sind.

    2.3.

    Klar ist: Erst das Aufkommen der erneuerbaren Energien hat eine Debatte über die Frage nach zentralen bzw. dezentralen Strukturen im Energiebereich überhaupt erst möglich gemacht. Erneuerbare Energien (Sonne, Wind und Biomasse) sind dezentral, sie sind flächendeckend verfügbar, die Investitionen vergleichsweise gering, während Atom- oder Kohlekraftwerke zentrale Großstrukturen darstellen.

    2.4.

    Wie mit den erneuerbaren Energien umgegangen werden soll, darüber gibt es keine Klarheit. Insbesondere bleibt unklar, ob die Kommission eine Integration der erneuerbaren Energien in das bestehende System oder eine Umgestaltung des Marktes anstrebt.

    2.5.

    Der EWSA hat darauf hingewiesen, dass es seines Erachtens nicht primär um eine „Integration“ erneuerbarer Energien in das bestehende Stromversorgungssystem gehen kann und dass er unter einer „grundlegenden Veränderung“ weit mehr versteht, als nur die nationalen Systeme zu einem europäischen Verbund zu vernetzen sowie den Anteil erneuerbarer Energien signifikant zu erhöhen; was auch bedeutet, dass den jetzigen konventionellen Energieträgern (inkl. Erdgas) nur noch eine überbrückende Rolle zukommen wird.

    2.6.

    Zu einem gänzlich neuen Energiesystem gehört eine viel größere Akteursvielfalt. Und insbesondere bekommen die Verteilnetze eine wesentlich höhere Bedeutung, sie müssen in jedem Fall zu „intelligenten Netzen“ werden: Informationen über die jeweils relevante Netzsituation müssen in verlässlicher, klar verständlicher und zeitlich und ggf. auch örtlich hochpräziser Form den Marktteilnehmern zur Verfügung gestellt werden. Intelligente Netze sind in dieser Vorstellung die Voraussetzung für intelligente Märkte, die wirksame Anreize zu systemdienlichem Verhalten setzen

    2.7.

    In ihrem Paket zur Energieunion spricht die Kommission von einer neuen Rolle des bisherigen „passiven“ Verbrauchers: „Vor allem aber streben wir eine Energieunion an, in deren Mittelpunkt die Bürgerinnen und Bürger stehen, die ihrerseits Verantwortung für die Umstellung des Energiesystems übernehmen, neue Technologien zur Senkung ihrer Energiekosten nutzen, aktiv am Markt teilnehmen und, wenn sie sich in einer gefährdeten Situation befinden, Schutz genießen“ (2).

    2.8.

    Was das aber konkret heißt, lässt sie offen. Das liegt auch daran, dass nicht unterschieden wird zwischen industriellen und gewerblichen Verbraucherinnen und Verbrauchern sowie den Privathaushalten und hier wiederum zwischen sozial und damit auch technisch besser gestellten Privatverbraucherinnen und Verbrauchern und weniger gut ausgestatteten Haushalten. Zumindest lässt sich ableiten: Der Verbraucher, die Verbraucherin soll zukünftig nicht mehr nur (zahlender) Empfänger von Energie sein. Er/sie soll auch nicht nur die Anbieter einfacher wechseln und/oder flexibler auf Marktsignale reagieren können. Er/sie soll Zugang zu allen relevanten Elektrizitätsmärkten bekommen. Begriffe wie „aktiver“ Kunde, Eigenversorger, Bürger-Energie-Gemeinschaften sowie „Erneuerbare-Energie-Gemeinschaften“ wurden geprägt, und diese neuen Akteure wurden mit bestimmten Rechten ausgestattet, ohne dass aber hieraus erkennbar würde, in welcher Form sie tatsächlich am Markt teilnehmen sollen, sprich: Wie offen und liberal der Markt wirklich werden soll und wie man mit jenen Verbraucherinnen und Verbrauchern umgeht, die nicht über die finanziellen Mittel oder rechtlichen Möglichkeiten verfügen, an ihm teilzuhaben (vgl. Ziffer 5.6).

    2.9.

    Ebenso werden das Problem der verletzlichen Verbraucherinnen und Verbraucher und das der Energiearmut zwar angesprochen, aber keine wirklichen Lösungsoptionen aufgezeigt. Der EWSA fordert die Kommission weiters auf, als ersten Schritt zur besseren Erfassung von Energiearmut die Einführung gemeinsamer Kriterien für ihre Definition und gemeinsamer Indikatoren auf europäischer Ebene vorzuschlagen. Um diese Definition an unterschiedliche nationale Gegebenheiten anzupassen, müssen die Mitgliedstaaten mehr statistische Instrumente entwickeln, die eine wirksame Ausrichtung auf prekäre Haushalte ermöglichen.

    2.10.

    Die Kommission hat nach Auffassung des EWSA in den letzten fünf Jahren also nur sehr wenig Klarheit bezüglich zukünftiger Strukturen und Aufgabenverteilung geschaffen. Vor allem haben aber auch die Mitgliedstaaten nur sehr zögerlich oder gar nicht ihren regulativen Rahmen angepasst. In vielen Mitgliedstaaten haben die Verbraucherinnen und Verbraucher, aber auch kleine Unternehmen und Bürgerenergiegemeinschaften nach wie vor keinen Zugang zu den Elektrizitätsmärkten.

    2.11.

    Da die Kommission mit dem Grünen Deal aber das Thema „Klimaneutralität“ oben auf die Agenda gesetzt hat und mit dem Aufbauplan („recovery plan“) Hunderte von Milliarden Euro in den Neuaufbau der Wirtschaft sowie in die Schaffung und Sicherung von qualitativ hochwertigen Arbeitsplätzen in Europa stecken wird, hält es der EWSA für zwingend notwendig, kurzfristig (!) in einem breiten gesellschaftlichen und politischen Diskurs die Frage zu klären, wie viele „zentrale Strukturen“ notwendig sind und wie viele dezentrale ggf. möglich und sinnvoll erscheinen. Dazu soll diese Initiativstellungnahme Anregungen liefern.

    2.12.

    Von der COVID-19-Krise kann man lernen, dass ein entsprechendes schnelles Handeln, bevor es zur Eskalation kommt, notwendig ist. Nach Schätzungen der Kommission erfordert allein die Erreichung der aktuell gültigen Klima- und Energieziele bis 2030 zusätzliche Investitionen in Höhe von bis zu 260 Mrd. EUR pro Jahr. Dies wird ohne eine massive Ausweitung der öffentlichen Investitionen in den Ausbau erneuerbarer Energien, Speicher, thermische Sanierung, öffentlichen Verkehr, Forschung und Entwicklung etc. und ohne sozial gerechte Gestaltung nicht erfolgen können. Hier zeigt die COVID-19-Krise neue Wege auf. Die vorübergehende Außerkraftsetzung der europäischen Schulden- und Defizitregeln muss auch für die Bewältigung der Klimakrise gelten. Die Mittel sind aber so zu verwenden, dass das Ziel, die Bürgerinnen und Bürger in den Mittelpunkt der Energiewende zu stellen und damit auch regionalwirtschaftliche Impulse zu setzen, auch erreicht wird.

    2.13.

    Um Falsch- und Fehlinvestitionen zu vermeiden, müssen bestehende Unklarheiten und Widersprüchlichkeiten über die wesentlichen Strukturen des neuen Energiesystems, über die Marktarchitektur, Marktrollen und Marktregeln ausgeräumt und vor allem die sozialen Auswirkungen auf Beschäftigte und Verbraucherinnen und Verbraucher unverzüglich aufgelöst werden. Dabei spielt eine gerechte Verteilung der Investitionslasten eine zentrale Rolle; gleiches gilt für eine gerechte Verteilung möglicher Gewinne.

    3.   Die Bedeutung einer klaren Präferenz für oder gegen Dezentralität für Investitionssicherheit

    3.1.

    Das neue Energiesystem wird wohl sowohl zentrale als auch dezentrale Elemente aufweisen, nicht nur, weil die Kategorisierung als zentrales oder dezentrales Element nicht immer eindeutig ist. So ist beispielsweise unklar, ob ein Windpark an Land mit einer installierten Leistung von über 30 Megawatt noch als „dezentral“ betrachtet werden kann. Trotzdem ist für eine effiziente Gestaltung der Transformation des Energiesystems die Frage, ob das neue Energiesystem eher nach den Prinzipien der Dezentralität oder eher nach denen der Zentralität zu gestalten ist, von erheblicher Bedeutung.

    3.2.

    Denn in Abhängigkeit von der in 3.1 aufgeworfenen Frage sind unterschiedliche Investitionsentscheidungen sowohl der öffentlichen Hand als auch privater Kapitalgeber und Investoren zu priorisieren und zu tätigen. Der Gefahr von „stranded investments“ kann nur vorgebeugt werden, wenn die Politik frühzeitig und eindeutig eine Grundsatzentscheidung trifft, ob die Energiewende vorrangig zentral oder vorrangig dezentral auszurichten ist.

    3.3.

    Grundgedanke des bisher zentralen Energiesystems ist: Es sollen keine Engpässe beim Transport von Strom auftreten und alle Marktakteure sollen so handeln können, als ob der Transport innerhalb des Systems unbegrenzt möglich sei. Damit erhalten die Übertragungsnetze, eine entscheidende Bedeutung für das System. Neben der Idee einer europäischen „Kupferplatte“, also eines europaweiten Stromnetzes ohne physikalische Restriktionen, gibt es sogar die Vorstellung der Anbindung des europäischen Verbundnetzes an die süd- oder ostasiatischen Netze.

    3.4.

    Es stellt sich die grundsätzliche Frage, ob diese kritische Infrastruktur „Stromnetz“ als natürliches Monopol und im Sinne einer nachhaltigen Versorgungssicherheit nicht in öffentliche Hand gehört, zumal es mithilfe massiver öffentlicher Mittel geschaffen wurde und erweitert wird. Diese Frage sollte in einer EWSA-Stellungnahme einer weiteren Klärung unterzogen werden.

    3.5.

    In einem zentralen System soll der Ort der Erzeugung wie auch der Ort der Flexibilitätsoptionen folglich für das eigentliche Marktgeschehen keine Rolle spielen. Weder Produktionsort noch Verbrauchsstelle sollen sich jedenfalls aus der Transportinfrastruktur ergeben. Vielmehr folgt die Transportinfrastruktur der Struktur und den Orten der Erzeugung und des Verbrauchs.

    3.6.

    Unter einem dezentralen Energiesystem versteht man hingegen ein System, bei dem die Erzeugung (und Speicherung) des für Elektrizitäts-, Wärme- und Mobilitätsanwendungen genutzten Stroms möglichst verbrauchsnah verortet ist; erneuerbare Energieträger ermöglichen dies. Daraus ergibt sich ein systemimmanent weitgehend minimierter Transport von Elektrizität — und damit auch geringere Transportverluste. Durch die Volatilität bei der Stromerzeugung aus erneuerbaren Energieträgern werden die Stromnetze vor neue Herausforderungen gestellt. Infolge der Dezentralisierung wird den Verteilnetzen somit eine immer wichtigere Rolle zugeordnet, um die Stabilität und Versorgungssicherheit aufrechtzuerhalten.

    3.7.

    In einem dezentralen System werden Engpässe in der Netzinfrastruktur nicht grundsätzlich als prioritär zu eliminierende Probleme bewertet. Vielmehr setzt ein dezentrales System auf Flexibilitätsoptionen vor Ort, die helfen, Fluktuationen bei der Erzeugung direkt auszugleichen. Zu diesen Flexibilitätsoptionen gehören neben Speichern und der Verschiebung der Last von verbrauchsstarken in verbrauchsschwache Zeiten auch die Erzeugung von Wärme durch Strom sowie E-Mobilität. Sektorkopplung spielt in einem dezentralen System eine sehr viel größere Rolle als in einem zentralen. Außerdem werden sogenannte Flexibilitätsmärkte eine viel wichtigere Rolle haben als in einem zentralen Stromsystem.

    3.8.

    In einem dezentralen Energiesystem ist die Unabhängigkeit von der Netzinfrastruktur größer, was Studien zufolge auch zu einer höheren Resilienz gegen Angriffe von außen, zum Beispiel Cyber-Kriminalität, führt — jedenfalls soweit eine Inselfähigkeit erreicht wird. Verstärkte Investitionen in die Verteilnetze sichern daher eine stabile Versorgung und höhere Resilienz gegen Cyber-Kriminalität.

    3.9.

    Die europäische Energiepolitik muss daher folgende Fragen beantworten:

    Sollen Investoren davon ausgehen, dass das neue Energiesystem von unten nach oben aufgebaut ist? Das hieße: Lokaler Elektrizitätsüberfluss und lokale Knappheiten werden vorrangig durch Flexibilitätsoptionen vor Ort ausgeglichen. Nur für den Fall, dass dies wirtschaftlich oder technisch nicht möglich ist, wird Elektrizität auch über längere Strecken transportiert.

    Oder sollen Investoren von einem Aufbau von oben nach unten ausgehen? Das heißt, der Ausbau der Übertragungsnetze hat Vorrang. Praktisch jede erzeugte Kilowattstunde muss nach diesem Modell transportiert werden können. Wenn überhaupt Fluktuationen ausgeglichen werden müssen, gibt demnach die Netzinfrastruktur den Ort der Flexibilitätsoptionen vor. Im Kern bedeutet dies die Fortführung der bisherigen Netzausbaupolitik bei gleichzeitigen Austausch von fossilen und atomaren Kraftwerken durch möglichst große alternative Erzeugungsparks (Beispiele: Desertec, Offshore-Windparks, sehr große Onshore-Windparks).

    Die Klärung dieser Fragen ist dringend notwendig, denn in beiden Ansätzen sind massive Investitionsvolumina nötig, allerdings in unterschiedliche Bereiche: In einem zentralen System fließt das Geld vorrangig in die Übertragungsnetze, in einem dezentralen System eher in kleinere, verteilte Flexibilitätsoptionen.

    3.10.

    Implizit sind mit den in Ziffer 3.9 aufgeführten Fragen die Struktur und das Design des neuen Energiemarkts angesprochen. Dies erkennt die Verordnung (EU) 2019/943 des Europäischen Parlaments und des Rates (3) über den Elektrizitätsbinnenmarkt an. Sie trifft aber diesbezüglich keine Entscheidung, sondern überlässt diese den Mitgliedstaaten.

    Ob dies für eine zielsichere europäische Energiewende ausreicht, ist sehr fraglich. Denn in vielen Mitgliedstaaten passt der rechtliche Rahmen bislang eindeutig nicht zu den Zielen, die dem Paket „Saubere Energie“ zugrunde liegen.

    3.11.

    Hinter den in Ziffer 3.9. aufgeführten Fragen steht eine hochpolitische Frage: Es geht darum, wer im neuen Energiesystem zukünftig Geld verdienen kann und darf und wer folglich wirtschaftlich an der Energiewende teilhaben kann. Beispielsweise setzt der deutsche Ratsvorsitz einseitig auf Technologien (nämlich Wind Offshore und Wasserstoff aus erneuerbaren Energien). Nicht beachtet wird, dass diese Technologien zu einer Marktkonzentration der Erzeuger auf wenige Akteure führen, massive Investitionen in Transportkapazitäten erfordern werden, also in natürliche Monopole, und ggf. auch die Energieabhängigkeit Europas erhalten oder sogar verstärkt wird. Die Frage, wie der Bürger in den Mittelpunkt der Energiepolitik rücken kann, steht hingegen nicht auf der Tagesordnung.

    4.   Entscheidungskriterien für oder gegen Zentralität oder Dezentralität

    4.1.

    Die Aussage in Ziffer 3.10 ist für die gesellschaftspolitische Entscheidungsfindung von zentraler Bedeutung. Sie wird aber in der politischen Diskussion nicht offen und ehrlich geführt, sondern rückt stets hinter vermeintlich „rationalen“ Argumenten in den Hintergrund:

    4.1.1.

    Die Energiewende erfordert von den großen Energieversorgungsunternehmen (EVU) eine Änderung ihres Geschäftsmodells. Offensichtlich tun sich aber viele EVU leichter, ihren alten (zentralen) Großkraftwerkpark durch erneuerbare Anlagen, die aber ebenso zentral ausgelegt und bisweilen kaum weniger Leistung aufweisen, zu ersetzen. Dann können auch die damit verbundenen Verteilungsstrukturen erhalten bleiben. Eine Dezentralisierung hätte hingegen sehr viel radikale Änderungen zufolge, so dass sich die großen EVU, anders als KMU und Stadtwerke, damit sehr viel schwerer tun.

    4.1.2.

    Ähnliches gilt für die Übertragungsnetzbetreiber: sie haben kein Interesse daran, weniger Strom quer durch Europa zu transportieren, schließlich leben sie davon.

    Das Kostenargument

    4.2.

    Wie größtmögliche Versorgungssicherheit zu den geringsten Kosten erreicht werden kann, wird zu Recht als wesentliches Kriterium betrachtet. Es lässt sich plausibler Weise ableiten und in Modellierungen zeigen, dass die Transportkosten in einem zentralen System höher sind als in einem dezentralen. Hingegen sind die Kosten für Erzeugung, Speicherung und Lastverschiebung und Redispatching in einem zentralen System niedriger als in einem dezentralen System.

    4.3.

    Eine Reihe von Studien hat diese Kostendifferenzen miteinander verglichen. Sie kommen jedoch zu keinen eindeutigen Ergebnissen, da die Unterschiede zwischen den Kostenvorteilen in einem dezentralen System und jenen in einem zentralen nicht besonders groß ausfallen und im Detail stark von den zugrundeliegenden Annahmen abhängen. Es sei daran erinnert, dass die Gemeinsame Forschungsstelle der EU bereits im Jahr 2016 festgestellt hat, dass ca. 80 % der Europäer sich mit selbst produziertem PV-Strom billiger versorgen könnten als mit Strom, der aus dem Netz bezogen wird; und seitdem sind die PV-Preise weiter massiv gefallen.

    4.4.

    Der reine Blick auf die Systemkosten kann also die Grundsatzfrage, ob Investitionen prioritär in Projekte eines zentralen Energiesystems oder in Projekte eines dezentralen Energiesystems fließen sollten und welche Leitplanken die Regulatorik entsprechend setzen sollte, nicht entscheiden.

    4.5.

    Es stellt sich also die Frage, welche alternative Kriterien jenseits einer reinen Betrachtung der Kostenersparnisse herangezogen werden können, um die aus Investorensicht unerlässliche Grundsatzentscheidung für eine vorrangig dezentrale Prägung oder für eine vorrangig zentrale Prägung des neuen Energiesystems treffen zu können.

    Eine unterschiedliche Wertschöpfung …

    4.6.

    Die Wertschöpfung unterscheidet sich strukturell: In einem zentralen System kommt sie eher größeren Anlagen und natürlichen Monopolen zugute. In einem dezentralen System fließt sie eher in kleinere Anlagen, sowie vor allem Flexibilitätsoptionen, zu, die oft in einem dezentralen System zum Einsatz kommen, z. B. Batteriespeicher, Wärmepumpen, Mini-Blockheizkraftwerke sowie bidirektional ladende Elektroautos („Vehicle-to-Grid“). Flexibilitätsoptionen werden also sehr oft in privaten Haushalten aufzufinden sein. Und auch die Stromerzeugungsanlagen sind vielfach in den Händen von Privatpersonen, Landwirten, neu gegründeten KMU, Energiegenossenschaften, kommunalen Unternehmen, Stadtwerken, etc. Somit sind in einem dezentralen Energiesystem diejenigen, die an der Wertschöpfung teilhaben, andere als in einem zentralen System: Aktive Verbraucher spielen hier eine weitaus größere Rolle.

    4.7.

    Ein dezentrales Energiesystem ist ohne eine solche breite gesellschaftliche Teilhabe kaum denkbar. Eine aktivere Rolle des Verbrauchers bis hin zum Prosumenten ist daher kennzeichnend für ein dezentrales System, sie macht auch aus Akzeptanzgründen sowie aus Gründen der regionalen Wirtschaftsstärkung Sinn.

    4.8.

    Da die Kommission eine Energieunion schaffen will, in deren Mittelpunkt die Bürgerinnen und Bürger stehen, da sie will, dass regional neue Jobs entstehen und wirtschaftliche Impulse durch die Energiewende in vielen Regionen Europas ausgelöst werden, muss sie auf ein dezentrales Energiesystem setzen. Dies ist auch für die Bewältigung der COVID19-Krise wichtig.

    5.   Wirtschafts- und sozialpolitische Implikationen der Zentralitäts- versus Dezentralitätsfrage

    5.1.

    Ein dezentrales System bedeutet in Bezug auf die Wertschöpfung: Die Verbraucher werden vom Zahlenden zu einem Akteur, der an der Wertschöpfung der Energiewirtschaft partizipiert, also Geld verdient bzw. Geld einspart, weshalb die in Ziffer 3.11 gestellte Frage, wer zukünftig mit Energien Geld verdienen darf, offen und ehrlich diskutiert werden muss.

    Mit der Ausweitung des Prosum-Verständnisses wird Prosum im Paket „Saubere Energie“ begrifflich und definitorisch erweitert: Fortan können nicht mehr nur die Verbraucher zu Prosumenten werden, die über eigenen Grund und Boden und eigene Immobilien verfügen. Sondern Prosum wird zum Beispiel auch ein Thema für Mieter oder Bewohner von Mehrfamilienhäusern sowie für die Objekt- und Quartierversorgung bis hin zu Gewerbegebieten oder Industrieparks. Gerade in diesen Fällen ist eine intelligente Vernetzung der einzelnen Erzeugungs- und Speicherkapazitäten sowie der einzelnen Verbraucher in einem virtuellen Kraftwerk oder über ein intelligentes Mikronetz unerlässlich. Die Anforderungen an die lokalen und regionalen Verteilnetzbetreiber steigen somit dadurch stetig an.

    5.2.

    Integraler Bestandteil des Energiesystems wird der Prosumer oder die Prosumerin nur dann, wenn er oder sie tatsächlich Zugang zu allen relevanten Elektrizitätsmärkten hat. Aktive Verbraucherinnen und Verbraucher müssen die Flexibilität, die sie durch Batteriespeicher, Lastmanagement, Elektroautos, Wärmepumpen usw. gewinnen, auch dem System zur Verfügung stellen können. Dafür braucht es speziell konfigurierte Märkte, die in den meisten Mitgliedstaaten noch nicht zur Verfügung stehen.

    5.3.

    Häufig wird eine Energiewende, die zu einem dezentralen Energiesystem führt, nicht nur als ökologische Transformation, sondern als sozial-ökologische Transformation bezeichnet. Denn mit einer dezentralen Energiewende gehen wichtige Impulse für die lokale und regionale Wirtschaft, Arbeitsplätze im Mittelstand und eine Stärkung der lokalen Kaufkraft einher. Umso bedeutsamer ist es, dass zahlreiche Mitgliedstaaten an Strukturen in ihren Energiesystemen festhalten, die diese positiven Effekte verhindern. Gleichzeitig ist darauf zu achten, dass die entstehenden Arbeitsplätze zu qualitativ hochwertigen Jobs mit einer hohen sozialen Absicherung führen.

    5.4.

    Damit diese Impulse tatsächlich allen Menschen in den jeweiligen Regionen zugutekommen und nicht nur den Ressourcenstarken, sind vorrangig Projekte voranzutreiben, die zu Energie-Verbraucher-Gemeinschaften führen, bei denen Menschen mit wenig Kapital, Einkommen oder Besitz teilhaben können (vgl. auch die EWSA-Stellungnahme TEN/660 (4)). Konzepte hierfür liegen bereits vor. Ihre Umsetzung muss in den Mitgliedstaaten aber viel entschlossener als bisher gefördert werden. Dies ist sehr dringlich, denn Dezentralität darf nicht zu einer Zwei-Klassen-Energiegesellschaft führen. Soweit Personen mit niedrigem Einkommen und wenig Ressourcen ein Zugang zu Energie-Verbraucher-Gemeinschaften auch durch direkte Unterstützung ermöglicht wird, kann die Teilhabe ein wirksames Mittel gegen Energiearmut darstellen, weil dann diejenigen, die bisher unter hohen Energiekosten leiden, dank der rapide gesunkenen Kosten der Erneuerbaren spürbar entlastet werden.

    5.5.

    Verletzliche Verbraucher und Energiearmut sind ein gravierendes Problem, und wahrscheinlich werden sie weder in einem zentralen noch im dezentralen Energiesystem grundsätzlich gelöst werden können. Allerdings können sie angesichts der Kostendegression von Erneuerbare-Energie-Anlagen und elektrischen Speichern in einem dezentralen System eher abgemildert werden als in einem zentralen System. Denn der Einsatz von erneuerbaren Energien und Speichern im Rahmen von Quartierslösungen kann dazu führen, dauerhaft die Energierechnungen zu senken und die Verbraucherinnen und Verbraucher aus der preislichen Abhängigkeit von Energieversorgungsunternehmen und auch Netzbetreibern zu befreien. Dafür bedarf es aber einer aktiven Politik, die die Entwicklung entsprechender Konzepte unterstützt. Gleichzeitig ist dafür Sorge zu tragen, dass einkommensschwache Haushalte die Möglichkeit haben, Energieeffizienzmaßnahmen umzusetzen, um auch ihren Energieverbrauch zu senken.

    5.6.

    Weiterhin dürfen erweiterte Teilhabeoptionen nicht als Vorwand genutzt werden, um Verbraucherrechte auszuhebeln. Sie müssen gestärkt und ggf. auch an neue Geschäftsmodelle angepasst werden.

    5.7.

    Schließlich sind die Verbrauchszentren — Großstädte und industrielle Stromgroßverbraucher — zu beachten. Damit sie sicher und kostengünstig versorgt werden können, sind sie mit dem sie umgehenden Umland in Energieregionen zusammenzufassen. Ähnliches gilt auch für Energieinseln. Die Energieregionen werden die Gestalt von konzentrischen Kreisen um die Verbrauchszentren herum annehmen. Damit das Umland sein volles Potenzial zur Nutzung erneuerbarer Energien in Anspruch nimmt, braucht es gezielte Anreize. Sie können zum Beispiel in reduzierten Netzentgelten bestehen, die zum Tragen kommen, wenn die Energieregion sich selbst versorgt. Positive Folge dieser Systemarchitektur ist die Stärkung regionaler Wirtschaftsstrukturen — ein Aspekt, der gerade für die Post-COVID-19-Wirtschaftsordnung bedeutsam sein könnte.

    6.   Das Energiesystem der Zukunft

    6.1.

    Das neue Energiesystem sollte nicht mehr „von oben nach unten“ (von Großkraftwerken zu den Verbrauchern) gedacht werden, sondern („von unten nach oben“) als Netz vieler Produktions- und Versorgungsinseln von erneuerbarem Strom und Wärme (Gebäudeenergie) konzipiert werden, in denen die Strom- und Wärmeverteilung sowie die Laststeuerung (inkl. Speicherung) eine herausragende Rolle spielen.

    6.2.

    Eine ausreichende und sichere Versorgung aller Regionen in Europa ist so herstellbar (5). In Verbindung mit der gewollten neuen Akteursvielfalt wird dies deshalb bedeuten, dass neben den etablierten (Groß-)Handelsstrukturen völlig neue dezentrale Vermarktungsformen und Energiemanagementsysteme entstehen.

    6.3.

    Innovationsschübe im IT-Bereich, in der Produktions-, in der Speichertechnik im Verteilsystem und auch in der Gebäudetechnik haben heute viele solcher „Produktions- und Versorgungsinseln“ entstehen lassen, die vor wenigen Jahren noch undenkbar erschienen. Einzelpersonen, Firmen, Zusammenschlüsse (wie Energiegenossenschaften) oder Kommunen (Stadtwerke) haben sich einige autarke bzw. teilautarke Lösungen erschaffen, weshalb sie weit weniger auf traditionelle Angebote und Handelsströme angewiesen sind. Es ist wichtig, diese Parallelität zwischen technischen und sozialen Entwicklungen zu sehen. Beide weisen in die gleiche Richtung, nämlich hin zu mehr Autonomie und selbstregulierenden dezentraleren Netzeinheiten.

    6.4.

    Verstärkte lokale Produktion und Direktvermarktung ist auch deshalb zu begrüßen, weil so Leitungsverluste reduziert werden können. Die Bundesnetzagentur in Deutschland schreibt hierzu (6): „Es liegt auf der Hand, dass bei einer engen Zusammenarbeit aller Beteiligten der Wandel des Energieversorgungssystems am besten gelingen kann. (…) Ansätze, möglichst viel Energie am Entstehungsort zu verbrauchen, sind zu begrüßen (…), weil dadurch Leitungsverluste auf ein Minimum beschränkt werden können.“

    6.5.

    Die Kommission muss folglich das Handelssystem von der gewünschten Energieinfrastruktur her denken und nicht versuchen, die notwendigen Änderungen der Energieinfrastruktur kompatibel mit dem bestehenden Handelssystem zu gestalten.

    6.6.

    Es sollten jedoch auch die Erfahrungen aus zahlreichen Ländern berücksichtigt werden, in denen einige Marktakteure, wie etwa strategische Investoren, sich die lukrativsten Marktsegmente herausgepickt haben, um lediglich maximale Gewinne zu erzielen, sich jedoch gleichzeitig weigern, in Versorgungssicherheit, Innovation und Instandhaltung zu investieren, sodass diese Kosten an ihre Kunden weitergegeben werden.

    Brüssel, den 18. September 2020

    Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

    Luca JAHIER


    (1)  Siehe u. a. ABl. C 367 vom 10.10.2018, S. 1.

    (2)  COM(2015) 80 final, 25.2.2015, S. 2.

    (3)  ABl. L 158 vom 14.6.2019, S. 54.

    (4)  ABl. C 367 vom 10.10.2018, S. 1.

    (5)  Siehe ABl. C 82 vom 3.3.2016, S. 13, ABl. C 82 vom 3.3.2016, S. 22.

    (6)  „Smart Grid“ und „Smart Market“ — Eckpunktepapier der Bundesnetzagentur zu den Aspekten des sich verändernden Energieversorgungssystems, Dezember 2011, S. 42.


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