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Document 52019IE0346

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zur „Schaffung eines auf sozialwirtschaftliche Unternehmen abgestimmten europäischen Rechtsrahmens“ (Initiativstellungnahme)

EESC 2019/00346

ABl. C 282 vom 20.8.2019, p. 1–6 (BG, ES, CS, DA, DE, ET, EL, EN, FR, HR, IT, LV, LT, HU, MT, NL, PL, PT, RO, SK, SL, FI, SV)

20.8.2019   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 282/1


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zur „Schaffung eines auf sozialwirtschaftliche Unternehmen abgestimmten europäischen Rechtsrahmens“

(Initiativstellungnahme)

(2019/C 282/01)

Berichterstatter: Alain COHEUR

Beschluss des Plenums

12.7.2018

Rechtsgrundlage

Artikel 32 Absatz 2 der Geschäftsordnung

Initiativstellungnahme

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion, Verbrauch

Annahme in der Fachgruppe

28.5.2019

Verabschiedung auf der Plenartagung

19.6.2019

Plenartagung Nr.

544

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

159/0/1

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Die europäische Integration braucht gegenwärtig neue Impulse — die Förderung vielfältiger Unternehmensformen bietet die Chance, in Europa für Beschäftigung, Innovation, sozialen Zusammenhalt und Wettbewerbsfähigkeit zu sorgen. Das EU-Recht beruht auf einer vereinfachenden Darstellung der auf dem Binnenmarkt bestehenden Unternehmensformen, sodass die sozialwirtschaftlichen Unternehmen, die weder gewinnorientierte Kapitalgesellschaften noch Organisationen ohne Erwerbszweck (gemeinnützige Organisationen) sind, schlicht aus dem Raster fallen.

1.2.

Für die Führung sozialwirtschaftlicher Unternehmen und Organisationen gelten gemeinsame Merkmale, Werte und Prinzipien wie z. B. der Vorrang des Menschen und des Gesellschaftsgegenstands gegenüber dem Kapital, die freiwillige und offene Beteiligung sowie die demokratische Steuerung. Ihr Ziel besteht nicht in der kurzfristigen Gewinnmaximierung, sondern in der Gewährleistung ihres langfristigen Bestands. Gewinne werden in die Schaffung bzw. in den Erhalt von Arbeitsplätzen oder in die Entwicklung von Aktivitäten investiert, die dem Gesellschaftsgegenstand entsprechen, alternativ dazu werden sie im Verhältnis zum jeweiligen Beitrag der einzelnen Mitglieder unter diesen aufgeteilt.

1.3.

Im EU-Recht wird den Spezifika der Sozialwirtschaft — insbesondere dem unterschiedlichen Ansatz in Bezug auf den Unternehmensgewinn — nicht Rechnung getragen. Artikel 54 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) wird so ausgelegt, dass gemeinnützige Organisationen (ohne Erwerbszweck) Gesellschaften gegenüberstehen, die eine Wirtschaftstätigkeit mit Erwerbscharakter ausüben. Diese zweite Kategorie umfasst somit ohne weitere Differenzierung und ungeachtet der Rechtsform sämtliche Unternehmen, die Gewinne erwirtschaften, ohne zu berücksichtigen, ob die Gewinne weitergegeben werden oder nicht.

1.4.

Die Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) und die Entscheidungspraxis der Europäischen Kommission lassen ein unzureichendes Interesse an Unternehmen erkennen, die im für sie jeweils geltenden nationalen Recht als „gemeinnützig“ bezeichnet werden oder die, unabhängig von einer solchen Bezeichnung, auf einer Konzeption von Eigentum, Unternehmensführung und Verwendung von Gewinnen beruhen, die sie erheblich von gewinnorientierten Kapitalgesellschaften unterscheiden, insbesondere im Hinblick auf den Zugang zu Finanzierungsquellen. Angesichts der Notwendigkeit, das Potenzial aller Unternehmensformen auszuschöpfen, und eingedenk des Grundsatzes der Wertungsfreiheit des EU-Rechts gegenüber den einzelnen Unternehmenstypen dürfte sich die Herausbildung eines uniformen Unternehmenstypus verhindern lassen.

1.5.

Der EWSA

schlägt daher vor, einen EU-Rechtsrahmen für eine bessere Anerkennung sozialwirtschaftlicher Unternehmen zu schaffen. Dieser Rahmen würde sich auf einen neuen Begriff — die eingeschränkte Gewinnorientierung — stützen, die als Kriterium auf sämtliche Unternehmen angewandt würde, die zwar auf die Erwirtschaftung von Gewinnen abzielen, deren Zweck jedoch nicht in ihrer Ausschüttung an die Eigentümer besteht, da sie auf Solidarität bzw. das Allgemeinwohl ausgerichtet sind;

fordert die Kommission auf, eine Studie zum Begriff „eingeschränkte Gewinnorientierung“ sowie zu den Unternehmensformen durchzuführen, die den vorgenannten Kriterien entsprechen. Im Rahmen einer solchen Studie könnte zum einen genauer ermittelt werden, welche rechtlichen, finanziellen und steuerlichen Rahmenbedingungen die betroffenen Unternehmen zur Erhaltung ihrer Wettbewerbsfähigkeit benötigen, zum anderen könnten gegebenenfalls bewährte Verfahren entwickelt werden;

fordert die Kommission auf, sich wie schon in ihrer Mitteilung über die Einstufung staatlicher Beihilfen weiter für Genossenschaften einzusetzen und die einschlägigen Bestimmungen auf alle sozialwirtschaftlichen Unternehmen auszuweiten;

fordert die Kommission ferner dazu auf, eine Auslegungsmitteilung zu Artikel 54 AEUV sowie zu den das Wettbewerbsrecht betreffenden Artikeln des Vertrags vorzulegen und darin den Begriff der Gemeinnützigkeit im EU-Recht klar zu definieren;

ist der Auffassung, dass dem AEUV nach dem Vorbild des Protokolls Nr. 26 über Dienste von allgemeinem Interesse ein Protokoll über die Vielfalt der Unternehmensformen beigefügt werden sollte, und fordert die Mitgliedstaaten auf, diese Änderung bei einer in der Zukunft vorzunehmenden Vertragsrevision zu berücksichtigen.

2.   Allgemeine Bemerkungen

2.1.   Politische Anerkennung der Sozialwirtschaft

2.1.1.

Die Sozialwirtschaft entspricht der gelebten Realität in den Volkswirtschaften und Gebieten der Europäischen Union (EU). Sie umfasst 2,8 Mio. Unternehmen und Organisationen unterschiedlicher Art — u. a. Genossenschaften, Gegenseitigkeitsgesellschaften, Sozialunternehmen, Vereine und Stiftungen —, die eine Wirtschaftstätigkeit ausüben, 8 % des BIP der EU ausmachen und 13,6 Mio. Menschen beschäftigen — d. h. 6 % der Arbeitnehmer in Europa. Die Bandbreite reicht von Kleinstunternehmen über KMU bis hin zu großen sozialwirtschaftlichen Konzernen, die in sämtlichen Branchen tätig sind. Aufgrund ihrer Bedeutung und ihres breiten Tätigkeitsspektrums ist die Sozialwirtschaft ein ausschlaggebender Faktor für ein nachhaltiges, innovatives, sozial inklusives und ökologisches Wirtschaftswachstum in Europa.

2.1.2.

Die Sozialwirtschaft muss noch mehr politische Anerkennung erhalten. Allerdings wurden bereits beachtliche Fortschritte erzielt — dies zeigen die Erklärung von Luxemburg zur Sozialwirtschaft in Europa („A Roadmap towards a more comprehensive ecosystem for social economy enterprises“), die von den 28 Mitgliedstaaten erstmals einstimmig gebilligten Schlussfolgerungen des EU-Rates (Beschäftigung, Sozialpolitik, Gesundheit und Verbraucherschutz) zum Thema „Förderung der Sozialwirtschaft als treibende Kraft der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung in Europa“, die Erneuerung der Sachverständigengruppe für Sozialwirtschaft und Sozialunternehmen der Europäischen Kommission im Jahr 2018 sowie die Aufforderung des Europäischen Parlaments (EP) an die Kommission, dafür zu sorgen, dass die Spezifika der Sozialwirtschaft bei der Gestaltung von EU-Maßnahmen berücksichtigt werden.

2.1.3.

Der EWSA hat mehrfach darauf hingewiesen, wie wichtig die Anerkennung der Sozialwirtschaft ist und dass die EU der Vielfalt der Unternehmensformen in ihren Regeln und Vorschriften Rechnung tragen muss sowie ein eigener Aktionsplan für die Sozialwirtschaft erarbeitet werden sollte.

2.1.4.

Ohne den Beitrag der sozialwirtschaftlichen Unternehmen lässt sich die europäische Säule sozialer Rechte nicht wirksam umsetzen. Daher kommt es nun darauf an, konkret für deren Einbindung in die wirtschaftliche und soziale Entwicklung der EU zu sorgen. In Krisenzeiten haben sich die sozialwirtschaftlichen Unternehmen als widerstandsfähiger erwiesen, zudem sind sie in der Lage, negative soziale Folgen abzufedern, vor allem aber erhalten und fördern sie durch ihre Tätigkeit den sozialen Zusammenhalt und sind Quelle sozialer Innovationen. Darüber hinaus entsprechen viele davon — in erster Linie aufgrund ihrer Organisationsform, aber auch wegen ihrer Wirtschaftstätigkeit — den in der europäischen Säule sozialer Rechte hoch gehaltenen Zielen: Sie sind per se darauf ausgerichtet, Ziele wie die Förderung sicherer und anpassungsfähiger Beschäftigung, den sozialen Dialog und die Arbeitnehmerbeteiligung sowie ein sicheres, gesundes und angemessenes Arbeitsumfeld zu verwirklichen oder innovative Lösungen für bestimmte grundlegende soziale Bedürfnisse zu bieten.

2.2.   Fehlende rechtliche Anerkennung — eine dichotomische und vereinfachende Konzeption von Unternehmensformen

2.2.1.

Die sozialwirtschaftlichen Unternehmen werden im EU-Recht nur zu einem sehr geringen Grad anerkannt. In der Vergangenheit wurde mit verschiedenen Initiativen versucht, die Gründung europäischer Genossenschaften, Gegenseitigkeitsgesellschaften, Vereine und Stiftungen zu fördern. Einziges Ergebnis war jedoch der Verordnungsentwurf über die Europäische Genossenschaft.

2.2.2.

Inzwischen scheint der satzungsmäßige kategoriespezifische Ansatz zugunsten zweier anderer Ansätze aufgegeben worden zu sein:

einerseits zugunsten der Bekanntmachung des Begriffs „sozialwirtschaftliches Unternehmen“ auf europäischer Ebene und der Schaffung mehrerer Finanzinstrumente, die deren Finanzierungsbedarf decken, und,

andererseits, zugunsten unverbindlicher Empfehlungen der Kommission insbesondere an jene Mitgliedstaaten, die noch nicht über einen entsprechenden nationalen Rechtsrahmen verfügen, sozialwirtschaftliche Unternehmen auf einzelstaatlicher Ebene zu fördern.

2.2.3.

Obwohl das EP, der Rat und die Kommission die Absicht bekunden, auf die Entwicklung aller sozialwirtschaftlichen Unternehmen abzustellen, sind die vorgenannten Maßnahmen nur auf gemeinnützige Unternehmen und nicht auf alle Arten von sozialwirtschaftlichen Unternehmen zugeschnitten. Zudem bergen diese Maßnahmen das Risiko einer eingeengten Sichtweise der Sozialwirtschaft, die auf gesellschaftlich relevante Tätigkeiten beschränkt ist.

2.2.4.

Vor allem verschleiern die geltenden Texte und jüngsten Vorschläge einen wesentlichen Punkt: das gesamte EU-Recht fußt auf einer dichotomischen und daher vereinfachten Konzeption von Wirtschaftsakteuren.

2.2.5.

Diese Dichotomie wurde bereits im Vertrag von Rom verankert und spiegelt sich im geltenden Artikel 54 AEUV zur Niederlassungsfreiheit wider. Demgemäß kennt das EU-Recht nur zwei Arten von Einrichtungen: auf der einen Seite die Organisationen ohne Erwerbszweck, zu denen ausschließlich die gemeinnützigen Organisationen zu zählen sind, und, auf der anderen Seite, die Unternehmen, unter die insbesondere Handelsgesellschaften und Gesellschaften des bürgerlichen Rechts fallen und zu denen auch die Genossenschaften gezählt werden.

2.2.6.

Ob Genossenschaften, Gegenseitigkeitsgesellschaften, sozialwirtschaftliche Unternehmen oder Vereine — alle Unternehmen, die eine wirtschaftlich tragfähige Geschäftstätigkeit ausüben und gegebenenfalls Überschüsse erzielen, werden demnach als kapitalistische, gewinnorientierte Unternehmen eingestuft. Sozialwirtschaftliche Unternehmen sind jedoch nicht auf Gewinnmaximierung oder Kapitalrendite ausgerichtet, sondern verfolgen ein soziales Ziel.

2.2.7.

Dieses mangelnde Interesse an den Besonderheiten der sozialwirtschaftlichen Unternehmen schlägt sich auch im Wettbewerbsrecht nieder, das die sozialwirtschaftlichen Unternehmen unterschiedslos allen anderen Unternehmen gleichstellt und diese ohne Berücksichtigung von Rechtsform und Art der Finanzierung als Rechtsträger versteht, der eine Wirtschaftstätigkeit auf einem Markt ausübt. Dieses Außerachtlassen der Rechtsform, der Ziele und damit der besonderen wirtschaftlichen und finanziellen Zwänge, denen sozialwirtschaftliche Unternehmen unterliegen, wird fallweise noch durch Auslegungen der Rechtsprechung und -lehre untermauert, in denen regelmäßig die Vorstellung verbreitet wird, dass nur ein Unternehmen, das einen Erwerbszweck verfolgt, um seine Gewinne oder die Kapitalrendite zu maximieren, der marktwirtschaftlichen Norm entspricht.

2.2.8.

Sämtliche EU-Vorschriften sind von dem Modell des kapitalistischen gewinnorientierten Unternehmens geprägt. So wird trotz der Vorteile, den solche Strukturen für das Gemeinwohl in den EU-Mitgliedstaaten bringen, — abgesehen von einer etwaigen Einstufung als DAWI — weder im Konzern- bzw. Gesellschaftsrecht noch im Vergabe- bzw. Steuerrecht zwischen sozialwirtschaftlichen Unternehmen und anderen Unternehmensformen unterschieden.

2.2.9.

Eine ernsthafte politische Anerkennung ist folglich ohne eine rechtliche, im AEUV verankerte Anerkennung nicht möglich. Dies wiederum erfordert notwendigerweise die Beseitigung der ursprünglichen grundlegenden Unklarheit.

2.2.10.

Im EU-Recht gilt in Bezug auf die Eigentumsordnung in den Mitgliedstaaten der Grundsatz der Neutralität.

Daraus folgt zum einen, dass die Eigentumsordnung in Unternehmen nicht in die Zuständigkeit der EU fällt, und zum anderen, dass die EU-Bestimmungen nicht dazu führen dürfen, dass eine Eigentumsordnung vorgeschrieben wird.

2.2.11.

Ebenso wenig findet das EU-Recht Anwendung bei der Entscheidung, einem Unternehmen entweder eine kapitalistische, gewinnorientierte Struktur zu geben, bei der das Kräfteverhältnis den Aktien- oder Gesellschaftsanteilen entspricht, oder es sozialwirtschaftlich auszurichten, sodass die Machtverteilung personen- und nicht kapitalabhängig ist und Überschüsse nur sehr begrenzt oder gar nicht ausgeschüttet werden, um sie wieder vollständig dem Gesellschaftszweck zuzuführen.

2.2.12.

Führt die Neutralität jedoch dazu, dass ganze Wirtschaftszweige nicht anerkannt werden und dass sich eine bestimmte Unternehmensform als Modell oder Bezugsnorm für die rechtliche Gestaltung durchsetzen kann, wird der Grundsatz untergraben.

2.2.13.

Der EWSA hat bereits 2009 in einer Initiativstellungnahme über die unterschiedlichen Unternehmensformen darauf hingewiesen, dass die wirtschaftliche Vielfalt in der EU anerkannt werden muss.

2.2.14.

Die gesamte EU-Rechtsordnung sollte überarbeitet werden, um ein besseres Verständnis der spezifischen Rolle und Funktionsweise von Unternehmen zu gewährleisten, die im Allgemeininteresse liegende Aufgaben erfüllen und die von ihnen erwirtschafteten Erträge strikt gemäß ihrem Gesellschaftszweck verwenden.

2.2.15.

Eine Lösungsmöglichkeit bestünde daher darin, die sozialwirtschaftlichen Unternehmen neben den gewinnorientierten Unternehmen einerseits und den gemeinnützigen Organisationen andererseits als eine dritte Kategorie von Wirtschaftsakteuren anzuerkennen, die ihre Gewinnorientierung freiwillig zugunsten anderer Zwecke einschränken.

3.   Besondere Bemerkungen

3.1.   Eingeschränkte Gewinnorientierung: gemeinsamer Nenner von Unternehmen der Sozialwirtschaft

3.1.1.

Durch die Einführung des Begriffs „eingeschränkt gewinnorientiertes Unternehmen“ könnte der grundlegende Unterschied zwischen sozialwirtschaftlichen Unternehmen und kapitalistisch ausgerichteten Unternehmen klargestellt werden. Eine Organisation als eingeschränkt gewinnorientiert zu bezeichnen, bedeutet, dass ihre Gewinnorientierung ein Mittel und nicht ein Ziel ihrer Tätigkeit ist.

3.1.2.

Erstens wird anerkannt, dass die Tätigkeit rentabel sein muss, sodass die Organisation nicht von Subventionen oder Schenkungen abhängt, um finanziell im Gleichgewicht zu sein.

3.1.3.

Zweitens müssen etwaige Überschüsse je nach Struktur für die Bildung von Rücklagen oder die Tätigkeit genutzt werden, um die Tragfähigkeit und Weiterentwicklung der Geschäftstätigkeit durch Investitionen sicherzustellen. Genossenschaften beispielsweise können einen Teil der Überschüsse in Form von Rückvergütungen oder Zinsen an ihre Mitglieder ausschütten; allerdings kann nur ein Teil der Überschüsse rückvergütet werden, dessen Höhe theoretisch davon abhängt, welche Geschäfte die Mitglieder getätigt haben, und nicht davon, welche Anteile sie am Kapital halten.

3.1.4.

Drittens darf die Gewinnerzielung nicht das einzige Ziel der Tätigkeit sein. Sozialwirtschaftliche Unternehmen verfolgen mit ihrem Geschäftszweck andere Ziele als Renditen auf eingesetztes Kapital oder Gewinnmaximierung. Ihre Ziele bestehen darin, entweder den Interessen ihrer Mitglieder oder dem allgemeinen Interesse zu dienen, häufig ergänzt durch weitere Ziele im Sinne des gesellschaftlichen, territorialen oder ökologischen Zusammenhalts.

3.1.5.

Die mit dem Geschäftszweck unmittelbar verbundenen Einschränkungen bei Betriebsabläufen und Unternehmensführung sind in den Statuten des Unternehmens festgelegt. Dennoch gilt es, der Existenz der Akteure, die sich für diese spezifischen Unternehmensformen entscheiden, auch im EU-Recht Geltung zu verschaffen und ihre Entwicklung innerhalb des Binnenmarkts zu ermöglichen.

3.1.6.

Durch die Einführung des Begriffs „eingeschränkte Gewinnorientierung“ werden folgende Möglichkeiten eröffnet:

a)

Es wird vermieden, dass die Anerkennung der Sozialwirtschaft allein auf gemeinnützige Unternehmen — das heißt auf Unternehmen, die bestimmte gemeinnützige Tätigkeiten ausüben — beschränkt ist, obwohl die sozialwirtschaftlichen Unternehmen unabhängig von ihrer Branche wirtschaftliche, soziale und gebietsbezogene Bedürfnisse erfüllen. Die von ihnen erwirtschafteten Überschüsse kommen in erster Linie den Mitgliedern von Genossenschaften und Gegenseitigkeitsgesellschaften sowie lokalen Nutzern von Vereinen im Dienstleistungssektor zugute. Sie werden niemals Vergütungen an Hedgefonds oder Investoren aus aller Welt leisten;

b)

die Achtung der vielfältigen nationalen Ausprägungen des Unternehmertums bei gleichzeitiger Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips wird sichergestellt.

3.2.   Transversale Anwendungen

Das Konzept des eingeschränkt gewinnorientierten Unternehmens lässt sich in verschiedenen Politikbereichen der EU umsetzen:

3.2.1.   Niederlassungsfreiheit

3.2.1.1.

Im Bereich der Niederlassungsfreiheit könnte die offizielle Anerkennung der Existenz eingeschränkt gewinnorientierter Unternehmen durch eine erste redaktionelle Änderung erreicht werden.

3.2.1.2.

Artikel 54 AEUV und die Niederlassungsfreiheit könnten sich auf Gesellschaften des bürgerlichen Rechts und Handelsgesellschaften, einschließlich Genossenschaften und anderer juristischer Personen des öffentlichen und privaten Rechts, erstrecken und dabei sowohl vollständig als auch eingeschränkt gewinnorientierte Unternehmen umfassen.

3.2.1.3.

Die Niederlassungsfreiheit stellt für bestimmte Formen sozialwirtschaftlicher Unternehmen eine ernsthafte Herausforderung dar. Da sich die Rechtsvorschriften in den einzelnen Mitgliedstaaten sehr stark voneinander unterscheiden, sind Unternehmen bei der Ausübung der Niederlassungsfreiheit oft gezwungen, im Mitgliedstaat der Niederlassung Statute zu erlassen, die nicht den im Herkunftsmitgliedstaat geltenden Bestimmungen entsprechen. Tatsächlich gibt es für sozialwirtschaftliche Unternehmen kein Äquivalent zur Europäischen Gesellschaft. Durch eine Mindestanerkennung sozialwirtschaftlicher Unternehmen — insbesondere im Wege einer Mitteilung zur Auslegung von Artikel 54 AEUV — könnte einerseits eine stärkere Berücksichtigung der Spezifika dieser Unternehmensform im EU-Recht bewerkstelligt und andererseits könnten Überlegungen zu den verschiedenen Lösungsmöglichkeiten angestoßen werden, die sich für die Frage der Niederlassung anböten (etwa verstärkte Kooperationen).

3.2.1.4.

Damit wäre ein erster Schritt in einem umfassenderen Prozess der Bewusstseinsbildung und Begleitung auf europäischer Ebene zur Förderung der Sozialwirtschaft getan. An diesem Prozess müssen sich sowohl die EU als auch die Mitgliedstaaten beteiligen, die dazu ermutigt werden sollten, auf nationaler Ebene die notwendigen Rahmenbedingungen für die Sozialwirtschaft zur Förderung flexibler Strukturen eingeschränkt gewinnorientierter Unternehmen zu schaffen.

3.2.2.   Wettbewerbsrecht

3.2.2.1.

Der Begriff „eingeschränkte Gewinnorientierung“ sollte sich unbeschadet der für die Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse geltenden Vorschriften (Artikel 106 Absatz 2 AEUV einschließlich Ergänzungs- und Auslegungstexte) auch im Wettbewerbsrecht anwenden lassen.

3.2.2.2.

Auch wenn für die Anwendbarkeit der Wettbewerbsregeln auf einem Markt nur das Kriterium der wirtschaftlichen Tätigkeit auf einem Markt relevant ist, könnten bei der Anwendung der Regeln Anpassungen vorgenommen werden, um bestimmte Besonderheiten der sozialwirtschaftlichen Unternehmen zu berücksichtigen.

3.2.2.3.

Der EuGH hat im Zusammenhang mit staatlichen Beihilfen bestätigt, dass sich Genossenschaften gegenüber gewinnorientierten Unternehmen in Bezug auf Beschränkungen beim Zugang zu Finanzmitteln für ihre Geschäftstätigkeit in einer besonderen Situation befinden. In einer Entscheidung des Gerichtshofs wurde festgestellt, dass die Steuervergünstigungen für Genossenschaften nicht zur Begründung eines selektiven Vorteils für Genossenschaften herangezogen werden konnten, weil die jeweiligen Situationen der Genossenschaften und Kapitalgesellschaften nicht vergleichbar waren.

Der Gerichtshof begründet seine Auffassung mit den besonderen Eigenschaften von Genossenschaften hinsichtlich der Kontrolle, der nicht ausschließlich geschäftlichen Beziehung mit den Genossenschaftsmitgliedern sowie vor allem ihres erschwerten Zugangs zu den Kapitalmärkten und der Tatsache, dass sie sich zur Sicherstellung ihrer Entwicklung zwingend auf Eigenmittel und Kredite stützen müssen.

3.2.2.4.

In ihrer Bekanntmachung zum Begriff der staatlichen Beihilfe nahm die Kommission den Standpunkt des EuGH zu Genossenschaften zur Kenntnis. Sie weist darauf hin, dass Steuervergünstigungen für Genossenschaften möglicherweise nicht in den Anwendungsbereich der Beihilfevorschriften fallen.

3.2.3.   Freier Dienstleistungsverkehr und Vergabe öffentlicher Aufträge

3.2.3.1.

Die Kommission hat den Zugang von Sozialunternehmen zu öffentlichen Aufträgen zu einem Schwerpunktthema erklärt und betont, dass die Teilnahme an Ausschreibungen für bestimmte Sozialunternehmen problematisch ist.

3.2.3.2.

Die Option eines geschützten Markts ist von vornherein ausgeschlossen. Es besteht jedoch eine allgemeine Ausnahme für Wirtschaftsakteure, deren Hauptanliegen die Förderung der sozialen und beruflichen Eingliederung von Personen mit Behinderungen oder von benachteiligten Personen ist. Darüber hinaus wird den Mitgliedstaaten in der Richtlinie 2014/24 auch die Möglichkeit eingeräumt, die Vergabe öffentlicher Aufträge im Gesundheits-, Sozial- und Kulturbereich eingeschränkt gewinnorientierten Unternehmen vorzubehalten, die bestimmte weitere betriebliche Kriterien erfüllen.

3.2.3.3.

Zu beachten ist aber, dass sich eingeschränkt gewinnorientierte Unternehmen im Bieterverfahren, d. h. in einem nach dem freien und liberalen Modell durchgeführten Auswahlverfahren, nicht immer in einer günstigen Wettbewerbsposition wiederfinden. Auch hier können die fallweise geringe Unternehmensgröße oder der erschwerte Zugang zu Finanzierungsquellen für Investitionen unabhängig von der angestrebten Tätigkeit einen Wettbewerbsnachteil darstellen. Daher sollten diese unterschiedlichen Voraussetzungen bei der Aufteilung öffentlicher Aufträge in Lose sowie bei den Zuschlagskriterien im Zusammenhang mit dem wirtschaftlich günstigsten Angebot berücksichtigt werden.

3.2.4.   Besteuerung

3.2.4.1.

In Bezug auf die Besteuerung erkannte die Kommission ebenfalls im Jahr 2013 an, dass ein vorteilhafter steuerlicher Rahmen die soziale Wirkung von Sozialunternehmen belohnt. Es sollte eine Debatte über einen vorteilhaften steuerlichen Rahmen eingeleitet werden, durch den die soziale Wirkung aller Unternehmen im Hinblick auf den sozialen, ökologischen und territorialen Zusammenhalt in umfassenderer Weise belohnt wird.

Brüssel, den 19. Juni 2019

Der Präsident

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Luca JAHIER


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