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Document 62018TJ0280

Urteil des Gerichts (Zehnte erweiterte Kammer) vom 6. Juli 2022 (Auszüge).
ABLV Bank AS gegen Einheitlicher Abwicklungsausschuss.
Wirtschafts- und Währungsunion – Bankenunion – Einheitlicher Abwicklungsmechanismus für Kreditinstitute und bestimmte Wertpapierfirmen (SRM) – Abwicklungsverfahren, das auf den Ausfall oder wahrscheinlichen Ausfall eines Unternehmens anzuwenden ist – Beschluss des SRB, kein Abwicklungskonzept festzulegen – Nichtigkeitsklage – Beschwerende Maßnahme – Rechtsschutzinteresse – Klagebefugnis – Teilweise Zulässigkeit – Art. 18 der Verordnung (EU) Nr. 806/2014 – Zuständigkeit des Urhebers des Rechtsakts – Recht auf Anhörung – Begründungspflicht – Verhältnismäßigkeit – Gleichbehandlung.
Rechtssache T-280/18.

Court reports – general

ECLI identifier: ECLI:EU:T:2022:429

 URTEIL DES GERICHTS (Zehnte erweiterte Kammer)

6. Juli 2022 ( *1 )

„Wirtschafts- und Währungsunion – Bankenunion – Einheitlicher Abwicklungsmechanismus für Kreditinstitute und bestimmte Wertpapierfirmen (SRM) – Abwicklungsverfahren, das auf den Ausfall oder wahrscheinlichen Ausfall eines Unternehmens anzuwenden ist – Beschluss des SRB, kein Abwicklungskonzept festzulegen – Nichtigkeitsklage – Beschwerende Maßnahme – Rechtsschutzinteresse – Klagebefugnis – Teilweise Zulässigkeit – Art. 18 der Verordnung (EU) Nr. 806/2014 – Zuständigkeit des Urhebers des Rechtsakts – Recht auf Anhörung – Begründungspflicht – Verhältnismäßigkeit – Gleichbehandlung“

In der Rechtssache T‑280/18,

ABLV Bank AS mit Sitz in Riga (Lettland), vertreten durch Rechtsanwalt O. Behrends,

Klägerin,

gegen

Einheitlicher Abwicklungsausschuss (SRB), vertreten durch J. De Carpentier, E. Muratori und H. Ehlers als Bevollmächtigte im Beistand von Rechtsanwalt J. Rivas Andrés und B. Heenan, Solicitor,

Beklagter,

unterstützt durch

Europäische Zentralbank (EZB), vertreten durch R. Ugena, A. Witte und A. Lefterov als Bevollmächtigte,

Streithelferin,

erlässt

DAS GERICHT (Zehnte erweiterte Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten A. Kornezov, des Richters E. Buttigieg, der Richterin K. Kowalik-Bańczyk sowie der Richter G. Hesse (Berichterstatter) und D. Petrlík,

Kanzler: P. Cullen, Verwaltungsrat,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens, insbesondere

der am 3. Mai 2018 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangenen Klageschrift,

des am 10. Mai 2019 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangenen Streithilfeschriftsatzes der EZB,

der Entscheidung vom 17. März 2020, das Verfahren bis zum Erlass der das Verfahren beendenden Entscheidung in den Rechtssachen auszusetzen, in denen das Urteil vom 6. Mai 2021, ABLV Bank u. a./EZB (C‑551/19 P und C‑552/19 P, EU:C:2021:369), ergangen ist,

der neuen Beweise, die bei der Kanzlei des Gerichts am 27. Oktober 2021 eingegangen sind,

auf die mündliche Verhandlung vom 28. Oktober 2021

folgendes

Urteil ( 1 )

1

Mit ihrer Klage nach Art. 263 AEUV beantragt die Klägerin, die ABLV Bank AS, die Nichtigerklärung der Beschlüsse des Einheitlichen Abwicklungsausschusses (Single Resolution Board, SRB) vom 23. Februar 2018, in Bezug auf zwei Kreditinstitute, die ABLV Bank AS und die ABLV Bank Luxembourg SA, kein Abwicklungskonzept im Sinne von Art. 18 Abs. 1 der Verordnung (EU) Nr. 806/2014 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. Juli 2014 zur Festlegung einheitlicher Vorschriften und eines einheitlichen Verfahrens für die Abwicklung von Kreditinstituten und bestimmten Wertpapierfirmen im Rahmen eines einheitlichen Abwicklungsmechanismus und eines einheitlichen Abwicklungsfonds sowie zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 1093/2010 (ABl. 2014, L 225, S. 1) festzulegen.

Vorgeschichte des Rechtsstreits

[nicht wiedergegeben]

12

Mit zwei Beschlüssen (SRB/EES/2018/09 und SRB/EES/2018/10) vom 23. Februar 2018 entschied der SRB, in Bezug auf die Klägerin und ABLV Luxembourg jeweils kein Abwicklungskonzept festzulegen (im Folgenden zusammen: angefochtene Beschlüsse). Der SRB übernahm die Einschätzung der EZB, wonach diese Kreditinstitute im Sinne von Art. 18 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 806/2014 ausfielen oder wahrscheinlich ausfielen. Er vertrat auch die Ansicht, dass nach vernünftigem Ermessen keine Aussicht bestehe, dass der Ausfall der Unternehmen innerhalb eines angemessenen Zeitrahmens durch alternative Maßnahmen im Sinne von Art. 18 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. b dieser Verordnung abgewendet werden könne. Der SRB stellte jedoch fest, dass in Anbetracht der besonderen Merkmale der Klägerin und von ABLV Luxembourg eine sie betreffende Abwicklungsmaßnahme nicht gemäß Art. 18 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. c und Art. 18 Abs. 5 dieser Verordnung im öffentlichen Interesse erforderlich sei. Am selben Tag wurden die angefochtenen Beschlüsse der jeweiligen Adressatin, der lettischen Finanz- und Kapitalmarktkommission (Finanšu un kapitāla tirgus komisija, im Folgenden: FKTK) und der luxemburgischen Aufsichtsbehörde für den Finanzsektor (Commission de surveillance du secteur financier, im Folgenden: CSSF) zugestellt.

13

Art. 1 des verfügenden Teils des Beschlusses SRB/EES/2018/09 lautet: „Die ABLV Bank AS wird nicht abgewickelt.“

14

Gemäß Art. 2 Abs. 1 des verfügenden Teils des Beschlusses SRB/EES/2018/09 „[richtet sich d]ieser Beschluss … an die [FKTK] in ihrer Eigenschaft als nationale Abwicklungsbehörde im Sinne von Art. 3 Abs. 1 Nr. 3 der Verordnung Nr. 806/2014“.

15

Art. 2 Abs. 2 des verfügenden Teils des Beschlusses SRB/EES/2018/09 sieht vor, dass „[d]ie [FKTK] … diesen Beschluss gemäß Art. 29 Abs. 1 der Verordnung Nr. 806/2014 [umsetzt] und … dafür Sorge [trägt], dass alle getroffenen Maßnahmen gemäß den [darin] vorgesehenen Erwägungen mit ihm im Einklang stehen“.

16

Die Art. 1 und 2 des verfügenden Teils des Beschlusses SRB/EES/2018/10, der ABLV Luxembourg betrifft, haben einen entsprechenden Inhalt.

[nicht wiedergegeben]

Rechtliche Würdigung

Zur Zulässigkeit

23

Der SRB erhebt vier Einreden der Unzulässigkeit, mit denen er im Wesentlichen Folgendes rügt: Erstens habe die Klägerin die Klage nicht auf den Wortlaut der angefochtenen Beschlüsse, sondern auf den Wortlaut der Pressemitteilung gestützt, zweitens seien die angefochtenen Beschlüsse nicht anfechtbar, drittens sei die Klägerin nicht klagebefugt, da sie von den angefochtenen Beschlüssen nicht unmittelbar betroffen sei, und viertens fehle es der Klägerin am Rechtsschutzinteresse.

[nicht wiedergegeben]

Zur Einrede der Unzulässigkeit wegen Nichtanfechtbarkeit der angefochtenen Beschlüsse

29

Nach Ansicht des SRB sind die angefochtenen Beschlüsse keine anfechtbaren Handlungen, da sie nicht darauf abzielten, verbindliche Rechtswirkungen zu erzeugen, die geeignet seien, die Interessen der Klägerin zu beeinträchtigen, indem sie ihre Rechtsstellung in qualifizierter Weise änderten. Die angefochtenen Beschlüsse hätten nicht die Liquidation der beiden Kreditinstitute angeordnet. Es sei Sache der nationalen Abwicklungsbehörden (national resolution authority bzw. authorities, im Folgenden: NRA), gegenüber diesen Instituten die erforderlichen Maßnahmen im Einklang mit dem geltenden nationalen Recht zu treffen, nachdem der SRB beschlossen habe, kein Abwicklungskonzept festzulegen.

30

Es ist darauf hinzuweisen, dass anfechtbare Handlungen grundsätzlich Maßnahmen sind, die den Standpunkt der Kommission beim Abschluss eines Verwaltungsverfahrens endgültig festlegen und verbindliche Rechtswirkungen erzeugen sollen, die die Interessen des Klägers berühren, was Zwischenmaßnahmen, die der Vorbereitung der endgültigen Entscheidung dienen und keine solche Wirkung haben, ausschließt (vgl. Urteil vom 18. November 2010, NDSHT/Kommission, C‑322/09 P, EU:C:2010:701, Rn. 48 und die dort angeführte Rechtsprechung).

31

Insbesondere hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass zwar die von der EZB vorgenommene Bewertung des Ausfalls oder wahrscheinlichen Ausfalls eines Unternehmens nach Art. 18 Abs. 1 Unterabs. 2 und 3 der Verordnung Nr. 806/2014 keine anfechtbare Handlung darstellt, dass jedoch die darauf folgende Festlegung eines Abwicklungskonzepts durch den SRB nach Art. 18 Abs. 6 dieser Verordnung oder der Beschluss, ein solches Konzept nicht festzulegen, Gegenstand einer Klage vor den Unionsgerichten sein kann, in deren Rahmen diese Bewertung gerichtlich überprüft werden kann (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Mai 2021, ABLV Bank u. a./EZB, C‑551/19 P und C‑552/19 P, EU:C:2021:369, Rn. 56).

32

Zudem können nach Art. 86 Abs. 2 der Verordnung Nr. 806/2014 die Mitgliedstaaten und die Organe der Union sowie jede natürliche oder juristische Person im Einklang mit Art. 263 AEUV gegen einen solchen Beschluss des SRB Klage vor dem Gerichtshof der Europäischen Union erheben (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Mai 2021, ABLV Bank u. a./EZB, C‑551/19 P und C‑552/19 P, EU:C:2021:369, Rn. 56).

33

Daraus folgt, dass der Beschluss des SRB, in Bezug auf ein Kreditinstitut ein Abwicklungskonzept festzulegen oder dies nicht zu tun, eine anfechtbare Handlung ist. Dieser Beschluss legt nämlich den Standpunkt des SRB beim Abschluss des komplexen Verwaltungsverfahrens, das in Art. 18 der Verordnung Nr. 806/2014 vorgesehen ist und durch die in einem ersten Schritt von der EZB vorgenommene Bewertung des Ausfalls oder wahrscheinlichen Ausfalls eines Unternehmens ausgelöst wird, endgültig fest. Dieses Verfahren soll gegenüber der Klägerin verbindliche Rechtswirkungen dahin erzeugen, dass sie nicht abgewickelt wird.

34

Zudem ist darauf hinzuweisen, dass eine Entscheidung wie die in den angefochtenen Beschlüssen getroffene, kein Abwicklungskonzept festzulegen, ebenso eine anfechtbare Handlung darstellt wie eine Entscheidung, ein solches Konzept festzulegen. Der Beschluss, eine Abwicklungsmaßnahme zu erlassen, führt nämlich zur Anwendung der in Art. 18 Abs. 6 Buchst. b und c sowie in Art. 22 der Verordnung Nr. 806/2014 genannten Abwicklungsinstrumente, wie des Instruments der Unternehmensveräußerung, des Instruments des Brückeninstituts, des Instruments der Ausgliederung von Vermögenswerten, des Bail-in‑Instruments oder auch die Inanspruchnahme des einheitlichen Abwicklungsfonds zur Unterstützung der Abwicklungsmaßnahme. Daher erzeugt der Beschluss, diese Instrumente nicht anzuwenden, von denen einige es der Klägerin ermöglichen könnten, einen Teil ihrer Tätigkeiten fortzuführen, verbindliche Rechtswirkungen, die die Interessen der Klägerin berühren.

35

Wie schließlich auch aus den Schlussanträgen des Generalanwalts Campos Sánchez-Bordona in den verbundenen Rechtssachen ABLV Bank u. a./EZB (C‑551/19 P und C‑552/19 P, EU:C:2021:16, Nr. 93) hervorgeht, wird die Wahrung des in Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) verankerten Rechts auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz dadurch sichergestellt, dass der Beschluss des SRB, der das Verfahren nach Art. 18 der Verordnung Nr. 806/2014 abschließt, eine anfechtbare Handlung ist, so dass etwaige Rechtswidrigkeiten der von der EZB vorgenommenen Bewertung des Ausfalls oder wahrscheinlichen Ausfalls der Klägerin im ersten Stadium des Verfahrens zur Stützung einer gegen diesen Beschluss des SRB gerichteten Klage geltend gemacht werden können. Daraus folgt, dass die Klägerin in der Lage sein muss, die Nichtigerklärung des Beschlusses des SRB über die Festlegung oder Nichtfestlegung eines sie betreffenden Abwicklungskonzepts zu begehren.

36

Daher sind die angefochtenen Beschlüsse anfechtbare Handlungen.

Zur Einrede der Unzulässigkeit wegen fehlender Klagebefugnis der Klägerin

37

Der SRB macht geltend, die Klägerin sei von den angefochtenen Beschlüssen nicht unmittelbar betroffen. Diese hätten sich nicht unmittelbar auf ihre Rechtsstellung ausgewirkt und ließen den für ihre Umsetzung zuständigen NRA einen weiten Spielraum. Die Liquidation der Klägerin und ihrer Tochtergesellschaft sei das Ergebnis von auf nationaler Ebene getroffenen Entscheidungen und nicht das Ergebnis der Anwendung der Vorschriften des Unionsrechts.

38

Zunächst ist festzuhalten, dass die individuelle Betroffenheit der Klägerin im Sinne von Art. 263 Abs. 4 AEUV vom SRB nicht in Frage gestellt wird. Die angefochtenen Beschlüsse betreffen nämlich jeweils die Klägerin und ihre 100%ige Tochtergesellschaft als Kreditinstitute, in Bezug auf die der SRB kein Abwicklungskonzept festlegt; mithin individualisieren sie die Klägerin somit in ähnlicher Weise wie ihre Adressaten. Die Klägerin ist daher von den angefochtenen Beschlüssen individuell betroffen.

39

Was im vorliegenden Fall das angebliche Fehlen der unmittelbaren Betroffenheit der Klägerin betrifft, so ist darauf hinzuweisen, dass die in Art. 263 Abs. 4 AEUV genannte Voraussetzung, wonach eine natürliche oder juristische Person, die nicht Adressatin des klagegegenständlichen Beschlusses ist, von diesem Beschluss unmittelbar betroffen sein muss, erfordert, dass zwei Kriterien kumulativ erfüllt sind, nämlich zum einen, dass sich die beanstandete Maßnahme unmittelbar auf ihre Rechtsstellung auswirkt, und zum anderen, dass sie den Adressaten, die mit ihrer Durchführung betraut sind, keinerlei Ermessensspielraum lässt, ihre Umsetzung vielmehr rein automatisch erfolgt und sich allein aus der Unionsregelung ohne Anwendung weiterer Durchführungsvorschriften ergibt (Urteile vom 22. März 2007, Regione Siciliana/Kommission, C‑15/06 P, EU:C:2007:183, Rn. 31, vom 13. Oktober 2011, Deutsche Post und Deutschland/Kommission, C‑463/10 P und C‑475/10 P, EU:C:2011:656, Rn. 66, sowie vom 6. November 2018, Scuola Elementare Maria Montessori/Kommission, Kommission/Scuola Elementare Maria Montessori und Kommission/Ferracci, C‑622/16 P bis C‑624/16 P, EU:C:2018:873, Rn. 42).

– Zur unmittelbaren Betroffenheit der Klägerin, soweit sich die Klage gegen den Beschluss SRB/EES/2018/10 richtet, der sich auf ABLV Luxembourg bezieht

40

Zunächst ist festzustellen, dass die Klage gegen den Beschluss SRB/EES/2018/09 von der Klägerin in ihrem eigenen Namen erhoben worden ist. Gegen den Beschluss SRB/EES/2018/10 geht sie als Muttergesellschaft und Alleingesellschafterin von ABLV Luxembourg im Klagewege vor.

41

Es ist darauf hinzuweisen, dass, wie sich oben aus Rn. 12 ergibt, der Beschluss SRB/EES/2018/10 vorsieht, dass in Bezug auf ABLV Luxembourg kein Abwicklungskonzept festgelegt wird. Somit erzeugt dieser Beschluss Wirkungen auf die Rechtsstellung dieses Kreditinstituts (vgl. in diesem Sinne Beschluss vom 14. Mai 2020, Bernis u. a./SRB, T‑282/18, nicht veröffentlicht, EU:T:2020:209, Rn. 39).

42

Dagegen erzeugt der Beschluss SRB/EES/2018/10 aber keine unmittelbaren Wirkungen auf die Rechtsstellung von Aktionären wie der Klägerin, da das Dividendenbezugsrecht der Aktionäre und ihr Recht auf Beteiligung an der Geschäftsführung von ABLV Luxembourg von diesem Beschluss nicht berührt wurden (vgl. entsprechend Urteil vom 5. November 2019, EZB u. a./Trasta Komercbanka u. a.,C‑663/17 P, C‑665/17 P und C‑669/17 P, EU:C:2019:923, Rn. 110).

43

Wie sich aus dem Urteil vom 5. November 2019, EZB u. a./Trasta Komercbanka u. a. (C‑663/17 P, C‑665/17 P und C‑669/17 P, EU:C:2019:923), ergibt, ist die negative Auswirkung des Entzugs der Zulassung eines Kreditinstituts auf die Aktionäre wirtschaftlicher und nicht rechtlicher Natur, da das Dividendenbezugsrecht der Aktionäre und ihr Recht auf Beteiligung an der Geschäftsführung unverändert bestehen bleibt, obwohl das Institut nicht mehr in der Lage ist, seine Tätigkeit nach diesem Entzug fortzusetzen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 5. November 2019, BCE u. a./Trasta Komercbanka u. a., C‑663/17 P, C‑665/17 P und C‑669/17 P, EU:C:2019:923, Rn. 111, sowie Beschluss vom 14. Mai 2020, Bernis u. a./SRB, T‑282/18, nicht veröffentlicht, EU:T:2020:209, Rn. 41).

44

Dies gilt im vorliegenden Fall umso mehr, als der Beschluss SRB/EES/2018/10 nur vorsieht, dass ABLV Luxembourg nicht abgewickelt wird. Im Gegensatz zu dem Sachverhalt in der Rechtssache, in der das Urteil vom 5. November 2019, EZB u. a./Trasta Komercbanka u. a. (C‑663/17 P, C‑665/17 P und C‑669/17 P, EU:C:2019:923), ergangen ist, hat dieser Beschluss somit weder zum Zweck noch zur Folge, dass dieser Bank ihre Zulassung, die sie zur Ausübung einer Tätigkeit als Kreditinstitut berechtigt, entzogen wird (vgl. in diesem Sinne Beschluss vom 14. Mai 2020, Bernis u. a./SRB, T‑282/18, nicht veröffentlicht, EU:T:2020:209, Rn. 42).

45

Nach alledem ist der Schluss zu ziehen, dass die Klägerin von dem Beschluss SRB/EES/2018/10 nicht im Sinne von Art. 263 Abs. 4 AEUV unmittelbar betroffen ist.

– Zur unmittelbaren Betroffenheit der Klägerin, soweit sich die Klage gegen den Beschluss SRB/EES/2018/09 richtet, der sich auf die Klägerin bezieht

46

Die vorliegende Klage ist von der Klägerin im eigenen Namen erhoben worden, soweit sie auf die Nichtigerklärung des Beschlusses SRB/EES/2018/09 gerichtet ist.

47

Was erstens die Frage anbelangt, ob sich dieser Beschluss auf die Rechtsstellung der Klägerin unmittelbar auswirkt, so ist darauf hinzuweisen, dass es nach Art. 18 der Verordnung Nr. 806/2014 zur Einleitung des Verfahrens gemäß dieser Bestimmung führt, wenn die EZB in ihrer Bewertung zu der Einschätzung gelangt, dass das betreffende Unternehmen im Sinne von Art. 18 Abs. 1 Buchst. a dieser Verordnung ausfällt oder wahrscheinlich ausfällt. Wenn die EZB hingegen zu dem gegenteiligen Schluss gelangt, wird kein Abwicklungsverfahren eingeleitet, da die EZB nach Art. 18 Abs. 1 Unterabs. 3 der Verordnung Nr. 806/2014 der Kommission und dem SRB ihre Bewertung nur dann mitteilen muss, wenn sie zu der Einschätzung gelangt, dass das Unternehmen ausfällt oder wahrscheinlich ausfällt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Mai 2021, ABLV Bank u. a./EZB, C‑551/19 P und C‑552/19 P, EU:C:2021:369, Rn. 67 und 70).

48

Somit ist die auf der Bewertung der EZB beruhende Schlussfolgerung des SRB, dass die Klägerin ausfällt oder wahrscheinlich ausfällt, eine conditio sine qua non des verfügenden Teils des Beschlusses SRB/EES/2018/09, der vorsieht, in Bezug auf die Klägerin kein Abwicklungskonzept festzulegen. Daher stellt die Schlussfolgerung, dass die Klägerin ausfällt oder wahrscheinlich ausfällt, die notwendige Grundlage für Art. 1 des verfügenden Teils dieses Beschlusses dar. Der Beschluss SRB/EES/2018/09 erzeugt daher dadurch, dass darin der Ausfall oder der wahrscheinliche Ausfall der Klägerin festgestellt wird, unmittelbare Wirkungen auf ihre Rechtsstellung im Sinne der oben in Rn. 39 angeführten Rechtsprechung.

49

Zum anderen erzeugt der Beschluss, kein Abwicklungskonzept festzulegen und daher keine Abwicklungsinstrumente im Sinne der Verordnung Nr. 806/2014 anzuwenden, von denen es einige der Klägerin ermöglichen könnten, einen Teil ihrer Tätigkeiten fortzuführen, wie oben in Rn. 34 ausgeführt worden ist, unmittelbare Wirkungen auf ihre Rechtsstellung.

50

Zweitens ist hinsichtlich der Frage, ob dieser Beschluss den mit ihrer Durchführung betrauten Adressaten im Sinne der oben in Rn. 39 genannten Rechtsprechung einen Ermessensspielraum lässt, festzustellen, dass dies im vorliegenden Fall nicht zutrifft. Der Beschluss, in Bezug auf die Klägerin kein Abwicklungskonzept festzulegen, lässt den mit seiner Durchführung betrauten Adressaten keinerlei Ermessensspielraum, da diese Umsetzung rein automatisch erfolgt und sich allein aus der Unionsregelung ohne Anwendung weiterer Durchführungsvorschriften ergibt. Die betreffende NRA verfügt nämlich über keinen Ermessensspielraum hinsichtlich des Beschlusses des SRB, in Bezug auf die Klägerin kein Abwicklungsinstrument anzuwenden, da dieser Beschluss die Anwendung keiner Durchführungsvorschrift oder ‑maßnahme erfordert, um seine verbindlichen Rechtswirkungen zu erzeugen. Diese Schlussfolgerung wird nicht dadurch in Frage gestellt, dass diese NRA möglicherweise Maßnahmen zur Umsetzung des Beschlusses SRB/EES/2018/09 nach Art. 29 Abs. 1 der Verordnung Nr. 806/2014 treffen muss, dessen Inhalt in Art. 2 Abs. 2 des verfügenden Teils dieses Beschlusses wiedergegeben wird, da diese nicht in den Rahmen des Abwicklungsmechanismus fallen (vgl. in diesem Sinne Beschluss vom 14. Mai 2020, Bernis u. a./SRB, T‑282/18, nicht veröffentlicht, EU:T:2020:209, Rn. 43).

51

Insbesondere erfolgt die Liquidation der Klägerin nach lettischem Recht nicht im Rahmen eines Abwicklungskonzepts und ergibt sich nicht aus dem Beschluss SRB/EES/2018/09. Diese Liquidation wurde von den Aktionären dieser Gesellschaft beschlossen, nachdem der SRB entschieden hatte, dass bei der Klägerin gemäß der Verordnung Nr. 806/2014 ein Abwicklungskonzept im öffentlichen Interesse nicht erforderlich sei (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Mai 2021, ABLV Bank u. a./EZB, C‑551/19 P und C‑552/19 P, EU:C:2021:369, Rn. 49). Somit wurde die Liquidation nicht durch diesen Beschluss angeordnet (vgl. in diesem Sinne Beschluss vom 14. Mai 2020, Bernis u. a./SRB, T‑282/18, nicht veröffentlicht, EU:T:2020:209, Rn. 39 bis 45).

52

Aus dem Vorstehenden ergibt sich, dass die Klägerin nicht befugt ist, gegen den Beschluss SRB/EES/2018/10 zu klagen, und dass die Klage unzulässig ist, soweit sie sich gegen diesen Beschluss richtet. Sie verfügt hingegen über die Befugnis, gegen den Beschluss SRB/EES/2018/09 Klage zu erheben.

Zur Einrede der Unzulässigkeit wegen fehlenden Rechtsschutzinteresses der Klägerin

53

Nach Ansicht des SRB hat die Klägerin nicht nachgewiesen, dass sie ein bestehendes und gegenwärtiges Rechtsschutzinteresse habe. Sie habe nicht dargetan, in welcher Weise sie von einer Nichtigerklärung der angefochtenen Beschlüsse profitieren würde. Hinsichtlich der von der Klägerin angeführten Interessen, dass nämlich durch die angefochtenen Beschlüsse der Ruf der Kreditinstitute beeinträchtigt worden sei, macht der SRB geltend, dieser sei nicht durch die angefochtenen Beschlüsse, sondern durch den Maßnahmenentwurf des Netzwerks zur Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität (Financial Crimes Enforcement Network, im Folgenden: FinCEN) oder durch die Bewertung des Ausfalls oder wahrscheinlichen Ausfalls der beiden Institute durch die EZB beeinträchtigt worden. Das Interesse an der Eröffnung der Möglichkeit, eine Schadensersatzklage zu erheben, sei kein bestehendes und gegenwärtiges Interesse im Kontext der vorliegenden Nichtigkeitsklage. Falls die Klägerin einen Schaden erlitten haben sollte, sei dieser schließlich das Ergebnis der Entscheidung der Aktionäre, ihre Selbstliquidation vorzunehmen.

54

Es ist darauf hinzuweisen, dass eine Nichtigkeitsklage einer natürlichen oder juristischen Person nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs nur zulässig ist, wenn diese ein Interesse an der Nichtigerklärung der angefochtenen Handlung hat. Ein solches Interesse setzt voraus, dass die Nichtigerklärung dieser Handlung als solche Rechtswirkungen haben kann und der Rechtsbehelf der Partei, die ihn eingelegt hat, damit im Ergebnis einen Vorteil verschaffen kann (vgl. Urteil vom 17. September 2015, Mory u. a./Kommission, C‑33/14 P, EU:C:2015:609, Rn. 55 und die dort angeführte Rechtsprechung).

55

Es steht fest, dass die Klägerin, obwohl sie die vollständige Nichtigerklärung des Beschlusses SRB/EES/2018/09 begehrt, nicht beanstandet, dass kein Abwicklungskonzept festgelegt wurde, sondern sich im Wesentlichen gegen die Schlussfolgerungen des SRB wendet, wonach sie ausfalle oder wahrscheinlich ausfalle und nach vernünftigem Ermessen keine Aussicht bestehe, dass der Ausfall durch alternative Maßnahmen abgewendet werden könne.

56

Die vorliegende Rechtssache ist jedoch durch Besonderheiten gekennzeichnet, die es aus diesem Grund nicht erlauben, das Rechtsschutzinteresse der Klägerin zu verneinen.

57

Zum einen wird, wie sich auch aus den Rn. 47 und 48 oben ergibt, wenn die EZB zu dem Ergebnis gelangt, dass das betreffende Unternehmen nicht ausfällt oder wahrscheinlich nicht ausfällt, dem SRB keine Bewertung übermittelt und das Abwicklungsverfahren daher nicht eingeleitet. Die Bewertung des Ausfalls oder wahrscheinlichen Ausfalls ist daher, sobald sie durch den SRB übernommen wird, eine unabdingbare Voraussetzung für die Einleitung des Abwicklungsverfahrens nach Art. 18 der Verordnung Nr. 806/2014 und daher für einen förmlichen Beschluss darüber, ein Abwicklungskonzept festzulegen oder dies nicht zu tun.

58

Somit stellt die Begründung des Beschlusses SRB/EES/2018/09, insbesondere die vom SRB übernommene Bewertung des Ausfalls oder wahrscheinlichen Ausfalls der Klägerin durch die EZB, die notwendige Grundlage für den verfügenden Teil dieses Beschlusses dar. Sollte das Gericht zu dem Ergebnis gelangen, dass diese Bewertung falsch war, hätte das Verfahren, in dem dieser Beschluss erlassen wurde, gegen die Klägerin nicht eingeleitet werden dürfen.

59

Zum anderen hat das betreffende Unternehmen im Hinblick auf die Ausübung seiner Tätigkeit als Bank ein legitimes Interesse daran, nicht Gegenstand einer Bewertung zu sein, aus der sich ergibt, dass sie ausfällt oder wahrscheinlich ausfällt.

60

Nach alledem ist festzustellen, dass die Klägerin ein Rechtsschutzinteresse an der Nichtigerklärung des Beschlusses SRB/EES/2018/09 besitzt.

61

Die Klage ist daher unzulässig, soweit sie gegen den Beschluss SRB/EES/2018/10 gerichtet ist, und zulässig, soweit mit ihr die Nichtigerklärung des Beschlusses SRB/EES/2018/09 begehrt wird.

Zur Begründetheit

[nicht wiedergegeben]

Dritter und vierter Klagegrund: Verstoß gegen Art. 18 Abs. 1 Buchst. a und b der Verordnung Nr. 806/2014

87

Der dritte und der vierte Klagegrund, die zusammen zu behandeln sind, bestehen aus einem Teil bzw. aus vier Teilen. Im Rahmen des vierten Klagegrundes, auf den zuerst einzugehen ist, macht die Klägerin erstens geltend, der SRB habe zu Unrecht keine eigene Prüfung der in Art. 18 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 806/2014 vorgesehenen Voraussetzung vorgenommen. Der SRB habe sich vollständig auf die von der EZB vorgenommene Bewertung des Ausfalls oder wahrscheinlichen Ausfalls der Klägerin gestützt. Zweitens argumentiert die Klägerin hinsichtlich dieser Bewertung, dass die vorübergehenden Liquiditätsprobleme, denen sie sich infolge des Maßnahmenentwurfs des FinCEN gegenübergesehen habe, für sich genommen keinen hinreichenden Grund für die Einschätzung darstellten, dass sie ausfallend oder wahrscheinlich ausfallend sei. Nach den Leitlinien EBA/GL/2015/07 der Europäischen Bankaufsichtsbehörde (EBA) vom 6. August 2015 zur Interpretation der Umstände, unter denen ein Institut gemäß Art. 32 Abs. 6 der Richtlinie 2014/59 als ausfallend oder wahrscheinlich ausfallend zu betrachten ist (im Folgenden: EBA-Leitlinien) werde empfohlen, alle objektiven Anhaltspunkte zu berücksichtigen und davon abgeraten, die Bewertung des Ausfalls oder wahrscheinlichen Ausfalls eines Unternehmens auf einen einzigen Anhaltspunkt, wie die sofortige Verfügbarkeit von Liquidität, zu stützen. Drittens macht die Klägerin geltend, der von der EZB geforderte Betrag von einer Mrd. Euro, der nach Ansicht der EZB auf dem Konto der Klägerin bei der Bank von Lettland vor einer etwaigen Aufhebung des Moratoriums am 23. Februar 2018 habe verfügbar sein müssen, sei unverhältnismäßig. Die EZB habe nämlich die Abhebungen von Einlagen im Fall einer Wiedereröffnung der Klägerin zu hoch geschätzt, indem sie durchschnittliche Abhebungen von 200 Mio. Euro pro Tag während eines Zeitraums von fünf aufeinanderfolgenden Tagen zugrunde gelegt habe. Viertens trägt die Klägerin eine Reihe von Argumenten zur Stützung ihrer These vor, dass die EZB nicht alle ihre liquiden Vermögenswerte berücksichtigt habe, vor allem jene nicht, auf die sie keinen sofortigen Zugriff gehabt habe. Im Rahmen des dritten Klagegrundes macht die Klägerin geltend, der SRB habe nicht hinreichend geprüft, ob nach vernünftigem Ermessen eine Aussicht bestanden habe, den Ausfall durch alternative Maßnahmen abzuwenden.

[nicht wiedergegeben]

– Zur Frage, ob der SRB berechtigt war, sich auf die Bewertung des Ausfalls oder wahrscheinlichen Ausfalls der Klägerin durch die EZB zu stützen

103

Die Klägerin macht in der Erwiderung geltend, der SRB habe sich nicht ausschließlich auf die Bewertung des Ausfalls oder wahrscheinlichen Ausfalls der Klägerin durch die EZB stützen können, ohne selbst eine eigene Prüfung vorzunehmen. Diese Rüge, die zuerst zu prüfen ist, ist unabhängig von der Frage zurückzuweisen, ob es sich um eine neue Rüge im Sinne von Art. 84 Abs. 1 der Verfahrensordnung handelt.

104

Die Rüge läuft nämlich darauf hinaus, die Rolle der EZB in dem durch Art. 18 der Verordnung Nr. 806/2014 errichteten System zu verkennen, wie sie vom Gerichtshof im Urteil vom 6. Mai 2021, ABLV Bank u. a./EZB (C‑551/19 P und C‑552/19 P, EU:C:2021:369), festgestellt worden ist.

105

Zwar ist der SRB nicht an die von der EZB vorgenommene Bewertung des Ausfalls oder wahrscheinlichen Ausfalls eines Unternehmens gebunden. Es handelt sich bei dieser Bewertung um keine verbindliche Handlung. Insbesondere ist sie für den SRB nicht bindend. Der Wortlaut der Bestimmung bietet keinen Ansatzpunkt dafür, dass der SRB nicht mehr befugt wäre, zu beurteilen, ob das betreffende Unternehmen ausfällt oder wahrscheinlich ausfällt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Mai 2021, ABLV Bank u. a./EZB, C‑551/19 P und C‑552/19 P, EU:C:2021:369, Rn. 67).

106

Art. 18 Abs. 1 Unterabs. 2 der Verordnung Nr. 806/2014 erkennt der EZB eine vorrangige, wenn auch nicht ausschließliche Rolle zu. Es ist in der Regel Aufgabe der EZB, in einem ersten Schritt die Bewertung des Ausfalls oder wahrscheinlichen Ausfalls eines Unternehmens vorzunehmen. Zwar kann auch der SRB eine solche Bewertung vornehmen, jedoch erst nach Unterrichtung der EZB über seine Absicht und nur dann, wenn die EZB die Bewertung nicht innerhalb von drei Kalendertagen nach Eingang der Unterrichtung vornimmt. Der EZB wird daher eine vorrangige Zuständigkeit für die Vornahme einer solchen Bewertung zuerkannt, die mit der Expertise zusammenhängt, über die die EZB als Aufsichtsbehörde verfügt. Die EZB hat als Aufsichtsbehörde Zugang zu allen für die Aufsicht relevanten Informationen über das betreffende Unternehmen. Sie ist daher am besten in der Lage, im Hinblick auf die Definition des Ausfalls oder wahrscheinlichen Ausfalls in Art. 18 Abs. 4 der Verordnung Nr. 806/2014, in der insbesondere auf für die Aufsicht relevante Informationen wie die Zulassungsvoraussetzungen, das Verhältnis der Vermögenswerte zur Höhe der Verbindlichkeiten oder die gegenwärtige oder zukünftige Verschuldung abgestellt wird, zu beurteilen, ob diese Voraussetzung erfüllt ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Mai 2021, ABLV Bank u. a./EZB, C‑551/19 P und C‑552/19 P, EU:C:2021:369, Rn. 62).

107

Im vorliegenden Fall hat der SRB in Abschnitt 3.2.1 des angefochtenen Beschlusses SRB/EES/2018/09 auf der Grundlage der von der EZB vorgenommenen Bewertung ausgeführt, dass die Klägerin als ausfallend oder wahrscheinlich ausfallend im Sinne von Art. 18 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 806/2014 in Verbindung mit Art. 18 Abs. 4 Buchst. c dieser Verordnung angesehen werde, da es, falls das Moratorium nach dem 23. Februar 2018 aufgehoben werde, infolge der durch den Maßnahmenentwurf des FinCEN hervorgerufenen Rufschädigung sehr wahrscheinlich sei, dass die Liquiditätsabflüsse der Institute im gleichen Tempo wie vor Verhängung des Moratoriums fortgesetzt würden. Mithin hat der SRB die Beurteilung der EZB übernommen, wonach die Klägerin über ein Liquiditätsdeckungspotenzial von einer Mrd. Euro auf ihrem Konto bei der Bank von Lettland verfügen müsse, einen Betrag, mit dem der Umfang der erwarteten Abhebungen innerhalb der fünf Tage unmittelbar nach Aufhebung des Moratoriums bewältigt werden könne. Da dieses Liquiditätsdeckungspotenzial nicht erreicht worden ist, hat sich der SRB der Einschätzung der EZB angeschlossen, dass die Klägerin in naher Zukunft wahrscheinlich nicht in der Lage sein werde, ihre Schulden bei Fälligkeit zu zahlen, und dass sie ausfalle oder wahrscheinlich ausfalle.

108

Unter diesen Umständen und in Anbetracht des weiten Ermessens, über das der SRB in Anwendung der oben in den Rn. 91 bis 94 angeführten Rechtsprechung im Rahmen der komplexen wirtschaftlichen Beurteilung verfügte, die die Bewertung des Ausfalls oder wahrscheinlichen Ausfalls der Klägerin darstellt, hat der SRB, wenngleich er an die Prüfung und Einschätzung der EZB nicht gebunden war, keinen Rechtsfehler begangen, als er sich auf diese Beurteilung stützte, da die EZB das Organ ist, das am besten in der Lage ist, den Ausfall oder wahrscheinlichen Ausfall der Klägerin zu bewerten.

109

Dem Vorbringen der Klägerin kann daher nicht gefolgt werden.

– Zur Bewertung des Ausfalls oder wahrscheinlichen Ausfalls der Klägerin, die sich im Wesentlichen auf ihre Liquiditätskrise stützt

110

Nach Ansicht der Klägerin ist die EZB zu Unrecht davon ausgegangen, dass ein vorübergehendes Problem beim Zugang zu bestimmten liquiden Mitteln den Schluss erlaube, dass sie ausfalle oder wahrscheinlich ausfalle. Die EZB habe sich auf einen einzigen Umstand gestützt, nämlich auf den vorübergehenden Liquiditätsengpass infolge der massiven Abhebungen im Zeitraum vom 14. bis zum 16. Februar 2018, und habe die Gesamtsituation der Klägerin nicht hinreichend berücksichtigt. Sie macht geltend, weder ihre Deckungsquote noch ihre hohe Kapitalisierung seien hinreichend berücksichtigt worden. Insbesondere aus den EBA-Leitlinien ergebe sich, dass alle objektiven Anhaltspunkte im Zusammenhang mit den Schwierigkeiten eines Kreditinstituts gegeneinander abgewogen werden müssten, um festzustellen, ob das Kreditinstitut ausfalle oder wahrscheinlich ausfalle.

111

Zunächst ist festzustellen, dass ein Unternehmen nach Art.18 Abs. 4 der Verordnung Nr. 806/2014 als ausfallend oder wahrscheinlich ausfallend zu betrachten ist, wenn eine oder mehrere der unter den Buchst. a bis d dieser Vorschrift angeführten Voraussetzungen erfüllt sind. Im vorliegenden Fall war die Klägerin nach Ansicht der EZB im Sinne von Art. 18 Abs. 4 Buchst. c dieser Verordnung nicht in der Lage, ihre Schulden oder sonstigen Verbindlichkeiten bei Fälligkeit zu begleichen, oder lagen keine objektiven Anhaltspunkte dafür vor, dass dies in naher Zukunft der Fall sein werde. Wie die EZB zu Recht geltend gemacht hat, geht aus Art. 18 der Verordnung Nr. 806/2014 nicht hervor, dass die EZB und der SRB Anhaltspunkte wie die Deckungsquote oder die Kapitalisierung eines Kreditinstituts berücksichtigen müssen, bevor sie zu dem Schluss kommen können, dass dieses ausfallend oder wahrscheinlich ausfallend sei.

112

Diese Erwägung kann durch die EBA-Leitlinien nicht in Frage gestellt werden. Nach Rn. 5 ihrer englischen Sprachfassung sollen diese Leitlinien gemäß Art. 32 Abs. 6 der Richtlinie 2014/59 die Konvergenz der Aufsichts- und Abwicklungspraktiken bezüglich der Interpretation der Umstände, unter denen ein Institut als ausfallend oder wahrscheinlich ausfallend zu betrachten ist, fördern. Die EZB macht zu Recht geltend, dass diese Leitlinien nicht im Widerspruch zur Verordnung Nr. 806/2014 ausgelegt werden könnten und daher keine zusätzlichen Bedingungen aufstellten, die sich nicht aus Art. 18 dieser Verordnung ergeben.

113

Jedenfalls sollten die objektiven Anhaltspunkte, insbesondere die Kapitalposition und die Liquiditätsposition des Instituts, von der Abwicklungsbehörde nach Rn. 14 der EBA-Leitlinien in der englischen Sprachfassung sorgfältig analysiert werden. Gemäß Rn. 16 der englischen Sprachfassung der EBA-Leitlinien wird zwar in den meisten Fällen davon ausgegangen, dass mehrere in diesen Leitlinien dargelegte Faktoren, statt lediglich eines Faktors, die Feststellung, dass ein Institut ausfällt oder wahrscheinlich ausfällt, beeinflussen. Nichtsdestotrotz kann es Situationen geben, in denen die Erfüllung lediglich einer Voraussetzung, abhängig von ihrer Schwere und der aufsichtlichen Auswirkungen, genügen würde, um eine Abwicklung auszulösen. Entgegen dem Vorbringen der Klägerin ergibt sich aus den EBA-Leitlinien somit nicht, dass notwendigerweise mehrere Voraussetzungen oder Faktoren berücksichtigt werden müssen, bevor der Schluss gezogen werden kann, dass ein Kreditinstitut nicht in der Lage sei oder sein werde, seine Schulden oder sonstigen Verbindlichkeiten bei Fälligkeit in naher Zukunft zu begleichen.

114

Sodann ist das Vorhandensein von liquiden Mitteln, wie die EZB geltend gemacht hat, von grundlegender Bedeutung für ein Kreditinstitut, da seine Hauptaufgabe darin besteht, Einlagen der Öffentlichkeit entgegenzunehmen und sie durch die Vergabe von Krediten in die Realwirtschaft zu investieren. Diese Vermittlerfunktion beruht auf der Prämisse, dass ein Einleger in der Lage sein muss, sich die Einlagen auf Anfrage grundsätzlich sofort zurückzahlen zu lassen. Wenn eine Bank die Gelder der Einleger nicht zurückzahlen kann, beeinträchtigt dies nicht nur das Vertrauen in dieses Kreditinstitut, sondern weitet sich das Misstrauen möglicherweise auf das gesamte Bankensystem aus. Es steht im Übrigen fest, dass sich das massive Abheben von Einlagen nicht nur auf in Schwierigkeiten befindliche Unternehmen, sondern auch auf an sich gesunde Unternehmen auswirkt, wenn das Vertrauen der Einleger in die Stabilität des Bankensystems erschüttert wird (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 4. Oktober 2018, Kantarev, C‑571/16, EU:C:2018:807, Rn. 56 und die dort angeführte Rechtsprechung).

115

Folglich sind unter Umständen wie denen des vorliegenden Falles, die durch massive Abhebungen von Einlagen infolge eines Vertrauensbruchs zwischen dem Kreditinstitut und seinen Kunden gekennzeichnet sind, die Deckungsquote und seine Kapitalisierung im Vergleich zur unmittelbaren Verfügbarkeit von Liquidität bei diesem Institut von geringerer Bedeutung. Das Vorbringen der Klägerin ist daher zurückzuweisen.

– Zur Schlussfolgerung der EZB, wonach die Klägerin, um ihren Ausfall abzuwenden, per 23. Februar 2018, 18:00 Uhr, über liquide Mittel in Höhe von einer Mrd. Euro bei der Bank von Lettland habe verfügen müssen

116

Die Klägerin macht im Wesentlichen geltend, das Liquiditätsdeckungspotenzial in Höhe von einer Mrd. Euro auf ihrem Konto bei der Bank von Lettland, das von der EZB als erforderlich erachtet worden sei, um bei einer etwaigen Wiedereröffnung der Klägerin nach Aufhebung des Moratoriums möglicherweise kurzfristig abgehobene Einlagen zurückzahlen zu können, sei unverhältnismäßig.

117

Erstens macht die Klägerin geltend, bei der vom SRB übernommenen Bewertung ihres Ausfalls oder wahrscheinlichen Ausfalls durch die EZB sei nicht berücksichtigt worden, dass am 22. Februar 2018 Sichteinlagen ohne festgesetzte Fälligkeit, die daher sofort rückzahlbar gewesen seien, in Höhe von 449 Mio. Euro in Termineinlagen umgewandelt worden seien. Diese Einlagen seien während eines Zeitraums von sechs Monaten nach der Umwandlung nicht ohne ihre Zustimmung fällig, weshalb diese Einlagen nicht kurzfristig zurückgefordert werden könnten. Der Betrag der sofort fälligen Einlagen belaufe sich daher auf 1,596 Mrd. Euro und nicht auf 2,043 Mrd. Euro, wie von der EZB geschätzt.

118

Zweitens ist nach Ansicht der Klägerin die These der EZB unbegründet, dass weiterhin Einlagenabhebungen im gleichen Tempo wie in den drei Tagen vor der Aussetzung der Zahlungen vom 14. bis zum 16. Februar 2018, also durchschnittlich Abhebungen von 200 Mio. Euro pro Tag, erfolgt wären. Nichts weise darauf hin, dass es nach der möglichen Aufhebung des Moratoriums erneut linear zu einer Abhebung von Einlagen gekommen wäre. Sie macht geltend, nach der ursprünglichen Abhebung der volatilsten Einlagen bleibe ein Basissaldo stabiler Einlagen bestehen. Insoweit verweist die Klägerin auf das Verfahren zur Beurteilung der Angemessenheit der Liquiditätsausstattung (Internal Liquidity Adequacy Assessment Process, ILAAP), das von der EZB im Rahmen ihres jüngsten aufsichtlichen Überprüfungs- und Bewertungsprozesses 2017 (Supervisory Review and Evaluation Process, SREP) genehmigt worden sei, woraus hervorgehe, dass ein großer Teil der Sichteinlagen stabil sei und das Vertrauen der Einleger genieße.

119

Zudem sei das Ausgangsvolumen bereits am 16. Februar 2018 im Vergleich zum Vortag geringer gewesen. Die Versuche, Beträge über das Internet abzuheben, beträfen nur 28 Mio. Euro pro Arbeitstag während des Moratoriums. Überdies habe die Klägerin bereits eine beträchtliche Anzahl ihrer Zahlungsverpflichtungen in US-Dollar durch die Übertragung von Wertpapieren in Euro erfüllt, obwohl sie am 15. Februar 2018 beschlossen habe, die Zahlungen in US-Dollar durch Zahlungen in Euro oder Sachleistungen zu ersetzen und ab 16. Februar die Zahlungen auf die in US-Dollar lautenden Verbindlichkeiten unter Berufung auf höhere Gewalt vollständig einzustellen. Während dieses Zeitraums höherer Gewalt seien noch 167 Mio. Euro als Sachleistungen für Zahlungsverpflichtungen der Klägerin in US-Dollar bezahlt worden. Es sei sehr unwahrscheinlich, dass die Auszahlungsanfragen in Bezug auf Einlagen sofort nach der Aufhebung des Moratoriums Beträge von 200 Mio. Euro pro Tag betreffen würden.

120

Auf diese Argumente ist mit der EZB erstens zu entgegnen, dass es keine Garantie gab, dass die in Termineinlagen umgewandelten Einlagen nicht kurzfristig abgehoben würden, gegebenenfalls gegen Zahlung einer Strafe. Die EZB hat in der mündlichen Verhandlung auch darauf hingewiesen, dass die überwiegende Mehrheit der Einleger die Umwandlung in Termineinlagen nicht akzeptiert habe. Sie hat daraus den Schluss gezogen, dass diese Einleger, die die Umwandlung abgelehnt hätten, kurzfristig die Rückzahlung ihrer Einlagen fordern könnten. Es handelte sich um Einlagen in Höhe von 1,596 Mrd. Euro. Zudem hat sie darauf hingewiesen, dass die Umwandlung einer bestimmten Anzahl von Einlagen nichts an der Einschätzung geändert habe, dass es weiterhin im Durchschnitt zu Abhebungen von 200 Mio. Euro pro Tag kommen werde und dass die Klägerin daher vor einer möglichen Wiedereröffnung dieses Kreditinstituts über ein Liquiditätsdeckungspotenzial in Höhe von einer Mrd. Euro verfügen müsse.

121

Die von der Klägerin vorgetragenen Argumente können die Tatsachenwürdigung der EZB nicht in Frage stellen. Die Klägerin beschränkt sich nämlich auf die Behauptung, es sei vereinbart worden, dass die Termineinlagen während eines Zeitraums von sechs Monaten nicht beansprucht würden, ohne dafür Beweise vorzulegen. Selbst wenn man davon ausginge, dass diese Behauptung bewiesen und belegt wäre, würde sie jedenfalls die Einschätzung der EZB nicht widerlegen, dass die Abhebungen nach der hypothetischen Wiedereröffnung des in Rede stehenden Unternehmens wahrscheinlich mit der gleichen Geschwindigkeit und in demselben Umfang fortgesetzt würden und dass daher ein hoher Betrag an liquiden Mitteln erforderlich sei, um in den fünf Tagen nach dieser Wiedereröffnung den Anfragen nachzukommen. Die nicht umgewandelten Einlagen hätten sich noch immer auf 1,596 Mrd. Euro belaufen, was weit über das von der EZB verlangte Liquiditätsdeckungspotenzial hinausgehe.

122

Zweitens enthalten die dem Gericht vorliegenden Akten nichts, was die Einschätzung der EZB in Frage stellen könnte, dass die von der Klägerin geltend gemachten Beurteilungen der Angemessenheit der Liquiditätsausstattung zum Zeitpunkt der Ausnahmesituation, die zum Beschluss SRB/EES/2018/09 geführt hat, von begrenztem Wert gewesen seien. Zwar war der ILAAP der Klägerin von der EZB im Jahr 2017 genehmigt worden, doch steht fest, dass die Klägerin im Februar 2018 mit einer unvorhergesehenen Situation massiver Abhebungen infolge eines Vertrauensverlusts der Öffentlichkeit in die Stabilität dieses Kreditinstituts konfrontiert war, und zwar unabhängig von der Frage, ob sie ein gesundes oder ein in Schwierigkeiten befindliches Institut war.

123

Unter diesen außergewöhnlichen Umständen hat sich die EZB ohne einen offensichtlichen Beurteilungsfehler zu begehen auf die Höhe der Abhebungen von Einlagen vom 14. bis zum 16. Februar 2018 gestützt, die die Situation dieses Kreditinstituts zum Zeitpunkt der Bewertung des Ausfalls oder wahrscheinlichen Ausfalls und des Erlasses des angefochtenen Beschlusses angemessen widerspiegelte. Wie die EZB zu Recht geltend gemacht hat, erklärt sich die Verwendung des durchschnittlichen Liquiditätsabflusses von 200 Mio. Euro pro Tag vom 14. bis zum 16. Februar 2018 für die Berechnung der Liquiditätsreserve zum Stichtag dadurch, dass während einer Liquiditätskrise Liquiditätsabhebungen volatil sein können und dass die Berücksichtigung eines Durchschnittswerts die Gefahr eines Rechenfehlers verringert. Zudem hat sich die EZB auf nicht bestrittene, objektive und zum Zeitpunkt des Erlasses des Beschlusses SRB/EES/2018/09 aktuelle Daten gestützt. Angesichts der Beeinträchtigung des Rufes der Klägerin und des daraus resultierenden Vertrauensverlusts hat die EZB ohne einen offensichtlichen Beurteilungsfehler zu begehen die Ansicht vertreten, dass es nach der Aufhebung des Moratoriums weiterhin im gleichen Tempo zu Abhebungen kommen würde, da in der Zwischenzeit kein Ereignis eingetreten sei, das die Märkte hätte beruhigen können.

124

Im Übrigen kann auch das Vorbringen der Klägerin, wonach der Umfang der Abhebungen vom 14. bis zum 16. Februar 2018 eine fallende Tendenz habe erkennen lassen, keinen Erfolg haben. Insoweit hat die EZB in der mündlichen Verhandlung unwidersprochen ausgeführt, dass der Betrag der Abhebungen am 15. Februar höher als am 14. Februar gewesen sei, so dass weder ein Aufwärts- noch ein Abwärtstrend feststellbar war. Das Vorbringen der Klägerin ist daher zurückzuweisen.

– Weitere Argumente betreffend die vom SRB übernommene Bewertung des Ausfalls oder wahrscheinlichen Ausfalls der Klägerin durch die EZB

125

Die Klägerin stützt ihre Beanstandung des Ergebnisses der vom SRB übernommenen Bewertung des Ausfalls oder wahrscheinlichen Ausfalls durch die EZB auf eine Reihe von weiteren Argumenten. So macht sie im Wesentlichen geltend, die EZB habe nicht alle liquiden Aktiva berücksichtigt, über die sie verfüge oder verfügen könne. Die EZB habe den Betrag von 694 Mio. Euro berücksichtigt, der zum Stichtag 23. Februar 2018, 18:00 Uhr, auf dem Konto der Klägerin bei der Bank von Lettland verfügbar gewesen sei, und die Aktiva außer Acht gelassen, die sich nicht auf diesem Konto befunden hätten. Die Klägerin macht im Wesentlichen geltend, eine Reihe von Aktiva in Höhe von 690 Mio. Euro, die auf Verlangen der EZB in Bargeld hätten umgewandelt werden können, seien von der EZB zu Unrecht ausgeschlossen worden. Diese Aktiva seien nach Maßgabe der Abhebungen von Einlagen innerhalb eines angemessenen Zeitrahmens verfügbar gewesen.

126

Was zunächst den Umstand betrifft, dass nur die liquiden Aktiva auf dem Konto der Klägerin bei der Bank von Lettland von der EZB berücksichtigt wurden, ist darauf hinzuweisen, dass diese in der mündlichen Verhandlung bestätigt hat, dass allein die auf diesem Konto verfügbare Liquidität für sie überprüfbar gewesen sei, während die sofortige Verfügbarkeit anderer Aktiva nicht kontrollierbar gewesen sei. Im Übrigen kann das Vorbringen der Klägerin, wonach sie nicht darüber in Kenntnis gesetzt worden sei, dass nur die auf diesem Konto verfügbaren liquiden Mittel für die Berechnung des Liquiditätsdeckungspotenzials zum Stichtag hätten berücksichtigt werden können, nur zurückgewiesen werden. Wie die EZB in Rn. 93 des Streithilfeschriftsatzes unwidersprochen geltend gemacht hat, ist dieses Erfordernis den Vertretern der Klägerin insbesondere in einer Sitzung vom 20. Februar 2018, deren Protokoll sich in Anlage F.4.1 zum Streithilfeschriftsatz der EZB befindet, klar kommuniziert worden.

127

Die Klägerin kann der EZB nicht mit Erfolg vorwerfen, keinen Unterschied zwischen den in ihrem Besitz befindlichen liquiden Mitteln und dem Zugang zu diesen Mitteln gemacht zu haben, da bestimmte Aktiva vorübergehend nicht zugänglich waren. Die Klägerin hat nicht nachgewiesen, dass der Zugang zu diesen liquiden Mitteln rechtzeitig wiederhergestellt worden wäre, um den Auszahlungsanfragen in Bezug auf Einlagen nachzukommen.

128

Daraus folgt, dass die EZB die von der Klägerin genannten Aktiva berücksichtigt und bewertet hat, dass sie jedoch aufgrund der Unsicherheit hinsichtlich der sofortigen Verfügbarkeit dieser Aktiva ihre Schlussfolgerung nur auf die konkret zum Stichtag auf dem Konto der Klägerin bei der Bank von Lettland verfügbaren Aktiva gestützt hat.

129

Die EZB hat insoweit in den Rn. 15 bis 19 ihres Streithilfeschriftsatzes erläutert, dass die liquiden Aktiva, die ein Kreditinstitut halte, um auf Liquiditätsabflüsse zu reagieren, grundsätzlich aus zwei Quellen stammten. Die erste Quelle bestehe aus Bargeld, bei dem es sich grundsätzlich um Bargeldkonten bei der Zentralbank oder anderen Akteuren handle, zu denen das betreffende Institut auf Anfrage Zugang haben könne. Die zweite Liquiditätsquelle bestehe aus bestimmten Wertpapieren der höchsten Qualität, die als Sicherheit verpfändet werden könnten, im Allgemeinen nach einem Abschlag auf den Nennwert, um einen Barkredit bei einer Zentralbank oder einem Partner zu erhalten, oder die auf einen Dritten übertragen werden könnten, um den Preis in bar zu erhalten. Bei der Aufnahme eines Darlehens müsse der Verwahrer, der die Wertpapiere halte, diese als Sicherheit verpfänden, während die Veräußerung der Wertpapiere mehr Zeit in Anspruch nehmen könne, da sie neben dem Verwahrer, der das Wertpapier halte, zusätzliche Akteure erfordere, wie den Zentralverwahrer und die Geschäfts- oder Zentralbank.

130

Sodann hat die EZB argumentiert, die auf den Bargeldkonten vorhandenen Mittel, insbesondere die bei einer Zentralbank gehaltenen, stünden einer Bank sofort zur Verfügung, die Liquidität benötige, um Einleger und sonstige Gläubiger auszuzahlen. Die Kreditaufnahme auf den Geldmärkten oder die Beschaffung von Bargeld aus anderen Quellen als der Zentralbank hänge jedoch vom Willen der Geschäftspartner ab. Die Marktfinanzierung könne daher nicht als gegeben angesehen werden, und sie könne begrenzt oder Gegenstand sehr hoher Abschläge auf die Sicherheiten oder manchmal überhaupt nicht möglich sein. In Anbetracht dieser Beschränkungen der Marktfinanzierung behielten zahlreiche Zentralbanken eine Funktion als Kreditgeber letzter Instanz, in deren Rahmen sie in der Regel Geschäftsbanken in Situationen, in denen die anderen auf dem Markt tätigen Akteure dies nicht wollten, gegen Sicherheiten Notfall-Barkredite gewährten.

131

Die EZB führt weiter aus, dass in diesem Zusammenhang die Lösung für die Liquiditätskrise der Klägerin, der sie und die Klägerin zugestimmt hätten, darin bestanden habe, zu versuchen, die vermeintlich liquiden Aktiva dieses Kreditinstituts in einen hinreichenden Bargeldbetrag umzuwandeln, in ein Liquiditätsdeckungspotenzial, das unverzüglich ohne jede Einschränkung von der Bank mobilisierbar gewesen sei, um auf Auszahlungsanfragen zu reagieren.

132

Da jedoch mehrere Partner, die Wertpapiere der Klägerin gehalten hätten, deren Aktiva aufgrund des Maßnahmenentwurfs des FinCEN nicht hätten freigeben wollen und die meisten Korrespondenzbanken der Klägerin ihre Geschäftsbeziehungen beendet oder erhebliche Beschränkungen der Höhe der Transaktionen eingeführt hätten, konnten nach Ansicht der EZB nur die bei der Bank von Lettland gehaltenen Kassenbestände oder Wertpapiere als unverzüglich mobilisierbar angesehen werden, um den künftigen Auszahlungsanfragen im Hinblick auf Einlagen nachzukommen.

133

Nach alledem hat die EZB eine plausible Erklärung dafür geliefert, warum die Aktiva, deren tatsächliche Verfügbarkeit auf dem Konto der Klägerin bei der Bank von Lettland zum Zeitpunkt der Fälligkeit nicht erwiesen war, bei der Berechnung des Liquiditätsdeckungspotenzials nicht berücksichtigt werden konnten.

134

Darüber hinaus beruft sich die Klägerin auf eine Reihe spezifischer Kategorien von Aktiva, die die EZB bei der Bewertung ihres Ausfalls oder wahrscheinlichen Ausfalls hätte berücksichtigen müssen.

135

Was erstens die Einnahmen aus dem Verkauf von Wertpapieren in Höhe von 407 Mio. Euro betrifft, ist festzustellen, dass die Klägerin nicht rechtlich hinreichend nachgewiesen hat, dass diese Wertpapiere leicht und unverzüglich mobilisierbare Aktiva darstellen, die verwendet werden können, um die Einleger auszuzahlen, die ihre Einlagen sofort nach der etwaigen Aufhebung des Moratoriums abheben wollen. Es steht fest, dass die Erlöse aus diesem Verkauf, unterstellt, er sei erfolgt, nicht vor dem 23. Februar 2018, 18:00 Uhr auf das Konto der Klägerin bei der Bank von Lettland überwiesen wurden, wie die EZB zu Recht ausgeführt hat. Es kann der EZB daher nicht vorgeworfen werden, die Wertpapiere oder Erlöse aus ihrem mutmaßlichen Verkauf nicht zu den liquiden Mitteln gezählt zu haben, die am Tag nach dem 23. Februar 2018 unmittelbar zur Verfügung standen, um die Einlagen auf Anfrage zurückzuzahlen.

136

Zweitens ist zu den liquiden Aktiva in Höhe von 29 Mio. Euro, die die Klägerin auf Nostrokonten (Bankkonten der Klägerin bei anderen Banken) hielt, und zu den in ihrem Besitz befindlichen Aktiva im Wert von 13 Mio. Euro auf ihrem Konto bei Euroclear anzumerken, dass diese von der EZB in den Rn. 30 und 31 der Bewertung des Ausfalls oder wahrscheinlichen Ausfalls der Klägerin berücksichtigt wurden. Die für die Klägerin bei Euroclear gehaltenen Wertpapiere sind ihren Angaben zufolge Wertpapiere der höchsten Qualität wie Staatsanleihen, die innerhalb eines angemessenen Zeitrahmens leicht umgewandelt werden könnten. Es ist jedoch festzustellen, dass die Erlöse aus diesen Umwandlungen auch nicht rechtzeitig freigegeben worden waren, so dass die entsprechenden Beträge auf dem Konto der Klägerin bei der Bank von Lettland per 23. Februar 2018, 18:00 Uhr, nicht verfügbar waren. Aus den Tabellen in den Anlagen G.4 und G.5 zur Stellungnahme der Klägerin zum Streithilfeschriftsatz der EZB geht hervor, dass ein beträchtlicher Teil der Verkaufserlöse weit nach diesem Zeitpunkt von Euroclear an die Klägerin gezahlt wurde.

137

Das Argument der Klägerin, wonach die Umwandlung hochliquider Aktiva auf der Grundlage laufender Zahlungen erfolgen müsse und sich nach dem 23. Februar 2018 herausgestellt habe, dass sich die Frist für eine Umwandlung bestimmter Wertpapiere verkürzt habe, kann die Beurteilung der EZB nicht in Frage stellen, da diese, wie sich aus den Rn. 126 bis 133 oben ergibt, ohne einen offensichtlichen Beurteilungsfehler zu begehen die Ansicht vertreten hat, dass nur das Vorhandensein von liquiden Mitteln auf dem Konto der Klägerin bei der Bank von Lettland gewährleiste, dass diese Mittel sofort verfügbar seien.

138

Gleiches gilt drittens für die sonstigen Wertpapiere, über die die Klägerin verfügt haben soll und die im Wert von 358 Mio. Euro hätten verkauft werden können, darunter eine Reihe von Wertpapieren mit Investment-Grade-Rating im Wert von 229 Mio. Euro, und viertens für die 12 Mio. Euro Bargeld, über die die Klägerin nach ihren Angaben verfügte. Es ist festzustellen, dass die sofortige Verfügbarkeit dieser Aktiva nach der etwaigen Aufhebung des Moratoriums nicht nachgewiesen worden ist und dass diese Aktiva auch nicht in liquide Mittel umgewandelt worden waren, die per Ende des 23. Februar 2018 auf dem Konto der Klägerin bei der Bank von Lettland aufschienen.

139

Fünftens macht die Klägerin geltend, die EZB habe zu Unrecht am 21. Februar 2018 beschlossen, den Zugang der Klägerin zu geldpolitischen Operationen (monetary policy operations, MPO) zu beschränken. Sie habe somit keinen Zugang zu einer Kreditlinie von 40 Mio. Euro gehabt, die für die Freisetzung anderer liquider Mittel hätte verwendet werden können. Die EZB erwidert, es handle sich um einen im Rahmen der aufsichtsrechtlichen Überwachung gefassten Beschluss des EZB-Rates von 21. Februar 2018. Es ist festzustellen, dass die Klägerin die Begründetheit dieses Beschlusses des EZB-Rates nicht wirklich bestreitet und nicht klar darlegt, wie der Zugang zu dieser Kreditlinie dazu hätte beitragen können, weitere liquide Mittel freizusetzen, um das Ziel der Verfügbarkeit von einer Mrd. Euro auf dem Konto der Klägerin bei der Bank von Lettland zu erreichen. Jedenfalls ist dieser Beschluss weder Teil des mit der vorliegenden Klage angefochtenen Beschlusses noch dessen Rechtsgrundlage, so dass er nicht Gegenstand des Rechtsstreits ist.

140

Unter Umständen wie denen des vorliegenden Falles ist angesichts der von der EZB in einer Krisensituation gebotenen Vorsicht und Umsicht hervorzuheben, dass sie berechtigt war, nur die auf dem Konto der Klägerin bei der Bank von Lettland sofort verfügbaren liquiden Mittel zu berücksichtigen, um jegliches Risiko abzuwenden, dass den Auszahlungsanfragen in den fünf Tagen nach Aufhebung des Moratoriums nicht nachgekommen wird, da die Aktiva, über die die Klägerin angeblich anderweitig verfügt, nicht schnell verfügbar waren.

141

Die sodann vom SRB übernommene Bewertung des Ausfalls oder wahrscheinlichen Ausfalls der Klägerin durch die EZB wird auch durch das Vorbringen der Klägerin nicht in Frage gestellt, wonach die von der EZB formulierte Anforderung betreffend das Liquiditätsdeckungspotenzial nicht angemessen sei, da die Klägerin, um dieser Anforderung zu genügen, beträchtliche Beträge hätte aufbringen müssen, um Wertpapiere und sonstige Aktiva in sofort verfügbare Barmittel umzuwandeln. Dieses Vorbringen ändert nämlich nichts an der Beurteilung des Liquiditätsdeckungspotenzials durch die EZB, dessen Vorhandensein zum Fälligkeitszeitpunkt nachgewiesen werden musste.

142

Schließlich hätte das Moratorium nach Ansicht der Klägerin verlängert werden können, um ihre Liquiditätslage wiederherzustellen, ohne das Einlagensicherungssystem auszulösen. Insoweit habe sich die EZB auf eine falsche Auslegung von Art. 2 Abs. 8 des Noguldījumu garantiju likums (lettisches Einlagensicherungsgesetz) gestützt. Nach dieser Vorschrift müsse die FKTK innerhalb von fünf Arbeitstagen nach dem Zeitpunkt, zu dem festgestellt worden sei, dass ein Einlagennehmer nicht in der Lage sei, diese Einlagen zurückzuzahlen, eine Entscheidung über die Nichtverfügbarkeit von Einlagen fassen. Bei einem Moratorium sei es jedoch unmöglich, die Nichtverfügbarkeit von Einlagen festzustellen, da die Zahlungen auf jeden Fall ausgesetzt würden. Daher sei das von der EZB vorgetragene Argument falsch, wonach eine Verlängerung des Moratoriums automatisch das Einlagensicherungssystem ausgelöst hätte und daher nicht möglich gewesen sei.

143

Auch dieses Vorbringen kann keinen Erfolg haben.

144

Im vorliegenden Fall ist die EZB der Ansicht gewesen, dass eine massive Abhebung von Einlagen vom 14. bis zum 16. Februar 2018 bei der Klägerin zu einem Liquiditätsengpass geführt habe. Sie hat der Klägerin eine Frist von fünf Tagen ab Inkrafttreten des Moratoriums gesetzt, um ihre Liquiditätslage wiederherzustellen, damit sie die nächste Abhebungswelle bewältigen konnte. Nach Ablauf dieser Frist ist die Klägerin jedoch nicht in der Lage gewesen, nachzuweisen, dass sie über eine Mrd. Euro auf ihrem Konto bei der Bank von Lettland verfügte.

145

Die EZB hat daher ohne einen offensichtlichen Beurteilungsfehler zu begehen zu diesem Zeitpunkt auf der Grundlage von Art. 18 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. a und Unterabs. 2 sowie Abs. 4 Buchst. c der Verordnung Nr. 806/2014 den Schluss gezogen, dass die Klägerin ausfallend oder wahrscheinlich ausfallend sei. Unter diesen Umständen war die EZB keineswegs verpflichtet, die FKTK anzuweisen, das Moratorium zu verlängern.

146

Daher hat die Klägerin in Anbetracht des Ermessens, über das der SRB im Rahmen seiner komplexen wirtschaftlichen Analyse verfügte, nicht nachgewiesen, dass der SRB einen offensichtlichen Beurteilungsfehler begangen hat, als er feststellte, dass sie ausfallend oder wahrscheinlich ausfallend sei.

– Zur Frage, ob nach vernünftigem Ermessen eine Aussicht bestand, dass der Ausfall durch alternative Maßnahmen abgewendet werden konnte

147

Die Klägerin macht im Wesentlichen geltend, der SRB habe seine Schlussfolgerung, dass nach vernünftigem Ermessen keine Aussicht bestanden habe, ihren Ausfall innerhalb eines angemessenen Zeitraums durch alternative Maßnahmen des privaten Sektors oder Maßnahmen der Aufsichtsbehörden in Bezug auf die Klägerin abzuwenden, nicht hinreichend untermauert.

148

Der SRB tritt diesem Vorbringen entgegen.

149

Nach Art. 18 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 806/2014 kann ein Abwicklungskonzept nur festgelegt werden, wenn bei Berücksichtigung zeitlicher Zwänge und anderer relevanter Umstände nach vernünftigem Ermessen keine Aussicht besteht, dass der Ausfall des Unternehmens innerhalb eines angemessenen Zeitrahmens durch alternative Maßnahmen des privaten Sektors (einschließlich Maßnahmen durch ein institutsbezogenes Sicherungssystem) oder Maßnahmen der Aufsichtsbehörden (einschließlich Frühinterventionsmaßnahmen oder Herabschreibung oder Umwandlung von relevanten Kapitalinstrumenten gemäß Art. 21), die in Bezug auf das Unternehmen getroffen werden, abgewendet werden kann.

150

In Abschnitt 3.2.2 des Beschlusses SRB/EES/2018/09 vertrat der SRB die Ansicht, dass es keine alternative Maßnahme gebe, durch die der Ausfall der Klägerin nach vernünftigem Ermessen hätte abgewendet werden können. Der SRB stützte sich im Rahmen seiner Prüfung im Wesentlichen auf die von der EZB im Zusammenhang mit ihrer Bewertung des Ausfalls oder wahrscheinlichen Ausfalls der Klägerin vorgelegten Gesichtspunkte.

151

Es kann dem SRB nicht vorgeworfen werden, dass er sich bei der Prüfung der Voraussetzung nach Art. 18 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 806/2014 auf die Bewertung des Ausfalls oder wahrscheinlichen Ausfalls der Klägerin durch die EZB gestützt hat. Zwar sind die in Art. 18 Abs. 1 Buchst. a und b dieser Verordnung genannten Voraussetzungen unterschiedlich. Gleichwohl ist im vorliegenden Fall die Prüfung der in Art. 18 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 806/2014 genannten alternativen Maßnahmen in die Bewertung des Ausfalls oder wahrscheinlichen Ausfalls der Klägerin durch die EZB im Hinblick auf die Voraussetzung nach Art. 18 Abs. 1 Buchst. a dieser Verordnung einbezogen worden. Denn bevor die EZB zu dem Schluss gelangt ist, dass die Klägerin ausfallend oder wahrscheinlich ausfallend sei, prüfte sie, ob dieser Ausfall noch durch alternative Maßnahmen wie eine Verlängerung des Moratoriums oder die Umsetzung der im Sanierungsplan der Klägerin von 2017 vorgesehenen Optionen zur Wiederherstellung der verfügbaren Liquidität verhindert werden konnte. Zudem erfolgt nach Art. 18 Abs. 1 Unterabs. 4 „[d]ie Bewertung der in Unterabsatz 1 Buchstabe b genannten Voraussetzung … in enger Zusammenarbeit mit der EZB“ und kann „[d]ie EZB … auch den [SRB] … davon unterrichten, dass sie der Auffassung ist, dass die Voraussetzung nach Buchstabe b erfüllt ist“. Der SRB konnte sich daher auf die von der EZB vorgenommene Prüfung stützen.

152

Angesichts der konkreten und objektiven Umstände, die der SRB in Abschnitt 3.2.2 des Beschlusses SRB/EES/2018/09 angeführt hat, ist von der Klägerin nicht dargelegt worden, weshalb die vom SRB und von der EZB berücksichtigten alternativen Maßnahmen geeignet gewesen seien, ihren Ausfall innerhalb eines angemessenen Zeitrahmens abzuwenden. Die Klägerin nennt keine anderen Maßnahmen, die der SRB im Rahmen seiner Prüfung hätte berücksichtigen müssen. Unter diesen Umständen reicht die bloße nicht untermauerte Behauptung, der SRB habe das Vorliegen alternativer Maßnahmen verkannt, nicht aus, um seiner Beurteilung die Plausibilität zu nehmen, und ist nicht geeignet, das Vorliegen eines offensichtlichen Beurteilungsfehlers darzutun.

153

Der dritte und der vierte Klagegrund sind daher zurückzuweisen.

Fünfter Klagegrund: Verletzung des Rechts auf Anhörung und des Rechts auf Einsicht in die Verwaltungsakte

154

Die Klägerin macht geltend, der SRB habe ihr Recht auf Anhörung im Sinne von Art. 41 der Charta verletzt, indem er ihr nicht die Möglichkeit gegeben habe, vor Erlass des Beschlusses SRB/EES/2018/09 bei ihm eine Stellungnahme abzugeben. Sie habe auch keine Einsicht in die Verwaltungsakte des SRB gehabt.

155

Der SRB tritt diesem Vorbringen entgegen.

156

Es ist darauf hinzuweisen, dass nach Art. 41 Abs. 2 Buchst. a der Charta das Recht auf eine gute Verwaltung das Recht jeder Person umfasst, gehört zu werden, bevor ihr gegenüber eine für sie nachteilige individuelle Maßnahme getroffen wird.

157

Das Recht, gehört zu werden, garantiert jeder Person die Möglichkeit, im Verwaltungsverfahren sachdienlich und wirksam ihren Standpunkt vorzutragen, bevor ihr gegenüber eine für ihre Interessen nachteilige Entscheidung erlassen wird. Sodann ist klarzustellen, dass das Recht, gehört zu werden, ein doppeltes Ziel verfolgt. Er dient zum einen der Zusammenstellung der Akten und einer möglichst genauen und zutreffenden Ermittlung des Sachverhalts und ermöglicht es zum anderen, einen wirksamen Schutz der betroffenen Person zu gewährleisten. Das Recht, gehört zu werden, soll insbesondere gewährleisten, dass jede beschwerende Entscheidung in Kenntnis aller Umstände getroffen wird, und soll u. a. der zuständigen Behörde erlauben, einen Fehler zu berichtigen, und der betroffenen Person, individuelle Umstände vorzutragen, die für oder gegen den Erlass oder für oder gegen einen bestimmten Inhalt der Entscheidung sprechen (vgl. Urteil vom 4. Juni 2020, EAD/De Loecker, C‑187/19 P, EU:C:2020:444, Rn. 68 und 69 und die dort angeführte Rechtsprechung).

158

Es ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof die Bedeutung des Rechts auf Anhörung und seinen sehr weiten Geltungsumfang in der Unionsrechtsordnung bekräftigt hat, indem er dargelegt hat, dass dieser Anspruch in allen Verfahren gelten müsse, die zu einer beschwerenden Maßnahme führen könnten. Das Recht auf Anhörung ist auch dann zu wahren, wenn die anwendbare Regelung ein solches Verfahrensrecht nicht ausdrücklich vorsieht (vgl. Urteile vom 22. November 2012, M., C‑277/11, EU:C:2012:744, Rn. 85 und 86 und die dort angeführte Rechtsprechung, vom 18. Juni 2020, Kommission/RQ, C‑831/18 P, EU:C:2020:481, Rn. 67 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 7. November 2019, ADDE/Parlament, T‑48/17, EU:T:2019:780, Rn. 89 und die dort angeführte Rechtsprechung).

159

Ebenso sieht Art. 41 Abs. 2 Buchst. b der Charta das Recht jeder Person auf Zugang zu den sie betreffenden Akten unter Wahrung des berechtigten Interesses der Vertraulichkeit sowie des Berufs- und Geschäftsgeheimnisses vor.

160

Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass mit der Verordnung Nr. 806/2014, wie es in ihrem achten Erwägungsgrund heißt, effizientere Abwicklungsmechanismen geschaffen werden sollen, die ein unentbehrliches Instrument zur Verhütung von Schäden sein sollen, die durch Ausfälle von Banken in der Vergangenheit verursacht wurden. Was jedoch das in Art. 18 dieser Verordnung vorgesehene Verfahren anbelangt, so setzt die Erreichung dieses Ziels eine rasche Entscheidungsfindung voraus, oftmals in Notfallsituationen, wie die kurzen Fristen zeigen, die in dieser Vorschrift vorgesehen sind, damit die Finanzstabilität nicht gefährdet wird (Urteil vom 6. Mai 2021, ABLV Bank u. a./EZB, C‑551/19 P und C‑552/19 P, EU:C:2021:369, Rn. 55).

161

Während somit das Erfordernis der zügigen Durchführung des in Art. 18 der Verordnung Nr. 806/2014 vorgesehenen Verfahrens zu berücksichtigen ist, muss es jedoch auch mit dem Recht, gehört zu werden, in Einklang gebracht werden.

162

Zudem bestätigt der 26. Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 806/2014 sowohl die geteilte Zuständigkeit der EZB als Aufsichtsbehörde innerhalb des Einheitlichen Aufsichtsmechanismus (Single Supervisory Mechanism, im Folgenden: SSM) und des SRB als Abwicklungsbehörde für die Beurteilung der Frage, ob ein Kreditinstitut ausfällt oder wahrscheinlich ausfällt, als auch die ausschließliche Zuständigkeit des SRB für die Beurteilung der Frage, ob die übrigen Voraussetzungen für die Festlegung eines Abwicklungskonzepts erfüllt sind (Urteil vom 6. Mai 2021, ABLV Bank u. a./EZB, C‑551/19 P und C‑552/19 P, EU:C:2021:369, Rn. 64).

163

Angesichts der Natur dieses komplexen Verwaltungsverfahrens, das in Art. 18 der Verordnung Nr. 806/2014 dargelegt ist und von der EZB und dem SRB gemeinsam und nacheinander durchgeführt wird, verlangen weder Art. 41 der Charta noch die Bestimmungen dieser Verordnung, dass das von dem Beschluss darüber, ob ein Abwicklungskonzept festgelegt wird oder nicht festgelegt wird, betroffene Unternehmen in jeder Phase des Verfahrens von jeder der beiden Einrichtungen gesondert anzuhören ist.

164

Im vorliegenden Fall steht erstens fest, dass die Klägerin vor Erlass des Beschlusses SRB/EES/2018/09 zwar nicht vom SRB, wohl aber mehrfach von der EZB angehört worden ist.

165

Somit ist die Klägerin in die Lage versetzt worden, sich im Rahmen der Bewertung des Ausfalls oder wahrscheinlichen Ausfalls zu den maßgeblichen Umständen zu äußern. Wie oben aus Rn. 151 hervorgeht, hat die EZB außerdem die alternativen Maßnahmen geprüft, die geeignet waren, den Ausfall der Klägerin abzuwenden. In ihrer nach Anhörung der Klägerin vorgenommenen Bewertung prüfte die EZB ihre Argumente, fasste sie zusammen und ging auf sie ein. Der SRB, dem die Bewertung der EZB in der Folge übermittelt wurde, hatte daher bei Erlass des Beschlusses SRB/EES/2018/09, in dem er die Schlussfolgerungen der EZB zu den in Art. 18 Abs. 1 Buchst. a und b der Verordnung Nr. 806/2014 genannten Voraussetzungen übernahm, umfassende Kenntnis des Vorbringens der Klägerin.

166

Zwar hat der SRB im Beschluss SRB/EES/2018/09 die in Art. 18 Abs. 1 Buchst. c der Verordnung Nr. 806/2014 genannte Voraussetzung, wonach eine Abwicklungsmaßnahme im öffentlichen Interesse erforderlich sein muss, zum ersten Mal geprüft. Jedoch ist keine der Rügen der Klägerin gegen das behauptete Fehlen eines öffentlichen Interesses gerichtet; vielmehr rügt sie zum einen die Schlussfolgerung, dass die Klägerin gemäß Art. 18 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 806/2014 ausfalle oder wahrscheinlich ausfalle, und zum anderen die Feststellung, dass angesichts der erforderlichen Fristen und anderer relevanter Umstände im Sinne von Art. 18 Abs. 1 Buchst. b dieser Verordnung nach vernünftigem Ermessen keine Aussicht bestehe, dass ihr Ausfall innerhalb eines angemessenen Zeitrahmens durch alternative Maßnahmen des privaten Sektors oder Maßnahmen der Aufsichtsbehörden abgewendet werden könne. Zu den von ihr beanstandeten Punkten wurde die Klägerin mithin im Rahmen des Verwaltungsverfahrens angehört.

167

Außerdem ist hervorzuheben, dass zwischen der Übermittlung der Bewertung des Ausfalls oder wahrscheinlichen Ausfalls der Klägerin durch die EZB und dem Erlass des angefochtenen Beschlusses kein neues Ereignis eingetreten ist und dem SRB keine neuen Daten zur Kenntnis gebracht wurden. Überdies hat der SRB seinen Beschluss SRB/EES/2018/09, was die von der Klägerin im Rahmen des vorliegenden Verfahrens bestrittenen Gesichtspunkte dieses Beschlusses anbelangt, nicht auf andere Gesichtspunkte gestützt als diejenigen, die bereits von der EZB berücksichtigt worden waren und zu denen die Klägerin bereits angehört worden ist. Der SRB hat diesen Beschluss auch nicht auf andere Gründe gestützt als auf diejenigen, die von der EZB dargelegt wurden.

168

Unter diesen Umständen ist festzustellen, dass das Recht der Klägerin auf Anhörung nicht verletzt worden ist.

169

Zweitens hat der Gerichtshof in Bezug auf das Recht auf Akteneinsicht entschieden, dass die Frage, ob eine Verletzung der Verteidigungsrechte einschließlich dieses Rechts vorliegt, anhand der besonderen Umstände jedes Einzelfalls zu prüfen ist, insbesondere der Natur des betreffenden Rechtsakts, des Kontexts seines Erlasses sowie der Rechtsvorschriften auf dem betreffenden Gebiet (vgl. Urteil vom 16. Mai 2017, Berlioz Investment Fund, C‑682/15, EU:C:2017:373, Rn. 97 und die dort angeführte Rechtsprechung). Im vorliegenden Fall genügt der Hinweis, dass die Klägerin weder behauptet noch nachgewiesen hat, dass sie die für die Prüfung durch die EZB relevanten Dokumente, insbesondere im Dialog zwischen ihr und diesem Organ im Rahmen dieser Prüfung, nicht einsehen konnte und dass die dem Gericht vorgelegten Akten keinen dahin gehenden Hinweis enthalten. Die Klägerin hat auch nicht weiter ausgeführt, welche Dokumente sie im Rahmen der von der EZB durchgeführten Prüfung nicht habe einsehen dürfen und welche sie im Rahmen des Verfahrens vor dem SRB nicht habe einsehen dürfen und auch nicht, wie diese Dokumente ihr eine bessere Verteidigung ermöglicht hätten. Überdies ist festzustellen, dass sich der SRB auf keine anderen Dokumente gestützt hat als diejenigen, auf die sich die EZB bei ihrer Prüfung gestützt hat.

170

Der fünfte Klagegrund ist folglich zurückzuweisen.

[nicht wiedergegeben]

 

Aus diesen Gründen hat

DAS GERICHT (Zehnte erweiterte Kammer)

für Recht erkannt und entschieden:

 

1.

Die Klage wird abgewiesen.

 

2.

Die ABLV Bank AS trägt neben ihren eigenen Kosten die Kosten, die dem Einheitlichen Abwicklungsausschuss (SRB) entstanden sind.

 

3.

Die Europäische Zentralbank (EZB) trägt ihre eigenen Kosten.

 

Kornezov

Buttigieg

Kowalik-Bańczyk

Hesse

Petrlík

Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 6. Juli 2022.

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Englisch.

( 1 ) Es werden nur die Randnummern des Urteils wiedergegeben, deren Veröffentlichung das Gericht für zweckdienlich erachtet.

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