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Document 62021CJ0647

Urteil des Gerichtshofs (Fünfte Kammer) vom 6. März 2025.
D. K. u. a.
Vorabentscheidungsersuchen des Sąd Okręgowy w Słupsku.
Vorlage zur Vorabentscheidung – Rechtsstaatlichkeit – Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV – Grundsatz der Unabsetzbarkeit und Unabhängigkeit von Richtern – Beschluss des Kollegiums eines Gerichts, einem Richter alle seine Rechtssachen zu entziehen – Fehlen objektiver Kriterien für den Erlass einer Entscheidung, mit der Rechtssachen entzogen werden – Keine Pflicht zur Begründung einer solchen Entscheidung – Vorrang des Unionsrechts – Pflicht, eine solche Entscheidung, mit der Rechtssachen entzogen werden, unangewendet zu lassen.
Verbundene Rechtssachen C-647/21 und C-648/21.

Court reports – general

ECLI identifier: ECLI:EU:C:2025:143

 URTEIL DES GERICHTSHOFS (Fünfte Kammer)

6. März 2025 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Rechtsstaatlichkeit – Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV – Grundsatz der Unabsetzbarkeit und Unabhängigkeit von Richtern – Beschluss des Kollegiums eines Gerichts, einem Richter alle seine Rechtssachen zu entziehen – Fehlen objektiver Kriterien für den Erlass einer Entscheidung, mit der Rechtssachen entzogen werden – Keine Pflicht zur Begründung einer solchen Entscheidung – Vorrang des Unionsrechts – Pflicht, eine solche Entscheidung, mit der Rechtssachen entzogen werden, unangewendet zu lassen“

In den verbundenen Rechtssachen C‑647/21 und C‑648/21

betreffend Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Sąd Okręgowy w Słupsku (Regionalgericht Słupsk, Polen) mit Entscheidungen vom 20. Oktober 2021, beim Gerichtshof eingegangen am 25. Oktober 2021, in den Strafverfahren gegen

D. K. (C‑647/21),

M. C.,

M. F. (C‑648/21),

Beteiligte:

Prokuratura Rejonowa w Bytowie,

Prokuratura Okręgowa w Łomży,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten der Vierten Kammer I. Jarukaitis (Berichterstatter) in Wahrnehmung der Aufgaben des Präsidenten der Fünften Kammer sowie der Richter D. Gratsias und E. Regan,

Generalanwalt: A. M. Collins,

Kanzler: M. Siekierzyńska, Verwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 24. Januar 2024,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

der Prokuratura Rejonowa w Bytowie, vertreten durch T. Rutkowska-Szmydyńska, Prokurator Regionalny w Gdańsku,

der Prokuratura Okręgowa w Łomży, vertreten durch A. Bałazy, Zastępca Prokuratora Okręgowego w Łomży,

der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna und S. Żyrek als Bevollmächtigte,

der dänischen Regierung, vertreten durch D. Elkan, V. Pasternak Jørgensen und M. Søndahl Wolff als Bevollmächtigte,

der niederländischen Regierung, vertreten durch M. K. Bulterman und J. Langer als Bevollmächtigte,

der schwedischen Regierung, vertreten durch A. M. Runeskjöld und H. Shev als Bevollmächtigte,

der Europäischen Kommission, vertreten durch K. Herrmann, P. Stancanelli und P. J. O. Van Nuffel als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 11. April 2024

folgendes

Urteil

1

Die Vorabentscheidungsersuchen betreffen die Auslegung von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).

2

Sie ergehen im Rahmen von Strafverfahren gegen D. K. (Rechtssache C‑647/21) sowie gegen M. C. und M. F. (Rechtssache C‑648/21).

Rechtlicher Rahmen

Verfassung der Republik Polen

3

Art. 178 Abs. 1 der Konstytucja Rzeczypospolitej Polskiej (Verfassung der Republik Polen) bestimmt:

„Bei der Ausübung ihres Amtes sind Richter unabhängig und nur der Verfassung und den Gesetzen unterworfen.“

4

Art. 179 dieser Verfassung sieht vor:

„Die Richter werden vom Präsidenten der Republik auf Vorschlag der Krajowa Rada Sądownictwa [(Landesjustizrat, Polen, im Folgenden: KRS)] auf unbestimmte Zeit ernannt.“

5

Art. 180 der Verfassung bestimmt:

„(1)   Die Richter sind unabsetzbar.

(2)   Gegen seinen Willen darf ein Richter nur durch eine gerichtliche Entscheidung und nur in den gesetzlich bestimmten Fällen seines Amtes enthoben werden, von der Amtsausübung suspendiert oder an einen anderen Ort oder auf eine andere Stelle versetzt werden.“

Gesetz über die ordentliche Gerichtsbarkeit

6

Art. 11 § 3 der Ustawa – Prawo o ustroju sądów powszechnych (Gesetz über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit) vom 27. Juli 2001 (Dz. U. Nr. 98, Pos. 1070) in der auf die Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung (im Folgenden: Gesetz über die ordentliche Gerichtsbarkeit) bestimmt:

„Der Vorsitzende einer Abteilung wird vom Präsidenten des Gerichts ernannt. … Vor der Ernennung des Vorsitzenden einer Abteilung eines Sąd Okręgowy [(Regionalgericht)] oder eines Sąd Rejonowy [(Rayongericht)] konsultiert der Präsident des Gerichts das Kollegium des Sąd Okręgowy [(Regionalgericht)].“

7

Nach Art. 21 § 1 Nr. 2 dieses Gesetzes sind die Organe eines Sąd Okręgowy (Regionalgericht) der Präsident des Gerichts, das Kollegium des Gerichts und der Direktor des Gerichts.

8

In Art. 22a dieses Gesetzes heißt es:

„§ 1.   Der Geschäftsverteilungsplan des Sąd Okręgowy [(Regionalgericht)] wird … vom Präsidenten des Sąd Okręgowy [(Regionalgericht)] nach Anhörung des Kollegiums des Sąd Okręgowy [(Regionalgericht)] beschlossen und legt Folgendes fest:

1)

die Zuteilung der Richter … an die Abteilungen des Gerichts;

2)

den Aufgabenbereich der Richter … sowie die Modalitäten ihrer Beteiligung an der Zuweisung von Rechtssachen;

3)

einen Bereitschaftsdienstplan und die Vertretung von Richtern, …

unter Berücksichtigung der Spezialisierung der Richter … auf den einzelnen Rechtsgebieten, des Erfordernisses, eine angemessene Zuteilung der Richter … an die Abteilungen des Gerichts und eine gerechte Verteilung ihrer Aufgaben zu gewährleisten, sowie der Notwendigkeit, eine ordnungsgemäße Rechtspflege sicherzustellen.

§ 4.   Der Präsident des Gerichts kann jederzeit eine vollständige oder teilweise Neuverteilung der Aufgabenbereiche beschließen, wenn die in § 1 genannten Gründe dies rechtfertigen. …

§ 4a.   Die Versetzung eines Richters in eine andere Abteilung ist von seiner Zustimmung abhängig.

§ 4b.   Die Versetzung eines Richters in eine andere Abteilung ist nicht von seiner Zustimmung abhängig, wenn:

1)

die Versetzung in eine Abteilung erfolgt, die sich mit Sachen aus dem gleichen Bereich befasst;

2)

kein anderer Richter der Abteilung, von der aus die Versetzung erfolgt, seiner Versetzung zugestimmt hat;

3)

der versetzte Richter der Grundbuchabteilung oder der Handelsabteilung der Pfandrechtsregister zugewiesen ist.

§ 4c.   § 4b Nrn. 1 und 2 findet keine Anwendung auf einen Richter, der innerhalb von drei Jahren ohne seine Zustimmung in eine andere Abteilung versetzt worden ist. Bei Versetzung eines Richters in eine andere Abteilung ohne seine Zustimmung im Fall des § 4b Nr. 2 ist insbesondere das Dienstalter der Richter in der Abteilung zu berücksichtigen, von der aus sie versetzt werden.

§ 5.   Ein Richter oder Richter auf Probe, dessen Aufgaben- und infolgedessen Zuständigkeitsbereich geändert wurde, insbesondere durch Versetzung in eine andere Abteilung des betreffenden Gerichts, kann innerhalb von sieben Tagen ab Zuweisung des neuen Aufgabenbereichs Widerspruch bei der Krajowa Rada Sądownictwa [KRS] einlegen. Der Widerspruch ist nicht statthaft, wenn

1)

er in eine Abteilung versetzt wurde, die sich mit Sachen aus dem gleichen Bereich befasst;

2)

ihm Aufgaben innerhalb derselben Abteilung nach den Grundsätzen übertragen wurden, die auch für die übrigen Richter gelten, insbesondere wenn er von einem Referat oder einer anderen spezialisierten Organisationseinheit abberufen wurde.

§ 6.   Der in § 5 genannte Widerspruch ist bei dem Präsidenten des betreffenden Gerichts einzulegen, der die Aufgabenänderung vorgenommen hat, gegen die der Widerspruch gerichtet ist. Der Präsident des Gerichts leitet den Widerspruch innerhalb von 14 Tagen nach Eingang mit seiner Stellungnahme [an die KRS] weiter. Die [KRS] fasst unter Berücksichtigung der in § 1 genannten Kriterien einen Beschluss, mit dem sie dem Widerspruch des Richters stattgibt oder ihn zurückweist. Der Beschluss der [KRS] über den in § 5 genannten Widerspruch muss nicht begründet werden. Der Beschluss der [KRS] kann nicht angefochten werden. Bis zum Zeitpunkt der Beschlussfassung nimmt der Richter oder Richter auf Probe seine bisherigen Aufgaben wahr.“

9

Art. 24 § 1 des Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit sieht vor:

„Der Präsident des Sąd Okręgowy [(Regionalgericht)] wird vom Justizminister aus dem Kreis der Richter des Sąd Apelacyjny [(Berufungsgericht)], des Sąd Okręgowy [(Regionalgericht)] oder des Sąd Rejonowy [(Rayongericht)] ernannt. Nachdem er den Präsidenten des Sąd Okręgowy [(Regionalgericht)] ernannt hat, stellt der Justizminister ihn der Generalversammlung der Richter des Sąd Okręgowy [(Regionalgericht)] vor.“

10

Nach Art. 30 § 1 dieses Gesetzes besteht das Kollegium des Sąd Okręgowy (Regionalgericht) aus dem Präsidenten des Sąd Okręgowy (Regionalgericht) und den Präsidenten der Sądy Rejonowe (Rayongerichte) im Zuständigkeitsbereich des Sąd Okręgowy (Regionalgericht).

11

Art. 42a dieses Gesetzes lautet:

„§ 1.   Im Rahmen der Tätigkeiten der Gerichte oder der Organe der Gerichte darf die Legitimität der Gerichte und Gerichtshöfe, der Verfassungsorgane des Staates oder der Organe zur Kontrolle und zum Schutz des Rechts nicht in Frage gestellt werden.

§ 2.   Ein ordentliches Gericht oder ein anderes Organ der Staatsgewalt darf die Rechtmäßigkeit der Ernennung eines Richters oder der sich daraus ergebenden Befugnis zur Wahrnehmung von Aufgaben im Bereich der Rechtsprechung weder feststellen noch beurteilen.“

12

In Art. 47a des Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit heißt es:

„§ 1.   „Die Rechtssachen werden den Richtern und Richtern auf Probe in den einzelnen Kategorien von Rechtssachen nach dem Zufallsprinzip zugewiesen, soweit eine Rechtssache nicht dem Richter zuzuweisen ist, der den Bereitschaftsdienst ausübt.

§ 2.   Die Rechtssachen werden innerhalb der einzelnen Kategorien zu gleichen Teilen verteilt, es sei denn, der Anteil wird aufgrund der ausgeübten Funktion, der Beteiligung an der Zuweisung von Rechtssachen einer anderen Kategorie oder aus anderen gesetzlich vorgesehenen Gründen verringert.“

13

Art. 47b dieses Gesetzes bestimmt:

„§ 1.   Eine Änderung der Besetzung eines Gerichts ist nur dann zulässig, wenn die Behandlung der Rechtssache in der bisherigen Besetzung unmöglich ist oder ihr ein dauerhaftes Hindernis entgegensteht. Art. 47a gilt entsprechend.

§ 3.   Die Entscheidungen in den in [§ 1] genannten Sachen werden vom Präsidenten des Gerichts oder von einem von ihm hierzu ermächtigten Richter getroffen.

§ 4.   Die Versetzung eines Richters oder seine Abordnung an ein anderes Gericht sowie die Beendigung einer Abordnung hindern den Richter nicht daran, in den ihm an seinem bisherigen Dienstort oder gegenwärtigen Tätigkeitsort zugewiesenen Rechtssachen bis zu deren Abschluss [prozessuale] Handlungen vorzunehmen.

§ 5.   Das für den neuen Dienstort des Richters oder den Ort seiner Abordnung zuständige Gerichtskollegium kann auf Antrag des Richters oder von Amts wegen insbesondere aufgrund der Entfernung zwischen dem betreffenden Gericht und dem neuen Dienstort des Richters oder dem Ort seiner Abordnung und unter Berücksichtigung des Standes der bei ihm anhängigen Rechtssachen den Richter von diesen Rechtssachen ganz oder teilweise entbinden. Vor dem Erlass einer Entscheidung hört das Kollegium des Gerichts die Präsidenten der zuständigen Gerichte an.

§ 6.   Die Bestimmungen der §§ 4 und 5 gelten sinngemäß bei einer Versetzung in eine andere Abteilung desselben Gerichts.“

14

Art. 17 § 1 der Ustawa o zmianie ustawy – Prawo o ustroju sądów powszechnych oraz niektórych innych ustaw (Gesetz zur Änderung des Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit und einiger anderer Gesetze) vom 12. Juli 2017 (Dz. U. von 2017, Pos. 1452) bestimmt:

„Die Präsidenten und Vizepräsidenten der Gerichte, die auf der Grundlage der Bestimmungen des durch Art. 1 geänderten Gesetzes in der bisher geltenden Fassung ernannt wurden, können vom Justizminister innerhalb einer Frist von höchstens sechs Monaten nach Inkrafttreten dieses Gesetzes ihres Amtes enthoben werden, ohne dass hierbei die Anforderungen nach Art. 27 des durch Art. 1 geänderten Gesetzes in der durch dieses Gesetz geänderten Fassung beachtet werden müssen.“

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

15

Die Vorabentscheidungsersuchen wurden vom selben Richter anlässlich der Prüfung zweier getrennter Strafverfahren eingereicht.

16

In der Rechtssache C‑647/21 geht das Ausgangsverfahren auf ein Strafverfahren gegen D. K. zurück. Mit Entscheidung des erstinstanzlichen Gerichts wurde D. K. zu einer Freiheitsstrafe verurteilt. Gegen diese Entscheidung legte er beim Sąd Okręgowy w Słupsku (Regionalgericht Słupsk, Polen), dem vorlegenden Gericht, Berufung ein. In dieser Rechtssache tagt der Spruchkörper als Einzelrichter, wobei die Richterin, die die beiden vorliegenden Vorabentscheidungsersuchen übermittelt hat, sowohl Berichterstatterin als auch Vorsitzende des Spruchkörpers ist.

17

In der Rechtssache C‑648/21 geht das Ausgangsverfahren auf ein Strafverfahren gegen M. C. und M. F. zurück. Mit Entscheidung eines erstinstanzlichen Gerichts wurden M. C. und M. F. verurteilt. Das zweitinstanzliche Gericht, bei dem sie Berufung einlegten, sprach M. C. frei und bestätigte die Verurteilung von M. F. Der Prokurator Generalny (Generalstaatsanwalt, Polen) legte gegen die Entscheidung des zweitinstanzlichen Gerichts betreffend M. C. beim Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht, Polen) Rechtsmittel ein. Dieses hob diese Entscheidung auf und verwies die Sache an den Sąd Okręgowy w Słupsku (Regionalgericht Słupsk), das vorlegende Gericht, zurück. In dieser Rechtssache tagt der Spruchkörper als Kammer mit drei Richtern, die aus der Vorsitzenden des Spruchkörpers, dem Präsidenten des vorlegenden Gerichts und einem dritten Richter besteht. Das Vorabentscheidungsersuchen ist allein von der Vorsitzenden des Spruchkörpers eingereicht worden, die dieselbe Richterin wie in der Rechtssache C‑647/21 ist.

18

Im September 2021 erließ die Richterin, die die beiden vorliegenden Vorabentscheidungsersuchen übermittelt hat, in einem Verfahren, das keinen Bezug zu den Ausgangsverfahren hatte, eine Entscheidung, mit der sie den Präsidenten der Berufungsabteilung des Sąd Okręgowy w Słupsku (Regionalgericht Słupsk) aufforderte, eine Rechtssache einem anderen Richter zuzuweisen oder im Spruchkörper in diesem Verfahren den Präsidenten des Sąd Okręgowy w Słupsku (Regionalgericht Słupsk) durch einen anderen Richter zu ersetzen. Sie begründete dies damit, dass der Präsident des vorlegenden Gerichts auf der Grundlage eines Beschlusses der KRS in ihrer neuen Zusammensetzung ernannt worden sei. Somit verletze die Anwesenheit eines solchen Richters im Spruchkörper das Recht auf ein zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht im Sinne von Art. 19 Abs. 1 EUV, Art. 47 der Charta und Art. 6 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK). Der Vizepräsident des vorlegenden Gerichts, der ebenfalls auf Vorschlag der KRS in ihrer neuen Zusammensetzung ernannt worden war, hob die diese Aufforderung der Richterin enthaltende Entscheidung auf.

19

Im Oktober 2021 hob die Richterin in einer anderen Rechtssache ein Urteil eines erstinstanzlichen Gerichts auf, das von einer Person erlassen worden war, die auf der Grundlage eines Beschlusses der KRS in ihrer neuen Zusammensetzung zum Richter ernannt worden war. Sie stützte ihre Aufhebungsentscheidung u. a. auf Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und Art. 47 der Charta.

20

Am 11. Oktober 2021 fasste das Kollegium des Sąd Okręgowy w Słupsku (Regionalgericht Słupsk), das aus dem Präsidenten dieses Gerichts und den Präsidenten der fünf Sądy Rejonowe (Rayongerichte) im Zuständigkeitsbereich des Sąd Okręgowy w Słupsku (Regionalgericht Słupsk) bestand, den Beschluss, der Richterin, die die beiden vorliegenden Vorabentscheidungsersuchen übermittelt hat, etwa 70 Rechtssachen – einschließlich der Ausgangsverfahren –, die ihr innerhalb der für Berufungen zuständigen Sechsten Abteilung für Strafsachen zugewiesen worden waren, zu entziehen (im Folgenden: Beschluss des Kollegiums). Diese Richterin weist darauf hin, dass ihr dieser Beschluss nicht zugestellt und die Beschlussbegründung nicht mitgeteilt worden sei. Der Präsident des vorlegenden Gerichts habe ihr lediglich mitgeteilt, dass sie von ihren Verpflichtungen entbunden werde. Zudem habe er es zweimal abgelehnt, ihren Anträgen auf Zugang zum Inhalt dieses Beschlusses stattzugeben.

21

Am 13. Oktober 2021 erließ der Präsident des Sąd Okręgowy w Słupsku (Regionalgericht Słupsk) eine Anordnung über die Versetzung dieser Richterin von der Berufungsabteilung dieses Gerichts, bei der die Ausgangsverfahren anhängig sind, in die erstinstanzliche Abteilung dieses Gerichts (im Folgenden: Versetzungsanordnung). Ein anderer Richter wurde an ihre Stelle versetzt, um in der Berufungsabteilung tätig zu sein.

22

Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts beschränkt sich die Begründung der Versetzungsanordnung auf die lakonische Erwähnung der Notwendigkeit, die ordnungsgemäße Arbeitsweise der beiden Abteilungen zu gewährleisten. Die Versetzungsanordnung verweise auch auf einen nicht näher bezeichneten Schriftwechsel zwischen dem Präsidenten des Sąd Okręgowy w Słupsku (Regionalgericht Słupsk) und dem Vorsitzenden einer dieser Abteilungen.

23

Am 18. Oktober 2021 trat die Versetzungsanordnung in Kraft. Sie enthält keine Rechtsbehelfsbelehrung.

24

Unter diesen Umständen möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob die Richterin, die die beiden vorliegenden Vorabentscheidungsersuchen übermittelt hat, weiterhin als Einzelrichterin im Ausgangsverfahren der Rechtssache C‑647/21 und als Vorsitzende des Spruchkörpers im Ausgangsverfahren der Rechtssache C‑648/21 tätig sein kann.

25

Das vorlegende Gericht vertritt die Ansicht, in Anbetracht der oben in den Rn. 18 bis 23 dargelegten Umstände, die dazu geführt hätten, dass ihm die Rechtssachen, in denen die Richterin Berichterstatterin gewesen sei, einschließlich der Ausgangsverfahren, entzogen worden seien, sei es mit der Notwendigkeit konfrontiert, über die Frage zu entscheiden, ob solche Handlungen gegen Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta verstießen. Sollte dies der Fall sein, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob es verpflichtet ist, den Beschluss des Kollegiums und die weiteren nachfolgenden Handlungen, wie die Entscheidung, die Rechtssachen, die dieser Richterin entzogen wurden, einschließlich der Ausgangsverfahren, einem anderen Richter zuzuweisen, außer Acht zu lassen.

26

Das vorlegende Gericht vertritt die Auffassung, dass der Umstand, dass der Richterin, die die beiden vorliegenden Vorabentscheidungsersuchen übermittelt habe, die ihr zugewiesenen Rechtssachen entzogen worden seien, sowie ihre Versetzung gegen die Erfordernisse der Unabhängigkeit und Unabsetzbarkeit verstießen. Außerdem hätten die gegen diese Richterin ergriffenen Maßnahmen eine Reaktion auf ihre Versuche der Prüfung, ob das erstinstanzliche Gericht dem Erfordernis eines durch Gesetz errichteten Gerichts genügt habe, dargestellt und die Verhinderung künftiger derartiger Versuche bezweckt.

27

Unter diesen Umständen hat der Sąd Okręgowy w Słupsku (Regionalgericht Słupsk) beschlossen, die Vollziehung des Beschlusses des Kollegiums auszusetzen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof in jedem der Ausgangsverfahren folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.

Ist Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung wie Art. 47b §§ 5 und 6 in Verbindung mit Art. 30 § 1 und Art. 24 § 1 des Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit entgegensteht, wonach ein Organ eines nationalen Gerichts, z. B. das Kollegium des Gerichts, befugt ist, einen Richter dieses Gerichts teilweise oder ganz von seiner Verpflichtung zu entbinden, die ihm zugewiesenen Rechtssachen zu entscheiden, wenn:

a)

dem Kollegium des Gerichts, von Rechts wegen, Gerichtspräsidenten angehören, die von einem Organ der Exekutive, wie dem Justizminister, der auch Generalstaatsanwalt ist, auf diese Posten berufen wurden;

b)

die Entbindung des Richters von der Verpflichtung, die ihm zugewiesenen Rechtssachen zu entscheiden, ohne seine Zustimmung erfolgt;

c)

im nationalen Recht weder Kriterien, die das Kollegium des Gerichts bei der Entbindung eines Richters von seiner Verpflichtung zur Entscheidung der ihm zugewiesenen Rechtssachen anzuwenden hat, noch eine Begründungspflicht und eine gerichtliche Überprüfung einer solchen Entbindung vorgesehen sind;

d)

einige Mitglieder des Kollegiums des Gerichts unter Umständen, die mit den im Urteil des Gerichtshofs vom 15. Juli 2021, Kommission/Polen (Disziplinarordnung für Richter) (C‑791/19, EU:C:2021:596), genannten vergleichbar sind, in das Richteramt berufen worden sind?

2.

Sind die in der ersten Frage genannten Bestimmungen und der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts dahin auszulegen, dass sie ein nationales Gericht, das mit einer in den Anwendungsbereich der Richtlinie (EU) 2016/343 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2016 über die Stärkung bestimmter Aspekte der Unschuldsvermutung und des Rechts auf Anwesenheit in der Verhandlung in Strafverfahren (ABl. 2016, L 65, S. 1) fallenden Strafsache befasst ist und in dem ein Richter in der in der ersten Frage beschriebenen Weise von seiner Verpflichtung zur Entscheidung von Rechtssachen entbunden wurde, und alle staatlichen Behörden berechtigen (oder verpflichten), die Handlung des Kollegiums des Gerichts und andere, nachfolgende Handlungen, wie z. B. Anordnungen zur Neuverteilung von Rechtssachen, einschließlich der Rechtssachen des Ausgangsverfahrens, ohne Berücksichtigung des von seiner Verpflichtung entbundenen Richters, unangewendet zu lassen, damit dieser weiterhin dem mit dieser Rechtssache befassten Spruchkörper angehören kann?

3.

Sind die in der ersten Frage genannten Bestimmungen und der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts dahin auszulegen, dass die innerstaatliche Rechtsordnung in Strafverfahren, die in den Anwendungsbereich der Richtlinie 2016/343 fallen, Wege vorsehen muss, die gewährleisten, dass die Verfahrensbeteiligten (wie die Angeklagten im Ausgangsverfahren) die in der ersten Frage genannten Entscheidungen – die zu einer Änderung der Zusammensetzung des mit der Rechtssache befassten Gerichts und folglich dazu führen sollen, dass der bisher zuständige Richter in der in der ersten Frage beschriebenen Weise von der Verpflichtung zur Entscheidung der Rechtssache entbunden wird – überprüfen lassen und Rechtsmittel gegen sie einlegen können?

Verfahren vor dem Gerichtshof

Zur Verbindung der Rechtssachen

28

Mit Entscheidung des Präsidenten des Gerichtshofs vom 29. November 2021 sind die Rechtssachen C‑647/21 und C‑648/21 zu gemeinsamem schriftlichen und mündlichen Verfahren und zu gemeinsamem Urteil verbunden worden.

Zu den Anträgen auf Anwendung des beschleunigten Vorabentscheidungsverfahrens

29

Das vorlegende Gericht hat beantragt, die vorliegenden Vorabentscheidungsersuchen einem beschleunigten Verfahren nach Art. 105 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs zu unterwerfen. Dabei hat es sich im Wesentlichen darauf gestützt, dass die Anwendung des beschleunigten Verfahrens angesichts der Tatsache gerechtfertigt sei, dass die Vorlagefragen grundlegende Fragen des polnischen Rechts, insbesondere des Verfassungsrechts, beträfen, nämlich den Grundsatz der Unabsetzbarkeit der Richter und das Recht der Verfahrensbeteiligten auf ein durch Gesetz errichtetes, unparteiisches und unabhängiges Gericht. Es gebe zudem berechtigte Gründe für die Annahme, dass der Erlass weiterer Maßnahmen in den Ausgangsverfahren zum Wegfall der Gründe führen würde, aus denen die Vorlage von Fragen an den Gerichtshof erforderlich gewesen sei, und dass die Umsetzung der Antworten des Gerichtshofs beeinträchtigt werden könnte, wodurch die Wirksamkeit des Unionsrechts und ein wirksamer Rechtsschutz nicht gewährleistet werden könnten.

30

Nach Art. 105 Abs. 1 der Verfahrensordnung kann der Präsident des Gerichtshofs auf Antrag des vorlegenden Gerichts oder ausnahmsweise von Amts wegen, nach Anhörung des Berichterstatters und des Generalanwalts, entscheiden, eine Vorlage zur Vorabentscheidung einem beschleunigten Verfahren zu unterwerfen, wenn die Art der Rechtssache ihre rasche Erledigung erfordert.

31

Ein solches beschleunigtes Verfahren ist ein Verfahrensinstrument, mit dem auf eine außerordentliche Dringlichkeitssituation reagiert werden soll (Urteil vom 21. Dezember 2021, Randstad Italia, C‑497/20, EU:C:2021:1037, Rn. 37 und die dort angeführte Rechtsprechung).

32

Im vorliegenden Fall hat der Präsident des Gerichtshofs am 29. November 2021 nach Anhörung des Berichterstatters und des Generalanwalts entschieden, den Anträgen, die vorliegenden Vorabentscheidungsersuchen einem beschleunigten Verfahren zu unterwerfen, nicht stattzugeben. Die Argumente, die das vorlegende Gericht zur Rechtfertigung dieser Anträge vorbringt, sind nämlich allgemeiner Art und beinhalten keine konkreten Gründe für die beschleunigte Bearbeitung dieser Vorabentscheidungsersuchen. Vor allem stellt der Umstand, dass die vorgelegten Fragen grundlegende Fragen des polnischen Rechts, insbesondere des Verfassungsrechts, betreffen, keine außerordentliche Dringlichkeitssituation dar, die erforderlich ist, um eine Behandlung im beschleunigten Verfahren zu rechtfertigen. Schließlich rechtfertigt der Umstand, dass die Ausgangsverfahren Strafsachen betreffen, als solcher noch keine beschleunigte Behandlung.

Zur Aussetzung der Verfahren und zu den Ersuchen um Klarstellung

33

Am 18. Oktober 2022 hat der Gerichtshof die verbundenen Rechtssachen C‑647/21 und C‑648/21 bis zum Erlass des Urteils in den verbundenen Rechtssachen C‑615/20 und C‑671/20 ausgesetzt. Am 20. Juli 2023 hat der Gerichtshof dem vorlegenden Gericht das Urteil vom 13. Juli 2023, YP u. a. (Aufhebung der Immunität und Suspendierung eines Richters) (C‑615/20 und C‑671/20, EU:C:2023:562), zugestellt und es aufgefordert, mitzuteilen, ob es seine Vorabentscheidungsersuchen in den verbundenen Rechtssachen C‑647/21 und C‑648/21 aufrechterhalten wolle.

34

Auf Anweisung des Präsidenten des Sąd Okręgowy w Słupsku (Regionalgericht Słupsk) hat die Richterin, die die beiden vorliegenden Vorabentscheidungsersuchen übermittelt hat, am 25. September 2023 geantwortet, dass das vorlegende Gericht seine Vorabentscheidungsersuchen aufrechterhalten wolle.

35

Wegen einiger Unklarheiten in dieser Antwort hat der Gerichtshof an dieses Gericht ein zweites Ersuchen um Klarstellung gemäß Art. 101 Abs. 1 seiner Verfahrensordnung gerichtet. Der Gerichtshof hat insbesondere gefragt, ob die Richterin, die die beiden vorliegenden Vorabentscheidungsersuchen übermittelt hat, weiterhin den Spruchkörpern angehört, die mit den Ausgangsverfahren befasst sind, die Gegenstand der Vorabentscheidungsersuchen in den verbundenen Rechtssachen C‑647/21 und C‑648/21 sind, und, wenn ja, in welcher Eigenschaft. Das vorlegende Gericht hat dieses Ersuchen um Klarstellung am 17. Oktober 2023 durch die Richterin, die die vorliegenden Vorabentscheidungsersuchen vorgelegt hat, beantwortet.

Zur Zuständigkeit des Gerichtshofs

36

Zum einen machen die dänische Regierung und die Europäische Kommission im Wesentlichen geltend, dass Art. 47 der Charta auf die Ausgangsverfahren nicht anwendbar sei. Insbesondere weist die Kommission darauf hin, dass, auch wenn sich die Vorabentscheidungsersuchen, insbesondere der Wortlaut der Fragen des vorlegenden Gerichts, auf die Richtlinie 2016/343 bezögen, nicht um eine Auslegung dieser Richtlinie ersucht werde.

37

Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof im Rahmen eines Vorabentscheidungsersuchens nach Art. 267 AEUV das Unionsrecht nur in den Grenzen der ihm übertragenen Zuständigkeiten prüfen kann (Urteil vom 11. Juli 2024, Hann‑Invest u. a., C‑554/21, C‑622/21 et C‑727/21, EU:C:2024:594, Rn. 30 und die dort angeführte Rechtsprechung).

38

Der Anwendungsbereich der Charta ist, was das Handeln der Mitgliedstaaten betrifft, in ihrem Art. 51 Abs. 1 definiert. Danach gilt sie für die Mitgliedstaaten bei der Durchführung des Rechts der Union; diese Bestimmung bestätigt die ständige Rechtsprechung des Gerichtshofs, nach der die in der Unionsrechtsordnung garantierten Grundrechte in allen unionsrechtlich geregelten Fallgestaltungen, aber nicht außerhalb derselben Anwendung finden (Urteil vom 11. Juli 2024, Hann‑Invest u. a., C‑554/21, C‑622/21 und C‑727/21, EU:C:2024:594, Rn. 31 und die dort angeführte Rechtsprechung).

39

Im vorliegenden Fall hat das vorlegende Gericht im Hinblick auf das Ersuchen um Auslegung von Art. 47 der Charta keine Angaben dazu gemacht, wie die Ausgangsverfahren die Auslegung oder Anwendung einer auf nationaler Ebene umgesetzten Vorschrift des Unionsrechts betreffen könnten. Auch wenn sich die zweiten Vorlagefragen auf die Richtlinie 2016/343 beziehen, werden sie nämlich nicht im Hinblick auf die Bestimmungen dieser Richtlinie gestellt und erläutert das vorlegende Gericht nicht, welcher Zusammenhang zwischen dieser Richtlinie und diesen Rechtssachen bestehen soll.

40

Daher ist der Gerichtshof nicht für die Auslegung von Art. 47 der Charta als solchem zuständig.

41

Zum anderen machen die Prokuratura Rejonowa w Bytowie (Rayonstaatsanwaltschaft Bytów, Polen) und die Prokuratura Okręgowa w Łomży (Regionalstaatsanwaltschaft Łomża, Polen) im Wesentlichen geltend, dass Fragen der Gerichtsorganisation der Mitgliedstaaten, wie sie in den Vorlagefragen aufgeworfen würden, betreffend insbesondere die Entbindung eines Richters von den ihm zugewiesenen Rechtssachen, in die ausschließliche Zuständigkeit der Mitgliedstaaten und nicht in den sachlichen Anwendungsbereich des Unionsrechts fielen. Dagegen hat die polnische Regierung in der mündlichen Verhandlung erklärt, dass der Gerichtshof für die Beantwortung der Vorlagefragen zuständig sei.

42

Hierzu ist festzustellen, dass nach ständiger Rechtsprechung die Organisation der Justiz in den Mitgliedstaaten zwar in deren Zuständigkeit fällt, die Mitgliedstaaten bei der Ausübung dieser Zuständigkeit jedoch die Verpflichtungen einzuhalten haben, die sich für sie aus dem Unionsrecht ergeben. Dies gilt insbesondere für nationale Vorschriften betreffend den Erlass von Entscheidungen über die Ernennung von Richtern und gegebenenfalls für Vorschriften betreffend die im Zusammenhang mit solchen Ernennungsverfahren anwendbare gerichtliche Kontrolle (Urteil vom 9. Januar 2024, G. u. a. [Ernennung von Richtern der ordentlichen Gerichtsbarkeit in Polen], C‑181/21 und C‑269/21, EU:C:2024:1, Rn. 57 und die dort angeführte Rechtsprechung).

43

Außerdem geht aus dem Wortlaut der Vorlagefragen klar hervor, dass sie nicht die Auslegung des polnischen Rechts, sondern insbesondere von Art. 19 Abs. 1 EUV betreffen.

44

Daraus folgt, dass der Gerichtshof für die Entscheidung über die Vorabentscheidungsersuchen zuständig ist, nicht aber für die Auslegung von Art. 47 der Charta als solchem.

Zur Zulässigkeit der Vorabentscheidungsersuchen

45

Die Rayonstaatsanwaltschaft Bytów und die Regionalstaatsanwaltschaft Łomża bestreiten die Zulässigkeit der Vorabentscheidungsersuchen. Sie machen erstens geltend, dass die vorlegende Richterin diese Ersuchen nach der Annahme des Beschlusses des Kollegiums eingereicht habe, d. h. zu einem Zeitpunkt, zu dem die Richterin, der damit die Ausgangsverfahren entzogen worden seien, nicht mehr befugt gewesen sei, die Vorlageentscheidungen zu erlassen. Zweitens beträfen die Vorlagefragen die individuelle Situation der vorlegenden Richterin, so dass es sich um persönliche Fragen handle. Drittens genügten die Vorabentscheidungsersuchen nicht den Anforderungen von Art. 94 Buchst. a und b der Verfahrensordnung. Demgegenüber hat die polnische Regierung in der mündlichen Verhandlung erklärt, dass die Vorabentscheidungsersuchen zulässig seien.

46

Die Kommission vertritt im Übrigen die Auffassung, die dritten Vorlagefragen seien unzulässig, weil die Frage, ob es für die Angeklagten der Ausgangsverfahren möglicherweise einen wirksamen Rechtsbehelf gebe, weder eine Vorfrage, die sich in limine litis stelle, noch eine für die Entscheidung in diesen Verfahren erforderliche Frage sei.

47

Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs ist es im Rahmen der durch Art. 267 AEUV geschaffenen Zusammenarbeit zwischen ihm und den nationalen Gerichten allein Sache des mit dem Rechtsstreit befassten nationalen Gerichts, in dessen Verantwortungsbereich die zu erlassende gerichtliche Entscheidung fällt, anhand der Besonderheiten der Rechtssache sowohl die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung zum Erlass seines Urteils als auch die Erheblichkeit der dem Gerichtshof von ihm vorgelegten Fragen zu beurteilen. Daher ist der Gerichtshof grundsätzlich gehalten, über die ihm vorgelegten Fragen zu befinden, wenn sie die Auslegung des Unionsrechts betreffen (Urteil vom 24. November 2020, Openbaar Ministerie [Urkundenfälschung], C‑510/19, EU:C:2020:953, Rn. 25 und die dort angeführte Rechtsprechung).

48

Wie sich bereits aus dem Wortlaut von Art. 267 AEUV ergibt, muss die beantragte Vorabentscheidung „erforderlich“ sein, um dem vorlegenden Gericht den „Erlass seines Urteils“ in der bei ihm anhängigen Rechtssache zu ermöglichen (Urteil vom 11. Juli 2024, Hann‑Invest u. a., C‑554/21, C‑622/21 und C‑727/21, EU:C:2024:594, Rn. 40 und die dort angeführte Rechtsprechung).

49

Hierzu hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass eine Antwort auf Vorlagefragen erforderlich sein kann, um den vorlegenden Gerichten eine Auslegung des Unionsrechts zu liefern, die es ihnen ermöglicht, über Verfahrensfragen des innerstaatlichen Rechts zu entscheiden, um dann in den Rechtsstreitigkeiten, die bei ihnen anhängig sind, in der Sache entscheiden zu können (Urteil vom 16. November 2021, Prokuratura Rejonowa w Mińsku Mazowieckim u. a., C‑748/19 bis C‑754/19, EU:C:2021:931, Rn. 48 und die dort angeführte Rechtsprechung).

50

Zur ersten Unzulässigkeitsrüge, mit der geltend gemacht wird, dass die in Rede stehende Richterin die Vorabentscheidungsersuchen eingereicht habe, nachdem ihr die Ausgangsverfahren entzogen worden seien, ist zum einen festzustellen, dass sich aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten ergibt, dass diese Richterin zu dem Zeitpunkt, zu dem sie die Vorabentscheidungsersuchen eingereicht hat, d. h. am 20. Oktober 2021, mit den Ausgangsverfahren befasst war, und zum anderen, dass das vorlegende Gericht die Vorabentscheidungsersuchen nach Entziehung der Ausgangsverfahren nicht zurückgezogen hat.

51

In seiner Antwort auf das zweite Ersuchen des Gerichtshofs um Klarstellung hat das vorlegende Gericht nämlich bestätigt, dass die betreffende Richterin zum Zeitpunkt des Erlasses der Vorlageentscheidungen, d. h. am 20. Oktober 2021, die Berichterstatterin bzw. die Vorsitzende des Spruchkörpers in den beiden Ausgangsverfahren war. Es hat ferner darauf hingewiesen, dass das Verfahren, das dem Vorabentscheidungsersuchen in der Rechtssache C‑648/21 zugrunde liegt, mit Beschluss vom 21. Oktober 2021, der nach dem Erlass der Vorlageentscheidungen erging, einem anderen Berichterstatter zugewiesen wurde, der zuvor dem für dieses Verfahren zuständigen Spruchkörper mit drei Richtern angehört hatte, und dass die Einzelrichterbesetzung in dem Verfahren, das dem Vorabentscheidungsersuchen in der Rechtssache C‑647/21 zugrunde liegt, ebenfalls am 21. Oktober 2021 geändert wurde. Das vorlegende Gericht hat außerdem bestätigt, dass diese beiden Verfahren aufgrund der vorliegenden Vorabentscheidungsersuchen ausgesetzt wurden und immer noch ausgesetzt sind.

52

Zur zweiten Unzulässigkeitsrüge, mit der geltend gemacht wird, dass die Vorlagefragen im Wesentlichen die individuelle Situation der Richterin beträfen, die die beiden vorliegenden Vorabentscheidungsersuchen übermittelt habe, und daher in keinem Zusammenhang mit den Ausgangsverfahren stünden, ist festzustellen, dass das vorlegende Gericht im Kontext der Ausgangsverfahren mit verfahrensrechtlichen Fragen konfrontiert ist, über die es in limine litis zu entscheiden hat und deren Entscheidung von einer Auslegung der Bestimmungen und Grundsätze des Unionsrechts abhängt, auf die sich die Vorlagefragen beziehen. Mit den Vorlagefragen soll nämlich im Wesentlichen geklärt werden, ob die Richterin in Anbetracht dieser Bestimmungen und Grundsätze des Unionsrechts berechtigt bleibt, die Prüfung der Ausgangsverfahren trotz des Beschlusses des Kollegiums fortzusetzen, mit dem ihr diese Verfahren entzogen wurden.

53

Wie sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergibt, sind Vorlagefragen, die es einem vorlegenden Gericht so ermöglichen sollen, vorab über verfahrensrechtliche Schwierigkeiten zu entscheiden, etwa im Zusammenhang mit seiner eigenen Zuständigkeit für die Entscheidung einer bei ihm anhängigen Rechtssache oder auch mit den Rechtswirkungen, die einer gerichtlichen Entscheidung, die der Fortsetzung der Prüfung einer solchen Rechtssache durch dieses Gericht potenziell entgegensteht, gegebenenfalls zuzuerkennen sind, nach Art. 267 AEUV zulässig (Urteil vom 13. Juli 2023, YP u. a. [Aufhebung der Immunität und Suspendierung eines Richters], C‑615/20 und C‑671/20, EU:C:2023:562, Rn. 47 und die dort angeführte Rechtsprechung).

54

Zur dritten Unzulässigkeitsrüge, wonach die Vorabentscheidungsersuchen nicht die Anforderungen nach Art. 94 Buchst. a und b der Verfahrensordnung erfüllten, genügt der Hinweis, dass – wie oben aus den Rn. 6 bis 14 bzw. 15 bis 26 hervorgeht – diese Vorabentscheidungsersuchen, wie sie vom vorlegenden Gericht in seiner Antwort auf die beiden Ersuchen des Gerichtshofs um Klarstellung erläutert worden sind, in Bezug auf einen Teil der ersten Fragen und die zweiten Fragen alle nach Art. 94 Buchst. a und b der Verfahrensordnung erforderlichen Angaben enthalten, insbesondere den Wortlaut der vorliegend möglicherweise anwendbaren nationalen Vorschriften, eine Darstellung der Gründe, aus denen das vorlegende Gericht Zweifel bezüglich der Auslegung von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV hat, und den Zusammenhang, den das vorlegende Gericht zwischen dieser Vorschrift und den angeführten nationalen Vorschriften herstellt, so dass der Gerichtshof insofern in der Lage ist, über die Vorlagefragen zu entscheiden.

55

Was den Teil der ersten Fragen anbelangt, der die Zusammensetzung des Kollegiums eines Gerichts betrifft, nämlich zum einen den Umstand, dass der Justizminister, der auch der Generalstaatsanwalt ist, befugt ist, die Präsidenten der Sądy Rejonowe (Rayongerichte) zu ernennen, die das Kollegium eines Sąd Okręgowy (Regionalgericht) bilden, und zum anderen den Umstand, dass einige Mitglieder des Kollegiums auf Vorschlag der KRS in ihrer neuen Zusammensetzung in das Richteramt berufen worden sind, die keine hinreichenden Garantien für ihre Unabhängigkeit bietet, ist darauf hinzuweisen, dass das nationale Gericht angesichts dessen, dass die Vorlageentscheidung als Grundlage für das Verfahren nach Art. 267 AEUV dient, gehalten ist, in der Vorlageentscheidung selbst den tatsächlichen und rechtlichen Rahmen des Ausgangsverfahrens darzulegen und die erforderlichen Erläuterungen zu den Gründen für die Wahl der Vorschriften des Unionsrechts, um deren Auslegung es ersucht, und zu dem Zusammenhang zu geben, den es zwischen diesen Vorschriften und der auf den bei ihm anhängigen Rechtsstreit anzuwendenden nationalen Regelung herstellt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 4. Juni 2020, C. F. [Steuerprüfung], C‑430/19, EU:C:2020:429, Rn. 23 und die dort angeführte Rechtsprechung).

56

Im vorliegenden Fall wird jedoch in den Vorlageentscheidungen, abgesehen von einigen begrenzten Erläuterungen zur Zusammensetzung des Kollegiums eines Gerichts, der nationale Rechtsrahmen für die Ernennung der Mitglieder dieses Kollegiums nicht hinreichend ausgeführt. Es wird darin auch nicht erläutert, inwiefern es erforderlich sein soll, dass der Gerichtshof den Teil der ersten Fragen beantwortet, der sich auf die Zusammensetzung des Kollegiums eines Gerichts bezieht. Unter diesen Umständen verfügt der Gerichtshof nicht über ausreichende Angaben, um diesen Teil der ersten Fragen zweckdienlich beantworten zu können, so dass die Vorabentscheidungsersuchen insoweit nicht die Voraussetzungen nach Art. 94 Buchst. a und b der Verfahrensordnung erfüllen.

57

Zu den dritten Vorlagefragen, mit denen das vorlegende Gericht wissen möchte, ob für die Angeklagten der Ausgangsverfahren ein wirksamer Rechtsbehelf besteht, ist festzustellen, dass sie keine Vorfragen sind, die sich in limine litis stellen, und auch nicht für die Entscheidung der Ausgangsverfahren erforderlich sind. Insbesondere geht aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten nicht hervor, dass sich im Ausgangsverfahren die Frage stellen würde, ob es den Angeklagten möglich ist, die Ordnungsmäßigkeit des Spruchkörpers, der über ihre Rechtssachen zu entscheiden hat, anzufechten.

58

Nach alledem ist festzustellen, dass die Vorabentscheidungsersuchen zulässig sind, mit Ausnahme des Teils der ersten Fragen, der die Zusammensetzung des Kollegiums eines Gerichts betrifft, und der dritten Vorlagefragen.

Zu den Vorlagefragen

Zu den ersten Fragen

59

Vorab ist zunächst darauf hinzuweisen, dass mit den ersten Vorlagefragen die Befugnis eines Organs eines nationalen Gerichts, wie etwa dessen Kollegiums, einem Richter dieses Gerichts einige oder alle der ihm zugewiesenen Rechtssachen zu entziehen, zwar ausdrücklich auf ihre Vereinbarkeit mit Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV geprüft werden soll, jedoch geht aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten hervor, dass diese ersten Fragen im Wesentlichen die nationale Regelung des Verfahrens betreffen, nach dem einem Richter seine Rechtssachen entzogen werden dürfen.

60

Auch wenn die Versetzung der Richterin, die die vorliegenden beiden Vorabentscheidungsersuchen übermittelt hat, von der Berufungsabteilung des vorlegenden Gerichts, bei der die Ausgangsverfahren anhängig sind, in die erstinstanzliche Abteilung dieses Gerichts einen wichtigen Gesichtspunkt darstellt, der zu berücksichtigen ist, um die vom vorlegenden Gericht in seinen Fragen in Betracht gezogene Situation zu erfassen, lassen diese Akten allerdings nicht den Schluss zu, dass die ersten Fragen dahin zu verstehen sind, dass sie sich auch auf die Vereinbarkeit einer Versetzungsentscheidung oder allgemeiner einer Regelung über das Versetzungsverfahren, wie sie im Ausgangsverfahren in Rede stehen, mit Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV beziehen.

61

In Anbetracht dieser Feststellungen ist davon auszugehen, dass das vorlegende Gericht mit seinen ersten Fragen im Wesentlichen wissen möchte, ob Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, nach der ein Organ eines nationalen Gerichts, wie etwa dessen Kollegium, einem Richter dieses Gerichts einige oder alle der ihm zugewiesenen Rechtssachen entziehen kann, ohne dass in dieser Regelung die Kriterien festgelegt sind, von denen sich dieses Organ leiten lassen muss, wenn es eine solche Entscheidung der Entziehung trifft, die Verpflichtung normiert ist, diese Entscheidung zu begründen, oder die Möglichkeit verankert ist, diese Entscheidung gerichtlich überprüfen zu lassen.

62

In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass die Organisation der Justiz in den Mitgliedstaaten, u. a. die Errichtung, die Besetzung, die Zuständigkeiten und die Arbeitsweise der nationalen Gerichte, zwar in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten fällt, dass diese bei der Ausübung dieser Zuständigkeit aber die Verpflichtungen einzuhalten haben, die sich für sie aus dem Unionsrecht, insbesondere aus Art. 19 EUV, ergeben (Urteil vom 11. Juli 2024, Hann‑Invest u. a., C‑554/21, C‑622/21 und C‑727/21, EU:C:2024:594, Rn. 44 und die dort angeführte Rechtsprechung).

63

Der Grundsatz des wirksamen Rechtsschutzes, von dem in Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV die Rede ist, stellt einen allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts dar, der insbesondere in Art. 6 Abs. 1 EMRK verankert ist, dem Art. 47 Abs. 2 der Charta entspricht. Diese letztere Bestimmung ist daher bei der Auslegung von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV gebührend zu berücksichtigen (Urteil vom 11. Juli 2024, Hann‑Invest u. a., C‑554/21, C‑622/21 und C‑727/21, EU:C:2024:594, Rn. 45 und die dort angeführte Rechtsprechung).

64

Da ferner die in der Charta enthaltenen Rechte den durch die EMRK garantierten Rechten entsprechen, soll mit Art. 52 Abs. 3 der Charta die notwendige Kohärenz zwischen den in der Charta enthaltenen Rechten und den durch die EMRK gewährleisteten entsprechenden Rechten geschaffen werden, ohne dass dadurch die Eigenständigkeit des Unionsrechts berührt wird. Nach den Erläuterungen zur Charta der Grundrechte (ABl. 2007, C 303, S. 17) entspricht Art. 47 Abs. 2 der Charta Art. 6 Abs. 1 EMRK. Der Gerichtshof muss daher darauf achten, dass seine Auslegung in den vorliegenden Rechtssachen ein Schutzniveau gewährleistet, das das in Art. 6 Abs. 1 EMRK in seiner Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte garantierte Schutzniveau nicht verletzt (Urteil vom 11. Juli 2024, Hann‑Invest u. a., C‑554/21, C‑622/21 und C‑727/21, EU:C:2024:594, Rn. 46 und die dort angeführte Rechtsprechung).

65

Nach dieser Klarstellung ist als Erstes darauf hinzuweisen, dass jeder Mitgliedstaat nach Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV dafür zu sorgen hat, dass Einrichtungen, die als „Gerichte“ im unionsrechtlichen Sinne dazu berufen sind, über Fragen im Zusammenhang mit der Anwendung oder Auslegung des Unionsrechts zu entscheiden, und damit Bestandteil seines Rechtsbehelfssystems in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen sind, den Anforderungen an einen wirksamen Rechtsschutz, u. a. dem Erfordernis der Unabhängigkeit, gerecht werden (Urteil vom 11. Juli 2024, Hann‑Invest u. a., C‑554/21, C‑622/21 und C‑727/21, EU:C:2024:594, Rn. 47 und die dort angeführte Rechtsprechung).

66

Dieses Erfordernis der Unabhängigkeit der Gerichte, das dem Auftrag des Richters inhärent ist, gehört zum Wesensgehalt des Rechts auf wirksamen Rechtsschutz und des Grundrechts auf ein faires Verfahren, denen als Garantien für den Schutz sämtlicher dem Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte und für die Wahrung der in Art. 2 EUV genannten Werte, die den Mitgliedstaaten gemeinsam sind, u. a. des Wertes der Rechtsstaatlichkeit, grundlegende Bedeutung zukommen (Urteil vom 11. Juli 2024, Hann‑Invest u. a., C‑554/21, C‑622/21 und C‑727/21, EU:C:2024:594, Rn. 49 und die dort angeführte Rechtsprechung).

67

Dieses Erfordernis der Unabhängigkeit umfasst zwei Aspekte. Der erste, das Außenverhältnis betreffende Aspekt erfordert, dass die betreffende Einrichtung ihre Funktionen in völliger Autonomie ausübt, ohne mit irgendeiner Stelle hierarchisch verbunden oder ihr untergeordnet zu sein und ohne von irgendeiner Stelle Anordnungen oder Anweisungen zu erhalten, so dass sie auf diese Weise vor Interventionen oder Druck von außen geschützt ist, die die Unabhängigkeit des Urteils ihrer Mitglieder gefährden und deren Entscheidungen beeinflussen könnten. Der zweite, das Innenverhältnis betreffende Aspekt steht mit dem Begriff der „Unparteilichkeit“ in Zusammenhang und bezieht sich darauf, dass den Parteien des Rechtsstreits und ihren jeweiligen Interessen am Streitgegenstand mit dem gleichen Abstand begegnet wird. Dieser Aspekt verlangt, dass Sachlichkeit obwaltet und neben der strikten Anwendung der Rechtsnormen keinerlei Interesse am Ausgang des Rechtsstreits besteht (Urteil vom 11. Juli 2024, Hann‑Invest u. a., C‑554/21, C‑622/21 und C‑727/21, EU:C:2024:594, Rn. 50 und 51 und die dort angeführte Rechtsprechung).

68

Zwar zielt der das „Außenverhältnis“ betreffende Aspekt der Unabhängigkeit in erster Linie darauf ab, die Unabhängigkeit der Gerichte gegenüber der Legislative und der Exekutive gemäß dem für einen Rechtsstaat kennzeichnenden Grundsatz der Gewaltenteilung zu wahren, er soll die Richter aber auch vor unzulässigen Einflussnahmen innerhalb des betreffenden Gerichts schützen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 11. Juli 2024, Hann‑Invest u. a., C‑554/21, C‑622/21 und C‑727/21, EU:C:2024:594, Rn. 54 und die dort angeführte Rechtsprechung).

69

Ferner ist hervorzuheben, dass die Ausübung des Richteramts nicht nur vor jeder unmittelbaren Einflussnahme in Form von Weisungen geschützt sein muss, sondern auch vor Formen der mittelbaren Einflussnahme, die zur Steuerung von Gerichtsentscheidungen geeignet sein könnten (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 11. Juli 2024, Hann‑Invest u. a., C‑554/21, C‑622/21 und C‑727/21, EU:C:2024:594, Rn. 53 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 14. November 2024, S. [Änderung des Spruchkörpers], C‑197/23, EU:C:2024:956, Rn. 62 und die dort angeführte Rechtsprechung).

70

Diese Garantien der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit setzen voraus, dass es Regeln insbesondere für die Zusammensetzung der betreffenden Einrichtung gibt, die es ermöglichen, bei den Rechtsuchenden jeden berechtigten Zweifel an der Unempfänglichkeit dieser Einrichtung für äußere Faktoren und an ihrer Neutralität in Bezug auf die widerstreitenden Interessen auszuräumen (Urteil vom 11. Juli 2024, Hann‑Invest u. a., C‑554/21, C‑622/21 und C‑727/21, EU:C:2024:594, Rn. 52).

71

Im Übrigen hat auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hervorgehoben, dass die überragende Bedeutung u. a. der richterlichen Unabhängigkeit und der Rechtssicherheit für die Rechtsstaatlichkeit eine besondere Klarheit der in jedem Einzelfall angewandten Regeln und klare Garantien erfordert, um Objektivität und Transparenz zu gewährleisten und vor allem jeden Anschein von Willkür bei der Zuweisung bestimmter Rechtssachen an Richter zu vermeiden (Urteil des EGMR vom 5. Oktober 2010, DMD GROUP, a.s./Slowakei, CE:ECHR:2010:1005JUD001933403, § 66).

72

Als Zweites verlangt Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV auch, dass es sich um ein „zuvor durch Gesetz errichtetes“ Gericht handelt, angesichts des untrennbaren Zusammenhangs, der zwischen dem Zugang zu einem solchen Gericht und den Garantien der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Richter besteht (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 11. Juli 2024, Hann‑Invest u. a., C‑554/21, C‑622/21 und C‑727/21, EU:C:2024:594, Rn. 55 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 14. November 2024, S. [Änderung des Spruchkörpers], C‑197/23, EU:C:2024:956, Rn. 63 und die dort angeführte Rechtsprechung).

73

Der auch in Art. 47 Abs. 2 der Charta enthaltene Verweis auf ein „durch Gesetz errichtetes Gericht“ spiegelt insbesondere das Rechtsstaatsprinzip wider und umfasst nicht nur die Rechtsgrundlage für die Existenz des Gerichts, sondern auch die Zusammensetzung des Spruchkörpers in der jeweiligen Rechtssache sowie alle weiteren Vorschriften des innerstaatlichen Rechts, deren Nichtbeachtung dazu führt, dass die Teilnahme eines oder mehrerer Richter an der Verhandlung über die Rechtssache eine Regelwidrigkeit darstellt (vgl. entsprechend Urteil vom 29. März 2022, Getin Noble Bank, C‑132/20, EU:C:2022:235, Rn. 121 und die dort angeführte Rechtsprechung).

74

Somit sind die Vorschriften über die Zuweisung und Neuzuweisung von Rechtssachen Teil des Begriffs des „zuvor durch Gesetz errichteten“ Gerichts, der nicht nur eine Rechtsgrundlage für die Existenz des Gerichts selbst verlangt, sondern auch die Beachtung der Zusammensetzung des Spruchkörpers in jeder Rechtssache sowie das Vorhandensein weiterer Vorschriften des innerstaatlichen Rechts, deren Nichtbeachtung die Teilnahme eines oder mehrerer Richter an der Verhandlung über die Rechtssache rechtswidrig macht.

75

Folglich verlangt Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV insoweit auch, dass sich mit den Vorschriften über die Besetzung der Spruchkörper ausschließen lässt, dass Personen, die nicht dem mit einer bestimmten Rechtssache befassten Spruchkörper angehören und vor denen die Parteien nicht Stellung nehmen konnten, in den diese Rechtssache betreffenden Entscheidungsprozess unzulässigerweise eingreifen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 11. Juli 2024, Hann‑Invest u. a., C‑554/21, C‑622/21 und C‑727/21, EU:C:2024:594, Rn. 59).

76

Im vorliegenden Fall sieht Art. 47b § 1 des Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit vorbehaltlich der vom vorlegenden Gericht vorzunehmenden Prüfungen vor, dass eine Änderung der Besetzung eines Gerichts zulässig ist, wenn der „Behandlung der Rechtssache in der bisherigen Besetzung“ ein „dauerhaftes Hindernis“ entgegensteht, ohne dass dies näher erläutert würde. Zwar sieht dieser Art. 47b § 4 im Wesentlichen vor, dass ein Richter mit den ihm zugewiesenen Rechtssachen bis zum Abschluss befasst bleibt, auch wenn er an einen anderen Ort versetzt oder an ein anderes Gericht abgeordnet wird, jedoch bestimmt Art. 47b § 5, dass ihm seine Rechtssachen durch Entscheidung des Kollegiums des betreffenden Gerichts entzogen werden können, ohne hierfür Kriterien aufzustellen. Schließlich hat das Kollegium des Gerichts nach Art. 47b § 6 auch die Möglichkeit, einem Richter seine Rechtssachen zu entziehen, wenn er in eine andere Abteilung versetzt wird, jedoch ist diese Möglichkeit wiederum mit keinen genauen Kriterien versehen.

77

Daher ist festzustellen, dass eine nationale Regelung wie die in der vorstehenden Randnummer beschriebene nicht nur keine objektiven Kriterien für die Möglichkeit vorsieht, einem Richter eine oder mehrere seiner Rechtssachen zu entziehen, sondern es dem Kollegium des betreffenden Gerichts auch erlaubt, einem Richter seine Rechtssachen ohne Begründung zu entziehen. Die Bezugnahme auf das Vorliegen eines „dauerhaften Hindernisses“ für die „Behandlung der Rechtssache in der bisherigen Besetzung“ ist nämlich zu vage, um als geeignet angesehen werden zu können, jede Willkür bei der Entscheidung über die Änderung der Besetzung eines Spruchkörpers zu vermeiden. Außerdem hat die polnische Regierung in der mündlichen Verhandlung vor dem Gerichtshof bestätigt, dass es nach polnischem Recht keiner Begründung bedarf, wenn nach Art. 47b §§ 5 und 6 des Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit einem Richter Rechtssachen entzogen werden.

78

Was im Übrigen die Entziehung der Ausgangsverfahren betrifft, geht aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten hervor, dass der Beschluss des Kollegiums, mit dem der betreffenden Richterin die Ausgangsverfahren entzogen wurden, mit keiner Begründung versehen ist.

79

Zudem kann dieser Beschluss des Kollegiums offenbar nicht durch die Versetzungsanordnung gerechtfertigt werden, mit der der Präsident des Sąd Okręgowy w Słupsku (Regionalgericht Słupsk) am 13. Oktober 2021 gemäß Art. 22a § 4 des Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit die Versetzung der Richterin, die die vorliegenden Ersuchen übermittelt hat, in eine andere Abteilung desselben Gerichts beschlossen hat.

80

Zum einen wurde die Versetzungsanordnung nämlich lakonisch mit der Notwendigkeit begründet, „die ordnungsgemäße Arbeitsweise der für Berufungen zuständigen Sechsten Abteilung für Strafsachen und der Zweiten Abteilung für Strafsachen“ des Sąd Okręgowy w Słupsku (Regionalgericht Słupsk) „zu gewährleisten“.

81

Zum anderen wurde der Beschluss des Kollegiums zwei Tage vor der Versetzungsanordnung angenommen.

82

Was darüber hinaus die nicht einvernehmliche Versetzung eines Richters an ein anderes Gericht oder die nicht einvernehmliche Versetzung eines Richters zwischen zwei Abteilungen desselben Gerichts betrifft, hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass solche Versetzungen ein Mittel zur Kontrolle des Inhalts gerichtlicher Entscheidungen sein können, da sie nicht nur den Umfang der Befugnisse der betreffenden Richter und die Bearbeitung der ihnen zugewiesenen Fälle beeinflussen können, sondern auch erhebliche Auswirkungen auf ihr Leben und ihre Laufbahn und damit entsprechende Wirkungen wie eine Disziplinarstrafe haben können (Urteil vom 6. Oktober 2021, W. Ż. [Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten des Obersten Gerichts – Ernennung], C‑487/19, EU:C:2021:798, Rn. 115).

83

In ähnlicher Weise lässt es sich nicht ausschließen, dass es Willkür oder eine verdeckte Disziplinarstrafe darstellt, wenn einem Richter Rechtssachen, für die er zuständig ist, entzogen werden, ohne dass die einschlägige nationale Regelung objektive Kriterien hierfür vorsieht und sogar ohne dass es hierfür einer Begründung bedarf. Dies gilt umso mehr, wenn auf eine solche Entziehung die Versetzung des betreffenden Richters in eine andere Abteilung desselben Gerichts folgt.

84

Somit können organisatorische Maßnahmen, mit denen wie in den Ausgangsverfahren Rechtssachen entzogen werden und für die es weder hinreichend genaue Kriterien noch eine ausreichende Begründungspflicht gibt, die Frage aufwerfen, ob es womöglich eine Reaktion auf frühere Handlungen des betreffenden Richters darstellt, wenn diesem Rechtssachen entzogen werden und er anschließend versetzt wird.

85

Um keinen Raum für Willkür zu lassen, die sich aus einem intransparenten Verfahren ergeben könnte, das gegen die Grundsätze der Unabhängigkeit und der Unabsetzbarkeit der Richter verstoßen könnte, ist es daher wichtig, dass die nationalen Vorschriften über die Entziehung von Rechtssachen klar formulierte objektive Kriterien, auf deren Grundlage einem Richter seine Rechtssachen entzogen werden können, sowie die Pflicht vorsehen, Entscheidungen, mit denen Rechtssachen entzogen werden, zu begründen. Dies gilt insbesondere für Fälle, in denen dem betreffenden Richter Rechtssachen ohne sein Einverständnis entzogen werden, um zu gewährleisten, dass die Unabhängigkeit der Richter nicht durch unzulässige Einflussnahme von außen beeinträchtigt wird.

86

Nach alledem ist auf die ersten Vorlagefragen zu antworten, dass Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, nach der ein Organ eines nationalen Gerichts, wie etwa dessen Kollegium, einem Richter dieses Gerichts einige oder alle der ihm zugewiesenen Rechtssachen entziehen kann, ohne dass in dieser Regelung die Kriterien festgelegt sind, von denen sich dieses Organ leiten lassen muss, wenn es eine solche Entscheidung der Entziehung trifft, oder die Verpflichtung normiert ist, diese Entscheidung zu begründen.

Zu den zweiten Fragen

87

Mit seinen zweiten Fragen möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts dahin auszulegen sind, dass sie ein nationales Gericht und jede andere Behörde des betreffenden Mitgliedstaats verpflichten, zum einen einen Beschluss des Kollegiums dieses Gerichts, mit dem einem Richter dieses Gerichts die ihm zugewiesenen Rechtssachen entzogen wurden, und zum anderen weitere nachfolgende Handlungen, wie die Entscheidungen über die Neuzuweisung dieser Rechtssachen, unangewendet zu lassen, wenn dieser Beschluss unter Verstoß gegen Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV erlassen wurde.

88

Nach ständiger Rechtsprechung besagt der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts, dass das Unionsrecht dem Recht der Mitgliedstaaten vorgeht. Dieser Grundsatz verpflichtet daher alle mitgliedstaatlichen Stellen, den verschiedenen unionsrechtlichen Vorschriften volle Wirksamkeit zu verschaffen, wobei das Recht der Mitgliedstaaten die diesen Vorschriften zuerkannte Wirkung in ihrem Hoheitsgebiet nicht beeinträchtigen darf (Urteil vom 13. Juli 2023, YP u. a. [Aufhebung der Immunität und Suspendierung eines Richters], C‑615/20 und C‑671/20, EU:C:2023:562, Rn. 61 und die dort angeführte Rechtsprechung).

89

Dieser Grundsatz verpflichtet somit u. a. jedes nationale Gericht, das im Rahmen seiner Zuständigkeit die Bestimmungen des Unionsrechts anzuwenden hat, dazu, für die volle Wirksamkeit der Anforderungen des Unionsrechts in dem bei ihm anhängigen Rechtsstreit Sorge zu tragen, indem es erforderlichenfalls jede nationale Regelung oder Praxis, die einer Bestimmung des Unionsrechts mit unmittelbarer Wirkung zuwiderläuft, aus eigener Entscheidungsbefugnis unangewendet lässt, ohne dass es die vorherige Beseitigung dieser nationalen Regelung oder Praxis auf gesetzgeberischem Wege oder durch irgendein anderes verfassungsrechtliches Verfahren beantragen oder abwarten müsste (Urteil vom 13. Juli 2023, YP u. a. [Aufhebung der Immunität und Suspendierung eines Richters], C‑615/20 und C‑671/20, EU:C:2023:562, Rn. 62 und die dort angeführte Rechtsprechung).

90

Der Gerichtshof hat indessen bereits entschieden, dass Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV – ausgelegt im Licht von Art. 47 der Charta –, der den Mitgliedstaaten eine klare und präzise und an keine Bedingung geknüpfte Ergebnispflicht auferlegt, insbesondere in Bezug auf die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der zur Auslegung und Anwendung des Unionsrechts berufenen Gerichte sowie das Erfordernis, dass diese Gerichte zuvor durch Gesetz errichtet worden sein müssen, eine solche unmittelbare Wirkung hat, die bedeutet, dass jede nationale Bestimmung, Rechtsprechung oder Praxis, die mit diesen unionsrechtlichen Bestimmungen in ihrer Auslegung durch den Gerichtshof unvereinbar ist, unangewendet bleiben muss (Urteil vom 13. Juli 2023, YP u. a. [Aufhebung der Immunität und Suspendierung eines Richters], C‑615/20 und C‑671/20, EU:C:2023:562, Rn. 63 und die dort angeführte Rechtsprechung).

91

Nach ebenfalls ständiger Rechtsprechung obliegt es den nationalen Gerichten, selbst wenn eine vom Gerichtshof festgestellte Vertragsverletzung nicht durch nationale gesetzgeberische Maßnahmen abgestellt wurde, alle Maßnahmen zu ergreifen, um entsprechend den Vorgaben des Urteils, mit dem diese Vertragsverletzung festgestellt wurde, die volle Wirksamkeit des Unionsrechts zu erleichtern. Im Übrigen sind diese Gerichte nach dem in Art. 4 Abs. 3 EUV vorgesehenen Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit verpflichtet, die rechtswidrigen Folgen eines Verstoßes gegen das Unionsrecht zu beheben (Urteil vom 13. Juli 2023, YP u. a. [Aufhebung der Immunität und Suspendierung eines Richters], C‑615/20 und C‑671/20, EU:C:2023:562, Rn. 64 und die dort angeführte Rechtsprechung).

92

Um den oben in den Rn. 88 bis 91 genannten Verpflichtungen nachzukommen, muss ein nationales Gericht daher eine Maßnahme wie einen Beschluss des Kollegiums dieses Gerichts, mit dem unter Verstoß gegen Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV angeordnet wurde, dass einem Richter dieses Gerichts seine Rechtssachen entzogen werden, unangewendet lassen, wenn dies in Anbetracht der in Rede stehenden Verfahrenslage unerlässlich ist, um den Vorrang des Unionsrechts zu gewährleisten (vgl. entsprechend Urteil vom 13. Juli 2023, YP u. a. [Aufhebung der Immunität und Suspendierung eines Richters], C‑615/20 und C‑671/20, EU:C:2023:562, Rn. 65 und die dort angeführte Rechtsprechung).

93

Da im Rahmen eines Verfahrens nach Art. 267 AEUV allein das vorlegende Gericht für die endgültige Beurteilung des Sachverhalts sowie die Anwendung und die Auslegung des nationalen Rechts zuständig ist, wird es Sache dieses Gerichts sein, die konkreten Folgen, die sich aus dem in der vorstehenden Randnummer angeführten Grundsatz für die Ausgangsverfahren ergeben, abschließend zu bestimmen. Nach ständiger Rechtsprechung kann der Gerichtshof dem vorlegenden Gericht jedoch anhand der Akten Hinweise zur Auslegung des Unionsrechts geben, die ihm insoweit von Nutzen sein könnten (Urteil vom 13. Juli 2023, YP u. a. [Aufhebung der Immunität und Suspendierung eines Richters], C‑615/20 und C‑671/20, EU:C:2023:562, Rn. 66 und die dort angeführte Rechtsprechung).

94

Insoweit ergibt sich aus der Antwort auf die ersten Fragen, dass Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV einer nationalen Regelung über die Entziehung von Rechtssachen, wie sie vom vorlegenden Gericht beschrieben wird, entgegensteht.

95

In einer solchen Situation muss ein Spruchkörper berechtigt sein, jeden auf der Grundlage dieser Regelung gefassten Beschluss unangewendet zu lassen und damit die Prüfung der Ausgangsverfahren mit der gleichen Besetzung fortzusetzen, ohne dass die für die Bestimmung und Änderung der Besetzung der Spruchkörper des nationalen Gerichts zuständigen Justizorgane dies verwehren könnten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 13. Juli 2023, YP u. a. [Aufhebung der Immunität und Suspendierung eines Richters], C‑615/20 und C‑671/20, EU:C:2023:562, Rn. 72 und die dort angeführte Rechtsprechung).

96

In derselben Situation müssen die für die Bestimmung und Änderung der Besetzung dieses Spruchkörpers zuständigen Organe einen solchen Beschluss unangewendet lassen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 13. Juli 2023, YP u. a. [Aufhebung der Immunität und Suspendierung eines Richters], C‑615/20 und C‑671/20, EU:C:2023:562, Rn. 80).

97

Nach alledem ist auf die zweiten Fragen zu antworten, dass Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts dahin auszulegen sind, dass sie ein nationales Gericht verpflichten, einen Beschluss des Kollegiums dieses Gerichts, mit dem einem Richter dieses Gerichts die ihm zugewiesenen Rechtssachen entzogen wurden, und weitere nachfolgende Handlungen, wie die Entscheidungen über die Neuzuweisung dieser Rechtssachen, unangewendet zu lassen, wenn dieser Beschluss unter Verstoß gegen Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV erlassen wurde. Die für die Bestimmung und Änderung der Besetzung dieses Spruchkörpers zuständigen Justizorgane müssen einen solchen Beschluss unangewendet lassen.

Kosten

98

Für die Beteiligten der Ausgangsverfahren ist das Verfahren Teil der beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahren; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Fünfte Kammer) für Recht erkannt:

 

1.

Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV

ist dahin auszulegen, dass

er einer nationalen Regelung entgegensteht, nach der ein Organ eines nationalen Gerichts, wie etwa dessen Kollegium, einem Richter dieses Gerichts einige oder alle der ihm zugewiesenen Rechtssachen entziehen kann, ohne dass in dieser Regelung die Kriterien festgelegt sind, von denen sich dieses Organ leiten lassen muss, wenn es eine solche Entscheidung der Entziehung trifft, oder die Verpflichtung normiert ist, diese Entscheidung zu begründen.

 

2.

Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts

sind dahin auszulegen, dass

sie ein nationales Gericht verpflichten, einen Beschluss des Kollegiums dieses Gerichts, mit dem einem Richter dieses Gerichts die ihm zugewiesenen Rechtssachen entzogen wurden, und weitere nachfolgende Handlungen, wie die Entscheidungen über die Neuzuweisung dieser Rechtssachen, unangewendet zu lassen, wenn dieser Beschluss unter Verstoß gegen Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV erlassen wurde. Die für die Bestimmung und Änderung der Besetzung dieses Spruchkörpers zuständigen Justizorgane müssen einen solchen Beschluss unangewendet lassen.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Polnisch.

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