EUR-Lex Access to European Union law

Back to EUR-Lex homepage

This document is an excerpt from the EUR-Lex website

Document 62022CJ0392

Urteil des Gerichtshofs (Vierte Kammer) vom 29. Februar 2024.
X gegen Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid.
Vorabentscheidungsersuchen der Rechtbank Den Haag, zittingsplaats 's-Hertogenbosch.
Vorlage zur Vorabentscheidung – Gemeinsame Politik im Bereich Asyl und Einwanderung – Antrag auf internationalen Schutz – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 4 – Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung – Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist – Verordnung (EU) Nr. 604/2013 – Art. 3 Abs. 2 – Umfang der Pflichten des Mitgliedstaats, der den zuständigen Mitgliedstaat um Wiederaufnahme des Antragstellers ersucht hat und den Antragsteller in den letztgenannten Mitgliedstaat überstellen möchte – Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens – Beweismittel und Beweismaßstab für die tatsächliche Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung infolge systemischer Schwachstellen – Praktiken der pauschalen Zurückschiebung (,pushback‘) und der Inhaftnahme an Grenzübergangsstellen.
Rechtssache C-392/22.

Court reports – general – 'Information on unpublished decisions' section

ECLI identifier: ECLI:EU:C:2024:195

 URTEIL DES GERICHTSHOFS (Vierte Kammer)

29. Februar 2024 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Gemeinsame Politik im Bereich Asyl und Einwanderung – Antrag auf internationalen Schutz – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 4 – Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung – Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist – Verordnung (EU) Nr. 604/2013 – Art. 3 Abs. 2 – Umfang der Pflichten des Mitgliedstaats, der den zuständigen Mitgliedstaat um Wiederaufnahme des Antragstellers ersucht hat und den Antragsteller in den letztgenannten Mitgliedstaat überstellen möchte – Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens – Beweismittel und Beweismaßstab für die tatsächliche Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung infolge systemischer Schwachstellen – Praktiken der pauschalen Zurückschiebung (‚pushback‘) und der Inhaftnahme an Grenzübergangsstellen“

In der Rechtssache C‑392/22

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Rechtbank Den Haag, zittingsplaats ’s‑Hertogenbosch (Bezirksgericht Den Haag, Sitzungsort ’s‑Hertogenbosch, Niederlande) mit Entscheidung vom 15. Juni 2022, beim Gerichtshof eingegangen am selben Tag, in dem Verfahren

X

gegen

Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid

erlässt

DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten C. Lycourgos, der Richterin O. Spineanu-Matei (Berichterstatterin), der Richter J.‑C. Bonichot und S. Rodin sowie der Richterin L. S. Rossi,

Generalanwalt: J. Richard de la Tour,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

von X, vertreten durch A. Khalaf, Advocaat,

der niederländischen Regierung, vertreten durch M. K. Bulterman und C. S. Schillemans als Bevollmächtigte,

der belgischen Regierung, vertreten durch M. Jacobs, A. Van Baelen und M. Van Regemorter als Bevollmächtigte,

der tschechischen Regierung, vertreten durch A. Edelmannová, M. Smolek und J. Vláčil als Bevollmächtigte,

der deutschen Regierung, vertreten durch J. Möller und R. Kanitz als Bevollmächtigte,

der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von D. G. Pintus, Avvocato dello Stato,

der österreichischen Regierung, vertreten durch A. Posch und J. Schmoll als Bevollmächtigte,

der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten,

der Europäischen Kommission, zunächst vertreten durch L. Grønfeldt und G. Wils als Bevollmächtigte, dann durch G. Wils als Bevollmächtigten,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 13. Juli 2023

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 3 Abs. 2 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (ABl. 2013, L 180, S. 31, im Folgenden: Dublin‑III‑Verordnung).

2

Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen X und dem Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid (Staatssekretär für Justiz und Sicherheit, Niederlande, im Folgenden: Staatssekretär) über dessen Entscheidung, die Berücksichtigung des von X in den Niederlanden gestellten Antrags auf internationalen Schutz abzulehnen.

Rechtlicher Rahmen

3

Die Erwägungsgründe 3, 20, 32 und 39 der Dublin‑III‑Verordnung lauten:

„(3)

Der Europäische Rat ist auf seiner Sondertagung vom 15. und 16. Oktober 1999 in Tampere übereingekommen, auf ein [Gemeinsames Europäisches Asylsystem (GEAS)] hinzuwirken, das sich auf die uneingeschränkte und umfassende Anwendung des Genfer Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge in der Fassung des New Yorker Protokolls vom 31. Januar 1967 (im Folgenden [Genfer Konvention]) stützt, damit der Grundsatz der Nichtzurückweisung gewahrt bleibt und niemand dorthin zurückgeschickt wird, wo er Verfolgung ausgesetzt ist. In dieser Hinsicht gelten unbeschadet der in dieser Verordnung festgelegten Zuständigkeitskriterien die Mitgliedstaaten, die alle den Grundsatz der Nichtzurückweisung achten, als sichere Staaten für Drittstaatsangehörige.

(20)

Die Inhaftnahme von Antragstellern sollte nach dem Grundsatz erfolgen, wonach eine Person nicht allein deshalb in Haft genommen werden darf, weil sie um internationalen Schutz nachsucht. Die Haft sollte so kurz wie möglich dauern und den Grundsätzen der Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit entsprechen. Insbesondere muss die Inhaftnahme von Antragstellern im Einklang mit Artikel 31 der Genfer Konvention stehen. Die in dieser Verordnung vorgesehenen Verfahren in Bezug auf eine in Haft genommene Person sollten vorrangig schnellstmöglich angewandt werden. Hinsichtlich der allgemeinen Garantien sowie der Bedingungen für die Inhaftnahme sollten die Mitgliedstaaten gegebenenfalls die Bestimmungen der Richtlinie 2013/33/EU [des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen (ABl. 2013, L 180, S. 96)] auch auf Personen anwenden, die aufgrund dieser Verordnung in Haft genommen wurden.

(32)

In Bezug auf die Behandlung von Personen, die unter diese Verordnung fallen, sind die Mitgliedstaaten an ihre Verpflichtungen aus den völkerrechtlichen Instrumenten einschließlich der einschlägigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte gebunden.

(39)

Diese Verordnung steht im Einklang mit den Grundrechten und Grundsätzen, die insbesondere mit der Charta der Grundrechte der Europäischen Union [(im Folgenden: Charta)] anerkannt wurden. Diese Verordnung zielt insbesondere darauf ab, sowohl die uneingeschränkte Wahrung des in Artikel 18 der Charta verankerten Rechts auf Asyl als auch die in ihren Artikeln 1, 4, 7, 24 und 47 anerkannten Rechte zu gewährleisten. Diese Verordnung sollte daher in diesem Sinne angewandt werden.“

4

Art. 3 („Verfahren zur Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz“) der Dublin‑III‑Verordnung bestimmt:

„(1)   Die Mitgliedstaaten prüfen jeden Antrag auf internationalen Schutz, den ein Drittstaatsangehöriger oder Staatenloser im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats einschließlich an der Grenze oder in den Transitzonen stellt. Der Antrag wird von einem einzigen Mitgliedstaat geprüft, der nach den Kriterien des Kapitels III als zuständiger Staat bestimmt wird.

(2)   Lässt sich anhand der Kriterien dieser Verordnung der zuständige Mitgliedstaat nicht bestimmen, so ist der erste Mitgliedstaat, in dem der Antrag auf internationalen Schutz gestellt wurde, für dessen Prüfung zuständig.

Erweist es sich als unmöglich, einen Antragsteller an den zunächst als zuständig bestimmten Mitgliedstaat zu überstellen, da es wesentliche Gründe für die Annahme gibt, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Antragsteller in diesem Mitgliedstaat systemische Schwachstellen aufweisen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Artikels 4 der [Charta] mit sich bringen, so setzt der die Zuständigkeit prüfende [Mitgliedstaat] die Prüfung der in Kapitel III vorgesehenen Kriterien fort, um festzustellen, ob ein anderer Mitgliedstaat als zuständig bestimmt werden kann.

Kann keine Überstellung gemäß diesem Absatz an einen aufgrund der Kriterien des Kapitels III bestimmten Mitgliedstaat oder an den ersten Mitgliedstaat, in dem der Antrag gestellt wurde, vorgenommen werden, so wird der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedstaat der zuständige Mitgliedstaat.

…“

5

Art. 5 Abs. 1 bis 3 der Dublin‑III‑Verordnung sieht vor:

„(1)   Um das Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats zu erleichtern, führt der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedstaat ein persönliches Gespräch mit dem Antragsteller. Dieses Gespräch soll auch das richtige Verständnis der dem Antragsteller gemäß Artikel 4 bereitgestellten Informationen ermöglichen.

(2)   Auf das persönliche Gespräch darf verzichtet werden, wenn

b)

der Antragsteller, nachdem er die in Artikel 4 genannten Informationen erhalten hat, bereits die sachdienlichen Angaben gemacht hat, so dass der zuständige Mitgliedstaat auf andere Weise bestimmt werden kann. Der Mitgliedstaat, der auf das Gespräch verzichtet, gibt dem Antragsteller Gelegenheit, alle weiteren sachdienlichen Informationen vorzulegen, die für die ordnungsgemäße Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats von Bedeutung sind, bevor eine Entscheidung über die Überstellung des Antragstellers in den nach Artikel 26 Absatz 1 zuständigen Mitgliedstaat ergeht.

(3)   Das persönliche Gespräch wird zeitnah geführt, in jedem Fall aber, bevor über die Überstellung des Antragstellers in den zuständigen Mitgliedstaat gemäß Artikel 26 Absatz 1 entschieden wird.“

6

Art. 21 der Dublin‑III‑Verordnung bestimmt:

„(1)   Hält der Mitgliedstaat, in dem ein Antrag auf internationalen Schutz gestellt wurde, einen anderen Mitgliedstaat für die Prüfung des Antrags für zuständig, so kann er so bald wie möglich, auf jeden Fall aber innerhalb von drei Monaten nach Antragstellung im Sinne von Artikel 20 Absatz 2, diesen anderen Mitgliedstaat ersuchen, den Antragsteller aufzunehmen.

(3)   In den Fällen im Sinne der Unterabsätze 1 und 2 ist für das Gesuch um Aufnahme durch einen anderen Mitgliedstaat ein Formblatt zu verwenden, das Beweismittel oder Indizien gemäß den beiden in Artikel 22 Absatz 3 genannten Verzeichnissen und/oder sachdienliche Angaben aus der Erklärung des Antragstellers enthalten muss, anhand deren die Behörden des ersuchten Mitgliedstaats prüfen können, ob ihr Staat gemäß den in dieser Verordnung definierten Kriterien zuständig ist.

…“

7

Art. 22 der Dublin‑III‑Verordnung sieht vor:

„…

(2)   In dem Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats werden Beweismittel und Indizien verwendet.

(3)   Die [Europäische] Kommission legt im Wege von Durchführungsrechtsakten die Erstellung und regelmäßige Überprüfung zweier Verzeichnisse, in denen die sachdienlichen Beweismittel und Indizien gemäß den in den Buchstaben a und b dieses Artikels festgelegten Kriterien aufgeführt sind, fest. …

b) Indizien:

i)

Hierunter fallen einzelne Anhaltspunkte, die, obwohl sie anfechtbar sind, in einigen Fällen nach der ihnen zugebilligten Beweiskraft ausreichen können;

(4)   Das Beweiserfordernis sollte nicht über das für die ordnungsgemäße Anwendung dieser Verordnung erforderliche Maß hinausgehen.

(5)   Liegen keine förmlichen Beweismittel vor, erkennt der ersuchte Mitgliedstaat seine Zuständigkeit an, wenn die Indizien kohärent, nachprüfbar und hinreichend detailliert sind, um die Zuständigkeit zu begründen.

…“

Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen

8

X ist syrischer Staatsangehöriger. Am 9. November 2021 beantragte er in Polen internationalen Schutz.

9

Am 21. November 2021 reiste er dann in die Niederlande ein und beantragte am darauffolgenden Tag in diesem Mitgliedstaat erneut internationalen Schutz.

10

Am 20. Januar 2022 ersuchte das Königreich der Niederlande die Republik Polen um die Wiederaufnahme von X auf der Grundlage von Art. 18 Abs. 1 Buchst. b der Dublin‑III‑Verordnung. Am 1. Februar 2022 kam der letztgenannte Mitgliedstaat diesem Gesuch gemäß Art. 18 Abs. 1 Buchst. c dieser Verordnung nach.

11

Mit Entscheidung vom 20. April 2022 ließ der Staatssekretär den von X in den Niederlanden gestellten Antrag auf internationalen Schutz unberücksichtigt, weil die Republik Polen für die Prüfung dieses Antrags zuständig sei, und wies die von X gegen seine Überstellung vorgebrachten Argumente zurück.

12

X befasste die Rechtbank Den Haag, zittingsplaats ’s‑Hertogenbosch (Bezirksgericht Den Haag, Sitzungsort ’s‑Hertogenbosch, Niederlande), das vorlegende Gericht, mit einer auf Untersagung seiner Überstellung nach Polen gerichteten Klage gegen diese Entscheidung. Zugleich beantragte er, seine Überstellung bis zur endgültigen Entscheidung über diese Klage zu untersagen. Diesem Antrag wurde stattgegeben.

13

Nach Angaben des vorlegenden Gerichts hat X im Rahmen seiner Klage erstens geltend gemacht, dass die polnischen Behörden seine Grundrechte verletzt hätten.

14

Insoweit werden in der Vorlageentscheidung seine Behauptungen angeführt, wonach er dreimal nach seiner Einreise in polnisches Hoheitsgebiet im Wege eines „Pushbacks“ nach Belarus zurückgeschoben worden sei. Zusammen mit zwei Mitgliedern seiner Familie sei ihm schließlich am 7. November 2021 die Einreise nach Polen gelungen. Er sei im Wald geblieben, bis er aufgegriffen und Grenzschützern übergeben worden sei. Während dieses Aufenthalts im Wald seien seine Lebensbedingungen unerträglich geworden. Angesichts seiner drohenden Zurückweisung nach Belarus und auf Anraten einer Organisation habe er in die Abgabe seiner Fingerabdrücke eingewilligt, ohne zu wissen, dass dies einem Antrag auf internationalen Schutz gleichkomme. Dabei habe er Dokumente in polnischer Sprache und ein Dokument in arabischer Sprache mit Erläuterungen zur Dublin‑III‑Verordnung, jedoch nicht die Hilfe eines Dolmetschers erhalten. X habe erklärt, dass er sodann wie alle anderen Personen, die internationalen Schutz beantragt hätten, ungefähr eine Woche lang im Grenzschutzzentrum festgehalten worden sei, wo seine Behandlung insbesondere wegen mangelnder Verpflegung und des Fehlens jeglicher ärztlichen Kontrolle sehr schlecht gewesen sei. Bei den polnischen Behörden habe er sich über diese schlechte Behandlung nicht beschwert, weil es gerade diese Behörden selbst gewesen seien, die ihm diese Behandlung hätten zuteilwerden lassen.

15

X habe angegeben, zu befürchten, dass seine Grundrechte erneut verletzt würden, wenn er nach Polen überstellt werde.

16

Zweitens mache X geltend, dass die polnischen Gerichte nicht unabhängig seien.

17

X habe seine Behauptungen durch eigene Erklärungen sowie mit Berichten von Nichtregierungsorganisationen untermauert, die die Situation von Drittstaatsangehörigen und Personen, die Gegenstand einer Überstellungsentscheidung nach der Dublin‑III‑Verordnung seien, in Polen beträfen. Ferner habe er Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und nationaler Gerichte angeführt.

18

Gestützt auf von ihm zitierte Berichte aus glaubwürdigen Quellen und auf amtliche Dokumente verweist das vorlegende Gericht auf die Haltung mehrerer Mitgliedstaaten, die darin bestehe, Drittstaatsangehörige an der Einreise in ihr Hoheitsgebiet zu hindern, und auf Erklärungen, an denen alle Mitgliedstaaten beteiligt seien und die darauf abzielten, die Einreise in ihr Hoheitsgebiet zu verhindern. Es bestehe ein Widerspruch zwischen dieser Haltung und diesen Erklärungen einerseits und den Verpflichtungen der Mitgliedstaaten aus der Genfer Konvention, der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten und der Charta andererseits, deren Beachtung dem Gemeinsamen Europäischen Asylsystem zugrunde liege. Konkret zielt das vorlegende Gericht insbesondere auf die Praxis pauschaler Zurückschiebungen an den Grenzen ab.

19

Eine solche Praxis verstoße gegen die Pflicht zur Bearbeitung jedes Antrags auf internationalen Schutz und untergrabe den Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens und das Funktionieren dieses Systems, u. a. weil sie Drittstaatsangehörige dazu verleite, die Mitgliedstaaten, die sie anwendeten, zu umgehen.

20

Im vorliegenden Fall ist das vorlegende Gericht der Ansicht, dass objektive, zuverlässige, genaue und gebührend aktualisierte Informationen zeigten, dass die Republik Polen seit mehreren Jahren systematisch und wiederholt verschiedene Grundrechte von Drittstaatsangehörigen verletzt habe, indem sie, regelmäßig verbunden mit der Anwendung von Gewalt, pauschale Zurückschiebungen vorgenommen habe und indem sie Drittstaatsangehörige, die illegal in ihr Hoheitsgebiet einreisten, systematisch und unter „erbärmlichen“ Umständen inhaftiert habe.

21

Die Erklärungen von X betreffend seine pauschalen Zurückschiebungen, deren Glaubwürdigkeit der Staatssekretär nicht in Zweifel gezogen habe, stimmten mit diesen Informationen überein.

22

Das vorlegende Gericht fragt sich, ob die zuständige Behörde in dem Fall, dass es in einem Mitgliedstaat in Bezug auf einen Antragsteller oder auf Drittstaatsangehörige im Allgemeinen zu systemischen Grundrechtsverletzungen kommt, davon absehen müsse, eine Entscheidung über die Überstellung in diesen Mitgliedstaat zu treffen, oder ob der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens weiterhin in vollem Umfang gelte.

23

Für den Fall, dass eine Überstellungsentscheidung getroffen werden kann, fragt sich das vorlegende Gericht, ob sich der ersuchende Mitgliedstaat in einer Situation, in der der zuständige Mitgliedstaat systematisch und allgemein gegen die Rechte von Drittstaatsangehörigen verstößt, für die Beurteilung der Situation des Antragstellers nach seiner Überstellung im Hinblick auf Art. 3 Abs. 2 der Dublin‑III‑Verordnung gleichwohl auf den Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens stützen könne.

24

Aus Rn. 82 des Urteils vom 19. März 2019, Jawo (C‑163/17, EU:C:2019:218), und aus dem 32. Erwägungsgrund der Dublin‑III‑Verordnung gehe hervor, dass die Erfüllung der Verpflichtungen eines Mitgliedstaats aus dem Gemeinsamen Europäischen Asylsystem weder auf den Zeitraum nach der Überstellung eines Antragstellers noch auf Art. 4 der Charta beschränkt sei.

25

Das vorlegende Gericht ist im Übrigen der Ansicht, dass für den Fall, dass sich der ersuchende Mitgliedstaat nicht auf den Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens berufen könne, Anpassungen hinsichtlich der Beweislast denkbar wären.

26

Konkret erwägt das vorlegende Gericht im Fall einer systematischen und allgemeinen Verletzung von Grundrechten – auch über die in Art. 4 der Charta garantierten hinaus – durch einen Mitgliedstaat eine Senkung des Maßstabs der vom Antragsteller verlangten Beweise zum einen hinsichtlich seiner Aussagen zu Grundrechtsverletzungen und zum anderen hinsichtlich der potenziellen Gefahren im Fall einer Überstellung. Es zieht insoweit sogar eine Umkehr der Beweislast in Betracht. Der ersuchende Mitgliedstaat könne daher verpflichtet sein, alle ernsthaften Zweifel hinsichtlich der im Hinblick auf diesen Antragsteller im Fall der Überstellung bestehenden tatsächlichen Gefahr einer Verletzung von Art. 4 der Charta oder sogar aller seiner Grundrechte in Analogie zu Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. 2011, L 337, S. 9) betreffend die im Herkunftsland bestehenden Risiken auszuräumen.

27

Außerdem könne der ersuchende Mitgliedstaat möglicherweise von den Behörden des zuständigen Mitgliedstaats individuelle Garantien in Bezug auf angemessene Aufnahmebedingungen und die Fortsetzung des Asylverfahrens sowie darauf, dass keine Inhaftierung ohne Rechtsgrundlage erfolgt, verlangen, und sogar die Einhaltung der erlangten Garantien überwachen.

28

Schließlich stellt das vorlegende Gericht fest, dass der Antragsteller plausibel darlege, dass er im Fall einer etwaigen Überstellung keine wirksame Möglichkeit habe, im Fall einer Verletzung seiner Grundrechte einen Rechtsbehelf einzulegen, und fragt sich, welche Folgen sich daraus ergäben.

29

Unter diesen Umständen hat die Rechtbank Den Haag, zittingsplaats ’s‑Hertogenbosch (Bezirksgericht Den Haag, Sitzungsort ’s‑Hertogenbosch) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.

Ist die Dublin‑III‑Verordnung angesichts ihrer Erwägungsgründe 3, 32 und 39 in Verbindung mit den Art. 1, 4, 18, 19 und 47 der Charta dahin auszulegen und anzuwenden, dass der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten nicht teilbar ist, so dass schwerwiegende und systematische Verstöße gegen das Unionsrecht, die vom eventuell zuständigen Mitgliedstaat vor der Überstellung gegenüber Drittstaatsangehörigen begangen werden, die (noch) keine Dublin-Rückkehrer sind, der Überstellung an diesen Mitgliedstaat absolut entgegenstehen?

2.

Bei Verneinung der ersten Frage: Ist Art. 3 Abs. 2 der Dublin‑III‑Verordnung in Verbindung mit den Art. 1, 4, 18, 19 und 47 der Charta dahin auszulegen, dass, wenn der eventuell zuständige Mitgliedstaat das Unionsrecht auf schwerwiegende und systematische Weise verletzt, der überstellende Mitgliedstaat im Rahmen dieser Verordnung nicht ohne Weiteres vom Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten ausgehen darf, sondern alle Zweifel daran beseitigen muss, dass der Antragsteller nach seiner Überstellung nicht in eine Situation geraten wird, die Art. 4 der Charta widerspricht, bzw. glaubhaft machen muss, dass dies nicht geschehen wird?

3.

Mit welchen Beweismitteln kann der Antragsteller seine Argumente, dass Art. 3 Abs. 2 der Dublin‑III‑Verordnung seiner Überstellung entgegensteht, untermauern, und welcher Beweismaßstab ist dabei anzuwenden? Hat der überstellende Mitgliedstaat angesichts der Verweise auf den unionsrechtlichen Besitzstand in den Erwägungsgründen dieser Verordnung eine Pflicht zur Zusammenarbeit und/oder eine Vergewisserungspflicht bzw. müssen bei schwerwiegenden und systematischen Grundrechtsverstößen gegenüber Drittstaatsangehörigen individuelle Garantien vom zuständigen Mitgliedstaat eingeholt werden, dass die Grundrechte des Antragstellers nach der Überstellung beachtet werden? Fällt die Antwort auf diese Frage anders aus, wenn sich der Antragsteller in Beweisnot befindet, sofern er seine konsistenten und detaillierten Erklärungen nicht mit Dokumenten belegen kann, während dies angesichts der Art der Erklärungen nicht von ihm erwartet werden kann?

4.

Fällt die Antwort auf die dritte Frage anders aus, wenn der Antragsteller glaubhaft macht, dass Beschwerden bei den Behörden und/oder die Einlegung von Rechtsbehelfen im zuständigen Mitgliedstaat nicht möglich und/oder nicht wirksam sind?

Zum Antrag auf Durchführung des beschleunigten Verfahrens

30

Das vorlegende Gericht hat beantragt, das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen gemäß Art. 105 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs einem beschleunigten Verfahren zu unterwerfen.

31

Das vorlegende Gericht führt aus, es habe eine einstweilige Maßnahme angeordnet, mit der es die Überstellung des Antragstellers nach Polen bis zur Entscheidung über die Rechtmäßigkeit der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Überstellungsentscheidung durch eine rechtskräftige gerichtliche Entscheidung untersagt habe, macht aber geltend, dass das Ausgangsverfahren eine wichtige Problematik aufwerfe, die die Grundsätze des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems betreffe, nämlich die Problematik im Zusammenhang mit den Praktiken der pauschalen Zurückschiebung und der Inhaftnahme an den Grenzübergangsstellen von Drittstaatsangehörigen, die in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten eingereist seien, um einen Antrag auf internationalen Schutz zu stellen. Im Übrigen seien die nationalen Gerichte zunehmend mit dieser Problematik konfrontiert, so dass der Nutzen der zu treffenden Vorabentscheidung über den Rahmen des vorliegenden Ausgangsverfahrens hinausgehe. Daher rechtfertige es die Art des vorliegenden Vorabentscheidungsersuchens, dieses einem beschleunigten Verfahren zu unterwerfen.

32

Art. 105 Abs. 1 der Verfahrensordnung sieht vor, dass der Präsident des Gerichtshofs auf Antrag des vorlegenden Gerichts oder ausnahmsweise von Amts wegen, nach Anhörung des Berichterstatters und des Generalanwalts, entscheiden kann, eine Vorlage zur Vorabentscheidung einem beschleunigten Verfahren zu unterwerfen, wenn die Art der Rechtssache ihre rasche Erledigung erfordert.

33

Im vorliegenden Fall hat der Präsident des Gerichtshofs am 19. Juli 2022 nach Anhörung des Berichterstatters und des Generalanwalts entschieden, den oben in Rn. 30 angeführten Antrag des vorlegenden Gerichts zurückzuweisen.

34

Nach ständiger Rechtsprechung hängt die Anwendung des beschleunigten Vorabentscheidungsverfahrens nämlich nicht von der Art des Rechtsstreits im Ausgangsverfahren als solcher ab, sondern von den der betreffenden Rechtssache eigenen besonderen Umständen, aus denen sich die außerordentliche Dringlichkeit der Entscheidung über die Vorlagefragen ergeben muss (Urteil vom 31. Januar 2023, Puig Gordi u. a., C‑158/21, EU:C:2023:57, Rn. 27 und die dort angeführte Rechtsprechung).

35

Der Umstand, dass die Rechtssache einen oder mehrere wichtige Aspekte des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems betrifft, stellt keinen Grund dar, aus dem sich eine außerordentliche Dringlichkeit ergibt, die indes erforderlich ist, um eine Behandlung im beschleunigten Verfahren zu rechtfertigen. Das Gleiche gilt für den Umstand, dass von den Vorlagefragen potenziell eine große Zahl von Personen betroffen ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. Dezember 2021, Randstad Italia, C‑497/20, EU:C:2021:1037, Rn. 39 und die dort angeführte Rechtsprechung).

Zum Antrag auf Verweisung der Rechtssache an die Große Kammer und auf Eröffnung des mündlichen Verfahrens

36

Nach der Verlesung der Schlussanträge am 13. Juli 2023 hat der Kläger des Ausgangsverfahrens mit Schreiben vom 16. August 2023 angeregt, das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen an die Große Kammer zu verweisen, und für den Fall einer solchen Verweisung die Eröffnung des mündlichen Verfahrens vorgeschlagen.

37

Diese Anträge sind mit Entscheidung des Präsidenten der Vierten Kammer vom 23. August 2023 zurückgewiesen worden.

38

Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass es nach Art. 60 Abs. 1 der Verfahrensordnung Sache des Gerichtshofs ist, zu entscheiden, an welchen Spruchkörper eine Rechtssache zu verweisen ist, vorbehaltlich einer gemäß Art. 16 Abs. 3 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union von einem am Verfahren beteiligten Mitgliedstaat oder Unionsorgan beantragten Verweisung an die Große Kammer. Außerdem ist es nach Art. 60 Abs. 3 der Verfahrensordnung allein Sache des Spruchkörpers, an den eine Rechtssache verwiesen worden ist, beim Gerichtshof anzuregen, die Rechtssache an einen größeren Spruchkörper zu verweisen.

39

Im vorliegenden Fall wurde die Verweisung an die Große Kammer jedoch vom Kläger des Ausgangsverfahrens angeregt, und es liegen keine Anhaltspunkte vor, die die Verweisung an einen größeren Spruchkörper rechtfertigen würden. Unter diesen Umständen braucht der Vorschlag des Klägers des Ausgangsverfahrens, für den Fall, dass die Rechtssache an die Große Kammer verwiesen würde, das mündliche Verfahren zu eröffnen, nicht geprüft zu werden. Die Voraussetzungen für die Anwendung von Art. 76 Abs. 2 der Verfahrensordnung sind jedenfalls erfüllt, da der Gerichtshof ausreichend unterrichtet ist, um eine Entscheidung zu erlassen.

Zu den Vorlagefragen

Zur ersten und zur zweiten Frage

40

Vorab ist darauf hinzuweisen, dass das vorlegende Gericht mit seinen ersten beiden Fragen, die zusammen zu prüfen sind, wissen möchte, wie die Dublin‑III‑Verordnung, insbesondere ihr Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2, im Fall schwerwiegender und systematischer Verstöße gegen das Unionsrecht auszulegen ist, die der für die Prüfung des Antrags eines Drittstaatsangehörigen auf internationalen Schutz zuständige Mitgliedstaat vor dessen etwaiger Überstellung an diesen Mitgliedstaat gegenüber Drittstaatsangehörigen begangen hat. Insbesondere fragt es sich, ob solche Verstöße geeignet sind, die Anwendung des Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten derart in Frage zu stellen, dass sie einer solchen Überstellung entgegenstehen würden, oder ob sie zumindest implizieren, dass sich der ersuchende Mitgliedstaat, der die Überstellung vornehmen möchte, vergewissert, dass die betreffende Person, die internationalen Schutz beantragt, im Fall ihrer Überstellung nicht der Gefahr einer gegen Art. 4 der Charta verstoßenden Behandlung ausgesetzt sein wird.

41

Aus der Vorlageentscheidung geht hervor, dass diese Fragen eine Situation betreffen, in der ein Antragsteller geltend macht, der zuständige Mitgliedstaat wende gegenüber Drittstaatsangehörigen, die einen Antrag auf internationalen Schutz stellen wollten, pauschale Zurückschiebungen („pushbacks“) an seinen Außengrenzen sowie Inhaftierungen an seinen Grenzübergangsstellen an, und dass der Kläger des Ausgangsverfahrens selbst solchen Praktiken ausgesetzt gewesen sein soll.

42

Daher ist davon auszugehen, dass das vorlegende Gericht mit seinen ersten beiden Fragen im Wesentlichen wissen möchte, ob Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 der Dublin‑III‑Verordnung dahin auszulegen ist, dass die Tatsache, dass der für die Prüfung des Antrags eines Drittstaatsangehörigen auf internationalen Schutz zuständige Mitgliedstaat gegenüber Drittstaatsangehörigen, die einen solchen Antrag an seiner Grenze stellen möchten, pauschale Zurückschiebungen und Inhaftnahmen an seinen Grenzübergangsstellen anwendet, der Überstellung dieses Drittstaatsangehörigen in diesen Mitgliedstaat entgegensteht.

43

Es ist darauf hinzuweisen, dass das Unionsrecht auf der grundlegenden Prämisse beruht, dass jeder Mitgliedstaat mit allen anderen Mitgliedstaaten eine Reihe gemeinsamer Werte teilt – und anerkennt, dass sie sie mit ihm teilen –, auf die sich, wie es in Art. 2 EUV heißt, die Union gründet. Diese Prämisse impliziert und rechtfertigt die Existenz gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten bei der Anerkennung dieser Werte und damit bei der Beachtung des Unionsrechts, mit dem sie umgesetzt werden, und gegenseitigen Vertrauens darauf, dass die nationalen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten in der Lage sind, einen gleichwertigen und wirksamen Schutz der Grundrechte zu bieten, die in der Charta, insbesondere in den Art. 1 und 4, in denen einer der Grundwerte der Union und ihrer Mitgliedstaaten – die Würde des Menschen, die insbesondere das Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung umfasst – verankert ist, anerkannt sind (Urteil vom 30. November 2023, Ministero dell’Interno u. a. [Gemeinsames Merkblatt – Mittelbare Zurückweisung], C‑228/21, C‑254/21, C‑297/21, C‑315/21 und C‑328/21, EU:C:2023:934, Rn. 130 und die dort angeführte Rechtsprechung).

44

Der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten hat im Unionsrecht fundamentale Bedeutung, da er die Schaffung und Aufrechterhaltung eines Raums ohne Binnengrenzen ermöglicht. Konkret verlangt der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens, namentlich in Bezug auf den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, von jedem Mitgliedstaat, dass er, abgesehen von außergewöhnlichen Umständen, davon ausgeht, dass alle anderen Mitgliedstaaten das Unionsrecht und insbesondere die dort anerkannten Grundrechte beachten (Urteil vom 19. März 2019, Jawo, C‑163/17, EU:C:2019:218, Rn. 81 und die dort angeführte Rechtsprechung).

45

Folglich muss im Kontext des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems und insbesondere der Dublin‑III‑Verordnung die Vermutung gelten, dass die Behandlung der Personen, die einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt haben, in jedem einzelnen Mitgliedstaat in Einklang mit den Erfordernissen der Charta, der Genfer Konvention und der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten steht (Urteil vom 19. März 2019, Jawo, C‑163/17, EU:C:2019:218, Rn. 82 und die dort angeführte Rechtsprechung).

46

Allerdings kann nicht ausgeschlossen werden, dass dieses System in der Praxis auf größere Funktionsstörungen in einem bestimmten Mitgliedstaat stößt, so dass ein ernsthaftes Risiko besteht, dass Personen, die internationalen Schutz beantragen, bei einer Überstellung in diesen Mitgliedstaat in einer Weise behandelt werden, die mit ihren Grundrechten unvereinbar ist (Urteil vom 19. März 2019, Jawo, C‑163/17, EU:C:2019:218, Rn. 83 und die dort angeführte Rechtsprechung).

47

Gemäß Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 der Dublin‑III‑Verordnung darf eine Person, die internationalen Schutz beantragt, nicht an den für die Prüfung ihres Antrags zuständigen Mitgliedstaat überstellt werden, wenn es wesentliche Gründe für die Annahme gibt, dass ihr aufgrund von systemischen Schwachstellen im Asylverfahren und in den Aufnahmebedingungen für Personen, die internationalen Schutz beantragen, in diesem Mitgliedstaat eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta droht.

48

Im vorliegenden Fall beruft sich der Kläger des Ausgangsverfahrens darauf, dass es systemische Schwachstellen in den Aufnahmebedingungen im zuständigen Mitgliedstaat gebe, bestehend aus pauschalen Zurückschiebungen an den Außengrenzen und Inhaftnahmen an Grenzübergangsstellen von Drittstaatsangehörigen, die einen Antrag auf internationalen Schutz hätten stellen wollen oder denen es gelungen sei, einen solchen Antrag zu stellen, aber auch darauf, dass es systemische Schwachstellen im Asylverfahren gebe, da die pauschale Zurückschiebung eines Drittstaatsangehörigen ein Hindernis für die Einleitung dieses Verfahrens darstelle.

49

Das vorlegende Gericht ist der Auffassung, dass die Realität dieser Praktiken durch objektive, zuverlässige, genaue und gebührend aktualisierte Informationen belegt sei.

50

Was erstens Praktiken der pauschalen Zurückschiebungen an den Außengrenzen der Union betrifft, die darauf hinauslaufen, Personen, die einen Antrag auf internationalen Schutz stellen wollen, aus dem Unionsgebiet zu entfernen, oder Personen, die einen solchen Antrag bei der Einreise in das Unionsgebiet gestellt haben, aus diesem Gebiet zu entfernen, bevor dieser Antrag Gegenstand der in den Rechtsvorschriften der Union vorgesehenen Prüfung war, ist festzustellen, dass sie gegen Art. 6 der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes (ABl. 2013, L 180, S. 60) verstoßen.

51

Diese Bestimmung, die den Zugang zum Verfahren für die Zuerkennung des internationalen Schutzes betrifft, stellt eine der Grundlagen des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems dar und gehört zu den Rechtsvorschriften der Union, die das in Art. 18 der Charta verankerte Grundrecht auf Anerkennung als Person mit Anspruch auf internationalen Schutz, sofern die entsprechenden unionsrechtlichen Voraussetzungen erfüllt sind, konkretisieren (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 14. Mai 2020, Országos Idegenrendészeti Főigazgatóság Dél-alföldi Regionális Igazgatóság, C‑924/19 PPU und C‑925/19 PPU, EU:C:2020:367, Rn. 192). Diese Bestimmung impliziert, dass jeder Drittstaatsangehörige oder Staatenlose das Recht hat, einen Antrag auf internationalen Schutz zu stellen – auch an den Grenzen eines Mitgliedstaats –, indem er bei einer der in der Bestimmung genannten Behörden seine Absicht bekundet, internationalen Schutz in Anspruch zu nehmen. Dieses Recht ist ihm auch zuzuerkennen, wenn er sich illegal im Hoheitsgebiet aufhält und ohne dass es auf die Erfolgsaussichten eines solchen Antrags ankommt (Urteil vom 22. Juni 2023, Kommission/Ungarn [Absichtserklärung im Vorfeld eines Asylantrags], C‑823/21, EU:C:2023:504, Rn. 43 und die dort angeführte Rechtsprechung).

52

Wie der Generalanwalt in den Nrn. 31 und 32 seiner Schlussanträge im Wesentlichen ausgeführt hat, beeinträchtigt aber eine Praxis pauschaler Zurückschiebungen dieses grundlegende Element des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems, da sie die Ausübung des Rechts, einen Antrag auf internationalen Schutz zu stellen, und folglich den Ablauf des in der Stellung und Prüfung eines solchen Antrags bestehenden Verfahrens nach den in den Rechtsvorschriften der Union vorgesehenen Modalitäten verhindert.

53

Eine Praxis pauschaler Zurückschiebungen, die in jedem Fall gegen Art. 6 der Richtlinie 2013/32 verstößt, kann darüber hinaus den Grundsatz der Nichtzurückweisung verletzen. Wie aus dem dritten Erwägungsgrund der Dublin‑III‑Verordnung hervorgeht, ist dieser Grundsatz, wonach niemand dorthin zurückgeschickt werden darf, wo er Verfolgung ausgesetzt ist, als Grundrecht in Art. 18 der Charta in Verbindung mit Art. 33 der Genfer Konvention sowie in Art. 19 Abs. 2 der Charta gewährleistet (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. November 2022, Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid [Abschiebung – Medizinisches Cannabis], C‑69/21, EU:C:2022:913, Rn. 55). Eine Praxis pauschaler Zurückschiebungen verstößt daher nur dann gegen diesen Grundsatz, wenn sie darin besteht, Personen, die in der Union einen Antrag auf internationalen Schutz stellen möchten, in ein Drittland zurückzuschicken, in dessen Hoheitsgebiet sie der oben genannten Gefahr ausgesetzt sind.

54

Was zweitens die Praxis der Inhaftnahme an Grenzübergangsstellen betrifft, wird im 15. Erwägungsgrund der Richtlinie 2013/33 sowie im 20. Erwägungsgrund der Dublin‑III‑Verordnung auf den Grundsatz hingewiesen, wonach eine Person nicht allein deshalb in Haft genommen werden darf, weil sie um internationalen Schutz nachsucht.

55

Angesichts der Schwere des aus einer Inhaftierung folgenden Eingriffs in das Recht auf Freiheit und der Bedeutung dieses Rechts ist die den zuständigen nationalen Behörden zuerkannte Befugnis, Drittstaatsangehörige in Haft zu nehmen, eng begrenzt. Daher kann eine Inhaftierung nur unter Beachtung der allgemeinen und abstrakten Regeln, die deren Voraussetzungen und Modalitäten festlegen, angeordnet oder verlängert werden (Urteil vom 8. November 2022, Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid [Von Amts wegen erfolgende Prüfung der Haft], C‑704/20 und C‑39/21, EU:C:2022:858, Rn. 75 und die dort angeführte Rechtsprechung).

56

Außerdem kann ein Drittstaatsangehöriger im Rahmen des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems nicht in Haft genommen werden, wenn eine weniger intensive Zwangsmaßnahme wirksam angewandt werden kann (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 8. November 2022, Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid [Von Amts wegen erfolgende Prüfung der Haft], C‑704/20 und C‑39/21, EU:C:2022:858, Rn. 78).

57

Aus den vorstehenden Erwägungen ergibt sich, dass Praktiken der pauschalen Zurückschiebung und der Inhaftnahme an Grenzübergangsstellen, wie sie im vorliegenden Fall festgestellt wurden, mit dem Unionsrecht unvereinbar sind und gravierende Schwachstellen im Asylverfahren und in den Aufnahmebedingungen für Antragsteller darstellen. Daraus folgt jedoch nicht zwangsläufig, dass diese Schwachstellen die beiden in Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 der Dublin‑III‑Verordnung genannten kumulativen Voraussetzungen erfüllen, die vorliegen müssen, damit die Überstellung einer Person, die internationalen Schutz beantragt, in den Mitgliedstaat, in dem diese Praktiken bestehen, verhindert wird.

58

Nach dieser Bestimmung machen nur „systemische“ Schwachstellen, die „eine Gefahr einer unmenschlichen oder [erniedrigenden] Behandlung im Sinne des Artikels 4 der [Charta] mit sich bringen“, eine solche Überstellung unmöglich.

59

Im vorliegenden Fall wird das vorlegende Gericht in Bezug auf die erste dieser beiden Voraussetzungen zu prüfen haben, ob die festgestellten Schwachstellen in Polen immer noch vorhanden sind und ob sie allgemein das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen betreffen, die für Personen gelten, die internationalen Schutz beantragen, oder zumindest für bestimmte Personen, die internationalen Schutz beantragen, wie beispielsweise die Gruppe von Personen, die internationalen Schutz suchen, nachdem sie die Grenze zwischen Polen und Belarus überschritten haben oder diese Grenze zu überschreiten versucht haben.

60

Sollte sich herausstellen, dass dies der Fall ist, könnten diese Mängel im Hinblick auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs, nach der bestimmte Personengruppen betreffende Schwachstellen systemischen Schwachstellen gleichgesetzt werden können, als „systemisch“ eingestuft werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. März 2019, Jawo, C‑163/17, EU:C:2019:218, Rn. 90).

61

Andernfalls wäre festzustellen, dass die erste in Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 der Dublin‑III‑Verordnung genannte Voraussetzung im vorliegenden Fall nicht erfüllt ist. Diese Bestimmung stünde dann der Überstellung des Antragstellers in den zuständigen Mitgliedstaat nicht entgegen.

62

Was die zweite Voraussetzung betrifft, die das Vorliegen einer Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta betrifft, die sich aus den systemischen Schwachstellen im Asylverfahren und in den Aufnahmebedingungen für Antragsteller ergibt, ist es Sache des vorlegenden Gerichts, zu beurteilen, ob systemische Schwachstellen die Gefahr mit sich bringen, dass der Betroffene einer gegen Art. 4 der Charta verstoßenden Behandlung ausgesetzt wird.

63

Insoweit wird es zum einen zu prüfen haben, ob es ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme gibt, dass der Kläger des Ausgangsverfahrens im Fall einer Überstellung tatsächlich Gefahr liefe, erneut an die Grenze zwischen Polen und Belarus verbracht und dort, gegebenenfalls nach einer Inhaftnahme an einer Grenzübergangsstelle, im Wege eines Pushbacks nach Belarus zurückgeschoben zu werden, und zum anderen, ob solche Maßnahmen oder Praktiken ihn einer Situation extremer materieller Not aussetzen würden, die es ihm nicht erlaubte, seine elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die seine physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigte oder ihn in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre und ihn damit in eine solch schwerwiegende Lage versetzt, dass sie einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung gleichgestellt werden kann (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. März 2019, Jawo, C‑163/17, EU:C:2019:218, Rn. 85 und 87 sowie 91 bis 93).

64

Bei dieser Beurteilung ist die Situation zu berücksichtigen, in der sich der betreffende Antragsteller bei der Überstellung oder nach der Überstellung in den zuständigen Mitgliedstaat zu befinden droht (vgl. entsprechend Urteile vom 19. März 2019, Jawo, C‑163/17, EU:C:2019:218, Rn. 85, 87 und 88, sowie vom 30. November 2023, Ministero dell’Interno u. a. [Gemeinsames Merkblatt – Mittelbare Zurückweisung], C‑228/21, C‑254/21, C‑297/21, C‑315/21 und C‑328/21, EU:C:2023:934, Rn. 134 und 135), und nicht diejenige, in der er sich befand, als er ursprünglich in das Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats einreiste.

65

Nach alledem ist auf die erste und die zweite Frage zu antworten, dass Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 der Dublin‑III‑Verordnung dahin auszulegen ist, dass die Tatsache, dass der für die Prüfung des Antrags eines Drittstaatsangehörigen auf internationalen Schutz zuständige Mitgliedstaat gegenüber Drittstaatsangehörigen, die einen solchen Antrag an seiner Grenze stellen möchten, pauschale Zurückschiebungen und Inhaftnahmen an seinen Grenzübergangsstellen anwendet, der Überstellung dieses Drittstaatsangehörigen in diesen Mitgliedstaat für sich genommen nicht entgegensteht. Die Überstellung des Drittstaatsangehörigen in diesen Mitgliedstaat ist jedoch ausgeschlossen, wenn es ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme gibt, dass er bei oder nach der Überstellung tatsächlich Gefahr liefe, solchen Praktiken unterworfen zu werden, und dass diese Praktiken je nach den Umständen, die von den zuständigen Behörden und dem gegebenenfalls mit einem Rechtsbehelf gegen die Überstellungsentscheidung befassten Gericht zu beurteilen sind, geeignet sind, ihn in eine Situation extremer materieller Not zu versetzen, die so schwerwiegend ist, dass sie einer nach Art. 4 der Charta verbotenen unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung gleichgestellt werden kann.

Zur dritten Frage

66

Mit seiner dritten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 3 Abs. 2 der Dublin‑III‑Verordnung im Licht von Art. 4 der Charta dahin auszulegen ist, dass ein Mitgliedstaat, der um Wiederaufnahme einer Person, die internationalen Schutz beantragt hat, durch den zuständigen Mitgliedstaat ersucht hat und diese Person in diesen letztgenannten Mitgliedstaat überstellen möchte, alle ihm von diesem Antragsteller zur Verfügung gestellten Informationen berücksichtigen muss, insbesondere in Bezug auf das etwaige Bestehen einer tatsächlichen Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung bei oder nach der Überstellung, dass er bei der Feststellung der Tatsachen mitwirken und/oder deren Richtigkeit prüfen muss und dass er schließlich im Fall schwerwiegender und systematischer Verletzungen der Grundrechte von Drittstaatsangehörigen im zuständigen Mitgliedstaat von diesem verlangen muss, individuelle Garantien für die Wahrung der Grundrechte dieses Drittstaatsangehörigen im Fall einer Überstellung zu geben.

67

Was den Beweismaßstab und die Beweisregelung betrifft, die es erlauben, die Anwendung von Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 der Dublin‑III‑Verordnung auszulösen, ist mangels besonderer Präzisierungen in dieser Bestimmung auf die allgemeinen Bestimmungen und die Systematik dieser Verordnung abzustellen.

68

Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass sich der Unionsgesetzgeber im Rahmen dieser Verordnung nicht darauf beschränkt hat, organisatorische Regeln nur für die Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten zu normieren, um den zuständigen Mitgliedstaat bestimmen zu können, sondern sich dafür entschieden hat, die internationalen Schutz beantragenden Personen an diesem Verfahren zu beteiligen, indem er die Mitgliedstaaten dazu verpflichtete, diese Personen über die Zuständigkeitskriterien zu unterrichten und ihnen Gelegenheit zur Mitteilung der Informationen zu geben, die die fehlerfreie Anwendung dieser Kriterien erlauben (Urteil vom 7. Juni 2016, Ghezelbash, C‑63/15, EU:C:2016:409, Rn. 51).

69

Zunächst müssen nämlich, wie der Generalanwalt in Nr. 46 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, sowohl das persönliche Gespräch nach Art. 5 der Dublin‑III‑Verordnung als auch ein etwaiger Rechtsbehelf gegen die Überstellungsentscheidung der Person, die internationalen Schutz beantragt, ermöglichen, die ihr zur Verfügung stehenden Beweismittel vorzubringen.

70

Nach Art. 5 Abs. 1 und 3 der Dublin‑III‑Verordnung zielt das persönliche Gespräch u. a. darauf ab, das Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats zu erleichtern. Dieses Gespräch muss zeitnah geführt werden, in jedem Fall aber, bevor über die Überstellung entschieden wird.

71

Sodann ergibt sich aus Art. 5 Abs. 2 der Dublin‑III‑Verordnung, dass der Antragsteller jedenfalls Gelegenheit haben muss, „alle … sachdienlichen Informationen vorzulegen, die für die ordnungsgemäße Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats von Bedeutung sind“.

72

Daraus folgt, dass der Antragsteller in die Lage versetzt werden muss, alle sachdienlichen Beweismittel oder Indizien im Sinne von Art. 22 Abs. 2 und 3 dieser Verordnung vorzulegen, die sich auf die Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats beziehen.

73

Darüber hinaus bezieht sich Art. 21 Abs. 3 der Dublin‑III‑Verordnung auf diese Beweismittel oder Indizien, aber auch auf andere sachdienliche Angaben aus der Erklärung des Antragstellers, anhand deren die Behörden des ersuchten Mitgliedstaats prüfen können, ob ihr Staat gemäß den in dieser Verordnung definierten Kriterien zuständig ist.

74

Schließlich wird in Art. 22 Abs. 4 und 5 klargestellt, dass zum einen das Beweiserfordernis nicht über das für die ordnungsgemäße Anwendung dieser Verordnung erforderliche Maß hinausgehen sollte, und dass zum anderen, wenn keine förmlichen Beweismittel vorliegen, der ersuchte Mitgliedstaat seine Zuständigkeit anerkennt, wenn die Indizien kohärent, nachprüfbar und hinreichend detailliert sind, um die Zuständigkeit zu begründen.

75

Aus den in den Rn. 68 bis 74 des vorliegenden Urteils angeführten Gesichtspunkten ergibt sich, dass der Unionsgesetzgeber keine Anforderungen an die Art und die Beweiskraft der Informationen gestellt hat, die der Antragsteller im Rahmen seiner Teilnahme am Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats vorlegen kann, insbesondere um das etwaige Vorliegen ernsthafter und durch Tatsachen bestätigter Gründe für die Annahme nachzuweisen, dass er im Fall einer Überstellung in einen zuständigen Mitgliedstaat einer tatsächlichen Gefahr im Sinne von Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 der Verordnung ausgesetzt sein wird.

76

Folglich sind alle Angaben zu berücksichtigen, die der Antragsteller zum Nachweis des Bestehens einer Gefahr einer gegen Art. 4 der Charta verstoßenden Behandlung vorlegt, wobei es den Gerichten des Mitgliedstaats, der den zuständigen Mitgliedstaat zu bestimmen hat, obliegt, auf der Grundlage objektiver, zuverlässiger, genauer und gebührend aktualisierter Angaben und im Hinblick auf den durch das Unionsrecht gewährleisteten Schutzstandard der Grundrechte zu würdigen, ob die geltend gemachten Schwachstellen vorliegen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 19. März 2019, Jawo, C‑163/17, EU:C:2019:218, Rn. 90, und vom 30. November 2023, Ministero dell’Interno u. a. [Gemeinsames Merkblatt – Mittelbare Zurückweisung], C‑228/21, C‑254/21, C‑297/21, C‑315/21 und C‑328/21, EU:C:2023:934, Rn. 136).

77

Außerdem ist darauf hinzuweisen, dass die Mitgliedstaaten unabhängig von der Berücksichtigung der Angaben des Antragstellers gehalten sind, einen Antragsteller nicht an den zuständigen Mitgliedstaat zu überstellen, wenn ihnen nicht unbekannt sein kann, dass die systemischen Schwachstellen des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für internationalen Schutz beantragende Personen in diesem Mitgliedstaat ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme darstellen, dass der Antragsteller tatsächlich Gefahr läuft, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta ausgesetzt zu werden (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 21. Dezember 2011, N. S. u. a., C‑411/10 und C‑493/10, EU:C:2011:865, Rn. 94, sowie vom 19. März 2019, Jawo, C‑163/17, EU:C:2019:218, Rn. 85). Somit kann nicht ausgeschlossen werden, dass sich der Mitgliedstaat, der den zuständigen Mitgliedstaat zu bestimmen hat, veranlasst sieht, von sich aus sachdienliche Angaben zu berücksichtigen, von denen er Kenntnis hat, um über die Anwendung von Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 der Dublin‑III‑Verordnung zu entscheiden.

78

Daraus folgt, dass der Mitgliedstaat, der mit der Bestimmung des für die Prüfung des Antrags eines Drittstaatsangehörigen auf internationalen Schutz zuständigen Mitgliedstaats betraut ist, zum einen alle Informationen berücksichtigen muss, die ihm dieser Drittstaatsangehörige vorlegt, insbesondere was das etwaige Bestehen einer Gefahr einer gegen Art. 4 der Charta verstoßenden Behandlung im Fall der Überstellung dieses Drittstaatsangehörigen betrifft. Zum anderen muss der erstgenannte Mitgliedstaat bei der Ermittlung der Tatsachen mitwirken, indem er das Vorliegen dieser Gefahr auf der Grundlage objektiver, zuverlässiger, genauer und gebührend aktualisierter Angaben und im Hinblick auf den durch das Unionsrecht verbürgten Schutzstandard für die Grundrechte würdigt und gegebenenfalls von sich aus sachdienliche Informationen zu etwaigen systemischen Schwachstellen im Asylverfahren und in den Aufnahmebedingungen für Personen, die internationalen Schutz beantragen, im zuständigen Mitgliedstaat berücksichtigt, die ihm nicht unbekannt sein können.

79

Sind solche Schwachstellen erwiesen und stellen sie ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme dar, dass die Person, die internationalen Schutz beantragt hat, im Fall einer Überstellung einer tatsächlichen Gefahr einer gegen Art. 4 der Charta verstoßenden Behandlung ausgesetzt wäre, muss der mit der Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats befasste Mitgliedstaat gemäß Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 der Dublin‑III‑Verordnung die Prüfung der in Kapitel III dieser Verordnung vorgesehenen Kriterien fortsetzen, um festzustellen, ob ein anderer Mitgliedstaat als zuständig bestimmt werden kann.

80

Bevor er zu dem Schluss kommt, dass im Fall einer Überstellung in den zuständigen Mitgliedstaat eine tatsächliche Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung besteht, kann sich der Mitgliedstaat, der die Überstellung vornehmen möchte, um individuelle Garantien bemühen, die ausreichen, um diese Gefahr auszuschließen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Februar 2017, C. K. u. a., C‑578/16 PPU, EU:C:2017:127, Rn. 83 und 84).

81

Nach alledem ist auf die dritte Frage zu antworten, dass die Dublin‑III‑Verordnung im Licht von Art. 4 der Charta dahin auszulegen ist, dass

der Mitgliedstaat, der um die Wiederaufnahme einer Person, die internationalen Schutz beantragt hat, durch den zuständigen Mitgliedstaat ersucht hat und diese Person in diesen letztgenannten Mitgliedstaat überstellen möchte, alle ihm von diesem Antragsteller zur Verfügung gestellten Informationen berücksichtigen muss, insbesondere in Bezug auf das etwaige Bestehen einer tatsächlichen Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung bei oder nach der Überstellung;

der Mitgliedstaat, der eine Überstellung vornehmen möchte, bei der Feststellung der Tatsachen mitwirken und/oder deren Richtigkeit prüfen muss;

dieser Mitgliedstaat bei ernsthaften und durch Tatsachen bestätigten Gründen für die Annahme, dass im Fall einer Überstellung eine tatsächliche Gefahr einer solchen Behandlung besteht, von der Überstellung absehen muss;

dieser Mitgliedstaat sich jedoch darum bemühen kann, von dem zuständigen Mitgliedstaat individuelle Garantien zu erhalten, und, wenn solche Garantien gegeben werden und sowohl glaubhaft als auch ausreichend erscheinen, um eine tatsächliche Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung auszuschließen, die Überstellung durchführen kann.

Zur vierten Frage

82

Mit seiner vierten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob der – als erwiesen unterstellte – Umstand, dass die Person, die internationalen Schutz beantragt, im zuständigen Mitgliedstaat nicht oder nicht wirksam die Behörden anrufen und Rechtsbehelfe einlegen könnte, die Antwort auf die dritte Frage beeinflusst.

83

Es ist darauf hinzuweisen, dass das Verfahren nach Art. 267 AEUV ein Instrument der Zusammenarbeit zwischen dem Gerichtshof und den nationalen Gerichten ist, mit dem der Gerichtshof diesen Gerichten Hinweise zur Auslegung des Unionsrechts gibt, die sie zur Entscheidung der bei ihnen anhängigen Rechtsstreitigkeiten benötigen. Im Rahmen dieser Zusammenarbeit ist es Sache des mit dem Ausgangsrechtsstreit befassten nationalen Gerichts, das allein eine genaue Kenntnis des diesem zugrunde liegenden Sachverhalts hat und in dessen Verantwortungsbereich die zu erlassende gerichtliche Entscheidung fällt, sowohl die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung für den Erlass seines Urteils als auch die Erheblichkeit der dem Gerichtshof von ihm vorgelegten Fragen zu beurteilen. Betreffen daher die vorgelegten Fragen die Auslegung des Unionsrechts, so ist der Gerichtshof grundsätzlich gehalten, darüber zu befinden (Urteil vom 7. Dezember 2023, mBank [Erklärung des Verbrauchers], C‑140/22, EU:C:2023:965, Rn. 47).

84

Daher kann der Gerichtshof nicht über eine Vorlagefrage befinden, wenn offensichtlich ist, dass die Auslegung einer Unionsvorschrift, um die ein vorlegendes Gericht ersucht, in keinem Zusammenhang mit den Gegebenheiten oder dem Gegenstand des bei ihm anhängigen Rechtsstreits steht, das Problem hypothetischer Natur ist oder er nicht über die tatsächlichen oder rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 7. September 2022, Cilevičs u. a., C‑391/20, EU:C:2022:638, Rn. 42 und die dort angeführte Rechtsprechung).

85

Hinsichtlich des letztgenannten Punkts ist die Notwendigkeit hervorzuheben, dass das nationale Gericht die genauen Gründe angibt, aus denen ihm die Auslegung des Unionsrechts fraglich und die Vorlage von Vorabentscheidungsfragen an den Gerichtshof erforderlich erscheinen (Urteil vom 6. Dezember 2005, ABNA u. a., C‑453/03, C‑11/04, C‑12/04 und C‑194/04, EU:C:2005:741, Rn. 46, und Beschluss vom 15. April 2011, Debiasi, C‑613/10, EU:C:2011:266, Rn. 22).

86

Im vorliegenden Fall ist festzustellen, dass das vorlegende Gericht die Schwierigkeiten, mit denen der Kläger des Ausgangsverfahrens im Fall einer Überstellung in den zuständigen Mitgliedstaat konfrontiert sein könnte, nicht mit der notwendigen Klarheit und Genauigkeit darlegt.

87

Im Übrigen legt es auch nicht klar dar, aus welchen Gründen es einen Zusammenhang zwischen den Schwierigkeiten der Einlegung eines wirksamen Rechtsbehelfs in diesem Mitgliedstaat nach der Überstellung eines Antragstellers und den Beweisanforderungen herstellt, die im Rahmen des Verfahrens zur Bestimmung des für die Prüfung seines Antrags zuständigen Mitgliedstaats an ihn in Bezug auf die Tatsachen gestellt werden, auf die er sich zur Stützung seiner Behauptung beruft, dass er im Fall einer Überstellung an diesen Mitgliedstaat aufgrund systemischer oder allgemeiner Schwachstellen des Asylverfahrens oder der Aufnahmebedingungen der Gefahr einer gegen Art. 4 der Charta verstoßenden Behandlung ausgesetzt sein werde.

88

Folglich ist die vierte Frage unzulässig.

Kosten

89

Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Vierte Kammer) für Recht erkannt:

 

1.

Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist,

ist dahin auszulegen, dass

die Tatsache, dass der für die Prüfung des Antrags eines Drittstaatsangehörigen auf internationalen Schutz zuständige Mitgliedstaat gegenüber Drittstaatsangehörigen, die einen solchen Antrag an seiner Grenze stellen möchten, pauschale Zurückschiebungen und Inhaftnahmen an seinen Grenzübergangsstellen anwendet, der Überstellung dieses Drittstaatsangehörigen in diesen Mitgliedstaat für sich genommen nicht entgegensteht. Die Überstellung des Drittstaatsangehörigen in diesen Mitgliedstaat ist jedoch ausgeschlossen, wenn es ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme gibt, dass er bei oder nach der Überstellung tatsächlich Gefahr liefe, solchen Praktiken unterworfen zu werden, und dass diese Praktiken je nach den Umständen, die von den zuständigen Behörden und dem gegebenenfalls mit einem Rechtsbehelf gegen die Überstellungsentscheidung befassten Gericht zu beurteilen sind, geeignet sind, ihn in eine Situation extremer materieller Not zu versetzen, die so schwerwiegend ist, dass sie einer nach Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verbotenen unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung gleichgestellt werden kann.

 

2.

Die Verordnung Nr. 604/2013 ist im Licht von Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union

dahin auszulegen, dass

der Mitgliedstaat, der um die Wiederaufnahme einer Person, die internationalen Schutz beantragt hat, durch den zuständigen Mitgliedstaat ersucht hat und diese Person in diesen letztgenannten Mitgliedstaat überstellen möchte, alle ihm von diesem Antragsteller zur Verfügung gestellten Informationen berücksichtigen muss, insbesondere in Bezug auf das etwaige Bestehen einer tatsächlichen Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung im Sinne des genannten Art. 4 bei oder nach der Überstellung;

der Mitgliedstaat, der die Überstellung vornehmen möchte, bei der Feststellung der Tatsachen mitwirken und/oder deren Richtigkeit prüfen muss;

dieser Mitgliedstaat bei ernsthaften und durch Tatsachen bestätigten Gründen für die Annahme, dass im Fall einer Überstellung eine tatsächliche Gefahr einer solchen Behandlung besteht, von der Überstellung absehen muss;

dieser Mitgliedstaat sich jedoch darum bemühen kann, vom zuständigen Mitgliedstaat individuelle Garantien zu erhalten, und, wenn solche Garantien gegeben werden und sowohl glaubhaft als auch ausreichend erscheinen, um eine tatsächliche Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung auszuschließen, die Überstellung durchführen kann.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Niederländisch.

Top