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Document 62022CJ0422

Urteil des Gerichtshofs (Zweite Kammer) vom 16. November 2023.
Zakład Ubezpieczeń Społecznych Oddział w Toruniu gegen TE.
Vorabentscheidungsersuchen des Sąd Najwyższy.
Vorlage zur Vorabentscheidung – Wandererwerbstätige – Soziale Sicherheit – Anzuwendende Rechtsvorschriften – Verordnung (EG) Nr. 987/2009 – Art. 5, 6 und 16 – A1‑Bescheinigung – Unrichtigkeit von Angaben – Widerruf von Amts wegen – Verpflichtung des ausstellenden Trägers, ein Dialog- und Vermittlungsverfahren mit dem zuständigen Träger des Aufnahmemitgliedstaats einzuleiten – Fehlen.
Rechtssache C-422/22.

ECLI identifier: ECLI:EU:C:2023:869

 URTEIL DES GERICHTSHOFS (Zweite Kammer)

16. November 2023 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Wandererwerbstätige – Soziale Sicherheit – Anzuwendende Rechtsvorschriften – Verordnung (EG) Nr. 987/2009 – Art. 5, 6 und 16 – A1‑Bescheinigung – Unrichtigkeit von Angaben – Widerruf von Amts wegen – Verpflichtung des ausstellenden Trägers, ein Dialog- und Vermittlungsverfahren mit dem zuständigen Träger des Aufnahmemitgliedstaats einzuleiten – Fehlen“

In der Rechtssache C‑422/22

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht, Polen) mit Entscheidung vom 27. April 2022, beim Gerichtshof eingegangen am 22. Juni 2022, in dem Verfahren

Zakład Ubezpieczeń Społecznych Oddział w Toruniu

gegen

TE

erlässt

DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)

unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin A. Prechal, der Richter F. Biltgen, N. Wahl und J. Passer sowie der Richterin M. L. Arastey Sahún (Berichterstatterin),

Generalanwalt: J. Richard de la Tour,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

des Zakład Ubezpieczeń Społecznych Oddział w Toruniu, vertreten durch J. Jaźwiec-Blecharczyk, Radca prawny,

der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten,

der belgischen Regierung, vertreten durch S. Baeyens und L. Van den Broeck als Bevollmächtigte,

der tschechischen Regierung, vertreten durch M. Smolek und J. Vláčil als Bevollmächtigte,

der französischen Regierung, vertreten durch R. Bénard und A. Daniel als Bevollmächtigte,

der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Brauhoff und D. Martin als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 22. Juni 2023

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 6 und 16 der Verordnung (EG) Nr. 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (ABl. 2009, L 284, S. 1) in der durch die Verordnung (EU) Nr. 465/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2012 (ABl. 2012, L 149, S. 4) geänderten Fassung (im Folgenden: Verordnung Nr. 987/2009).

2

Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen dem Zakład Ubezpieczeń Społecznych Oddział w Toruniu (Sozialversicherungsanstalt, Geschäftsstelle Toruń [Thorn], Polen) (im Folgenden: ZUS) und TE wegen der Entscheidung des ZUS, TE die A1‑Bescheinigung zu entziehen, mit der bescheinigt wurde, dass er für die Zeit vom 22. August 2016 bis 21. August 2017 den polnischen Rechtsvorschriften zur sozialen Sicherheit unterlag.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

Verordnung Nr. 883/2004

3

Titel II („Bestimmung des anwendbaren Rechts“) der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (ABl. 2004, L 166, S. 1, berichtigt in ABl. 2004, L 200, S. 1) in der durch die Verordnung Nr. 465/2012 geänderten Fassung (im Folgenden: Verordnung Nr. 883/2004) umfasst deren Art. 11 bis 16.

4

Art. 11 der Verordnung Nr. 883/2004 sieht vor:

„(1)   Personen, für die diese Verordnung gilt, unterliegen den Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats. Welche Rechtsvorschriften dies sind, bestimmt sich nach diesem Titel.

(3) Vorbehaltlich der Artikel 12 bis 16 gilt Folgendes:

a)

[E]ine Person, die in einem Mitgliedstaat eine Beschäftigung oder selbstständige Erwerbstätigkeit ausübt, unterliegt den Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats;

…“

5

Art. 13 („Ausübung von Tätigkeiten in zwei oder mehr Mitgliedstaaten“) dieser Verordnung bestimmt in Abs. 2:

„Eine Person, die gewöhnlich in zwei oder mehr Mitgliedstaaten eine selbstständige Erwerbstätigkeit ausübt, unterliegt:

a)

den Rechtsvorschriften des Wohnmitgliedstaats, wenn sie dort einen wesentlichen Teil ihrer Tätigkeit ausübt,

oder

b)

den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats, in dem sich der Mittelpunkt ihrer Tätigkeiten befindet, wenn sie nicht in einem der Mitgliedstaaten wohnt, in denen sie einen wesentlichen Teil ihrer Tätigkeit ausübt.“

6

Nach Art. 72 Buchst. a dieser Verordnung hat die Verwaltungskommission für die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (im Folgenden: Verwaltungskommission) u. a die Aufgabe, alle Verwaltungs- und Auslegungsfragen zu behandeln, die sich aus der Verordnung Nr. 883/2004 oder der Verordnung Nr. 987/2009 ergeben.

7

Art. 76 („Zusammenarbeit“) der Verordnung Nr. 883/2004 sieht vor:

„…

(4)   Die Träger und Personen, die in den Geltungsbereich dieser Verordnung fallen, sind zur gegenseitigen Information und Zusammenarbeit verpflichtet, um die ordnungsgemäße Anwendung dieser Verordnung zu gewährleisten.

(6)   Werden durch Schwierigkeiten bei der Auslegung oder Anwendung dieser Verordnung die Rechte einer Person im Geltungsbereich der Verordnung in Frage gestellt, so setzt sich der Träger des zuständigen Mitgliedstaats oder des Wohnmitgliedstaats der betreffenden Person mit dem Träger des anderen betroffenen Mitgliedstaats oder den Trägern der anderen betroffenen Mitgliedstaaten in Verbindung. Wird binnen einer angemessenen Frist keine Lösung gefunden, so können die betreffenden Behörden die Verwaltungskommission befassen.

…“

Verordnung Nr. 987/2009

8

In den Erwägungsgründen 2 und 22 der Verordnung Nr. 987/2009 heißt es:

„(2)

Die Organisation einer wirksameren und engeren Zusammenarbeit zwischen den Trägern der sozialen Sicherheit ist maßgeblich, damit die Personen im Geltungsbereich der [Verordnung Nr. 883/2004] ihre Rechte so rasch und so gut wie möglich in Anspruch nehmen können.

(22)

Die Information der betroffenen Personen über ihre Rechte und Pflichten ist für ein Vertrauensverhältnis zu den zuständigen Behörden und Trägern der Mitgliedstaaten wesentlich. …“

9

Art. 2 Abs. 2 der Verordnung Nr. 987/2009 sieht vor:

„Die Träger stellen unverzüglich all jene Daten, die zur Begründung und Feststellung der Rechte und Pflichten der Personen, für die die [Verordnung Nr. 883/2004] gilt, benötigt werden, zur Verfügung oder tauschen diese ohne Verzug aus. Diese Daten werden zwischen den Mitgliedstaaten entweder unmittelbar von den Trägern selbst oder mittelbar über die Verbindungsstellen übermittelt.“

10

Art. 3 der Verordnung Nr. 987/2009 bestimmt:

„(1)   Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass den betroffenen Personen die erforderlichen Informationen zur Verfügung gestellt werden, damit sie von der Änderung der Rechtslage aufgrund der [Verordnung Nr. 883/2004] und [dieser Verordnung] Kenntnis erhalten und ihre Ansprüche geltend machen können. Sie stellen auch benutzerfreundliche Serviceleistungen zur Verfügung.

(2)   Personen, für die die [Verordnung Nr. 883/2004] gilt, haben dem maßgeblichen Träger die Informationen, Dokumente oder Belege zu übermitteln, die für die Feststellung ihrer Situation oder der Situation ihrer Familie sowie ihrer Rechte und Pflichten, für die Aufrechterhaltung derselben oder für die Bestimmung der anzuwendenden Rechtsvorschriften und ihrer Pflichten nach diesen Rechtsvorschriften erforderlich sind.

(4)   Soweit es für die Anwendung der [Verordnung Nr. 883/2004] und [dieser Verordnung] erforderlich ist, übermitteln die maßgeblichen Träger unverzüglich und in jedem Fall innerhalb der in der Sozialgesetzgebung des jeweiligen Mitgliedstaats vorgeschriebenen Fristen den betroffenen Personen die Informationen und stellen ihnen die Dokumente aus.

…“

11

Art. 5 („Rechtswirkung der in einem anderen Mitgliedstaat ausgestellten Dokumente und Belege“) der Verordnung Nr. 987/2009 bestimmt:

„(1)   Vom Träger eines Mitgliedstaats ausgestellte Dokumente, in denen der Status einer Person für die Zwecke der Anwendung der [Verordnung Nr. 883/2004] und [dieser Verordnung] bescheinigt wird, sowie Belege, auf deren Grundlage die Dokumente ausgestellt wurden, sind für die Träger der anderen Mitgliedstaaten so lange verbindlich, wie sie nicht von dem Mitgliedstaat, in dem sie ausgestellt wurden, widerrufen oder für ungültig erklärt werden.

(2)   Bei Zweifeln an der Gültigkeit eines Dokuments oder der Richtigkeit des Sachverhalts, der den im Dokument enthaltenen Angaben zugrunde liegt, wendet sich der Träger des Mitgliedstaats, der das Dokument erhält, an den Träger, der das Dokument ausgestellt hat, und ersucht diesen um die notwendige Klarstellung oder gegebenenfalls um den Widerruf dieses Dokuments. Der Träger, der das Dokument ausgestellt hat, überprüft die Gründe für die Ausstellung und widerruft das Dokument gegebenenfalls.

(3)   Bei Zweifeln an den Angaben der betreffenden Personen, der Gültigkeit eines Dokuments oder der Belege oder der Richtigkeit des Sachverhalts, der den darin enthaltenen Angaben zugrunde liegt, nimmt der Träger des Aufenthalts- oder Wohnorts, soweit dies möglich ist, nach Absatz 2 auf Verlangen des zuständigen Trägers die nötige Überprüfung dieser Angaben oder dieses Dokuments vor.

(4)   Erzielen die betreffenden Träger keine Einigung, so können die zuständigen Behörden frühestens einen Monat nach dem Zeitpunkt, zu dem der Träger, der das Dokument erhalten hat, sein Ersuchen vorgebracht hat, die Verwaltungskommission anrufen. Die Verwaltungskommission bemüht sich binnen sechs Monaten nach ihrer Befassung um eine Annäherung der unterschiedlichen Standpunkte.“

12

In Art. 6 („Vorläufige Anwendung der Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats und vorläufige Gewährung von Leistungen“) der Verordnung Nr. 987/2009 heißt es:

„(1)   Besteht zwischen den Trägern oder Behörden zweier oder mehrerer Mitgliedstaaten eine Meinungsverschiedenheit darüber, welche Rechtsvorschriften anzuwenden sind, so unterliegt die betreffende Person vorläufig den Rechtsvorschriften eines dieser Mitgliedstaaten, sofern in [dieser Verordnung] nichts anderes bestimmt ist, …

(2)   Besteht zwischen den Trägern oder Behörden zweier oder mehrerer Mitgliedstaaten eine Meinungsverschiedenheit darüber, welcher Träger die Geld- oder Sachleistungen zu gewähren hat, so erhält die betreffende Person, die Anspruch auf diese Leistungen hätte, wenn es diese Meinungsverschiedenheit nicht gäbe, vorläufig Leistungen nach den vom Träger des Wohnorts anzuwendenden Rechtsvorschriften oder – falls die betreffende Person nicht im Hoheitsgebiet eines der betreffenden Mitgliedstaaten wohnt – Leistungen nach den Rechtsvorschriften, die der Träger anwendet, bei dem der Antrag zuerst gestellt wurde.

(3)   Erzielen die betreffenden Träger oder Behörden keine Einigung, so können die zuständigen Behörden frühestens einen Monat nach dem Tag, an dem die Meinungsverschiedenheit im Sinne von Absatz 1 oder Absatz 2 aufgetreten ist, die Verwaltungskommission anrufen. Die Verwaltungskommission bemüht sich nach ihrer Befassung binnen sechs Monaten um eine Annäherung der Standpunkte.

…“

13

Art. 15 dieser Verordnung schreibt das Verfahren für die Anwendung von Art. 11 Abs. 3 Buchst. b und d, Art. 11 Abs. 4 und Art. 12 der Verordnung Nr. 883/2004 vor.

14

Art. 16 („Verfahren bei der Anwendung von Artikel 13 der [Verordnung Nr. 883/2004]“) der Verordnung Nr. 987/2009 bestimmt:

„(1)   Eine Person, die in zwei oder mehreren Mitgliedstaaten eine Tätigkeit ausübt, teilt dies dem von der zuständigen Behörde ihres Wohnmitgliedstaats bezeichneten Träger mit.

(2)   Der bezeichnete Träger des Wohnorts legt unter Berücksichtigung von Artikel 13 der [Verordnung Nr. 883/2004] und von Artikel 14 [dieser Verordnung] unverzüglich fest, welchen Rechtsvorschriften die betreffende Person unterliegt. Diese erste Festlegung erfolgt vorläufig. Der Träger unterrichtet die bezeichneten Träger jedes Mitgliedstaats, in dem die Person eine Tätigkeit ausübt, über seine vorläufige Festlegung.

(3)   Die vorläufige Festlegung der anzuwendenden Rechtsvorschriften nach Absatz 2 erhält binnen zwei Monaten, nachdem die von den zuständigen Behörden des betreffenden Mitgliedstaats bezeichneten Träger davon in Kenntnis gesetzt wurden, endgültigen Charakter, es sei denn, die anzuwendenden Rechtsvorschriften wurden bereits auf der Grundlage von Absatz 4 endgültig festgelegt, oder mindestens einer der betreffenden Träger setzt den von der zuständigen Behörde des Wohnmitgliedstaats bezeichneten Träger vor Ablauf dieser zweimonatigen Frist davon in Kenntnis, dass er die Festlegung noch nicht akzeptieren kann oder diesbezüglich eine andere Auffassung vertritt.

(4)   Ist aufgrund bestehender Unsicherheit bezüglich der Bestimmung der anzuwendenden Rechtsvorschriften eine Kontaktaufnahme zwischen den Trägern oder Behörden zweier oder mehrerer Mitgliedstaaten erforderlich, so werden auf Ersuchen eines oder mehrerer der von den zuständigen Behörden der betreffenden Mitgliedstaaten bezeichneten Träger oder auf Ersuchen der zuständigen Behörden selbst die geltenden Rechtsvorschriften unter Berücksichtigung von Artikel 13 der [Verordnung Nr. 883/2004] und der einschlägigen Bestimmungen von Artikel 14 [dieser Verordnung] einvernehmlich festgelegt.

Sind die betreffenden Träger oder zuständigen Behörden unterschiedlicher Auffassung, so bemühen diese sich nach den vorstehenden Bedingungen um Einigung; es gilt Artikel 6 [dieser Verordnung].

…“

15

In Art. 19 Abs. 2 der Verordnung Nr. 987/2009 heißt es:

„Auf Antrag der betreffenden Person oder ihres Arbeitgebers bescheinigt der zuständige Träger des Mitgliedstaats, dessen Rechtsvorschriften nach Titel II der [Verordnung Nr. 883/2004] anzuwenden sind, dass und gegebenenfalls wie lange und unter welchen Umständen diese Rechtsvorschriften anzuwenden sind.“

16

Art. 20 („Zusammenarbeit zwischen den Trägern“) der Verordnung Nr. 987/2009 sieht vor:

„(1)   Die maßgeblichen Träger erteilen dem zuständigen Träger des Mitgliedstaats, dessen Rechtsvorschriften nach Titel II der [Verordnung Nr. 883/2004] für eine Person gelten, alle Auskünfte, die notwendig sind für die Festsetzung des Zeitpunkts, ab dem diese Rechtsvorschriften anzuwenden sind, und der Beiträge, welche die betreffende Person und ihr bzw. ihre Arbeitgeber nach diesen Rechtsvorschriften zu leisten haben.

(2)   Der zuständige Träger des Mitgliedstaats, dessen Rechtsvorschriften nach Titel II der [Verordnung Nr. 883/2004] auf eine Person anzuwenden sind, macht Informationen über den Zeitpunkt, ab dem diese Rechtsvorschriften anzuwenden sind, dem Träger zugänglich, der von der zuständigen Behörde des Mitgliedstaats, dessen Rechtsvorschriften diese Person zuletzt unterlag, bezeichnet wurde.“

17

Art. 60 („Verfahren bei der Anwendung von Artikel 67 und 68 der [Verordnung Nr. 883/2004]“) der Verordnung Nr. 987/2009 sieht in Abs. 4 vor:

„Sind sich die betreffenden Träger nicht einig, welche Rechtsvorschriften prioritär anwendbar sind, so gilt Artikel 6 Absätze 2 bis 5 [dieser Verordnung]. Zu diesem Zweck ist der in Artikel 6 Absatz 2 [dieser Verordnung] genannte Träger des Wohnorts der Träger des Wohnorts des Kindes oder der Kinder.“

Polnisches Recht

18

Art. 83a Abs. 1 der Ustawa o systemie ubezpieczeń społecznych (Gesetz über das System der Sozialversicherungen) vom 13. Oktober 1998 (Dz. U. 1998, Nr. 137, Pos. 887) in seiner auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens anwendbaren Fassung (Dz. U. 2021, Pos. 430) bestimmt:

„Ein Anspruch oder eine Verpflichtung aus einer endgültigen Entscheidung [der Sozialversicherungsanstalt] wird auf Antrag der betroffenen Person oder von Amts wegen neu festgesetzt, wenn neue Beweise vorgelegt werden, nachdem die Entscheidung bestandskräftig geworden ist oder Umstände zutage treten, die schon vor dem Erlass dieser Entscheidung bestanden haben, die sich auf diesen Anspruch oder diese Verpflichtung auswirken.“

19

Art. 47714a des Kodeks postępowania cywilnego (Zivilprozessordnung) sieht vor:

„Das Gericht zweiter Instanz kann, wenn es ein Urteil und die diesem vorangegangene Entscheidung der Rentenversicherungsstelle aufhebt, die Sache zur erneuten Prüfung unmittelbar an die Rentenversicherungsstelle verweisen.“

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

20

TE, ein im polnischen Handelsregister eingetragener Unternehmer, der eine selbständige Tätigkeit ausübt und dessen Einkünfte in Polen besteuert werden, unterzeichnete am 11. August 2016 einen Vertrag mit einer in Warschau (Polen) ansässigen Gesellschaft, wonach er im Rahmen eines bestimmten Projekts ab dem 22. August 2016 bis zum Projektende in Frankreich bestimmte Dienstleistungen erbringen sollte.

21

Auf der Grundlage dieses Vertrags wurde vom ZUS eine A1‑Bescheinigung nach Art. 13 Abs. 2 der Verordnung Nr. 883/2004 ausgestellt, die besagte, dass TE für den Zeitraum vom 22. August 2016 bis 21. August 2017 (im Folgenden: streitiger Zeitraum) gemäß Art. 19 Abs. 2 der Verordnung Nr. 987/2009 den polnischen Rechtsvorschriften zur sozialen Sicherheit unterlegen habe.

22

Im Zuge einer Überprüfung von Amts wegen stellte der ZUS fest, dass TE während des streitigen Zeitraums nur in einem Mitgliedstaat, der Französischen Republik, tätig gewesen sei. Mit Entscheidung vom 1. Dezember 2017 (im Folgenden: streitige Entscheidung) widerrief der ZUS daher diese A1‑Bescheinigung und stellte fest, dass TE gemäß Art. 11 Abs. 3 Buchst. a der Verordnung Nr. 883/2004 während dieses Zeitraums nicht den polnischen Rechtsvorschriften unterlegen habe. Da der ZUS der Meinung war, dass die maßgebliche Vorschrift für die Bestimmung der auf TE anzuwendenden Rechtsvorschriften nicht Art. 13, sondern Art. 11 der Verordnung Nr. 883/2004 sei, erließ er diese Entscheidung, ohne zuvor das Verfahren nach Art. 16 der Verordnung Nr. 987/2009 zur Koordinierung mit dem zuständigen französischen Träger im Hinblick auf die auf TE anzuwendenden Rechtsvorschriften durchgeführt zu haben.

23

TE erhob vor dem Sąd Okręgowy w Toruniu (Regionalgericht Toruń, Polen) Klage gegen die streitige Entscheidung. Dieses Gericht stellte zum einen fest, dass TE im streitigen Zeitraum nicht in einem einzigen Mitgliedstaat gearbeitet habe, so dass er unter Art. 13 Abs. 2 der Verordnung Nr. 883/2004 falle, und zum anderen, dass der ZUS das in den Art. 6, 15 und 16 der Verordnung Nr. 987/2009 vorgesehene Koordinierungsverfahren nicht ausgeschöpft habe, obwohl dieses Verfahren für die Bestimmung der anzuwendenden Rechtsvorschriften zwingend vorgeschrieben sei. Daher forderte das Gericht im Lauf des Gerichtsverfahrens den ZUS auf, das genannte Koordinierungsverfahren mit dem zuständigen französischen Träger einzuleiten, was der ZUS jedoch mit der Begründung verweigerte, dass die Einleitung des Verfahrens nicht gerechtfertigt sei. Um zu vermeiden, dass TE von keinem System der sozialen Sicherheit erfasst würde, entschied der Sąd Okręgowy w Toruniu (Regionalgericht Toruń), dass TE während des streitigen Zeitraums den polnischen Rechtsvorschriften unterlegen habe, und erhielt daher die Gültigkeit der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden A1‑Bescheinigung aufrecht.

24

Mit Urteil vom 5. Februar 2020 wies der Sąd Apelacyjny w Gdańsku (Berufungsgericht Gdańsk [Danzig], Polen) die Berufung des ZUS gegen das Urteil des Sąd Okręgowy w Toruniu (Regionalgericht Toruń) zurück und bestätigte damit das Urteil.

25

Der ZUS legte gegen dieses Urteil vor dem Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht, Polen), dem vorlegenden Gericht, Kassationsbeschwerde ein und machte geltend, dass, sofern der Widerruf der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden A1‑Bescheinigung die vorherige Durchführung des in der Verordnung Nr. 987/2009 vorgesehenen Koordinierungsverfahrens erfordert habe, die streitige Entscheidung mit einem Mangel behaftet sei, der nur im Rahmen des Verfahrens vor dem ZUS selbst behoben werden könne. Somit seien die vom Sąd Okręgowy w Toruniu (Regionalgericht Toruń) und vom Sąd Apelacyjny w Gdańsku (Berufungsgericht Gdańsk) erlassenen Gerichtsentscheidungen fehlerhaft, weil diese Gerichte nicht über das auf TE anwendbare Recht hätten entscheiden dürfen, sondern den Fall an den ZUS hätten zurückverweisen müssen, damit dieser in Zusammenarbeit mit dem zuständigen französischen Träger eine Überprüfung der A1‑Bescheinigung hätte vornehmen können.

26

Unter diesen Umständen hat der Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.

Ist der Träger eines Mitgliedstaats, der eine A1‑Bescheinigung ausgestellt hat und von Amts wegen – ohne Ersuchen des zuständigen Trägers des betreffenden Mitgliedstaats – die ausgestellte Bescheinigung annullieren/widerrufen oder für ungültig erklären will, verpflichtet, ein Vermittlungsverfahren mit dem zuständigen Träger eines anderen Mitgliedstaats in Analogie zu den nach den Art. 6 und 16 der Verordnung Nr. 987/2009 geltenden Vorschriften durchzuführen?

2.

Muss das Vermittlungsverfahren bereits vor der Annullierung/dem Widerruf oder der Ungültigerklärung der ausgestellten Bescheinigung durchgeführt werden oder ist diese Annullierung/dieser Widerruf oder diese Ungültigerklärung vorläufig gemäß Art. 16 Abs. 2 der Verordnung Nr. 987/2009 und wird dann endgültig, wenn der betreffende Träger des anderen Mitgliedstaats weder Einwände erhebt noch eine andere Auffassung in der Sache vertritt?

Zu den Vorlagefragen

27

Zunächst ist festzustellen, dass die vom vorlegenden Gericht in seinen Fragen erwähnten Art. 6 und 16 der Verordnung Nr. 987/2009, die die vorläufige Anwendung der Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats und die vorläufige Gewährung von Leistungen sowie das Verfahren bei der Anwendung von Art. 13 der Verordnung Nr. 883/2004 betreffen, im Wesentlichen die Bestimmungen von Art. 76 Abs. 6 dieser Verordnung übernehmen, der das Dialog- und Vermittlungsverfahren zwischen den zuständigen Trägern der betreffenden Mitgliedstaaten vorsieht (im Folgenden: Dialog- und Vermittlungsverfahren).

28

Im Übrigen ist die einzige Bestimmung des Unionsrechts, die auf den Widerruf von A1‑Bescheinigungen Bezug nimmt, Art. 5 („Rechtswirkung der in einem anderen Mitgliedstaat ausgestellten Dokumente und Belege“) der Verordnung Nr. 987/2009.

29

Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass die A1‑Bescheinigung einem Formblatt entspricht, das gemäß Titel II der Verordnung Nr. 987/2009 von dem Träger, den die zuständige Behörde desjenigen Mitgliedstaats bezeichnet, dessen Rechtsvorschriften über die soziale Sicherheit anwendbar sind, ausgestellt wird, um gemäß dem Wortlaut von u. a. Art. 19 Abs. 2 dieser Verordnung zu bescheinigen, dass für die Erwerbstätigen, die sich in einer der in Titel II der Verordnung Nr. 883/2004 beschriebenen Situationen befinden, die Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats gelten (Urteil vom 2. März 2023, DRV Intertrans und Verbraeken J. en Zonen, C‑410/21 und C‑661/21, EU:C:2023:138, Rn. 42 und die dort angeführte Rechtsprechung).

30

Art. 5 Abs. 1 der Verordnung Nr. 987/2009 sieht vor, dass vom Träger eines Mitgliedstaats ausgestellte Dokumente, in denen der Status einer Person für die Zwecke der Anwendung der Verordnungen Nr. 883/2004 und Nr. 987/2009 bescheinigt wird, sowie Belege, auf deren Grundlage die Dokumente ausgestellt wurden, für die Träger der anderen Mitgliedstaaten so lange verbindlich sind, wie sie nicht von dem Mitgliedstaat, in dem sie ausgestellt wurden, widerrufen oder für ungültig erklärt werden.

31

Art. 5 Abs. 2 und 4 der Verordnung Nr. 987/2009 regelt die Modalitäten für die Durchführung des Dialog- und Vermittlungsverfahrens zur Beilegung von Streitigkeiten zwischen dem Träger des Mitgliedstaats, der die Dokumente und Belege nach Art. 5 Abs. 1 dieser Verordnung erhält, und dem Träger, der diese Dokumente ausstellt. Insbesondere legt Art. 5 Abs. 2 und 3 der Verordnung fest, welche Schritte die Träger bei Zweifeln an der Gültigkeit dieser Dokumente und Belege oder der Richtigkeit des Sachverhalts, der den im Dokument enthaltenen Angaben zugrunde liegt, zu ergreifen haben, indem sie den ausstellenden Träger verpflichten, die Berechtigung der Ausstellung dieser Dokumente zu überprüfen und diese gegebenenfalls zu widerrufen. Erzielen die betreffenden Träger keine Einigung, so können die zuständigen Behörden nach Art. 5 Abs. 4 der Verordnung die Verwaltungskommission anrufen, die sich binnen sechs Monaten nach ihrer Befassung um eine Annäherung der unterschiedlichen Standpunkte bemüht.

32

Somit ist davon auszugehen, dass das vorlegende Gericht mit seinen beiden Fragen, die zusammen zu prüfen sind, im Wesentlichen wissen möchte, ob die Art. 5, 6 und 16 der Verordnung Nr. 987/2009 dahin auszulegen sind, dass der Träger, der eine A1‑Bescheinigung ausgestellt hat und nach einer von Amts wegen durchgeführten Überprüfung der Angaben, die der Ausstellung der Bescheinigung zugrunde liegen, feststellt, dass diese Angaben unrichtig sind, die Bescheinigung widerrufen kann, ohne zuvor das Dialog- und Vermittlungsverfahren mit den zuständigen Trägern der betreffenden Mitgliedstaaten einzuleiten, um die anzuwendenden nationalen Rechtsvorschriften zu bestimmen.

33

Erstens ist festzustellen, dass eine A1‑Bescheinigung vom ausstellenden Träger von Amts wegen widerrufen werden kann, d. h. ohne einen Antrag des zuständigen Trägers eines anderen Mitgliedstaats auf Überprüfung und Widerruf.

34

Zum einen ist nämlich, da sich Art. 5 Abs. 1 der Verordnung Nr. 987/2009 auf „widerrufene“ A1‑Bescheinigungen bezieht, ohne die Fallgestaltungen eines solchen Widerrufs zu präzisieren oder zu beschränken, davon auszugehen, dass diese Bestimmung alle Fälle des Widerrufs von A1‑Bescheinigungen erfasst.

35

Zum anderen beruht, wie sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergibt, der verbindliche Charakter der A1‑Bescheinigungen gegenüber den Trägern anderer Mitgliedstaaten als des Ausstellungsmitgliedstaats auf dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit nach Art. 4 Abs. 3 EUV, der auch den Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens impliziert. Nach diesen Grundsätzen muss der ausstellende Träger den Sachverhalt, der der Ausstellung dieser Bescheinigungen zugrunde liegt, ordnungsgemäß beurteilen und eine sorgfältige Prüfung der Anwendung seiner eigenen Regelung der sozialen Sicherheit vornehmen, um die Richtigkeit der in diesen Bescheinigungen aufgeführten Angaben und damit die richtige Anwendung der Verordnung Nr. 883/2004 zu gewährleisten, und die Träger der anderen Mitgliedstaaten dürfen berechtigterweise erwarten, dass der ausstellende Träger einer solchen Pflicht nachkommt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Februar 2018, Altun u. a., C‑359/16, EU:C:2018:63, Rn. 37, 40 und 42 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

36

Da sich die Modalitäten der Tätigkeiten des betreffenden Erwerbstätigen im Vergleich zu der Situation, die bei der Ausstellung einer A1‑Bescheinigung berücksichtigt wurde, ändern können, und sich die Angaben, die als Grundlage für die ursprüngliche Feststellung dieser Situation gedient haben, später als unrichtig erweisen können, implizieren die Grundsätze der loyalen Zusammenarbeit und des gegenseitigen Vertrauens die Verpflichtung des ausstellenden Trägers, während der gesamten Ausübung der Tätigkeit, die der Ausstellung einer solchen Bescheinigung zugrunde liegt, die Richtigkeit der darin enthaltenen Angaben zu prüfen und sie zu widerrufen, wenn er in Anbetracht der tatsächlichen Situation des betreffenden Erwerbstätigen feststellt, dass diese Bescheinigung nicht mit den Bestimmungen des Titels II der Verordnung Nr. 883/2004 vereinbar ist.

37

Zweitens muss nach Art. 5 der Verordnung Nr. 987/2009 die Entscheidung des ausstellenden Trägers, eine A1‑Bescheinigung auf Antrag des zuständigen Trägers eines anderen Mitgliedstaats auf Überprüfung und Widerruf zu widerrufen, zwar im Rahmen des Dialog- und Vermittlungsverfahrens zwischen den betreffenden Trägern nach den in Art. 5 Abs. 2 bis 4 dieser Verordnung festgelegten Modalitäten erlassen werden, doch enthält dieser Artikel keine Bestimmung über die Verfahrensmodalitäten, die der ausstellende Träger einzuhalten hat, der eine A1‑Bescheinigung von Amts wegen widerrufen möchte.

38

Insbesondere sieht Art. 5 der Verordnung Nr. 987/2009 in einem solchen Fall keine Verpflichtung des ausstellenden Trägers vor, die Entscheidung über den Widerruf unter Einhaltung dieses Dialog- und Vermittlungsverfahrens zu erlassen.

39

Da für den Fall, dass der ausstellende Träger eine A1‑Bescheinigung von Amts wegen widerrufen möchte, eine solche Verfahrenspflicht nicht speziell vorgesehen ist, ist davon auszugehen, dass das in Art. 5 Abs. 2 bis 4 der Verordnung Nr. 987/2009 vorgesehene Verfahren keine obligatorische Vorbedingung dafür darstellt, dass der ausstellende Träger, der die Unrichtigkeit der Angaben festgestellt hat, die der Ausstellung dieser Bescheinigung zugrunde liegen, die A1‑Bescheinigung von Amts wegen widerrufen kann.

40

Diese Auslegung, die sich aus dem Wortlaut von Art. 5 der Verordnung Nr. 987/2009 ergibt, steht im Übrigen im Einklang mit dem Wesen des Dialog- und Vermittlungsverfahrens, seinem Zweck und den Voraussetzungen für dessen Durchführung.

41

Wie sich nämlich aus Art. 76 Abs. 6 im Licht von Art. 72 Buchst. a der Verordnung Nr. 883/2004 ergibt, stellt dieses Verfahren ein Mittel dar, das der Unionsgesetzgeber geschaffen hat, um insbesondere Streitigkeiten zwischen den zuständigen Trägern der betreffenden Mitgliedstaaten über die Auslegung oder Anwendung dieser Verordnung beizulegen.

42

Daraus folgt, dass die Anwendung des Dialog- und Vermittlungsverfahrens Folge einer Meinungsverschiedenheit zwischen den zuständigen Trägern von zwei oder mehr Mitgliedstaaten ist, was durch die Bestimmungen der Verordnung Nr. 987/2009 bestätigt wird, die die Anwendung eines solchen Verfahrens vorsehen.

43

Die Art. 5 und 6 dieser Verordnung sehen nämlich die Anwendung dieses Verfahrens vor, wenn der Träger, der eine A1‑Bescheinigung erhält, deren Gültigkeit oder die Richtigkeit des Sachverhalts, der der Ausstellung dieser Bescheinigung zugrunde liegt, in Frage stellt und deshalb den ausstellenden Träger ersucht, die Bescheinigung zu widerrufen, und wenn die Träger oder Behörden mehrerer Mitgliedstaaten unterschiedliche Meinungen darüber haben, welche Rechtsvorschriften anzuwenden sind oder welcher Träger die betreffenden Leistungen zu gewähren hat.

44

Die Art. 16 und 60 der Verordnung Nr. 987/2009, in denen die Verfahren für die Anwendung der Art. 13 und 68 der Verordnung Nr. 883/2004 geregelt sind, sehen ihrerseits im Fall von Meinungsverschiedenheiten zwischen den betreffenden Trägern über die anzuwendenden Rechtsvorschriften die Anwendung des gleichen Verfahrens nach den in Art. 6 der Verordnung Nr. 987/2009 festgelegten Modalitäten vor.

45

Der Widerruf einer A1-Bescheinigung durch den ausstellenden Träger von Amts wegen ist jedoch nicht auf eine Streitigkeit zwischen dem ausstellenden Träger und dem Träger eines anderen Mitgliedstaats, in der die Richtigkeit dieser Bescheinigung in Frage gestellt wird, zurückzuführen, sondern darauf, dass der ausstellende Träger im Anschluss an die Überprüfungen, die er vorzunehmen hat, um seinen Verpflichtungen aus den in den Rn. 35 und 36 des vorliegenden Urteils genannten Grundsätzen der loyalen Zusammenarbeit und des gegenseitigen Vertrauens nachzukommen, festgestellt hat, dass die Angaben in dieser Bescheinigung nicht der Wirklichkeit entsprechen.

46

Schließlich beeinträchtigt die in Rn. 39 des vorliegenden Urteils angeführte Auslegung weder die Rechte, die der Erwerbstätige, den die widerrufene A1‑Bescheinigung betrifft, nach der Verordnung Nr. 883/2004 hat, noch das mit dieser Verordnung verfolgte Ziel.

47

Zum einen erklärt nämlich der zuständige Träger eines Mitgliedstaats mit der Ausstellung einer solchen Bescheinigung nur, dass der betreffende Erwerbstätige den Rechtsvorschriften jenes Mitgliedstaats unterliegt (vgl. entsprechend Urteil vom 30. März 2000, Banks u. a., C‑178/97, EU:C:2000:169, Rn. 53).

48

Da die A1-Bescheinigung keine rechtsbegründende Handlung, sondern ein deklaratorischer Akt ist, kann ihr Widerruf nicht zum Verlust solcher Rechte führen.

49

Zum anderen werden nach dem Widerruf der A1-Bescheinigung die auf den betreffenden Erwerbstätigen anzuwendenden Rechtsvorschriften nach den Vorschriften des Titels II der Verordnung Nr. 883/2004 bestimmt, wobei gegebenenfalls, sofern Art. 6 der Verordnung Nr. 987/2009 gilt, das Dialog- und Vermittlungsverfahren Anwendung findet.

50

Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung die Vorschriften des Titels II der Verordnung Nr. 883/2004 ein geschlossenes und einheitliches System von Kollisionsnormen bilden. Mit diesen Vorschriften sollen nicht nur die gleichzeitige Anwendung von Rechtsvorschriften mehrerer Mitgliedstaaten und die Schwierigkeiten, die sich daraus ergeben können, vermieden werden, sondern sie sollen auch verhindern, dass Personen, die in den Geltungsbereich dieser Verordnung fallen, der Schutz auf dem Gebiet der sozialen Sicherheit vorenthalten wird, weil keine nationalen Rechtsvorschriften auf sie anwendbar sind (Urteil vom 8. Mai 2019, Inspecteur van de Belastingdienst, C‑631/17, EU:C:2019:381, Rn. 33 und die dort angeführte Rechtsprechung).

51

In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass Art. 6 der Verordnung Nr. 987/2009 bei Meinungsverschiedenheiten zwischen den Trägern zweier oder mehrerer Mitgliedstaaten darüber, welche Rechtsvorschriften anzuwenden sind, oder darüber, welcher Träger die Leistungen zu gewähren hat, die vorläufige Anwendung der Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats und die vorläufige Gewährung von Leistungen vorsieht.

52

Folglich kann durch die Anwendung des mit der Verordnung Nr. 883/2004 zur Bestimmung der anzuwendenden Rechtsvorschriften geschaffenen Systems, nachdem der ausstellende Träger eine A1‑Bescheinigung von Amts wegen widerrufen hat, nicht nur sichergestellt werden, dass der Schutz des betreffenden Erwerbstätigen jederzeit gewährleistet ist – und zwar auch im Fall einer Streitigkeit zwischen den betreffenden Trägern über die anzuwendenden Rechtsvorschriften –, sondern auch, dass dieser Erwerbstätige jederzeit, auch bei einer solchen Streitigkeit, den Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats unterliegt.

53

Drittens und letztens erfordert, wie sich aus Art. 76 Abs. 4 der Verordnung Nr. 883/2004 und den Erwägungsgründen 2 und 22 der Verordnung Nr. 987/2009 ergibt, das reibungslose Funktionieren des durch die Verordnung Nr. 883/2004 geschaffenen Systems eine wirksame und enge Zusammenarbeit sowohl zwischen den zuständigen Trägern der verschiedenen Mitgliedstaaten als auch zwischen diesen Trägern und den Personen, die in den Geltungsbereich dieser Verordnung fallen. Eine solche Zusammenarbeit ist erforderlich, um die Rechte und Pflichten der betreffenden Personen festzustellen und diese Personen in die Lage zu versetzen, ihre Rechte so rasch und so gut wie möglich in Anspruch zu nehmen.

54

Diese Zusammenarbeit verpflichtet alle diese Träger und Personen zum Austausch der Informationen, die zur Begründung und Feststellung der Rechte und Pflichten dieser Personen benötigt werden; dies ergibt sich aus den Art. 2 und 3 der Verordnung Nr. 987/2009, die den Umfang und die Modalitäten des Austauschs zwischen diesen Trägern sowie zwischen ihnen und den betreffenden Personen regeln, sowie aus Art. 20 dieser Verordnung, der die Pflicht zur Zusammenarbeit zwischen den zuständigen Trägern der verschiedenen Mitgliedstaaten festlegt.

55

Wie der Generalanwalt in Nr. 53 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, muss der ausstellende Träger, der eine A1‑Bescheinigung wegen Unrichtigkeit der darin enthaltenen Angaben von Amts wegen widerrufen möchte, zwar nicht vorher das Dialog- und Vermittlungsverfahren mit den zuständigen Trägern der betreffenden Mitgliedstaaten einleiten, doch verpflichten die in den Rn. 53 und 54 des vorliegenden Urteils angeführten Bestimmungen diesen Träger, sobald der Widerruf erfolgt ist, sowohl die zuständigen Träger als auch die betreffende Person schnellstmöglich über den Widerruf zu informieren und ihnen alle Informationen und Daten zu übermitteln, die für die Begründung und Feststellung der Rechte dieser Person erforderlich sind.

56

Nach alledem ist auf die Vorlagefragen zu antworten, dass die Art. 5, 6 und 16 der Verordnung Nr. 987/2009 dahin auszulegen sind, dass der Träger, der eine A1‑Bescheinigung ausgestellt hat und nach einer von Amts wegen durchgeführten Überprüfung der Angaben, die der Ausstellung der Bescheinigung zugrunde liegen, feststellt, dass diese Angaben unrichtig sind, die Bescheinigung widerrufen kann, ohne zuvor das Dialog- und Vermittlungsverfahren mit den zuständigen Trägern der betreffenden Mitgliedstaaten einzuleiten, um die anzuwendenden nationalen Rechtsvorschriften zu bestimmen.

Kosten

57

Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Zweite Kammer) für Recht erkannt:

 

Die Art. 5, 6 und 16 der Verordnung (EG) Nr. 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung Nr. 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit in der durch die Verordnung (EU) Nr. 465/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2012 geänderten Fassung

 

sind dahin auszulegen, dass

 

der Träger, der eine A1-Bescheinigung ausgestellt hat und nach einer von Amts wegen durchgeführten Überprüfung der Angaben, die der Ausstellung der Bescheinigung zugrunde liegen, feststellt, dass diese Angaben unrichtig sind, die Bescheinigung widerrufen kann, ohne zuvor das in Art. 76 Abs. 6 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit in der durch die Verordnung Nr. 465/2012 geänderten Fassung vorgesehene Dialog- und Vermittlungsverfahren mit den zuständigen Trägern der betreffenden Mitgliedstaaten einzuleiten, um die anzuwendenden nationalen Rechtsvorschriften zu bestimmen.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Polnisch.

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