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Document 62021CC0156

Schlussanträge des Generalanwalts M. Campos Sánchez-Bordona vom 2. Dezember 2021.
Ungarn gegen Europäisches Parlament und Rat der Europäischen Union.
Nichtigkeitsklage – Verordnung (EU, Euratom) 2020/2092 – Allgemeine Konditionalitätsregelung zum Schutz des Haushalts der Europäischen Union – Schutz des Haushalts der Union im Fall von Verstößen gegen die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit in den Mitgliedstaaten – Rechtsgrundlage – Art. 322 Abs. 1 Buchst. a AEUV – Behauptete Umgehung von Art. 7 EUV und Art. 269 AEUV – Geltend gemachte Verstöße gegen Art. 4 Abs. 1, Art. 5 Abs. 2 und Art. 13 Abs. 2 EUV sowie gegen die Grundsätze der Rechtssicherheit, der Verhältnismäßigkeit und der Gleichheit der Mitgliedstaaten vor den Verträgen.
Rechtssache C-156/21.

ECLI identifier: ECLI:EU:C:2021:974

 SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

MANUEL CAMPOS SÁNCHEZ-BORDONA

vom 2. Dezember 2021 ( 1 )

Rechtssache C‑156/21

Ungarn

gegen

Europäisches Parlament und

Rat der Europäischen Union

„Nichtigkeitsklage – Art. 151 Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs – Zwischenstreit – Antrag auf Nichtberücksichtigung eines Dokuments – Gutachten des Juristischen Dienstes des Rates – Verordnung (EU, Euratom) 2020/2092 – Allgemeine Konditionalitätsregelung zum Schutz des Haushalts der Union – Schutz des Haushalts der Union im Fall eines Verstoßes gegen die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit in einem Mitgliedstaat – Rechtsgrundlage der Verordnung 2020/2092 – Art. 322 Abs. 1 Buchst. a AEUV – Verstoß gegen die Art. 7 EUV und 269 AEUV – Verstoß gegen Art. 4 Abs. 1, Art. 5 Abs. 2 und Art. 13 Abs. 2 EUV – Grundsatz der Rechtssicherheit – Grundsatz der Gleichbehandlung der Mitgliedstaaten – Grundsatz der Verhältnismäßigkeit“

1.

Mit dieser nach Art. 263 AEUV erhobenen Klage ( 2 ) begehrt Ungarn die Nichtigerklärung der Verordnung (EU, Euratom) 2020/2092 ( 3 ), hilfsweise mehrerer ihrer Artikel.

2.

Im Rahmen der Klage, deren verfassungsrechtliche Bedeutung unbestreitbar ist, muss der Gerichtshof klären, ob die Verordnung 2020/2092, mit der ein Mechanismus zum Schutz des Haushalts der Union vor Verstößen gegen die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit durch die Mitgliedstaaten im Zusammenhang mit dem Haushaltsvollzug geschaffen wird, mittels einer geeigneten Rechtsgrundlage erlassen wurde und ob sie mit einer Reihe von Bestimmungen des Primärrechts, insbesondere mit Art. 7 EUV, vereinbar ist.

3.

Der Gerichtshof hat beschlossen, die Rechtssache an das Plenum zu verweisen, das über Rechtssachen von „außergewöhnlicher Bedeutung“ zu entscheiden hat (Art. 16 der Satzung des Gerichtshofs).

I. Rechtlicher Rahmen

A.   Primärrecht

4.

Art. 7 EUV bestimmt:

„(1)   Auf begründeten Vorschlag eines Drittels der Mitgliedstaaten, des Europäischen Parlaments oder der Europäischen Kommission kann der Rat mit der Mehrheit von vier Fünfteln seiner Mitglieder nach Zustimmung des Europäischen Parlaments feststellen, dass die eindeutige Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der in Artikel 2 genannten Werte durch einen Mitgliedstaat besteht. Der Rat hört, bevor er eine solche Feststellung trifft, den betroffenen Mitgliedstaat und kann Empfehlungen an ihn richten, die er nach demselben Verfahren beschließt.

Der Rat überprüft regelmäßig, ob die Gründe, die zu dieser Feststellung geführt haben, noch zutreffen.

(2)   Auf Vorschlag eines Drittels der Mitgliedstaaten oder der Europäischen Kommission und nach Zustimmung des Europäischen Parlaments kann der Europäische Rat einstimmig feststellen, dass eine schwerwiegende und anhaltende Verletzung der in Artikel 2 genannten Werte durch einen Mitgliedstaat vorliegt, nachdem er den betroffenen Mitgliedstaat zu einer Stellungnahme aufgefordert hat.

(3)   Wurde die Feststellung nach Absatz 2 getroffen, so kann der Rat mit qualifizierter Mehrheit beschließen, bestimmte Rechte auszusetzen, die sich aus der Anwendung der Verträge auf den betroffenen Mitgliedstaat herleiten, einschließlich der Stimmrechte des Vertreters der Regierung dieses Mitgliedstaats im Rat. Dabei berücksichtigt er die möglichen Auswirkungen einer solchen Aussetzung auf die Rechte und Pflichten natürlicher und juristischer Personen.

Die sich aus den Verträgen ergebenden Verpflichtungen des betroffenen Mitgliedstaats sind für diesen auf jeden Fall weiterhin verbindlich.

(4)   Der Rat kann zu einem späteren Zeitpunkt mit qualifizierter Mehrheit beschließen, nach Absatz 3 getroffene Maßnahmen abzuändern oder aufzuheben, wenn in der Lage, die zur Verhängung dieser Maßnahmen geführt hat, Änderungen eingetreten sind.

(5)   Die Abstimmungsmodalitäten, die für die Zwecke dieses Artikels für das Europäische Parlament, den Europäischen Rat und den Rat gelten, sind in Artikel 354 [AEUV] festgelegt.“

5.

Art. 269 AEUV lautet:

„Der Gerichtshof ist für Entscheidungen über die Rechtmäßigkeit eines nach Artikel 7 [EUV] erlassenen Rechtsakts des Europäischen Rates oder des Rates nur auf Antrag des von einer Feststellung des Europäischen Rates oder des Rates betroffenen Mitgliedstaats und lediglich im Hinblick auf die Einhaltung der in dem genannten Artikel vorgesehenen Verfahrensbestimmungen zuständig.

Der Antrag muss binnen eines Monats nach der jeweiligen Feststellung gestellt werden. Der Gerichtshof entscheidet binnen eines Monats nach Antragstellung.“

6.

Art. 322 Abs. 1 Buchst. a AEUV sieht vor:

„Das Europäische Parlament und der Rat erlassen gemäß dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren durch Verordnungen nach Anhörung des Rechnungshofs

a)

die Haushaltsvorschriften, in denen insbesondere die Aufstellung und Ausführung des Haushaltsplans sowie die Rechnungslegung und Rechnungsprüfung im Einzelnen geregelt werden …“

B.   Verordnung 2020/2092

7.

Art. 1 („Gegenstand“) bestimmt:

„In dieser Verordnung sind die Regeln festgelegt, die zum Schutz des Haushalts der Union im Falle von Verstößen gegen die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit in den Mitgliedstaaten erforderlich sind.“

8.

In Art. 2 („Begriffsbestimmungen“) heißt es:

„Für die Zwecke dieser Verordnung gelten die folgenden Begriffsbestimmungen:

a)

‚Rechtsstaatlichkeit‘ bezeichnet den in Artikel 2 EUV verankerten Wert der Union. Dieser umfasst die Grundsätze der Rechtmäßigkeit, die transparente, rechenschaftspflichtige, demokratische und pluralistische Gesetzgebungsverfahren voraussetzen, der Rechtssicherheit, des Verbots der willkürlichen Ausübung von Hoheitsgewalt, des wirksamen Rechtsschutzes – einschließlich des Zugangs zur Justiz – durch unabhängige und unparteiische Gerichte, auch in Bezug auf Grundrechte, der Gewaltenteilung und der Nichtdiskriminierung und der Gleichheit vor dem Gesetz. Die Rechtsstaatlichkeit ist so zu verstehen, dass auch die anderen in Artikel 2 EUV verankerten Werte und Grundsätze der Union berücksichtigt werden;

…“

9.

Art. 3 („Verstöße gegen die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit“) lautet:

„Für die Zwecke dieser Verordnung kann Folgendes ein Hinweis auf Verstöße gegen die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit sein:

a)

die Gefährdung der Unabhängigkeit der Justiz;

b)

das Versäumnis, willkürliche oder rechtswidrige Entscheidungen von Behörden einschließlich Strafverfolgungsbehörden, zu verhüten, zu korrigieren oder zu ahnden, die ihre ordnungsgemäße Arbeit beeinträchtigende Einbehaltung finanzieller und personeller Ressourcen oder das Versäumnis, sicherzustellen, dass keine Interessenkonflikte bestehen;

c)

die Einschränkung der Zugänglichkeit und Wirksamkeit von Rechtsbehelfen, auch mittels restriktiver Verfahrensvorschriften und der Nichtumsetzung von Gerichtsentscheidungen oder der Einschränkung der wirksamen Untersuchung, Verfolgung oder Ahndung von Rechtsverstößen.“

10.

Art. 4 („Voraussetzungen für die Annahme von Maßnahmen“) schreibt vor:

„(1)   Geeignete Maßnahmen sind zu ergreifen, wenn gemäß Artikel 6 festgestellt wird, dass Verstöße gegen die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit in einem Mitgliedstaat die wirtschaftliche Führung des Haushalts der Union oder den Schutz ihrer finanziellen Interessen hinreichend unmittelbar beeinträchtigen oder ernsthaft zu beeinträchtigen drohen.

(2)   Für die Zwecke dieser Verordnung betreffen Verstöße gegen die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit einen oder mehrere der folgenden Punkte:

a)

das ordnungsgemäße Arbeiten der Behörden, die den Haushaltsplan der Union ausführen, einschließlich Darlehen und anderer aus dem Haushalt der Union garantierter Instrumente, insbesondere im Zusammenhang mit Verfahren zur Vergabe öffentlicher Aufträge oder mit Finanzhilfeverfahren;

b)

das ordnungsgemäße Arbeiten der Dienststellen, die die Finanzkontrolle, die Überwachung und die Rechnungsprüfung durchführen, sowie das ordnungsgemäße Funktionieren wirksamer und transparenter Finanzverwaltungs- und Rechenschaftssysteme;

c)

das ordnungsgemäße Arbeiten von Ermittlungs- und Strafverfolgungsinstanzen bei der Untersuchung und Verfolgung von Betrug, einschließlich Steuerbetrug, Korruption und anderen Verstößen gegen das Unionsrecht im Zusammenhang mit der Ausführung des Haushaltsplans der Union oder dem Schutz ihrer finanziellen Interessen;

d)

die wirksame gerichtliche Kontrolle behördlicher Handlungen oder Unterlassungen im Sinne der Buchstaben a, b und c durch unabhängige Gerichte;

e)

die Verhütung und Ahndung von Betrug, einschließlich Steuerbetrug, Korruption und anderer Verstöße gegen das Unionsrecht im Zusammenhang mit der Ausführung des Haushaltsplans der Union oder dem Schutz ihrer finanziellen Interessen sowie die Verhängung wirksamer und abschreckender Sanktionen gegen Empfänger durch nationale Gerichte oder Verwaltungsbehörden;

f)

die Wiedereinziehung rechtsgrundlos gezahlter Beträge,

g)

die wirksame und rechtzeitige Zusammenarbeit mit OLAF und, vorbehaltlich der Beteiligung des betroffenen Mitgliedstaats, mit der EUStA bei ihren Ermittlungs- und Strafverfolgungstätigkeiten gemäß den anwendbaren Unionsrechtsakten nach dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit;

h)

andere Umstände oder Verhaltensweisen von Behörden, die für die wirtschaftliche Führung des Haushalts der Union oder den Schutz ihrer finanziellen Interessen von Bedeutung sind.“

11.

Art. 5 („Maßnahmen zum Schutz des Haushalts der Union“) sieht vor:

„(1)   Vorbehaltlich der Erfüllung der Voraussetzungen gemäß Artikel 4 dieser Verordnung können eine oder mehrere der folgenden geeigneten Maßnahmen gemäß dem in Artikel 6 dieser Verordnung festgelegten Verfahren angenommen werden:

b)

wenn die Kommission den Haushalt der Union in geteilter Mittelverwaltung mit den Mitgliedstaaten gemäß Artikel 62 Absatz 1 Buchstabe b der Haushaltsordnung ausführt:

i)

eine Aussetzung der Genehmigung eines oder mehrerer Programme oder die Änderung der Aussetzung;

ii)

eine Aussetzung von Mittelbindungen;

iii)

eine Reduzierung von Mittelbindungen, einschließlich durch Finanzkorrekturen oder Mittelübertragungen auf andere Ausgabenprogramme;

iv)

eine Reduzierung der Vorfinanzierung;

v)

eine Unterbrechung von Zahlungsfristen;

vi)

eine Aussetzung von Zahlungen.

(2)   Sofern in dem Beschluss zur Annahme der Maßnahmen nichts Anderweitiges bestimmt wird, berührt die Verhängung geeigneter Maßnahmen nicht die Verpflichtungen der staatlichen Einrichtungen gemäß Absatz 1 Buchstabe a oder der Mitgliedstaaten gemäß Absatz 1 Buchstabe b, das von der Maßnahme betroffene Programm oder den von der Maßnahme betroffenen Fonds auszuführen, und insbesondere nicht ihre Verpflichtungen gegenüber Endempfängern oder Begünstigten, einschließlich der Verpflichtung zur Leistung von Zahlungen im Rahmen dieser Verordnung und der anwendbaren sektorspezifischen Vorschriften oder Haushaltsvorschriften. Bei der Ausführung von Unionsmitteln in geteilter Mittelverwaltung erstatten die Mitgliedstaaten, die von gemäß dieser Verordnung angenommenen Maßnahmen betroffen sind, der Kommission alle drei Monate nach Annahme der genannten Maßnahmen darüber Bericht, wie sie diesen Verpflichtungen nachkommen.

Die Kommission überprüft, ob das anwendbare Recht eingehalten wurde, und ergreift erforderlichenfalls alle geeigneten Maßnahmen zum Schutz des Haushalts der Union im Einklang mit den sektorspezifischen Vorschriften und den Haushaltsvorschriften.

(3)   Die getroffenen Maßnahmen müssen verhältnismäßig sein. Sie werden unter Berücksichtigung der tatsächlichen oder potenziellen Auswirkungen der Verstöße gegen die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit auf die wirtschaftliche Führung des Haushalts der Union oder auf die finanziellen Interessen der Union festgelegt. Der Art, der Dauer, der Schwere und dem Umfang der Verstöße gegen die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit wird gebührend Rechnung getragen. Die Maßnahmen sind – soweit möglich – auf die durch die Verstöße beeinträchtigten Handlungen der Union ausgerichtet.

(4)   Die Kommission stellt den Endempfängern oder Begünstigten über eine Website oder ein Internetportal Informationen und Leitlinien zu den Verpflichtungen der Mitgliedstaaten gemäß Absatz 2 zur Verfügung. Ferner stellt die Kommission den Endempfängern oder Begünstigten über dieselbe Website bzw. dasselbe Internetportal geeignete Instrumente zur Verfügung, mit denen sie die Kommission über jegliche Verstöße gegen diese Verpflichtungen, von denen diese Endempfänger oder Begünstigten ihrer Ansicht nach unmittelbar betroffen sind, informieren können. …

(5)   Auf der Grundlage der von den Endempfängern oder Begünstigten gemäß Absatz 4 des vorliegenden Artikels bereitgestellten Informationen unternimmt die Kommission alles in ihrer Macht Stehende, um sicherzustellen, dass jeder von staatlichen Einrichtungen oder Mitgliedstaaten gemäß Absatz 2 des vorliegenden Artikels geschuldete Betrag … tatsächlich an die Endempfänger oder Begünstigten gezahlt wird.“

12.

In Art. 6 („Verfahren“) heißt es:

(1)   Liegen nach Auffassung der Kommission hinreichende Gründe für die Feststellung vor, dass die in Artikel 4 festgelegten Voraussetzungen erfüllt sind, übermittelt sie dem betreffenden Mitgliedstaat eine schriftliche Mitteilung und legt darin die Tatsachen und die spezifischen Gründe dar, auf denen ihre Feststellungen beruhen, es sei denn, sie ist der Auffassung, dass andere in der Gesetzgebung der Union festgelegte Verfahren es ihr ermöglichen würden, den Haushalt der Union wirksamer zu schützen. Die Kommission unterrichtet das Europäische Parlament und den Rat unverzüglich über diese Mitteilung und deren Inhalt.

(9)   Gelangt die Kommission zu der Feststellung, dass die Voraussetzungen des Artikels 4 erfüllt sind und die gegebenenfalls vom Mitgliedstaat gemäß Absatz 5 vorgeschlagenen Abhilfemaßnahmen der in der Mitteilung der Kommission dargelegten Feststellung nicht in angemessener Weise gerecht werden, legt sie dem Rat einen Entwurf für einen Durchführungsbeschluss mit geeigneten Maßnahmen vor, und zwar binnen eines Monats nach Eingang der Stellungnahme des Mitgliedstaats oder, sofern keine Stellungnahme abgegeben wird, unverzüglich und in jedem Fall binnen eines Monats nach Ablauf der gemäß Absatz 7 festgelegten Frist. Die Kommission legt in ihrem Vorschlag die spezifischen Gründe und Beweismittel dar, auf denen ihre Feststellung beruht.

(10)   Der Rat nimmt den in Absatz 9 des vorliegenden Artikels genannten Durchführungsbeschluss binnen eines Monats nach Eingang des Kommissionsvorschlags an. Sollten außergewöhnliche Umstände auftreten, kann der Zeitraum für die Annahme dieses Durchführungsbeschlusses um höchstens zwei Monate verlängert werden. Zur Gewährleistung eines rechtzeitigen Beschlusses macht die Kommission von ihren Rechten nach Artikel 237 AEUV Gebrauch, wenn sie dies für angemessen hält.

(11)   Der Rat kann den Vorschlag der Kommission mit qualifizierter Mehrheit ändern und den geänderten Text durch einen Durchführungsbeschluss erlassen.“

C.   Verordnung (EG) Nr. 1049/2001 ( 4 )

13.

In Art. 4 („Ausnahmeregelung“) heißt es:

„…

(2)   Die Organe verweigern den Zugang zu einem Dokument, durch dessen Verbreitung Folgendes beeinträchtigt würde:

der Schutz von Gerichtsverfahren und der Rechtsberatung,

es sei denn, es besteht ein überwiegendes öffentliches Interesse an der Verbreitung.

(3)   Der Zugang zu einem Dokument, das von einem Organ für den internen Gebrauch erstellt wurde oder bei ihm eingegangen ist und das sich auf eine Angelegenheit bezieht, in der das Organ noch keinen Beschluss gefasst hat, wird verweigert, wenn eine Verbreitung des Dokuments den Entscheidungsprozess des Organs ernstlich beeinträchtigen würde, es sei denn, es besteht ein überwiegendes öffentliches Interesse an der Verbreitung.

Der Zugang zu einem Dokument mit Stellungnahmen zum internen Gebrauch im Rahmen von Beratungen und Vorgesprächen innerhalb des betreffenden Organs wird auch dann, wenn der Beschluss gefasst worden ist, verweigert, wenn die Verbreitung des Dokuments den Entscheidungsprozess des Organs ernstlich beeinträchtigen würde, es sei denn, es besteht ein überwiegendes öffentliches Interesse an der Verbreitung.

…“

II. Verfahren vor dem Gerichtshof

14.

Ungarn beantragt ( 5 ),

die Verordnung 2020/2092 über eine allgemeine Konditionalitätsregelung zum Schutz des Haushalts der Union für nichtig zu erklären;

hilfsweise, Art. 4 Abs. 1, Art. 4 Abs. 2 Buchst. h, Art. 5 Abs. 2, Art. 5 Abs. 3 vorletzter und letzter Satz sowie Art. 6 Abs. 3 und 8 der Verordnung 2020/2092 für nichtig zu erklären;

dem Europäischen Parlament und dem Rat der Europäischen Union die Kosten aufzuerlegen.

15.

Das Parlament und der Rat beantragen, die Klage abzuweisen und Ungarn die Kosten aufzuerlegen.

16.

Am 12. Mai 2021 hat das Parlament beantragt, die Rechtssache gemäß Art. 133 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs (beschleunigtes Verfahren) zu behandeln; diesem Antrag hat der Präsident des Gerichtshofs am 9. Juni 2021 stattgegeben.

17.

Am 12. Mai 2021 hat der Rat gemäß Art. 151 Abs. 1 der Verfahrensordnung beantragt, bestimmte Passagen der Klageschrift Ungarns und ihre Anlage A.3 unberücksichtigt zu lassen, weil sie ein unveröffentlichtes Gutachten des Juristischen Dienstes des Rates wiedergäben oder darauf Bezug nähmen. Am 29. Juni 2021 hat der Gerichtshof gemäß Art. 151 Abs. 5 entschieden, die Entscheidung über diesen Zwischenstreit dem Endurteil vorzubehalten.

18.

An der mündlichen Verhandlung, die am 11. und 12. Oktober 2021 vor dem Plenum des Gerichtshofs stattgefunden hat, haben Ungarn, die Republik Polen, das Europäische Parlament und der Rat sowie die Europäische Kommission und die Regierungen des Königreichs Belgien, des Königreichs Dänemark, der Bundesrepublik Deutschland, Irlands, des Königreichs Spanien, der Französischen Republik, des Großherzogtums Luxemburg, des Königreichs der Niederlande, der Republik Finnland und des Königreichs Schweden teilgenommen.

19.

In werde in meinen Schlussanträgen zunächst auf den vom Rat herbeigeführten Zwischenstreit eingehen. Sodann werde ich den rechtlichen Kontext der Ausarbeitung und des Erlasses der Verordnung 2020/2092 behandeln. Schließlich werde ich mich mit den neun Nichtigkeitsgründen befassen, die Ungarn geltend macht.

III. Zwischenstreit

20.

Der Rat beantragt, „die Passagen der Klageschrift und ihrer Anlagen, insbesondere Anlage A.3, die auf das Gutachten des Juristischen Dienstes des Rates vom 25. Oktober 2018 (Ratsdokument 13593/18) [(im Folgenden: Gutachten)] Bezug nehmen, seinen Inhalt wiedergeben oder die darin vorgenommene Analyse widerspiegeln, und insbesondere die Passagen [in den Rn. 21, 22, 164 und 166] nicht zu berücksichtigen“.

21.

Ungarn beantragt, den Antrag des Rates zurückweisen, hilfsweise, den Rat zur Vorlage des Gutachtens zu verpflichten.

22.

Einleitend möchte ich klarstellen, dass der Rat nicht die Entfernung des Gutachtens beantragt, denn es wurde von Ungarn seiner Klageschrift gar nicht als solches beigefügt. Man kann daher nicht von der Entfernung eines Dokuments sprechen, das nicht zur Akte gereicht worden ist. Der Rat beschränkt seinen Antrag, wie sich aus dessen Wortlaut im Licht von Art. 151 der Verfahrensordnung ergibt, darauf, die Passagen der Klageschrift und ihrer Anlagen, in denen das besagte Gutachten wiedergegeben oder darauf Bezug genommen wird, unberücksichtigt zu lassen.

23.

In ihrer Eigenschaft als Mitglieder des Rates bzw. Beteiligte am Gesetzgebungsverfahren, das zum Erlass der Verordnung 2020/2092 geführt hat, verfügen sämtliche Staaten der Union sowie die Kommission über das Gutachten.

24.

Die Existenz des Gutachtens wurde zudem durch die Presse enthüllt ( 6 ), und sein Inhalt kann im Internet abgerufen werden. Gleichwohl hat der Rat entschieden, seinen vertraulichen Charakter aufrechtzuerhalten, mehrere auf der Grundlage der Verordnung Nr. 1049/2001 gestellte Anträge auf Zugang zurückgewiesen und lediglich die Rn. 1 bis 8 des Gutachtens veröffentlicht ( 7 ).

25.

Es ergibt sich also die paradoxe Situation, dass sämtliche Verfahrensbeteiligte rechtmäßig Zugang zu dem Dokument hatten und es nur dem Gerichtshof offiziell unbekannt ist. Vor diesem Hintergrund ist der Antrag des Rates recht überraschend ( 8 ) und nicht mit den klassischen Fällen der Entfernung von Dokumenten vergleichbar, über die der Gerichtshof zu entscheiden hatte und auf die er in seiner Rechtsprechung Bezug nimmt.

26.

Die Klageschrift Ungarns und ihre Anlagen enthalten

die Wiedergabe einer Passage des Gutachtens in Rn. 4 des in Anlage 3 enthaltenen Dokuments mit dem Titel Non-paper from Hungary über den Vorschlag der Kommission vom 9. November 2018, der der Verordnung 2020/2092 zugrunde lag;

Bezugnahmen auf das Gutachten, die offenbar seinen Inhalt wiedergeben, wobei ich nicht feststellen kann, ob es sich um eine wörtliche Wiedergabe handelt oder um eine Umformulierung durch Ungarn (Rn. 22 und 164 der Klageschrift sowie Anlage 3, Rn. 2 bis 7 und 9);

bloße Bezugnahmen auf das Gutachten im Rahmen spezifischer Argumente Ungarns (Rn. 21 und 166 der Klageschrift).

27.

Bevor ich in der Sache auf den Zwischenstreit eingehe, möchte ich die Vorschriften und die einschlägige Rechtsprechung des Gerichtshofs zum Zugang, zur Verbreitung und zur Heranziehung von Dokumenten der Unionsorgane, insbesondere von Gutachten ihrer Juristischen Dienste, in gerichtlichen Verfahren darstellen.

A.   Zugang zu Dokumenten der Organe der Union und ihre Heranziehung in gerichtlichen Verfahren

28.

Der Zugang natürlicher und juristischer Personen zu den Dokumenten der Organe der Union ist in der Verordnung Nr. 1049/2001 geregelt. Ihr Zweck ist es, größtmöglichen Zugang zu gewährleisten. Deshalb ist in ihrem Art. 2 Abs. 1 der allgemeine Grundsatz des Zugangs zu allen Dokumenten der Union niedergelegt, wenn auch unter gewissen Bedingungen und mit gewissen Grenzen ( 9 ).

29.

Der oben wiedergegebene Art. 4 der Verordnung Nr. 1049/2001 regelt die Ausnahmen vom Recht auf Zugang, beruhend auf dem Vorliegen von Gründen des öffentlichen bzw. privaten Interesses. Unter diese Ausnahmen fällt die Verweigerung des Zugangs zu einem Dokument,

dessen Verbreitung den „Schutz von Gerichtsverfahren und der Rechtsberatung“ beeinträchtigen würde, „es sei denn, es besteht ein überwiegendes öffentliches Interesse an der Verbreitung“;

„das von einem Organ für den internen Gebrauch erstellt wurde oder bei ihm eingegangen ist und das sich auf eine Angelegenheit bezieht, in der das Organ noch keinen Beschluss gefasst hat, … wenn eine Verbreitung des Dokuments den Entscheidungsprozess des Organs ernstlich beeinträchtigen würde, es sei denn, es besteht ein überwiegendes öffentliches Interesse an der Verbreitung“.

30.

Die Verordnung Nr. 1049/2001 findet nur auf Zugangsanträge natürlicher oder juristischer Personen Anwendung, nicht aber auf Anträge von Mitgliedstaaten. Handelt es sich um Rechtsetzungsakte des Rates, verfügen die Mitgliedstaaten logischerweise über die von diesem Organ stammenden Dokumente.

31.

Handelt es sich aber um die Verbreitung oder Veröffentlichung nur eingeschränkt zugänglicher Dokumente, müssen die Mitgliedstaaten eine Genehmigung beantragen, die in der Geschäftsordnung des Rates geregelt ist ( 10 ). Ihr Anhang II enthält die spezifischen Bestimmungen des Rates über den öffentlichen Zugang zu seinen Dokumenten, die auf die Verordnung Nr. 1049/2001 verweisen ( 11 ).

32.

Der Verweis auf die Bestimmungen der Verordnung Nr. 1049/2001 wird durch die Leitlinien für die Behandlung von ratsinternen Dokumenten ( 12 ) vervollständigt. Nach Nr. 5 der Leitlinien sind Dokumente mit der Kennzeichnung „LIMITE“ so zu betrachten, dass sie nach Art. 339 AEUV und nach Art. 6 Abs. 1 der Geschäftsordnung des Rates der Geheimhaltungspflicht unterliegen; außerdem müssen sie im Einklang mit den einschlägigen Rechtsvorschriften der Union, insbesondere der Verordnung Nr. 1049/2001, behandelt werden.

33.

Was den Zugang zu „LIMITE“-Dokumenten betrifft, bedarf ihre Veröffentlichung nach den Nrn. 20 bis 22 der Leitlinien des Rates seiner vorherigen Genehmigung ( 13 ).

B.   Rechtsprechung insbesondere zum Zugang zu den Gutachten der Juristischen Dienste der Organe und zu ihrer Heranziehung in gerichtlichen Verfahren

34.

Der Gerichtshof hat seine Rechtsprechung vornehmlich anhand von Fällen entwickelt, in denen natürliche und juristische Personen Zugang zu Dokumenten der Organe begehrten, der ihnen verweigert wurde.

35.

Im Rahmen dieser Rechtsprechung hat der Gerichtshof die Verordnung Nr. 1049/2001 speziell im Zusammenhang mit Klagen auf Zugang zu juristischen Gutachten der Organe der Union angewandt und ausgelegt. Diese Verordnung bietet „eine gewisse Orientierung für die Gewichtung der Interessen, die für die Entscheidung“ über einen Antrag auf Entfernung von Dokumenten in einer beim Gerichtshof anhängigen Rechtssache erforderlich ist ( 14 ).

36.

Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs „liefe es … dem [in Art. 4 der Verordnung Nr. 1049/2001 zum Ausdruck kommenden] öffentlichen Interesse daran, dass die Organe auf die in völliger Unabhängigkeit abgegebenen Stellungnahmen ihres Juristischen Dienstes zurückgreifen können müssen, zuwider, wenn zugelassen würde, dass solche internen Dokumente in einem Rechtsstreit vor dem Gerichtshof vorgelegt werden könnten, ohne dass ihre Vorlage von dem betreffenden Organ genehmigt oder vom Gerichtshof angeordnet worden wäre …“ ( 15 )

37.

Im Hinblick darauf soll die in Art. 4 Abs. 2 zweiter Gedankenstrich der Verordnung Nr. 1049/2001 vorgesehene Ausnahme für die Rechtsberatung „das Interesse eines Organs schützen …, Rechtsgutachten anzufordern und freie, objektive und vollständige Stellungnahmen zu erhalten“ ( 16 ).

38.

Der Rat muss diese Ausnahme, die eng auszulegen ist ( 17 ), in drei Schritten prüfen, die im Urteil Schweden und Turco/Rat detailliert dargestellt werden (Rn. 37 bis 47):

„In einem ersten Schritt muss sich der Rat vergewissern, dass das Dokument, dessen Verbreitung beantragt wird, tatsächlich eine Rechtsberatung betrifft …“

„In einem zweiten Schritt muss der Rat prüfen, ob der ‚Schutz der Rechtsberatung‘ durch die Verbreitung der Abschnitte des fraglichen Dokuments, die als eine Rechtsberatung betreffend identifiziert wurden, ‚beeinträchtigt würde‘. … Die Gefahr einer Beeinträchtigung dieses Interesses kann nur geltend gemacht werden, wenn sie angemessen absehbar und nicht rein hypothetisch ist.“

„Ist der Rat der Auffassung, dass die Verbreitung eines Dokuments den Schutz der Rechtsberatung, wie er soeben definiert worden ist, beeinträchtigt, so muss er schließlich prüfen, ob nicht ein überwiegendes öffentliches Interesse besteht, das diese Verbreitung trotz der Beeinträchtigung seiner Möglichkeiten, Rechtsgutachten anzufordern und freie, objektive und vollständige Stellungnahmen zu erhalten, rechtfertigt.“ ( 18 )

39.

Bei der gesamten Prüfung sind die Grundsätze zu beachten, die der Gerichtshof im Urteil ClientEarth/Kommission ( 19 ) aufgestellt hat:

„Die Verordnung Nr. 1049/2001 folgt nach ihrem ersten Erwägungsgrund dem Willen, der in Art. 1 Abs. 2 EUV seinen Ausdruck gefunden hat und wonach dieser Vertrag eine neue Stufe bei der Verwirklichung einer immer engeren Union der Völker Europas darstellt, in der die Entscheidungen möglichst offen und möglichst bürgernah getroffen werden …“

„Dieses grundlegende Ziel der Union spiegelt sich zum einen in Art. 15 Abs. 1 AEUV wider, der u. a. vorsieht, dass die Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union unter weitestgehender Beachtung des Grundsatzes der Offenheit handeln, eines Grundsatzes, der auch in Art. 10 Abs. 3 EUV und Art. 298 Abs. 1 AEUV bekräftigt wird, sowie zum anderen in der Verbürgung des Rechts auf Zugang zu Dokumenten in Art. 42 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union …“

„Nach dem zweiten Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 1049/2001 ermöglicht Transparenz, den Unionsorganen eine größere Legitimität, Effizienz und Verantwortung gegenüber den Unionsbürgern in einem demokratischen System zu verleihen. Sie trägt außerdem dazu bei, das Vertrauen der Unionsbürger zu stärken, weil sie es ermöglicht, Unterschiede zwischen mehreren Standpunkten offen zu erörtern …“

40.

Das Erfordernis der „Transparenz“ reicht allerdings möglicherweise zur Rechtfertigung des Verbleibs eines Gutachtens eines Organs, das als Anlage zu einer Klageschrift eingereicht wurde, in den Gerichtsakten nicht aus, wenn gewisse Risiken bestehen. Eines von ihnen besteht darin, das Organ zu zwingen, „öffentlich zu einem Gutachten Stellung zu nehmen, das ganz offenkundig für eine interne Verwendung bestimmt war[, was] aber unweigerlich negative Auswirkungen auf das Interesse [des Organs hätte], Rechtsgutachten anzufordern und freie, objektive und vollständige Stellungnahmen zu erhalten“ ( 20 ).

41.

Würde ein Dokument, dessen Verbreitung von dem betreffenden Organ nicht erlaubt wurde, in den Akten belassen, liefe dies außerdem auf eine Umgehung des mit der Verordnung Nr. 1049/2001 eingeführten Verfahrens hinaus, wonach der Zugang beantragt werden muss ( 21 ).

42.

Bezüglich der Stellungnahmen der Organe im Rahmen von Gesetzgebungsverfahren ist der Gerichtshof in seiner Rechtsprechung von einem viel weiteren Recht auf Zugang und einer entsprechend weiter gehenden Pflicht zur Offenlegung ausgegangen.

43.

Dies wurde im Urteil Schweden und Turco/Rat klargestellt, in dem der Gerichtshof die „Rechtfertigungen“ des Organs zur Entfernung einer Stellungnahme seines Juristischen Dienstes zu einem Gesetzesvorhaben aus den Gerichtsakten zurückwies. Der Rat hatte argumentiert, die Verbreitung dieser Stellungnahme könne „Zweifel an der Rechtmäßigkeit des betreffenden Rechtsakts hervorrufen“ und die „Unabhängigkeit seines Juristischen Dienstes … in Frage“ stellen ( 22 ).

44.

Der Gerichtshof führte dazu aus:

zum ersten Aspekt, „dass gerade Transparenz in dieser Hinsicht dazu beiträgt, den Organen in den Augen der europäischen Bürger eine größere Legitimität zu verleihen und deren Vertrauen zu stärken, weil sie es ermöglicht, Unterschiede zwischen mehreren Standpunkten offen zu erörtern. Tatsächlich ist es eher das Fehlen von Information und Diskussion, das bei den Bürgern Zweifel hervorrufen kann, und zwar nicht nur an der Rechtmäßigkeit eines einzelnen Rechtsakts, sondern auch an der Rechtmäßigkeit des Entscheidungsprozesses insgesamt.“ ( 23 )

Zum zweiten Aspekt, dass die geltend gemachte Gefahr (dass die Unabhängigkeit des Juristischen Dienstes in Frage gestellt würde) weder rein hypothetisch sein noch mit dem Interesse vermengt werden darf, zu verhindern, dass Druck ausgeübt werden könnte, um Einfluss auf den Inhalt der Stellungnahmen des Juristischen Dienstes zu nehmen ( 24 ).

45.

Daraus „ergibt sich, dass die Verordnung Nr. 1049/2001 grundsätzlich eine Verpflichtung zur Verbreitung der Stellungnahmen des Juristischen Dienstes des Rates zu Gesetzgebungsverfahren aufstellt“. Das schließt nicht aus, dass „die Verbreitung eines spezifischen Rechtsgutachtens, das im Zusammenhang mit einem Gesetzgebungsverfahren erstellt wurde, aber besonders sensibel oder von besonders großer Tragweite ist, die über den Rahmen des betreffenden Gesetzgebungsverfahrens hinausgeht“, verweigert werden kann ( 25 ).

C.   Prüfung des Antrags des Rates

46.

Beim Antrag des Rates sind zwei Teile zu unterscheiden.

47.

Der erste Teil betrifft den Antrag auf Entfernung von Anlage 3 der Klageschrift, das sogenannte Non-paper from Hungary zum Vorschlag der Kommission, der der Verordnung zugrunde liegt. Dieses Non-paper enthält die wörtliche Wiedergabe einer Passage des Gutachtens des Juristischen Dienstes sowie Bezugnahmen auf dieses Gutachten, die seinen Inhalt wiederzugeben scheinen.

48.

Da das Non-paper from Hungary ein von Ungarn erarbeitetes und im Verlauf des Gesetzgebungsverfahrens, das zum Erlass der Verordnung 2020/2092 geführt hat, vorgelegtes Dokument ist, finden die Vorschriften über den Zugang zu Dokumenten der Organe der Union keine Anwendung.

49.

Ungarn als Urheber des Dokuments ist demnach durch nichts daran gehindert, es in einem Verfahren vor dem Gerichtshof vorzulegen, selbst wenn darin das Gutachten des Juristischen Dienstes des Rates direkt oder indirekt zitiert wird.

50.

Mit dem zweiten Teil seines Antrags ersucht der Rat den Gerichtshof, die Passagen der Klageschrift Ungarns, die auf das Gutachten Bezug nehmen, seinen Inhalt wiedergeben oder die darin vorgenommene Analyse widerspiegeln, unberücksichtigt zu lassen.

51.

Dieses Begehren könnte allenfalls in Bezug auf die Wiedergabe des Inhalts des Gutachtens stichhaltig sein, nicht aber in Bezug auf die Punkte der Klageschrift, die lediglich mit ihm übereinstimmen. Ein Staat, der die Gültigkeit eines Gesetzgebungsakts der Union anficht, ist voll und ganz zur Verteidigung seiner Standpunkte berechtigt, unabhängig davon, ob sie mit dem Inhalt von Dokumenten übereinstimmen, die im Verlauf des Verfahrens, das zum Erlass des Rechtsakts führte, ausgearbeitet wurden.

52.

Hätte Ungarn beim Rat Zugang zu dem Gutachten beantragt, könnte grundsätzlich dessen Geschäftsordnung Anwendung finden, nach deren Art. 6 Abs. 2 der Rat „die Vorlage einer Kopie oder eines Auszugs der Ratsdokumente vor Gericht genehmigen [kann], wenn diese nicht gemäß den Bestimmungen über den Zugang der Öffentlichkeit zu Dokumenten der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurden“.

53.

Für Ratsdokumente, die wie hier die Kennzeichnung „LIMITE“ tragen, sehen die oben angeführten Leitlinien für die Behandlung interner Ratsdokumente in Nr. 5 vor, dass sie nach Art. 339 AEUV und nach Art. 6 Abs. 1 der Geschäftsordnung des Rates der Geheimhaltungspflicht unterliegen und außerdem im Einklang mit den einschlägigen Rechtsvorschriften der Union, insbesondere der Verordnung Nr. 1049/2001, behandelt werden müssen. Was den Zugang zu diesen „LIMITE“-Dokumenten betrifft, bedarf ihre Veröffentlichung nach den Nrn. 20 und 21 der Leitlinien des Rates seiner vorherigen Genehmigung.

54.

Ungarn hätte diese Genehmigung durch den Rat benötigt, um das streitige Gutachten seiner Klageschrift als Anlage beifügen zu können, da es sich um ein Dokument mit der Kennzeichnung „LIMITE“ handelt, das der Rat nur stark gekürzt veröffentlicht hat und in Bezug auf das er mehrere Anträge auf Zugang von Privatpersonen abgelehnt hat ( 26 ). Ich habe bereits ausgeführt, dass das Verfahren für den Zugang gemäß der Verordnung Nr. 1049/2001 leicht umgangen werden könnte, wenn wahllos gestattet würde, Dokumente, deren Verbreitung das Organ nicht genehmigt hat, zu den Gerichtsakten zu reichen ( 27 ).

55.

Letztlich hängt die Entscheidung über diesen Zwischenstreit davon ab, ob die Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Vorlage im Rahmen von Gesetzgebungsverfahren erarbeiteter Rechtsgutachten berücksichtigt wird, wonach die dreistufige Prüfung, auf die ich bereits eingegangen bin ( 28 ), erforderlich ist.

56.

Was den ersten Abschnitt dieser Prüfung anbelangt, besteht kein Zweifel, dass es sich um ein Rechtsgutachten (des Juristischen Dienstes des Rates) handelt. Dies ist zwischen den Parteien unstreitig.

57.

Im zweiten Abschnitt der Prüfung wäre zu beurteilen, ob die Verbreitung des spezifischen Gutachtens eine Gefahr für den Schutz der Rechtsberatung des Rates darstellt, die angemessen absehbar und nicht rein hypothetisch ist.

58.

Bei der Beurteilung, ob diese Gefahr im vorliegenden Fall gegeben ist, gehe ich von der Prämisse aus, dass Ungarn der Genehmigung des Rates bedurft hätte, um das Gutachten im Verfahren vor dem Gerichtshof vorzulegen.

59.

Diese Genehmigung wäre meines Erachtens erforderlich, wenn Ungarn wörtliche Passagen eines Dokuments mit der Kennzeichnung „LIMITE“, zu denen der Rat wie hier den Zugang beschränkt hat, in seine Klageschrift aufnehmen wollte, sofern durch diese Passagen de facto sein vollständiger oder wesentlicher Inhalt öffentlich bekannt würde.

60.

Ein Mitgliedstaat, der nicht über die vorherige Genehmigung des Rates verfügt, könnte dieses Erfordernis umgehen, um vertrauliche Ratsdokumente öffentlich zu machen und in einem gerichtlichen Verfahren vorzulegen; es würde ausreichen, den Inhalt dieser Dokumente in seine Klageschrift aufzunehmen, statt sie als Beweisurkunden der Klageschrift beizufügen.

61.

Ausgehend von diesen Überlegungen könnten folgende Umstände erheblich sein:

Bei dem Gutachten handelt es sich (mit Ausnahme seiner ersten acht Randnummern, die eine reine Darstellung, aber keine Analyse enthalten und bereits verbreitet wurden) um ein internes Dokument mit der Kennzeichnung „LIMITE“, das der Geheimhaltungspflicht unterliegt.

Ungarn verfügt als Mitgliedstaat rechtmäßig über den Wortlaut des Gutachtens. Es hat ihn mithin erhalten, ohne das in der Geschäftsordnung des Rates, deren Anhang II in Art. 5 vorsieht, dass die Staaten dieses Organ nur um Zugang zu Dokumenten ersuchen müssen, über die sie nicht verfügen, geregelte Verfahren zu umgehen.

Der Rat war nicht verpflichtet, öffentlich zu einem Gutachten seines Juristischen Dienstes Stellung zu beziehen, denn er konnte die Klage Ungarns beantworten, ohne sich dabei ausdrücklich mit ihm auseinandersetzen zu müssen ( 29 ).

Rein umstandsbedingte Bezugnahmen auf Passagen des Gutachtens in der Klageschrift können nicht als „Vorlage … vor Gericht“ angesehen werden. Nur wenn diese Bezugnahmen so ausführlich wären, dass sie einer ungenehmigten Verbreitung des Gutachtens selbst gleichkämen, könnte man darin den Versuch sehen, die vorgeschriebene Genehmigung des Rates zu umgehen.

Wie bereits ausgeführt, ist es völlig legitim, dass Ungarn seine rechtlichen Argumente vorbringt, so sehr sie auch mit denen des Juristischen Dienstes des Rates übereinstimmen mögen, die dieser Mitgliedstaat kennt, da er an der Ausarbeitung der Verordnung 2020/2092 beteiligt war.

62.

Ich glaube daher nicht, dass eine angemessen absehbare und nicht rein hypothetische Gefahr für den Schutz der Rechtsberatung des Rates besteht. Sollte dies aber der Fall sein und das zweite Prüfungskriterium bejaht werden, wäre an dritter Stelle noch zu prüfen, ob ein überwiegendes öffentliches Interesse daran besteht, die direkten und indirekten Bezugnahmen auf Passagen des Gutachtens des Juristischen Dienstes des Rates in der Gerichtsakte zu belassen.

63.

Wie ich sogleich ausführen werde, ist dieses überwiegende öffentliche Interesse im vorliegenden Fall unabhängig davon gegeben, ob Ungarn ein eigenes Interesse an der Zurückweisung des Antrags des Rates hat und die zur Stützung seiner These der (vermeintlichen) Nichtigkeit der Verordnung 2020/2092 dienenden Bezugnahmen auf das Gutachten bestehen bleiben.

64.

Die Transparenz des Gesetzgebungsverfahrens ist das öffentliche Interesse, das in dieser Rechtssache eine Berufung auf Passagen des Gutachtens des Juristischen Dienstes des Rates und ihre Verbreitung vor Gericht rechtfertigen würde.

65.

Der Zugang zu den Dokumenten, die der Rat im Rahmen seiner gesetzgeberischen Tätigkeit erstellt, erhöht die Transparenz und die Offenheit des Gesetzgebungsverfahrens und stärkt die Demokratie, indem er den Bürgern die Überprüfung der Informationen erleichtert, auf deren Grundlage ein Rechtsakt ergangen ist ( 30 ).

66.

Zudem sind im Rahmen eines transparenten Gesetzgebungsverfahrens sämtliche begründeten Rechtsmeinungen für oder wider einen bestimmten Vorschlag zu begrüßen, die den Mitgesetzgebern (die letztlich für die Entscheidung verantwortlich sind) und allgemein den Bürgern die zur Beurteilung dieses Vorschlags unverzichtbaren Entscheidungskriterien liefern.

67.

Dies ist nur möglich, wenn die geäußerten Rechtsmeinungen der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden, und zwar, weil dies „dazu beiträgt, den Organen in den Augen der europäischen Bürger eine größere Legitimität zu verleihen und deren Vertrauen zu stärken, [was] es ermöglicht, Unterschiede zwischen mehreren Standpunkten offen zu erörtern“ ( 31 ).

68.

Auf der Grundlage dieser Überlegungen, die ich voll und ganz teile, hat der Gerichtshof festgestellt, dass grundsätzlich eine Verpflichtung zur Verbreitung der Stellungnahmen zu Gesetzgebungsverfahren besteht ( 32 ). Die Kehrseite dieser Verpflichtung besteht darin, dass es nicht „generell einer vertraulichen Behandlung“ dieser Stellungnahmen bedarf ( 33 ).

69.

Diese Verpflichtung ist allerdings nicht absolut. Konkret „schließt diese Feststellung nicht aus, dass die Verbreitung eines spezifischen Rechtsgutachtens, das im Zusammenhang mit einem Gesetzgebungsverfahren erstellt wurde, aber besonders sensibel oder von besonders großer Tragweite ist, die über den Rahmen des betreffenden Gesetzgebungsverfahrens hinausgeht, zum Schutz der Rechtsberatung verweigert werden kann“ ( 34 ).

70.

Das hier in Rede stehende Gutachten wurde im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens zum Erlass der Verordnung 2020/2092 erstellt. Meines Erachtens hat der Rat nicht dargelegt, dass es sich um ein „besonders sensibles“ Gutachten handelt, auch wenn die Wichtigkeit der Verordnung für die Union und ihre Mitgliedstaaten unbestreitbar ist.

71.

Der Inhalt des Rechtsgutachtens muss besonders sensiblen Charakter haben. So gesehen kann die Sensibilität des Gutachtens, selbst wenn es eine relevante gesetzgeberische Maßnahme betrifft, nur bejaht werden, wenn es ganz besonders heikle Informationen (beispielsweise zu vertraulichen oder geheimen Themen) enthält, nicht aber, wenn darin lediglich Auslegungsgesichtspunkte der Verträge, etwa zu den Rechtsgrundlagen der Maßnahme, erörtert werden.

72.

Der Rat belegt meines Erachtens auch nicht, dass das Gutachten „von besonders großer Tragweite ist, die über den Rahmen des betreffenden Gesetzgebungsverfahrens hinausgeht“.

73.

Diese Wendung im Urteil Schweden und Turco/Rat ist zwar nicht allzu klar (denn Rechtsgutachten zu einem Gesetzgebungsvorschlag beschränken sich grundsätzlich auf die Prüfung seiner Gültigkeit oder seiner Mängel und gehen nicht darüber hinaus), doch verstehe ich sie so, dass sie sich auf Gutachten bezieht, die für das gerichtliche Verfahren, in dem sie vorgelegt werden sollen, irrelevant sind, weil sie über den Inhalt der streitgegenständlichen Vorschrift hinausgehen.

74.

Daher muss die Transparenz des Gesetzgebungsverfahrens im vorliegenden Fall Vorrang vor der (hier nicht dargetanen) hypothetischen Gefahr haben, dass die Rechtsberatung des Rates nicht angemessen geschützt oder die Erstellung „freier, objektiver und vollständiger“ ( 35 ) Gutachten seines Juristischen Dienstes erschwert wird. Dies gewährleistet darüber hinaus die Professionalität der Mitarbeiter dieses Dienstes, die der Rat sicherstellen muss.

75.

Aufgrund des Vorstehenden schlage ich dem Gerichtshof vor, den Nebenantrag des Rates zurückzuweisen.

IV. Verordnung 2020/2092: eine Regelung im Spannungsfeld zwischen finanzieller Konditionalität und der Garantie der Rechtsstaatlichkeit

76.

Zum besseren Verständnis des in der Verordnung 2020/2092 geregelten Mechanismus der Konditionalität ist a) auf das Gesetzgebungsverfahren zu seinem Erlass und b) auf die im Unionsrecht bereits vorgesehenen analogen Mechanismen, zu denen jetzt der durch diese Verordnung eingeführte Mechanismus hinzukommt, einzugehen.

A.   Gesetzgebungsverfahren beim Erlass der Verordnung 2020/2092

77.

Die Ausarbeitung der Verordnung 2020/2092 war besonders komplex, und der Ablauf des Gesetzgebungsverfahrens ist für ihre angemessene Auslegung hilfreich ( 36 ).

78.

Die Verordnung beruht auf dem Bestreben der Union, ihre Rechtsinstrumente zu verbessern, die gewährleisten sollen, dass die Mitgliedstaaten die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit beachten. Dieser in Art. 2 EUV niedergelegte Wert der Union wurde, wie das Parlament und die Kommission wiederholt hervorgehoben haben, in der letzten Zeit durch Praktiken einiger Mitgliedstaaten bedroht, die teilweise in großem Umfang Mittel aus dem Unionshaushalt erhalten ( 37 ).

79.

Die Union verfügt über ein begrenztes Arsenal an Rechtsinstrumenten, um Verstößen gegen die Rechtsstaatlichkeit entgegentreten zu können:

Der Mechanismus des Art. 7 EUV zielt auf die Feststellung ab, „dass die eindeutige Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der in Artikel 2 genannten Werte durch einen Mitgliedstaat besteht“ oder „eine schwerwiegende und anhaltende Verletzung [dieser] Werte … vorliegt“, mit den Konsequenzen, die sich aus der jeweiligen Feststellung ergeben. Die Wirksamkeit des Mechanismus wird im letztgenannten Fall durch das Erfordernis einer einstimmigen Entscheidung des Europäischen Rates beeinträchtigt.

Vertragsverletzungsklagen der Kommission (Art. 258 AEUV) oder eines anderen Mitgliedstaats (Art. 259 AEUV) ermöglichen die Feststellung, ob ein Mitgliedstaat gegen eine seiner Verpflichtungen aus den Verträgen verstoßen hat.

80.

2014 erließ die Kommission einen „neuen EU-Rahmen zur Stärkung des Rechtsstaatsprinzips“ zur Gewährleistung eines „wirksamen, einheitlichen Schutz[es] der Rechtsstaatlichkeit in allen Mitgliedstaaten … Er soll in Fällen greifen, in denen systembedingte Gefahren für die Rechtsstaatlichkeit bestehen.“ ( 38 )

81.

Mit dem neuen Rahmen „sollen Gefahren für das Rechtsstaatsprinzip abgewendet werden, bevor die Voraussetzungen für die Aktivierung des Mechanismus in Artikel 7 EUV gegeben sind. Er ist keine Alternative zu Artikel 7 EUV, sondern er ergänzt ihn und dient eher dazu, eine Lücke im Vorfeld zu schließen.“ ( 39 )

82.

2019 überarbeitete die Kommission ihre Strategie und schuf den Europäischen Rechtsstaatsmechanismus ( 40 ). Auf der Grundlage eines engen Dialogs mit nationalen Behörden und Beteiligten soll dieser Mechanismus zur Transparenz beitragen und erstreckt sich in objektiver und unparteiischer Weise auf alle Mitgliedstaaten. Die Kommission erstellt anhand dieser Daten einen Jahresbericht, der eine Beurteilung jedes Mitgliedstaats enthält ( 41 ).

83.

In diesem Kontext legte die Kommission im Mai 2018 einen Vorschlag für eine Verordnung über den Schutz des Haushalts der Union im Falle von generellen Mängeln in Bezug auf das Rechtsstaatsprinzip in den Mitgliedstaaten vor ( 42 ).

84.

Der Vorschlag stieß beim Juristischen Dienst des Rates offenbar auf einige Vorbehalte. Der Rechnungshof gab gewisse Empfehlungen zur Verbesserung seines Inhalts ( 43 ), nachdem er hervorgehoben hatte, dass die Rechtsgrundlage des Vorschlags zweifelhaft sei, seine Kriterien ungenau seien, er der Kommission einen sehr weiten Beurteilungsspielraum einräume und das in Art. 7 EUV vorgesehene Verfahren umgangen werde.

85.

Nach einem komplexen Gesetzgebungsverfahren erzielte der Europäische Rat im Juli 2020 ( 44 ) eine Einigung über den Mehrjährigen Finanzrahmen (im Folgenden: MFR) 2021-2027 und den Aufbauplan für Europa „Next Generation EU“ (im Folgenden: Next Generation EU). In dem Beschluss hieß es, dass „eine Konditionalitätsregelung zum Schutz des Haushalts und von ‚Next Generation EU‘ eingeführt“ werde.

86.

Trotz dieses Beschlusses hielten die beiden Mitgesetzgeber an unterschiedlichen Standpunkten in Bezug auf die künftige Verordnung 2020/2092 fest:

Das Parlament wollte die Rechtsstaatlichkeit über den Haushalt schützen, der Rat hingegen den Haushalt der Union über die Einhaltung der Erfordernisse der Rechtsstaatlichkeit.

Das Parlament sprach sich für eine umfassende Anwendung der Verordnung aus, während der Rat sie einschränken wollte und einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen dem Verstoß gegen die Rechtsstaatlichkeit und den spezifischen negativen Auswirkungen auf den Unionshaushalt verlangte ( 45 ).

87.

Die beiden Mitgesetzgeber erzielten am 5. November 2020 eine Einigung über den Wortlaut, der mit geringen Anpassungen in die am 1. Januar 2021 in Kraft getretene Verordnung 2020/2092 aufgenommen wurde.

88.

Ungarn und die Republik Polen traten dem zwischen den Mitgesetzgebern vereinbarten Wortlaut der Verordnung entgegen; sie konnten zwar gegen deren Erlass kein Veto einlegen, weil ihre Rechtsgrundlage Art. 322 Abs. 1 AEUV ist, der eine qualifizierte Mehrheit vorsieht, drohten aber damit, die Annahme des MFR 2021-2027 und von „Next Generation EU“ zu verhindern, für die es einer einstimmigen Entscheidung der Mitgliedstaaten bedarf.

89.

Der Streit wurde im Europäischen Rat vom Dezember 2020 beigelegt, in dessen Schlussfolgerungen ein „Kompromiss“ zur Tragweite und zur Anwendung der Verordnung 2020/2092 aufgenommen wurde ( 46 ).

90.

Obwohl der Europäische Rat in diesem Bereich über keine Gesetzgebungsbefugnisse verfügt, hat er in seinen Schlussfolgerungen die in der Verordnung 2020/2092 zugunsten der Mitgliedstaaten vorgesehenen prozessualen und materiellen Garantien bestätigt sowie eine Auslegung der Bedeutung und der Tragweite einiger ihrer Regelungen vorgenommen (die in Anbetracht ihres Urhebers als gebilligt, nicht aber als bindend betrachtet werden kann). Ich weise darauf hin, dass die Auslegung der Verordnung 2020/2092 in jedem Fall Sache des Gerichtshofs ist.

91.

Insbesondere ist die neue Verordnung nach den Schlussfolgerungen des Europäischen Rates „unter uneingeschränkter Achtung des Artikels 4 Absatz 2 EUV – insbesondere der jeweiligen nationalen Identität der Mitgliedstaaten, die in ihren grundlegenden politischen und verfassungsmäßigen Strukturen zum Ausdruck kommt, des Grundsatzes der begrenzten Einzelermächtigung sowie der Grundsätze der Objektivität, der Nichtdiskriminierung und der Gleichbehandlung der Mitgliedstaaten – anzuwenden“.

92.

Der Konsens beruht nach den Angaben des Europäischen Rates u. a. auf folgenden Gesichtspunkten ( 47 ):

Ziel der Verordnung ist es, den Haushalt der Union, einschließlich „Next Generation EU“, die wirtschaftliche Haushaltsführung und die finanziellen Interessen der Union zu schützen ( 48 ).

Die Anwendung des Konditionalitätsmechanismus im Rahmen der Verordnung wird objektiv, fair, unparteiisch und faktengestützt erfolgen; dabei werden ein ordnungsgemäßes Verfahren, Nichtdiskriminierung und Gleichbehandlung der Mitgliedstaaten gewährleistet.

Um die Achtung dieser Grundsätze sicherzustellen, beabsichtigt die Kommission, Leitlinien zu der Art und Weise, wie sie die Verordnung anwenden wird, einschließlich einer Methode für die Durchführung ihrer Bewertung, zu entwickeln und anzunehmen. Diese Leitlinien werden in enger Abstimmung mit den Mitgliedstaaten erstellt. Falls eine Klage auf Nichtigerklärung der Verordnung erhoben wird, werden die Leitlinien nach dem Urteil des Gerichtshofs fertiggestellt, damit etwaige relevante Elemente, die sich aus dem Urteil ergeben, einbezogen werden können ( 49 ).

Die Maßnahmen im Rahmen des Mechanismus müssen in angemessenem Verhältnis zu den Auswirkungen der Verstöße gegen die Rechtsstaatlichkeit auf die wirtschaftliche Führung des Haushalts der Union oder auf ihre finanziellen Interessen stehen. Zwischen diesen Verstößen und den negativen Auswirkungen auf die finanziellen Interessen der Union muss ein hinreichend direkter ursächlicher Zusammenhang ordnungsgemäß festgestellt worden sein.

Die in der Verordnung genannten auslösenden Faktoren sind als erschöpfende Liste homogener Elemente, in die keine Faktoren oder Ereignisse anderer Art aufgenommen werden können, zu verstehen und anzuwenden. Die Verordnung bezieht sich nicht auf generelle Mängel ( 50 ).

Die Anwendung des Mechanismus erfolgt subsidiär gegenüber den übrigen im Unionsrecht vorgesehenen Verfahren und nur, wenn diese keinen wirksameren Schutz des Haushalts der Union ermöglichen.

93.

Aufgrund dieses „Kompromisses“ im Europäischen Rat nahmen Ungarn und die Republik Polen ihr Veto gegen den MFR und „Next Generation EU“ zurück, und die Verordnung 2020/2092 konnte schließlich am 14. Dezember 2020 vom Rat und am 16. Dezember 2020 vom Parlament angenommen werden ( 51 ).

94.

Die Beschränkung des Anwendungsbereichs der Verordnung 2020/2092 durch das Erfordernis des „hinreichend direkten“ Zusammenhangs zwischen der Ausführung des Haushalts und einer Verletzung rechtsstaatlicher Grundsätze wurde in gewisser Weise durch die Anwendung des Mechanismus der finanziellen Konditionalität gemäß der Verordnung (EU) 2020/2094 auf Mittel, die die Union über „Next Generation EU“ für die Mitgliedstaaten bereitstellt, „konterkariert“ ( 52 ). Die Verordnung 2020/2092 findet zudem sowohl auf „weit verbreitete“ als auch auf „einzelne“ Verstöße gegen die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit Anwendung ( 53 ).

95.

Die (Nicht‑)Anwendung der Verordnung 2020/2092 führt aber weiterhin zu institutionellen Auseinandersetzungen zwischen der Kommission und dem Parlament ( 54 ).

B.   Mechanismen der finanziellen Konditionalität im Unionsrecht

96.

Die Union verfügt über einen Haushalt, durch den sie mit den erforderlichen Mitteln ausgestattet wird, um ihre Ziele erreichen und ihre Politik durchführen zu können. Der Haushalt wird unbeschadet der sonstigen Einnahmen nach den Bestimmungen, die in einem Beschluss des Rates festgelegt werden, aus Eigenmitteln finanziert (Art. 311 AEUV) ( 55 ). Der Haushalt ist das Rechtsinstrument der Union, mit dem alljährlich der Grundsatz der Solidarität in finanzieller Hinsicht umgesetzt wird ( 56 ), und ihm kommt verfassungsrechtliche Bedeutung zu.

97.

Die Ein- und Ausgaben des jährlichen Haushaltsplans der Union richten sich nach dem in Art. 312 AEUV behandelten mehrjährigen Finanzrahmen. Der MFR soll sicherstellen, dass die Ausgaben der Union innerhalb der Grenzen ihrer Eigenmittel eine geordnete Entwicklung nehmen. Derzeit gilt der MFR 2021‑2027 ( 57 ), der eine Erhöhung der Eigenmittel um 0,6 % vorsieht, neben den durch den Erlass des Aufbauinstruments mobilisierten Mitteln zur Bewältigung der wirtschaftlichen Folgen von Covid-19 ( 58 ).

98.

Für die Ausführung des Haushaltsplans ist nach Art. 317 Abs. 1 AEUV die Kommission verantwortlich. Sie „führt den Haushaltsplan zusammen mit den Mitgliedstaaten gemäß der nach Artikel 322 [AEUV] festgelegten Haushaltsordnung … entsprechend dem Grundsatz der Wirtschaftlichkeit der Haushaltsführung aus. Die Mitgliedstaaten arbeiten mit der Kommission zusammen, um sicherzustellen, dass die Mittel nach dem Grundsatz der Wirtschaftlichkeit der Haushaltsführung verwendet werden.“ ( 59 )

99.

Nach Art. 310 Abs. 6 AEUV bekämpfen „die Union und die Mitgliedstaaten … nach Artikel 325 Betrügereien und sonstige gegen die finanziellen Interessen der Union gerichtete rechtswidrige Handlungen“.

100.

In der Haushaltsordnung ( 60 ) ist vorgesehen, dass die Kommission den Haushaltsplan der Union in direkter, indirekter oder mit den Mitgliedstaaten geteilter Mittelverwaltung ausführen kann. In der Praxis führt die Kommission mehr als 70 % des Haushaltsplans in geteilter Mittelverwaltung mit den Mitgliedstaaten aus (Art. 63 der Haushaltsordnung). Bei der geteilten Mittelverwaltung nehmen die Behörden der Mitgliedstaaten die zur Verwaltung der Mittel des Unionshaushalts erforderlichen Aufgaben im Wege der Befugnisübertragung unter der Aufsicht der Kommission wahr ( 61 ).

101.

In diesem Kontext der geteilten Ausführung des Haushaltsplans durch die Kommission und die Mitgliedstaaten sind die in der Haushaltsordnung und anderen spezifischen Unionsbestimmungen geregelten Mechanismen der Konditionalität eingeführt worden.

102.

Die Konditionalitätsregeln zum Schutz einer wirtschaftlichen Haushaltsführung spiegeln ein umfassenderes Phänomen der Anwendung der Konditionalität sowohl im Unionsrecht als auch in anderen Ländern (u. a. solchen mit bundesstaatlichen Rechtssystemen) ( 62 ) und in internationalen Organisationen wie dem Internationalen Währungsfonds oder der Weltbank wider.

103.

Im Unionsrecht findet die Konditionalität naturgemäß beim Beitritt neuer Staaten Anwendung, die die sogenannten Kopenhagener Kriterien einhalten müssen, und nach üblicher Praxis wird in den Außenbeziehungen der Union deren Entwicklungshilfe ebenso naturgemäß von der Beachtung von Anforderungen im Bereich der Menschenrechte abhängig gemacht ( 63 ).

104.

In den internen Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten und den Unionsorganen wurde die Konditionalität insbesondere bei den Instrumenten zur Förderung des wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalts und bei der Ausführung des Haushaltsplans angewandt ( 64 ).

105.

Ohne Anspruch auf Vollständigkeit seien folgende Beispiele für finanzielle Konditionalität in der neuen Verordnung mit gemeinsamen Bestimmungen für die Strukturfonds für die Jahre 2021 bis 2027 ( 65 ) genannt:

die in Art. 6 („Klimaschutzziele und Mechanismus zur Anpassung an den Klimawandel“) und in Art. 9 Abs. 4 geregelte Konditionalität im Bereich des Umwelt- und Klimaschutzes;

die auf der Achtung „bereichsübergreifender Grundsätze“ (Art. 9), die den Schutz der Grundrechte und die Einhaltung der Charta der Grundrechte der Europäischen Union betreffen, beruhende Konditionalität beim Einsatz der Fonds;

die an spezifische Ziele anknüpfende, in Art. 15 („Grundlegende Voraussetzungen“) und in Anhang III vorgesehene Konditionalität ( 66 ). Letzterer enthält „die zielübergreifenden grundlegenden Voraussetzungen, die für alle spezifischen Ziele gelten, und die Kriterien, die für die Bewertung ihrer Erfüllung erforderlich sind“. Dazu gehören wirksame Mechanismen für die Überwachung des Markts für die Vergabe öffentlicher Aufträge, Instrumente und Kapazitäten zur wirksamen Anwendung der Vorschriften über staatliche Beihilfen, die wirksame Anwendung und Umsetzung der Charta der Grundrechte und die Umsetzung und Anwendung des Übereinkommens der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UNCPRD) in Übereinstimmung mit dem Beschluss 2010/48/EG des Rates ( 67 ). Werden diese Voraussetzungen nicht eingehalten, kann die Kommission die Erstattung der dem Staat entstandenen Kosten aussetzen;

die in Art. 19 („Maßnahmen zur Schaffung einer Verbindung zwischen der Wirksamkeit der Fonds und der ordnungsgemäßen wirtschaftspolitischen Steuerung“) vorgesehene makroökonomische Konditionalität. Mit dieser Vorschrift wird der Rat ermächtigt, auf Vorschlag der Kommission die Mittelbindungen oder Zahlungen für ein Programm oder mehrere Programme eines Mitgliedstaats vollständig oder teilweise auszusetzen, i) wenn dieser Mitgliedstaat unzureichende Korrekturmaßnahmen ergreift oder nicht tätig wird, um ein übermäßiges Ungleichgewicht im Sinne der Verordnung (EU) Nr. 1176/2011 ( 68 ) zu verhindern, ii) wenn die Kommission zu dem Schluss kommt, dass der Mitgliedstaat keine Maßnahmen gemäß der Verordnung (EG) Nr. 332/2002 ( 69 ) ergriffen hat und beschließt, die Auszahlung der ihm gewährten finanziellen Unterstützung nicht zu genehmigen, und iii) wenn der Rat feststellt, dass ein Mitgliedstaat das in Art. 7 der Verordnung (EU) Nr. 472/2013 ( 70 ) genannte makroökonomische Anpassungsprogramm bzw. die vom Rat im Wege eines gemäß Art. 136 Abs. 1 AEUV angenommenen Beschlusses geforderten Maßnahmen nicht befolgt.

106.

In gleicher Weise ermächtigen die Art. 96 und 97 der Verordnung mit gemeinsamen Bestimmungen für 2021-2027 die Kommission, die Frist für Zahlungen zu unterbrechen oder Zahlungen an die Mitgliedstaaten auszusetzen, wenn Unregelmäßigkeiten oder gravierende Mängel oder eine mit Gründen versehene Stellungnahme der Kommission zu einem Verfahren über eine Vertragsverletzung nach Art. 258 AEUV bezüglich eines Sachverhalts, der ein Risiko für die Rechtmäßigkeit und Ordnungsmäßigkeit der Ausgaben begründet, vorliegen. Die Kommission kann in solchen Fällen auch nachträglich eine Finanzkorrektur vornehmen, indem sie die Unterstützung aus den Fonds für ein Programm kürzt (Art. 104 der Verordnung).

107.

Konditionalitätsmechanismen finden sich ferner in sektorspezifischen Regelungen über Finanzierungsinstrumente der Union. Folgende Beispiele können hierfür angeführt werden:

die in Art. 10 der Verordnung (EU) 2021/241 ( 71 ) in ähnlicher Weise wie in Art. 19 der Verordnung mit gemeinsamen Bestimmungen für 2021-2027 geregelte makroökonomische Konditionalität. Die makroökonomische Konditionalität der Strukturfonds wird auf die Aufbau- und Resilienzfazilität übertragen, die der wichtigste Finanzierungsmechanismus des Aufbauinstruments der Europäischen Union ist, das mit der Verordnung 2020/2094 zur Vervollständigung des MFR eingeführt wurde, um die finanziellen Folgen von Covid-19 zu bekämpfen. Diese Fazilität wird von der Kommission in direkter Mittelverwaltung im Einklang mit den einschlägigen, gemäß Art. 322 AEUV angenommenen Vorschriften, insbesondere der Haushaltsordnung und der Verordnung 2020/2092, durchgeführt;

die auf die Achtung der Menschenrechte bei der integrierten europäischen Grenzverwaltung gerichtete Konditionalität in Art. 4 der Verordnung (EU) 2021/1148 ( 72 );

die auf die Achtung der Menschenrechte und der Umweltschutzziele gerichtete Konditionalität in Art. 4 der Verordnung (EU) 2021/1229, mit der die Darlehensfazilität für den öffentlichen Sektor im Rahmen des Mechanismus für einen gerechten Übergang geschaffen wird ( 73 );

die in den Art. 43 bis 47 der Verordnung (EU) Nr. 1307/2013 ( 74 ) vorgesehene Konditionalität zugunsten des Klima- und Umweltschutzes bei Direktzahlungen an Inhaber landwirtschaftlicher Betriebe im Rahmen der GAP.

108.

Diese Konditionalitätsmechanismen sind vielfältig, folgen aber alle einer gemeinsamen Logik: Die Erfüllung der Voraussetzungen für eine Zahlung aus dem Unionshaushalt wird von der Einhaltung bestimmter horizontaler Anforderungen abhängig gemacht, die sich von den unmittelbar für den europäischen Fonds, aus dem die Zahlung erfolgt, geltenden Voraussetzungen unterscheiden und sie ergänzen ( 75 ).

109.

Die durch die Verordnung 2020/2092 eingeführte finanzielle Konditionalität wird, soweit sie die Ausführung des Haushaltsplans betrifft, von der Achtung der Rechtsstaatlichkeit abhängig gemacht, die „wesentlich für den Schutz der übrigen Grundwerte [in Art. 2 EUV]“ ist ( 76 ). Da es sich um eine horizontale Bedingung handelt, muss sie von den Mitgliedstaaten bei der Ausführung des Haushaltsplans der Union beachtet werden.

110.

Die finanzielle Konditionalität stellt ein Bindeglied zwischen Solidarität und Verantwortung dar. Die Union stellt den Mitgliedstaaten Mittel aus ihrem Haushalt bereit, sofern sie in verantwortungsvoller Weise verwendet werden; dazu gehört, dass dies im Einklang mit den Werten der Union wie der Rechtsstaatlichkeit geschieht. Nur wenn beim Haushaltsvollzug die Werte der Union beachtet werden, wird bei der Ausstattung der Union selbst mit den für die Erfüllung ihrer Ziele unerlässlichen finanziellen Mitteln ausreichendes gegenseitiges Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten bestehen.

111.

Es ist klar erkennbar, dass diese neue Dimension der Konditionalitätstechnik erhebliche Auswirkungen auf die Beziehungen zwischen der Union und den Mitgliedstaaten hat. Mit dem Konditionalitäsmechanismus verfügen die Unionsorgane über verstärkte Befugnisse, um die Mitgliedstaaten zur Achtung der Werte des Unionsrechts im Rahmen ihrer Beteiligung an der Ausführung des Haushaltsplans der Union anzuhalten.

112.

Die Nutzung der Technik der finanziellen Konditionalität in Vorschriften des abgeleiteten Rechts muss allerdings den Anforderungen des Primärrechts genügen und von den Zuständigkeiten der Union gedeckt sein.

113.

Bislang hat sich der Gerichtshof in seiner Rechtsprechung vor allem mit der Konditionalität im Bereich des Umweltschutzes bei Direktzahlungen an Inhaber landwirtschaftlicher Betriebe ( 77 ) und mit der makroökonomischen Konditionalität, die er im Urteil Pringle ( 78 ) befürwortet hat, befasst.

114.

Im letztgenannten Urteil kam der Gerichtshof zu dem Ergebnis, dass die Konditionalität ein geeigneter Mechanismus zur Durchsetzung der Beachtung des Unionsrechts und der von den Unionsorganen ergriffenen Maßnahmen zur Koordinierung der Wirtschaftspolitik der Staaten ist. Er führte ferner aus, dass die in den Art. 3, Art. 12 Abs. 1 und Art. 13 Abs. 3 Unterabs. 1 des Vertrags zur Einrichtung des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM-Vertrag) ( 79 ) vorgesehene makroökonomische Konditionalität die Vereinbarkeit der Tätigkeiten des ESM insbesondere mit Art. 125 AEUV und den von der Union getroffenen Koordinierungsmaßnahmen gewährleistet ( 80 ).

115.

Diese Rechtssache und die Rechtssache C‑157/21 geben dem Gerichtshof die Möglichkeit, seine Rechtsprechung zur finanziellen Konditionalität fortzuentwickeln und sie auf ein Instrument zu erstrecken, mit dem die Unionsorgane die Einhaltung des in Art. 2 EUV verankerten Wertes der Rechtsstaatlichkeit durch die Mitgliedstaaten vorantreiben, um den Haushaltsplan der Union zu schützen.

116.

Nach diesen Erwägungen wende ich mich der Prüfung der verschiedenen von der ungarischen Regierung geltend gemachten Nichtigkeitsgründe zu.

V. Erster Nichtigkeitsgrund: Fehlen oder Ungeeignetheit der Rechtsgrundlage der Verordnung 2020/2092

A.   Vorbringen der Parteien

117.

Die ungarische Regierung macht geltend, Art. 322 Abs. 1 Buchst. a AEUV ermächtige den Unionsgesetzgeber zwar zum Erlass von Haushaltsregeln zur Ausführung des Unionshaushalts, aber die Verordnung 2020/2092 enthalte keine Haushalts- oder Finanzvorschriften.

118.

Daher sei die Rechtsgrundlage der Verordnung 2020/2092 ungeeignet, und die Union sei für die Annahme einer Vorschrift des abgeleiteten Rechts mit diesem Inhalt nicht zuständig.

119.

Die Verordnung 2020/2092 erlaube es der Kommission und dem Rat, den Begriff der Rechtsstaatlichkeit und die Handlungen zu definieren, die gegen die durch diesen Wert der Union aufgestellten Anforderungen verstießen. Der gebilligte Mechanismus ermächtige zur Verhängung von Sanktionen mit Auswirkungen auf die Grundstrukturen eines Mitgliedstaats, für die die Union nicht zuständig sei.

120.

Diese Maßnahmen würden von Art. 322 AEUV nicht gedeckt, so dass er eine ungeeignete Rechtsgrundlage für die Verordnung 2020/2092 sei, deren Anwendungsbereich mit dem in Art. 7 EUV vorgesehenen Verfahren kollidiere.

121.

Die ungarische Regierung weist zudem auf die Unterschiede zwischen der Verordnung 2020/2092 und anderen auf Art. 322 Abs. 1 Buchst. a AEUV basierenden Finanz- und Haushaltsvorschriften der Union hin.

122.

Zu den mit Art. 322 AEUV unvereinbaren Elementen der Verordnung 2020/2092 gehörten auf der einen Seite die Interessenkonflikte bei der Verteilung der Unionsmittel. Die Verordnung 2020/2092 enthalte keine Verfahrensregeln für die Mitgliedstaaten im Zusammenhang mit der Einführung von Vorschriften über Interessenkonflikte und deren Beilegung, so dass gegen diese Staaten aufgrund von nicht näher definierten Verstößen, die über die in der Haushaltsordnung vorgesehenen Anforderungen hinausgingen, Maßnahmen ergriffen werden könnten.

123.

Auf der anderen Seite seien die Mitgliedstaaten nach Art. 5 Abs. 2 der Verordnung 2020/2092 verpflichtet, zum Schutz der Begünstigten die Programme, denen die Union ihre Mittel entziehe, aus ihrem eigenen Haushalt zu finanzieren. Diese Vorschrift stehe mit den Bestimmungen über die Ausführung des Haushaltsplans der Union nicht im Einklang und stelle für den Mitgliedstaat eine Sanktion dar, die gegen die Anforderungen der Rechtsstaatlichkeit verstoße.

124.

Art. 322 AEUV könne nicht als Grundlage für die Aufstellung von Verpflichtungen für die nationalen Haushaltspläne dienen, da er lediglich den Erlass von Vorschriften über die Ausführung des Haushaltsplans der Union gestatte.

125.

Das Parlament und der Rat treten den Argumenten der ungarischen Regierung entgegen und tragen vor, Art. 322 Abs. 1 Buchst. a AEUV sei die geeignete Rechtsgrundlage für die Verordnung 2020/2092 ( 81 ).

126.

Diese beiden Organe sind der Auffassung, durch die Verordnung 2020/2092 werde für den Bereich des Haushaltwesens (und der Finanzen) ein Konditionalitätsmechanismus geschaffen, der neben anderen, in der Union bereits existierenden Konditionalitätsmechanismen die Einhaltung der Erfordernisse der Rechtsstaatlichkeit garantieren solle. Eine Prüfung der Zielsetzung und des Inhalts der Verordnung bestätige dies.

B.   Würdigung

127.

Zunächst ist an die ständige Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Wahl der primärrechtlichen Grundlagen für den Erlass von Vorschriften des abgeleiteten Rechts zu erinnern ( 82 ):

„[D]ie Wahl der Rechtsgrundlage eines Unionsrechtsakts [muss] auf objektiven und gerichtlich nachprüfbaren Umständen beruhen …, zu denen das Ziel und der Inhalt des Rechtsakts gehören. Ergibt die Prüfung des betreffenden Rechtsakts, dass er zwei Zielsetzungen hat oder zwei Komponenten umfasst, und lässt sich eine von ihnen als die hauptsächliche oder überwiegende ausmachen, während die andere nur nebensächliche Bedeutung hat, so ist der Rechtsakt nur auf eine Rechtsgrundlage zu stützen, und zwar auf die, die die hauptsächliche oder überwiegende Zielsetzung oder Komponente erfordert.“ ( 83 )

„Zudem [kann] zur Bestimmung der richtigen Rechtsgrundlage der rechtliche Zusammenhang, in den sich eine neue Regelung einfügt, berücksichtigt werden …, insbesondere soweit dieser Zusammenhang Aufschluss über das Ziel dieser Regelung zu geben vermag.“ ( 84 )

Hat der Unionsgesetzgeber eine Harmonisierungsvorschrift erlassen, kann er „im Hinblick auf seine Aufgabe, über den Schutz der im Vertrag anerkannten allgemeinen Interessen zu wachen, nicht daran gehindert sein, diesen Rechtsakt den Umständen oder neuen Erkenntnissen anzupassen“ ( 85 ).

128.

Im Einklang mit dieser Rechtsprechung wird sich mittels einer Prüfung der Zielsetzung und des Inhalts der Verordnung 2020/2092 klären lassen, ob Art. 322 Abs. 1 Buchst. a AEUV die geeignete Rechtsgrundlage für ihren Erlass darstellt, ob eine andere Rechtsgrundlage hätte gewählt werden müssen oder ob die Union nicht für den Erlass der Verordnung zuständig war.

1. Zielsetzung der Verordnung 2020/2092

129.

Gegenstand der Verordnung 2020/2092 ist nach ihrem Art. 1, „die Regeln [festzulegen], die zum Schutz des Haushalts der Union im Falle von Verstößen gegen die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit in den Mitgliedstaaten erforderlich sind“.

130.

Mehrere Erwägungsgründe der Verordnung 2020/2092 verdeutlichen den Zusammenhang zwischen der Achtung der Rechtsstaatlichkeit und der Wirtschaftlichkeit der Haushaltsführung der Union.

Im siebten Erwägungsgrund heißt es: „Bei der Ausführung des Haushaltsplans der Union durch die Mitgliedstaaten … ist die Achtung der Rechtsstaatlichkeit … eine Grundvoraussetzung für die Einhaltung des Grundsatzes der Wirtschaftlichkeit der Haushaltsführung, der in Artikel 317 [AEUV] verankert ist.“

Im achten Erwägungsgrund ( 86 ) wird ausgeführt, dass eine wirtschaftliche Haushaltsführung von den Mitgliedstaaten nur gewährleistet werden kann, wenn die Behörden im Einklang mit dem Gesetz handeln, wenn Betrugsfälle strafrechtlich verfolgt werden und wenn Entscheidungen von Behörden einer wirksamen gerichtlichen Kontrolle unterworfen werden können.

Im neunten Erwägungsgrund ( 87 ) wird die Bedeutung der Unabhängigkeit der Justiz sowie der Ermittlungs- und Strafverfolgungsinstanzen bei der Bekämpfung unrechtmäßiger und willkürlicher Entscheidungen von Behörden, die den finanziellen Interessen der Union schaden könnten, hervorgehoben.

Im 13. Erwägungsgrund heißt es: „Es besteht … ein eindeutiger Zusammenhang zwischen der Achtung der Rechtsstaatlichkeit und der effizienten Ausführung des Haushaltsplans der Union im Einklang mit dem Grundsatz der Wirtschaftlichkeit der Haushaltsführung.“

Im 15. Erwägungsgrund wird betont, dass „Verstöße gegen die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit, insbesondere jene, die das ordnungsgemäße Funktionieren der Behörden und die wirksame gerichtliche Kontrolle beeinträchtigen, … den finanziellen Interessen der Union schweren Schaden zufügen“ können.

131.

In Anbetracht dieser Erwägungsgründe, deren Übereinstimmung mit dem Inhalt der Verordnung 2020/2092 unbestreitbar ist, bin ich der Ansicht, dass das Ziel dieser Verordnung darin besteht, einen spezifischen Mechanismus zur Gewährleistung einer ordnungsgemäßen Ausführung des Haushaltsplans der Union zu schaffen, falls ein Mitgliedstaat gegen die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit verstößt und damit die korrekte Ausführung des Haushalts der Union oder ihre finanziellen Interessen beeinträchtigt.

132.

Dieses Ziel steht meines Erachtens mit der Wahl von Art. 322 Abs. 1 Buchst. a AEUV als Rechtsgrundlage der Verordnung 2020/2092 im Einklang ( 88 ).

133.

Das Parlament und der Rat vertreten die Ansicht, die Zielsetzung der streitigen Verordnung ergebe sich aus diesen Erwägungsgründen. Sie treten der Analyse der ungarischen Regierung entgegen, wonach mit der Verordnung 2020/2092 den bereits bestehenden Verfahren ( 89 ) zum Schutz der Rechtsstaatlichkeit ein weiteres hinzugefügt werden solle, ohne dass es dafür eine Grundlage im Primärrecht gebe.

134.

Bei einer den Kontext außer Acht lassenden Betrachtung scheint der 14. Erwägungsgrund der Verordnung 2020/2092 die These der ungarischen Regierung in gewissem Umfang zu stützen, denn dort heißt es: „Der in dieser Verordnung vorgesehene Mechanismus ergänzt dieses Instrumentarium, indem er den Haushalt der Union vor Verstößen gegen die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit schützt, die die wirtschaftliche Haushaltsführung der Union oder den Schutz ihrer finanziellen Interessen beeinträchtigen.“

135.

Dieser scheinbare logische Widerspruch in den Erwägungsgründen der Verordnung 2020/2092 kann auf den Ablauf des Gesetzgebungsverfahrens zurückzuführen sein. Wie ich bereits ausgeführt habe, ging es im ursprünglichen Vorschlag der Kommission weniger um die finanzielle Konditionalität des vorgesehenen Mechanismus als um den Schutz der Rechtsstaatlichkeit. Der Widerstand des Rates führte dazu, dass die Endfassung der Verordnung 2020/2092 zu einem Instrument der finanziellen Konditionalität wurde, in dessen Rahmen der Schutz der Rechtsstaatlichkeit als horizontale Bedingung fungiert, die von den Mitgliedstaaten bei der Ausführung des Haushaltsplans zu beachten ist.

136.

Um zu klären, ob das „gesetzgeberische Enderzeugnis“ tatsächlich ein Mechanismus der finanziellen Konditionalität wie andere im Unionsrecht ist, muss daher der Inhalt der Verordnung 2020/2092 im Einzelnen geprüft werden. Sollte dies der Fall sein, wäre Art. 322 Abs. 1 Buchst. a AEUV eine geeignete Rechtsgrundlage, denn die Verordnung wäre dann eine Regelung zur Ausführung des Haushaltsplans.

137.

Wäre das, wie die ungarische Regierung meint, nicht der Fall, würde es sich um ein weiteres Instrument zum Schutz der Rechtsstaatlichkeit mit haushaltsrechtlichen Konnotationen handeln, für das Art. 322 AEUV keine geeignete Rechtsgrundlage darstellen und für dessen Einführung der Union die Zuständigkeit fehlen würde.

138.

Meines Erachtens besteht die Zielsetzung der Verordnung 2020/2092 darin, durch den Mechanismus der Konditionalität die korrekte Ausführung des Haushaltsplans der Union sicherzustellen, wenn es in einem Mitgliedstaat zu Verstößen gegen die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit kommt, die die Wirtschaftlichkeit der Haushaltsführung der Union gefährden.

139.

Insgesamt betrachtet besteht das Ziel der Verordnung 2020/2092 also im Schutz des Haushalts der Union in spezifischen Situationen, die seine korrekte Ausführung bedrohen und gegen die Rechtsstaatlichkeit verstoßen. Letztere soll mit ihr also nicht durch einen Sanktionsmechanismus geschützt werden.

140.

Aus dieser Perspektive ist das Ziel der Verordnung 2020/2092 mit dem der Haushaltsordnung vergleichbar, für die Art. 322 AEUV unstreitig die Rechtsgrundlage bildet.

141.

In einer beim Erlass der Verordnung 2020/2092 abgegebenen gemeinsamen Erklärung bekundeten das Parlament, der Rat und die Kommission ihre Absicht, bei der nächsten Überarbeitung der Haushaltsordnung den Inhalt der Verordnung 2020/2092 in sie aufzunehmen ( 90 ).

142.

Wie der Rat ausführt, ist die Entscheidung des europäischen Gesetzgebers, eine Norm zur Gewährleistung der ordnungsgemäßen Ausführung des Haushaltsplans der Union bei Verstößen gegen die Rechtsstaatlichkeit auszuarbeiten, von seinem gesetzgeberischen Ermessen gedeckt.

143.

Jedenfalls kann eine solche Entscheidung nicht als offensichtlich fehlerhaft qualifiziert werden. Die Beachtung der Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit kann für das ordnungsgemäße Funktionieren der öffentlichen Finanzen und die korrekte Ausführung der Haushaltspläne von grundlegender Bedeutung sein ( 91 ).

144.

Im Ergebnis halte ich die Schaffung eines mit der Rechtsstaatlichkeit verbundenen Mechanismus der finanziellen Konditionalität für eine plausible und mit dem Primärrecht vereinbare gesetzgeberische Entscheidung.

2. Inhalt der Verordnung 2020/2092

145.

Bei der Beurteilung, ob die Verordnung 2020/2092 von Art. 322 Abs. 1 Buchst. a AEUV gedeckt ist, ist nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs zudem die Prüfung ihres Inhalts unerlässlich.

146.

Mit dieser Prüfung wird sich klären lassen, ob die Elemente der Verordnung 2020/2092 für einen echten Mechanismus der finanziellen Konditionalität (wie die bereits im Unionsrecht bestehenden) charakteristisch sind, und damit, ob Art. 322 Abs. 1 Buchst. a AEUV die richtige Rechtsgrundlage für sie darstellt.

a) Voraussetzungen für den Erlass von Maßnahmen im Verfahren nach der Verordnung 2020/2092

147.

Gemäß Art. 4 Abs. 1 der Verordnung 2020/2092 sind „[g]eeignete Maßnahmen … zu ergreifen, wenn gemäß Artikel 6 festgestellt wird, dass Verstöße gegen die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit in einem Mitgliedstaat die wirtschaftliche Führung des Haushalts der Union oder den Schutz ihrer finanziellen Interessen hinreichend unmittelbar beeinträchtigen oder ernsthaft zu beeinträchtigen drohen“.

148.

Die Parteien legen diese Vorschrift unterschiedlich aus:

Die ungarische Regierung meint, sie sehe ein dreistufiges Verfahren vor, in dessen Rahmen Folgendes nachgewiesen werden müsse: a) ein Verstoß gegen die Rechtsstaatlichkeit, b) eine ernsthafte und hinreichend unmittelbare Gefahr für die wirtschaftliche Führung des Haushalts der Union oder den Schutz ihrer finanziellen Interessen und c) die Notwendigkeit, verhältnismäßige Gegenmaßnahmen zu ergreifen. Art. 322 Abs. 1 Buchst. a AEUV könne für die erste dieser Stufen nicht als Rechtsgrundlage dienen.

Das Parlament und der Rat treten dieser Auslegung entgegen und tragen vor, das Verfahren bestehe nur aus zwei Stufen: a) dem Nachweis des Vorliegens eines Verstoßes gegen die Rechtsstaatlichkeit, der unmittelbar zu einer ernsthaften Gefahr für die wirtschaftliche Führung des Haushalts der Union oder den Schutz ihrer finanziellen Interessen führe, und b) dem Erlass von Gegenmaßnahmen. Somit finde die Konditionalität nur auf Verstöße gegen die Rechtsstaatlichkeit Anwendung, die sich unmittelbar auf die Ausführung des Haushaltsplans der Union auswirkten und von gewisser Schwere seien.

149.

Meines Erachtens ist die letztgenannte Auslegung von Art. 4 Abs. 1 der Verordnung 2020/2092 zutreffend. Die finanzielle Konditionalität ist auf Verstöße gegen die Rechtsstaatlichkeit beschränkt, die einen hinreichend unmittelbaren Zusammenhang mit der Ausführung des Haushaltsplans aufweisen und die wirtschaftliche Führung des Haushalts der Union oder den Schutz ihrer finanziellen Interessen unmittelbar beeinträchtigen oder ernsthaft zu beeinträchtigen drohen.

150.

Die Auslegung des Wortlauts führt zu demselben Ergebnis, denn nach Art. 4 Abs. 1 der Verordnung 2020/2092 bedarf es einer hinreichend unmittelbaren Verbindung zwischen dem Verstoß gegen die Rechtsstaatlichkeit und der Ausführung des Haushaltsplans. Nur so kann der Mechanismus der Konditionalität in Gang gesetzt werden, damit die Verordnung 2020/2092 nicht bei allen Verstößen gegen die Rechtsstaatlichkeit eingreift, sondern nur bei solchen, die eine unmittelbare Verbindung mit der Ausführung des Haushaltsplans aufweisen.

151.

Im gleichen Sinne enthält Art. 2 Buchst. a der Verordnung 2020/2092 zwar eine Definition der Rechtsstaatlichkeit, aber nur „für die Zwecke dieser Verordnung“. Es trifft zu, dass diese Bestimmung die „Rechtsstaatlichkeit“ in allgemeiner (als ein in Art. 2 EUV verankerter Wert) und offener Weise definiert, denn sie bringt sie mit den anschließend aufgezählten Grundsätzen in Verbindung, aber eben nur im oben dargestellten, eingeschränkten Umfang.

152.

Ferner wird in Art. 3 der Verordnung 2020/2092 aufgezählt, was „für die Zwecke dieser Verordnung“ ein Hinweis auf Verstöße gegen die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit sein kann.

153.

Auch bei der systematischen Auslegung von Art. 4 Abs. 1 in Verbindung mit anderen Artikeln der Verordnung 2020/2092 komme ich zu dem Ergebnis, dass die finanzielle Konditionalität nur bei schwerwiegenden Verstößen gegen die Rechtsstaatlichkeit, die sich unmittelbar auf die Ausführung des Haushaltsplans der Union auswirken, Anwendung findet.

154.

Die Beispiele für Hinweise auf „Verstöße gegen die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit“ in Art. 3 der Verordnung 2020/2092 werden in ihrem Art. 4 Abs. 2 auf einige Tätigkeitsbereiche der nationalen Behörden beschränkt, die unmittelbar mit der Ausführung des Haushaltsplans der Union in Verbindung stehen.

155.

Die in Art. 4 Abs. 2 der Verordnung 2020/2092 geregelten Tatbestände entsprechen, wie gesagt, entweder spezifischen Tätigkeiten im Zusammenhang mit der Ausführung des Haushaltsplans oder allgemeinen Tätigkeiten, sofern Letztere die Kontrolle über Tätigkeiten im Zusammenhang mit der Ausführung des Haushaltsplans einschließen.

156.

Es trifft zu, dass einige der in Art. 4 Abs. 2 der Verordnung 2020/2092 ( 92 ) genannten allgemeinen Tätigkeiten für sich betrachtet als solche weder Auswirkungen auf die Ausführung des Haushaltsplans der Union im Sinne von Art. 322 Abs. 1 Buchst. a AEUV haben dürften noch automatisch mit der Wirtschaftlichkeit der Haushaltsführung ( 93 ) oder dem Schutz der finanziellen Interessen der Union in Zusammenhang stehen.

157.

Durch Art. 4 Abs. 2 der Verordnung 2020/2092 werden die allgemeinen Tätigkeiten jedoch auf die mit der Ausführung des Haushaltsplans verbundenen Tätigkeiten der nationalen Behörden beschränkt. Dies gilt für

das Tätigwerden der Ermittlungs- und Strafverfolgungsinstanzen, aber nur bei „Verstößen gegen das Unionsrecht im Zusammenhang mit der Ausführung des Haushaltsplans der Union oder dem Schutz ihrer finanziellen Interessen“ (Buchst. c);

die wirksame gerichtliche Kontrolle durch unabhängige Gerichte, sofern sie behördliche Handlungen oder Unterlassungen betrifft, die wiederum (im Sinne der Buchst. a, b und c von Abs. 2) mit der Ausführung des Haushaltsplans der Union im Zusammenhang stehen (Buchst. d);

die Verhütung und Ahndung von Betrug, Korruption und anderer Verstöße gegen das Unionsrecht, ebenfalls im Zusammenhang „mit der Ausführung des Haushaltsplans der Union oder dem Schutz ihrer finanziellen Interessen“ (Buchst. e).

158.

Nach der Auffangklausel (Buchst. h) können „andere Umstände oder Verhaltensweisen von Behörden“ nur unter die Verordnung 2020/2092 fallen, wenn sie „für die wirtschaftliche Führung des Haushalts der Union oder den Schutz ihrer finanziellen Interessen von Bedeutung sind“. Die Auffangklausel erfasst mithin nur Verhaltensweisen, die mit der Ausführung des Haushaltsplans im Zusammenhang stehen.

159.

Ich halte die vom Gesetzgeber zur Festlegung der Tragweite und der Anwendungsvoraussetzungen des streitigen Mechanismus herangezogene Technik für geeignet, soweit er als horizontale Bedingung für die korrekte Ausführung des Haushaltsplans die Achtung der Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit verlangt.

160.

Als schwerwiegende, die Anwendung des Konditionalitätsmechnismus erlaubende Verstöße gegen diese Grundsätze sind solche einzustufen, die auf Tätigkeiten im Zusammenhang mit der Ausführung des Haushaltsplans der Union oder auf allgemeine, unmittelbar mit dem Haushaltsvollzug verbundene Tätigkeiten der staatlichen Behörden zurückzuführen sind.

161.

Gemäß Art. 6 Abs. 9 der Verordnung 2020/2092 muss die Kommission in jedem Fall die spezifischen Gründe und Beweismittel für einen schwerwiegenden, unmittelbar mit dem Haushaltsvollzug im Zusammenhang stehenden Verstoß gegen die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit darlegen. Nur dann können geeignete Maßnahmen gegen den säumigen Mitgliedstaat getroffen werden.

162.

Die teleologische und die historische Auslegung von Art. 4 Abs. 1 der Verordnung 2020/2092 veranlassen mich ebenfalls zu dem Schluss, dass die finanzielle Konditionalität ausschließlich auf Verstöße gegen die Rechtsstaatlichkeit Anwendung findet, die unmittelbare Auswirkungen auf die Ausführung des Haushaltsplans der Union haben.

163.

Insoweit möchte ich erneut darauf hinweisen, dass es hilfreich ist, den Ablauf des Gesetzgebungsverfahrens, das zur Annahme der Verordnung 2020/2092 geführt hat, zu berücksichtigen.

164.

Wie ich bereits ausgeführt habe, war der ursprüngliche Vorschlag der Kommission mehr auf den Schutz der Rechtsstaatlichkeit ausgerichtet und in geringerem Maß auf die finanzielle Konditionalität des Mechanismus. Die Beteiligung des Rates hatte zur Folge, dass die Endfassung der Verordnung 2020/2092 mit größerer Klarheit zu einem Instrument der finanziellen Konditionalität werden konnte, in dessen Rahmen der Schutz der Rechtsstaatlichkeit eine von den Staaten beim Haushaltsvollzug zu beachtende horizontale Bedingung darstellt.

165.

Ein Schlüsselelement bei der Entstehung des Rechtstexts war die Aufnahme des Erfordernisses einer hinreichend unmittelbaren ( 94 ) Verbindung zwischen der Ausführung des Haushaltsplans und dem Verstoß gegen die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit in Art. 4 Abs. 1 der Verordnung 2020/2092 ( 95 ).

166.

Die Einbeziehung dieses im Schrifttum teilweise stark kritisierten Elements ( 96 ) bedeutet eine gewisse Einschränkung des Anwendungsbereichs des ursprünglichen Vorschlags der Kommission. In seiner Endfassung stellt der Mechanismus der finanziellen Konditionalität strikt auf die Ausführung des Haushaltsplans der Union ab, um nicht mit Art. 7 EUV zu kollidieren und um den Rechtsakt auf Art. 322 AEUV als Rechtsgrundlage stützen zu können ( 97 ).

167.

Durch die hinreichend unmittelbare Verbindung wird gewährleistet, dass der Konditionalitätsmechanismus nicht bei jedem schwerwiegenden Verstoß gegen die Rechtsstaatlichkeit eingreift, sondern auf solche beschränkt ist, die darüber hinaus in engem Zusammenhang mit dem Haushaltsvollzug stehen ( 98 ). Die Kommission muss, bevor sie Korrekturmaßnahmen vorschlägt, diese Verbindung nachweisen, und dafür gibt es keinen Automatismus, so schwerwiegend der Verstoß gegen die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit auch sein mag.

168.

Der 13. Erwägungsgrund der Verordnung 2020/2092 unterstreicht diese Verbindung, denn dort heißt es: „Es besteht daher ein eindeutiger Zusammenhang zwischen der Achtung der Rechtsstaatlichkeit und der effizienten Ausführung des Haushaltsplans der Union im Einklang mit dem Grundsatz der Wirtschaftlichkeit der Haushaltsführung.“

169.

Zusammengefasst führt die Auslegung von Art. 4 Abs. 1 der Verordnung 2020/2092 anhand wörtlicher, systematischer, teleologischer und historischer Kriterien zu dem Ergebnis, dass durch diese Verordnung ein Mechanismus der finanziellen Konditionalität eingeführt wird, der nur für schwerwiegende Verstöße gegen die Rechtsstaatlichkeit gilt, die sich unmittelbar auf die Ausführung des Haushaltsplans der Union auswirken. So verstanden hat die Verordnung 2020/2092 in Art. 322 Abs. 1 Buchst. a AEUV eine ausreichende Rechtsgrundlage.

170.

Das Argument der ungarischen Regierung, es bestehe ein Widerspruch zwischen den Bestimmungen über Interessenkonflikte in der Haushaltsordnung (Art. 61) ( 99 ) und Art. 3 Buchst. b der Verordnung 2020/2092, wonach u. a. das Versäumnis der nationalen Behörden, das Fehlen von Interessenkonflikten sicherzustellen, ein Hinweis auf Verstöße gegen die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit sein könne, steht dieser Feststellung nicht entgegen.

171.

Wie der Rat ausführt, gilt die Verordnung 2020/2092 subsidiär gegenüber den übrigen Haushaltsbestimmungen der Union. Nach ihrem Art. 6 Abs. 1 löst die Kommission den Mechanismus aus, „es sei denn, sie ist der Auffassung, dass andere in der Gesetzgebung der Union festgelegte Verfahren es ihr ermöglichen würden, den Haushalt der Union wirksamer zu schützen“ ( 100 ).

172.

Dies bedeutet, dass das Verfahren zur Lösung von Interessenkonflikten in Art. 61 der Haushaltsordnung in spezifischen Fällen angewandt wird und dass der Mechanismus der Verordnung 2020/2092 nur zum Tragen kommt, wenn die Funktionsweise einer Behörde des Mitgliedstaats, der an der Ausführung des Haushaltsplans der Union beteiligt ist, durch besonders schwerwiegende Interessenkonflikte beeinträchtigt wird.

b) Kriterien für den Erlass von Maßnahmen im Verfahren nach der Verordnung 2020/2092

173.

Die ungarische Regierung meint, bei den Maßnahmen, die die Organe der Union in Anwendung der Verordnung 2020/2092 erlassen könnten, handele es sich in Wirklichkeit eher um Sanktionen wegen Verstößen gegen die Regeln der Rechtsstaatlichkeit als um echte „Maßnahmen“ zum Schutz des Haushaltsplans der Union. Daher sei Art. 322 Abs. 1 Buchst. a AEUV als Rechtsgrundlage ungeeignet.

174.

Dies ergebe sich aus dem 18. Erwägungsgrund und aus Art. 5 Abs. 3 der Verordnung 2020/2092, in denen Kriterien zur Anpassung dieser Maßnahmen aufgestellt würden, die eher auf den Verstoß selbst (d. h. auf dessen Art, Dauer, Schwere und Umfang) abstellten als auf den Schutz des Haushaltsplans der Union.

175.

Der Rat und das Parlament antworten, durch Art. 5 Abs. 3 der Verordnung 2020/2092 werde eine Rangfolge von Kriterien eingeführt, unter denen die Verhältnismäßigkeit und die „tatsächlichen oder potenziellen Auswirkungen der Verstöße gegen die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit auf die wirtschaftliche Führung des Haushalts der Union oder auf die finanziellen Interessen der Union“ herausragten. Bei „[d]er Art, der Dauer, der Schwere und dem Umfang der Verstöße gegen die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit“ handele es sich um subsidiäre Beurteilungskriterien. Das im 18. Erwägungsgrund erwähnte Kriterium der Absicht des säumigen Staats habe keinen normativen Wert.

176.

Meines Erachtens stimmen der Wortlaut von Art. 5 Abs. 3 und des 18. Erwägungsgrundes der Verordnung 2020/2092 nicht vollständig überein. Letzterer scheint im Rahmen der Annahme von Maßnahmen von der Subsidiarität des Kriteriums der „Auswirkungen … auf die wirtschaftliche Führung des Haushalts der Union oder auf die finanziellen Interessen der Union“ auszugehen.

177.

Dennoch glaube ich, dass die systematische Auslegung von Art. 5 Abs. 3 der Verordnung 2020/2092 den Schluss zulässt, dass sich die Annahme von Maßnahmen vor allem an der Verhältnismäßigkeit und den tatsächlichen oder potenziellen Auswirkungen eines Verstoßes gegen die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit auf die wirtschaftliche Führung des Haushalts der Union oder auf die finanziellen Interessen der Union orientieren muss. Dadurch bleibt der eigene Charakter der Maßnahmen bestehen, der nicht dem der möglichen Sanktionen wegen eines Verstoßes gegen die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit entspricht ( 101 ).

178.

Art, Dauer, Schwere und Umfang des Verstoßes des betreffenden Staats gegen die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit können nur zur Feststellung der Auswirkungen seines Handelns auf die Ausführung des Haushaltsplans der Union herangezogen werden.

179.

Bei dieser Auslegung wäre Art. 5 Abs. 3 der Verordnung 2020/2092 von Art. 322 Abs. 1 Buchst. a AEUV gedeckt, denn bei den Maßnahmen, die er vorsieht, handelt es sich, wie bereits ausgeführt, um haushaltspolitische Korrekturmaßnahmen und nicht um Sanktionen, die gegen den betreffenden Staat verhängt werden.

180.

Die ungarische Regierung hegt Zweifel an der Vereinbarkeit des Inhalts des letzten Satzes von Art. 5 Abs. 3 der Verordnung 2020/2092 („Die Maßnahmen sind – soweit möglich – auf die durch die Verstöße beeinträchtigten Handlungen der Union ausgerichtet“) mit dieser Rechtsgrundlage. Damit werde eine „kreuzweise“ Konditionalität zugelassen, die über das zum Schutz des Haushaltsplans der Union Erforderliche hinausgehe.

181.

Die auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gestützte Erläuterung des Rates erscheint mir überzeugend. Dass ausnahmsweise eine „kreuzweise“ finanzielle Konditionalität zugelassen wird, erklärt sich damit, dass bestimmte Verstöße nationaler Behörden gegen die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit eine sehr große Zahl von Sektoren betreffen können und es unverhältnismäßig wäre, in allen von ihnen finanzielle Korrekturmaßnahmen zu ergreifen. Auch sind, wie der Rat in der mündlichen Verhandlung vorgebracht hat, Fälle denkbar, in denen Verstöße gegen die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit erst nach der vollständigen Ausführung bestimmter Ausgabenprogramme der Union bekannt werden und eine Finanzkorrektur nicht durchführbar ist. In einem solchen Fall könnte diese Korrektur Auswirkungen auf andere, laufende Ausgabenprogramme haben und so die Wirksamkeit des Konditionalitätsmechanismus gewährleisten ( 102 ).

182.

So verstanden wird durch die ausnahmsweise Zulassung einer „kreuzweisen“ finanziellen Konditionalität (verbunden mit der Möglichkeit, die Korrektur nicht auf sämtliche vom Verstoß gegen die Rechtsstaatlichkeit betroffene Sektoren zu erstrecken oder sie auf Ausgaben des laufenden Haushaltsplans der Union auszudehnen) die Haushaltsbezogenheit des Mechanismus nicht beseitigt, und sie ist mit Art. 322 AEUV vereinbar.

c) Kriterien für die Aufhebung der Maßnahmen im Verfahren nach der Verordnung 2020/2092

183.

Nach Art. 7 Abs. 1 und 2 der Verordnung 2020/2092 werden die Maßnahmen auf Ersuchen des Staats oder auf Vorschlag der Kommission aufgehoben, wenn die Voraussetzungen für ihre Annahme weggefallen sind.

184.

Dies bedeutet, dass es unerlässlich ist, dass Auswirkungen oder die Gefahr von Auswirkungen auf die Ausführung des Haushaltplans der Union fortdauern, damit die getroffenen Korrekturmaßnahmen der finanziellen Konditionalität aufrechterhalten werden können.

185.

Wie der Rat ausführt, werden Korrekturmaßnahmen aufgehoben, wenn keine Auswirkung auf den Haushaltsvollzug mehr besteht, selbst wenn der Verstoß des Mitgliedstaats gegen die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit fortdauert. Wie das Europäische Parlament in der mündlichen Verhandlung dargelegt hat, gibt es bei Sanktionen keine Möglichkeit der Aufhebung.

186.

Dadurch wird verdeutlicht (genauer gesagt bestätigt), dass der Konditionalitätsmechanismus bei Verstößen gegen die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit finanzielle Korrekturen und keine Sanktionen vorsieht.

d) Schutz der Begünstigten im Verfahren nach der Verordnung 2020/2092

187.

Im Licht des 19. Erwägungsgrundes der Verordnung 2020/2092 wird durch ihren Art. 5 Abs. 2 ( 103 ) eine Garantie für die Endempfänger oder Begünstigten der aus dem Haushalt der Union finanzierten Ausgabenprogramme geschaffen.

188.

Die Annahme von Maßnahmen der finanziellen Konditionalität bei einem Verstoß eines Staats gegen die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit darf den Endempfängern oder Begünstigten der Mittel nicht zum Nachteil gereichen; sie müssen sie weiterhin erhalten. Außerdem muss der Staat der Kommission regelmäßig über die Einhaltung dieser Verpflichtung Bericht erstatten.

189.

Die ungarische Regierung trägt vor, bei einer Finanzkorrektur müsse der betroffene Mitgliedstaat den Begünstigten die Mittel zahlen, was seinen eigenen Haushalt belaste. Durch die Verordnung 2020/2092 würden den Staaten mithin Verpflichtungen hinsichtlich ihres nationalen Haushaltsplans auferlegt, was Art. 322 AEUV nicht vorsehe.

190.

Der Rat erwidert, Art. 5 Abs. 2 der Verordnung 2020/2092 habe deklaratorische Wirkung und erlege dem Mitgliedstaat neben den „anwendbaren sektorspezifischen Vorschriften oder Haushaltsvorschriften“ keine zusätzlichen Verpflichtungen auf. De facto füge er lediglich eine Modalität für die Kontrolle der Einhaltung der bereits in sektoriellen Vorschriften geregelten Verpflichtungen hinzu, um die Empfänger von Haushaltsmitteln der Union im Fall finanzieller Korrekturen zu schützen.

191.

Meines Erachtens ist die Argumentation der ungarischen Regierung zurückzuweisen, da der in Art. 5 Abs. 2 der Verordnung 2020/2092 angesprochene Schutz der Begünstigten eine typische und logische Maßnahme im Rahmen der Ausführung des Haushalts der Union in geteilter Mittelverwaltung ist.

192.

Im 19. Erwägungsgrund der Verordnung 2020/2092 wird klargestellt, dass „im Rahmen der geteilten Mittelverwaltung Zahlungen der Kommission an die Mitgliedstaaten rechtlich unabhängig von Zahlungen nationaler Behörden an die Begünstigten sind“.

193.

Aus dieser Prämisse wird geschlossen, dass die aufgrund der Verordnung 2020/2092 angenommenen Maßnahmen „die Verfügbarkeit von Mitteln für Zahlungen an Begünstigte entsprechend den in den anwendbaren sektorspezifischen Vorschriften und Haushaltsvorschriften vorgesehenen Zahlungsfristen nicht berühren. Die im Rahmen dieser Verordnung angenommenen Beschlüsse und die in dieser Verordnung festgelegten Verpflichtungen gegenüber Endempfängern oder Begünstigten sind Teil des in Bezug auf die Durchführung von Finanzierungen unter geteilter Mittelverwaltung anwendbaren Unionsrechts.“

194.

Angesichts der Unterscheidung zwischen den Zahlungen der Kommission an den Mitgliedstaat und den Zahlungen der nationalen Verwaltungsbehörden an die Begünstigten der aus dem Haushalt der Union finanzierten Mittel und Programme ist es logisch, dass die Staaten grundsätzlich verpflichtet sind, die Zahlungen an die Begünstigten auch bei einer von der Union veranlassten Finanzkorrektur fortzusetzen.

195.

Die Finanzkorrektur würde zudem ihre Wirksamkeit verlieren, wenn die nationalen Behörden von den Begünstigten die Rückzahlung der erhaltenen Mittel verlangen könnten oder die zugesagten Mittel nicht an sie auszahlen würden, nachdem die Organe der Union eine Maßnahme zum Schutz ihres Haushaltsplans wegen eines seine Ausführung beeinträchtigenden Verstoßes gegen die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit ergriffen haben.

196.

In diesen Fällen muss der betroffene Mitgliedstaat die von den Organen der Union vorgenommene Finanzkorrektur hinnehmen und darf sie nicht auf die Empfänger der Mittel, die mit dem Verstoß nichts zu tun haben, abwälzen ( 104 ).

197.

Finanzkorrekturen können auf natürliche und juristische Personen eines Mitgliedstaats nur abgewälzt werden, wenn sie für Verstöße gegen Vorschriften der Union, die die Zuweisung von Mitteln aus ihrem Haushalt regeln, verantwortlich sind, was bei Anwendung der Verordnung 2020/2092 wie gesagt nicht der Fall ist.

198.

Trifft die Verantwortung für die Verstöße hingegen die nationalen Behörden, müssen sie die Folgen ihres eigenen Handelns tragen, das Anlass zu den Korrekturmaßnahmen gegeben hat ( 105 ), wie es bei der Anwendung der Verordnung 2020/2092 der Fall ist.

199.

Auf derselben Linie liegt auch Art. 103 der Verordnung über gemeinsame Bestimmungen über die Strukturfonds für den Zeitraum 2021-2027, der die von den Mitgliedstaaten vorzunehmenden Finanzkorrekturen regelt ( 106 ). Den Schutz der Endbegünstigten sieht auch Art. 11 der Verordnung (EU) Nr. 1306/2013 ( 107 ) vor.

200.

Zusammengefasst fügt sich die Garantie zugunsten der Endbegünstigten in Art. 5 Abs. 2 der Verordnung 2020/2092 zwanglos in einen Mechanismus finanzieller Konditionalität ein und steht im Zusammenhang mit der Ausführung des Haushaltsplans der Union, so dass Art. 322 AEUV eine ausreichende Grundlage für sie bietet.

201.

Ich bin daher der Ansicht, dass der erste Klagegrund zurückzuweisen ist.

VI. Zweiter Klagegrund: Verstoß gegen Art. 7 EUV und Verstoß gegen Art. 4 Abs. 1 EUV, Art. 5 Abs. 1 EUV und Art. 13 Abs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 269 AEUV

202.

Mit ihrem zweiten Klagegrund rügt die ungarische Regierung zwei Verstöße gegen die Verträge:

gegen Art. 7 EUV;

gegen Art. 269 AEUV und den Grundsatz des institutionellen Gleichgewichts in Art. 13 Abs. 2 EUV.

203.

Die ungarische Regierung sieht einen Zusammenhang zwischen dem (geltend gemachten) Verstoß gegen Art. 7 EUV und dem Grundsatz der Verteilung der Zuständigkeiten in Art. 4 Abs. 1 EUV und Art. 5 Abs. 2 EUV, da die Verordnung 2020/2092 auf eine ungeeignete Rechtsgrundlage gestützt worden sei. Soweit sie damit Argumente wiederholt, die sie bereits im Rahmen des ersten Klagegrundes vorgebracht hat, nehme ich auf meine Ausführungen dazu Bezug.

A.   Erster Teil des zweiten Klagegrundes: Verstoß gegen Art. 7 EUV

1. Vorbringen der Parteien

204.

Die ungarische Regierung macht geltend, das in der Verordnung 2020/2092 geregelte Verfahren sei nichts anderes als eine Konkretisierung des Verfahrens gemäß Art. 7 EUV, was weder nach dieser noch einer anderen Vorschrift des Primärrechts zulässig sei. Zwei der drei Abschnitte dieses Verfahrens stimmten mit dem in Art. 7 EUV geregelten Mechanismus überein, dessen Anwendungsvoraussetzungen enger seien als die für den Erlass von Maßnahmen auf der Grundlage der angefochtenen Verordnung geltenden.

205.

Das Ziel der Verordnung 2020/2092 stimme mit dem Ziel des Art. 7 EUV überein, da mit ihm Verstöße gegen die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit durch die Verhängung von Sanktionen geahndet werden sollten. Dies zeige das Fehlen eines echten Konditionalitätsmechanismus, das Fehlen einer tatsächlichen Verbindung zwischen den Verstößen gegen die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit und dem Haushaltsplan der Union, die Tatsache, dass die Maßnahmen enger mit den bei Verstößen gegen die Rechtsstaatlichkeit geltenden Maßnahmen verbunden seien als mit dem Haushaltsplan der Union, die Berücksichtigung der Absicht des Mitgliedstaats als relevanter Faktor und die Tatsache, dass die Aufhebung der Maßnahmen vom Ende der Verstöße abhänge.

206.

Das Parlament und der Rat treten diesen Argumenten entgegen und tragen vor, der Mechanismus der Verordnung 2020/2092 sei von dem Verfahren des Art. 7 EUV unabhängig, verfolge andere Zielsetzungen und richte sich nach anderen Vorschriften. Er solle den Haushaltsplan der Union schützen und nicht Verstöße gegen die Rechtsstaatlichkeit ahnden. Die Voraussetzungen für den Erlass von Maßnahmen und ihre Typologie wichen von denen des Art. 7 EUV ab.

2. Würdigung

207.

Damit festgestellt werden kann, ob durch die Verordnung 2020/2092 ein Verfahren eingeführt wird, das mit dem Verfahren des Art. 7 EUV vereinbar ist, muss zunächst geklärt werden, ob dieser Artikel der einzige in der Rechtsordnung der Union vorhandene Weg ist, um den Wert der Rechtsstaatlichkeit zu schützen.

a) Keine Ausschließlichkeit von Art. 7 EUV für den Schutz der Rechtsstaatlichkeit

208.

Meines Erachtens wird der Unionsgesetzgeber durch Art. 7 EUV nicht ermächtigt, durch sekundärrechtliche Vorschriften einen anderen, analogen Mechanismus einzuführen, der – wenn auch mit geringeren materiellen und verfahrensrechtlichen Anforderungen – das gleiche Ziel des Schutzes der Rechtsstaatlichkeit verfolgt und ähnliche Sanktionen vorsieht.

209.

Das bedeutet aber nicht, dass die Rechtsstaatlichkeit ausschließlich über Art. 7 EUV geschützt werden kann ( 108 ). Nichts hindert daran, diesen Schutz durch andere Instrumente neben Art. 7 EUV zu gewähren, solange sich ihre wesentlichen Merkmale voneinander unterscheiden.

210.

Wie der Rat ausführt, besitzen die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit in der Rechtsordnung der Union einen strukturellen Wert, so dass ihre Verletzung diese Rechtsordnung schwerwiegend beeinträchtigen kann ( 109 ). Daher hat der Gerichtshof insbesondere in seiner Rechtsprechung zur Unabhängigkeit der Gerichte ( 110 ) und zum Europäischen Haftbefehl ( 111 ) besonderen Nachdruck auf die Werte des Art. 2 EUV gelegt und entschieden, dass Vorschriften des abgeleiteten Rechts neben Art. 7 EUV geeignet sind, sie zu schützen. Ferner hat er die Bejahung der Aktivlegitimation von Drittstaaten für die Erhebung von Nichtigkeitsklagen mit dem Schutz der Rechtsstaatlichkeit gerechtfertigt ( 112 ).

211.

Die vollstreckende Justizbehörde kann, auch wenn der Europäische Rat und der Rat keine Entscheidungen gemäß Art. 7 EUV getroffen haben, die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls beim Vorliegen von Anhaltspunkten für systemische oder allgemeine Mängel in Bezug auf die Unabhängigkeit der Justiz im Ausstellungsmitgliedstaat ablehnen, sofern es ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme gibt, dass die gesuchte Person im Fall ihrer Übergabe an diesen Mitgliedstaat einer echten Gefahr der Verletzung ihres in Art. 47 Abs. 2 der Charta verbürgten Grundrechts auf ein faires Verfahren ausgesetzt sein wird ( 113 ).

212.

Daran wird deutlich, dass der Gerichtshof in diesen Fällen zur Feststellung einer Ausnahme von der Festnahme und Übergabe einer gesuchten Person einen der Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit heranzieht, außerhalb des Verfahrens nach Art. 7 EUV.

213.

Ähnliches gilt für den Schutz der Unabhängigkeit der nationalen Gerichte bei der Anwendung des Unionsrechts, die der Gerichtshof ebenfalls unter Heranziehung des Wertes der Rechtsstaatlichkeit verteidigt hat ( 114 ), auch wenn von Art. 7 EUV noch kein Gebrauch gemacht wurde.

214.

Die Achtung der in Art. 2 EUV verankerten Werte durch einen Mitgliedstaat ist eine Voraussetzung für die Inanspruchnahme der Rechte, die sich aus der Anwendung der Verträge auf diesen Mitgliedstaat ergeben. Ein Mitgliedstaat darf daher seine Rechtsvorschriften nicht in einer Weise ändern, die zu einer Verringerung des Schutzes des Wertes der Rechtsstaatlichkeit führt, eines Wertes, der namentlich durch Art. 19 EUV konkretisiert wird. Die Mitgliedstaaten müssen im Zusammenhang mit diesem Wert jeden Rückschritt in ihren Rechtsvorschriften über die Organisation der Rechtspflege vermeiden und dürfen keine Maßnahmen treffen, die die richterliche Unabhängigkeit untergraben können ( 115 ).

215.

Diese Beispiele aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs zum Schutz des Wertes der Rechtsstaatlichkeit zeigen, dass die von den Organen der Union erlassenen Rechtsvorschriften, mit denen in spezifischen Bereichen (und nicht notwendigerweise anhand des in Art. 7 EUV vorgesehenen Mechanismus) auf bestimmte, mit Auswirkungen auf den Haushaltsvollzug verbundene Verstöße gegen diesen Wert reagiert werden soll, mit dem Primärrecht vereinbar sind.

216.

Haben solche Verstöße Auswirkungen auf die Ausführung des Haushaltsplans der Union durch die Mitgliedstaaten, ist der Unionsgesetzgeber somit durch nichts daran gehindert, zu dessen Schutz einen Rechtsakt (wie die Verordnung 2020/2092) zu erlassen, ohne dass er dadurch in Konflikt mit Art. 7 EUV gerät oder seine Anwendung umgeht.

b) Vergleich zwischen den Verfahren nach Art. 7 EUV und der Verordnung 2020/2092

217.

Die Prüfung der Verordnung 2020/2092 ist für die Klärung der Frage hilfreich, ob das durch sie eingeführte Verfahren einem echten Mechanismus der finanziellen Konditionalität wie den im Unionsrecht bereits vorhandenen entspricht oder eher einem Instrument zur Ahndung von Verstößen gegen die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit wie dem des Art. 7 EUV.

218.

Damit habe ich mich bei der Prüfung der Rechtsgrundlage der Verordnung 2020/2092 im Rahmen des ersten Klagegrundes befasst. Daraus leite ich ab, dass die Argumente der ungarischen Regierung zum Wesen der Konditionalität, die ihrer Ansicht nach eher zur Bekämpfung von Verstößen gegen die Rechtsstaatlichkeit dient als zum Schutz des Haushaltsplans der Union, abzulehnen sind.

219.

Ich werde nunmehr meine Ausführungen unter Rückgriff auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs zu den Unterschieden zwischen den Mechanismen der finanziellen Konditionalität ( 116 ) und Vertragsverletzungsklagen ergänzen, aus deren Verhältnis sich im Wege der Analogie einige für diese Rechtssache relevante Beurteilungselemente ableiten lassen. Beide Verfahren sind voneinander unabhängig, da sie unterschiedliche Ziele verfolgen und in unterschiedlichen Vorschriften geregelt sind.

220.

Folgende Unterschiede sind hervorzuheben:

Bei Klagen gemäß Art. 258 AEUV steht es der Kommission frei, das Verfahren nicht fortzuführen, wenn der betreffende Mitgliedstaat die gerügte Vertragsverletzung abgestellt hat; anders ist dies beispielsweise beim Verfahren über den EAGFL-Rechnungsabschluss, bei dem der Kommission kein Beurteilungsspielraum zusteht, der es ihr erlauben würde, von den Vorschriften über die Aufteilung dieser Lasten abzuweichen ( 117 ).

Im Verfahren über den EAGFL-Rechnungsabschluss muss die Kommission eine finanzielle Berichtigung vornehmen, wenn die Ausgaben, deren Finanzierung begehrt wird, nicht im Einklang mit den unionsrechtlichen Vorschriften getätigt wurden. Eine solche finanzielle Berichtigung soll verhindern, dass Beträge, die nicht zur Finanzierung eines mit der betreffenden unionsrechtlichen Regelung verfolgten Zieles gedient haben, zulasten des EAGFL gehen; sie stellt daher keine Sanktion dar ( 118 ).

Die Verfahren zur Aussetzung oder Kürzung von Fördermitteln aus Strukturfonds der Union für nationale Maßnahmen weichen von der Regelung in Art. 258 AEUV ab und nehmen einen anderen Verlauf. Beschließt die Kommission, kein Vertragsverletzungsverfahren einzuleiten oder auf seine Fortführung zu verzichten, bedeutet das nicht, dass es ihr unmöglich wäre, die Unionsbeihilfe für eine nationale Maßnahme auszusetzen oder zu kürzen, vor allem dann, wenn eine oder mehrere Bedingungen für diese Finanzierung nicht erfüllt wurden. Hierfür muss die Kommission einen Beschluss fassen, der allerdings dem nach Art. 258 AEUV eingeleiteten Vertragsverletzungsverfahren oder der vom Gerichtshof getroffenen Feststellung einer solchen Vertragsverletzung Rechnung tragen muss ( 119 ).

Im Gegensatz zum Vertragsverletzungsverfahren stellt ein Beschluss über die Aussetzung oder Kürzung der Unionsfinanzierung einen den Adressaten beschwerenden Rechtsakt dar, der vor den Unionsgerichten angefochten werden kann ( 120 ).

221.

Diese Rechtsprechung wurde herangezogen, um Konditionalitätsklauseln zu rechtfertigen, die Zahlungen aus dem Haushalt der Union von der Einhaltung horizontaler Verpflichtungen wie dem ordnungsgemäßen Funktionieren der nationalen, zu einer wirtschaftlichen Führung des Haushalts der Union beitragenden Verwaltungs- und Kontrollsysteme für die Verwendung der Mittel abhängig machten. Gleiches gilt bei systemischen Mängeln in der Funktionsweise der für die Ausführung des Haushaltsplans der Union zuständigen nationalen Behörden ( 121 ).

222.

Im Licht dieser Rechtsprechung ist zu prüfen, ob sich der Mechanismus des Art. 7 EUV von dem der Verordnung 2020/2092 unterscheidet.

223.

Der Erlass von Maßnahmen hängt nach Art. 7 EUV von der Feststellung ab, dass eine schwerwiegende und anhaltende Verletzung der in Art. 2 EUV genannten Werte durch einen Mitgliedstaat vorliegt. Art. 4 Abs. 1 der Verordnung 2020/2092 betrifft dagegen nur Verstöße eines Mitgliedstaats gegen die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit, die die wirtschaftliche Führung des Haushalts der Union oder den Schutz ihrer finanziellen Interessen unmittelbar beeinträchtigen oder ernsthaft zu beeinträchtigen drohen.

224.

Die Schwelle ist bei Art. 7 EUV höher als bei der Verordnung 2020/2092, denn er verlangt das Vorliegen einer schwerwiegenden und anhaltenden Verletzung eines der in Art. 2 EUV genannten Werte (nicht nur der Rechtsstaatlichkeit).

225.

Art. 7 EUV verlangt keinen hinreichend unmittelbaren Zusammenhang mit einem spezifischen Bereich des Unionrechts, während dies bei der Verordnung 2020/2092 der Fall ist, die eine Verbindung zwischen dem Verstoß gegen die Rechtsstaatlichkeit und der Ausführung des Haushaltsplans der Union voraussetzt. Die Verordnung 2020/2092 ist mithin in sehr viel begrenzterem Umfang anwendbar als Art. 7 EUV.

226.

Der in der Verordnung 2020/2092 vorgesehene Mechanismus ähnelt hinsichtlich der Voraussetzungen für das Ergreifen von Maßnahmen anderen Instrumenten der finanziellen Konditionalität und des Haushaltsvollzugs, aber nicht dem, den Art. 7 EUV vorsieht. Die Ähnlichkeit mit Ersterem und nicht mit Letzterem zeigt sich beispielsweise an

der Haushaltsordnung, nach deren Art. 131 Abs. 3 Zahlungen ausgesetzt werden können, wenn sich herausstellt, dass die Umsetzung der rechtlichen Verpflichtung mit Unregelmäßigkeiten behaftet war oder Betrug oder eine Verletzung von Pflichten vorlag, wenn dies überprüft werden muss oder wenn Unregelmäßigkeiten, Betrug oder eine Verletzung von Pflichten die Zuverlässigkeit oder Wirksamkeit der internen Kontrollsysteme einer Person oder Stelle, die Unionsmittel ausführt, oder die Rechtmäßigkeit und Ordnungsmäßigkeit der zugrunde liegenden Vorgänge in Frage stellen;

der Verordnung über gemeinsame Vorschriften für den Zeitraum 2021-2027, die mit ähnlichen Worten die Möglichkeit regelt, Zahlungen auszusetzen (Art. 97 Abs. 1) und Finanzkorrekturen vorzunehmen (Art. 104 Abs. 1).

227.

Desgleichen werden im Bereich der makroökonomischen Konditionalität nach der Verordnung 2021/241 gemäß deren Art. 10 Korrekturmaßnahmen erlassen, „wenn der Rat im Einklang mit Artikel 126 Absatz 8 oder Absatz 11 AEUV zu dem Schluss kommt, dass ein Mitgliedstaat keine wirksamen Maßnahmen zur Korrektur seines übermäßigen Defizits ergriffen hat, es sei denn, es wurde festgestellt, dass ein schwerwiegender Wirtschaftsabschwung für die gesamte Union … vorliegt“.

228.

In Bezug auf die Art der Maßnahmen entspricht die Verordnung 2020/2092 wiederum stärker den Konditionalitätsmechanismen der Haushaltsordnung und anderer Unionsvorschriften als dem Verfahren nach Art. 7 EUV.

229.

Gemäß Art. 7 Abs. 3 EUV kann der Rat beschließen, „bestimmte Rechte auszusetzen, die sich aus der Anwendung der Verträge auf den betroffenen Mitgliedstaat herleiten“. Die Handlungsmöglichkeiten, die dem Rat damit zur Verfügung gestellt werden, gehen weit über die mit der Ausführung des Haushaltsplans der Union im Zusammenhang stehenden und in Art. 5 Abs. 1 der Verordnung 2020/2092 geregelten Möglichkeiten hinaus ( 122 ). Letztere (u. a. Aussetzung von Programmen, Mittelbindungen und Zahlungen) sind typisch für die Unionsvorschriften über den Haushaltsvollzug.

230.

Die Kriterien für die Auswahl der Maßnahmen in der Verordnung 2020/2092 stimmen alles in allem mit denen der Finanzregulierung der Union überein und weichen vom Verfahren des Art. 7 EUV ab, nach dessen Abs. 3 der Rat bei der Verhängung von Maßnahmen die möglichen Auswirkungen auf die Rechte und Pflichten natürlicher und juristischer Personen berücksichtigt.

231.

Insoweit verweise ich auf die Prüfung von Art. 5 Abs. 3 der Verordnung 2020/2092, die ich im Rahmen des ersten Klagegrundes hinsichtlich des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit als Kriterium zur Anpassung der Maßnahmen, neben den Kriterien der Art, Schwere und Häufigkeit der Unregelmäßigkeiten sowie dem Kriterium ihrer finanziellen Auswirkungen auf den Unionshaushalt, vorgenommen habe.

232.

In den Haushaltsvorschriften der Union finden sich die gleichen Kriterien sowie das Kriterium der Anknüpfung an die Ordnungsmäßigkeit der Ausgabe ( 123 ). Das Verfahren der makroökonomischen Konditionalität der Aufbau- und Resilienzfazilität umfasst neben dem Kriterium der Verhältnismäßigkeit andere spezifische Kriterien sozialer oder wirtschaftlicher Art ( 124 ).

233.

Zur Aufhebung der Maßnahmen heißt es in Art. 7 Abs. 4 EUV, dass der Rat beschließen kann, nach Abs. 3 getroffene Maßnahmen abzuändern oder aufzuheben, wenn in der Lage, die zu ihrer Verhängung geführt hat, Änderungen eingetreten sind.

234.

In Art. 7 Abs.1 und 2 der Verordnung 2020/2092 wird ein ähnliches Kriterium verwendet, das allerdings daran anknüpft, dass der Verstoß gegen die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit Auswirkungen auf die ordnungsgemäße Ausführung des Haushaltsplans der Union hat. Nur in diesem Fall hängt die Aufhebung der finanziellen Korrekturmaßnahmen davon ab, dass der Mitgliedstaat den Verstößen abhilft ( 125 ).

235.

Derselbe Gedankengang findet sich in Art. 10 Abs. 6 der Verordnung 2021/241. Nach der Haushaltsordnung der Union gilt für die Aufhebung von Maßnahmen bei einer vorläufigen Aussetzung oder einer vorläufigen Finanzkorrektur eine ähnliche Regel ( 126 ).

236.

Zusammengefasst ähnelt der Mechanismus der Verordnung 2020/2092 bei den Voraussetzungen für den Erlass, den Arten von Maßnahmen, den Auswahlkriterien und den Kriterien für die Aufhebung der Maßnahmen der Haushaltsordnung der Union und weicht vom Verfahren des Art. 7 EUV ab.

237.

Meines Erachtens ist der erste Teil des zweiten Klagegrundes daher zurückzuweisen.

B.   Zweiter Teil des zweiten Klagegrundes: Verstoß gegen den Grundsatz des institutionellen Gleichgewichts und gegen Art. 269 AEUV

1. Vorbringen der Parteien

238.

Die ungarische Regierung rügt, die Verordnung 2020/2092 verstoße gegen den in Art. 13 Abs. 2 EUV aufgestellten Grundsatz des institutionellen Gleichgewichts sowie, in Bezug auf die Zuständigkeit des Gerichtshofs, gegen Art. 269 AEUV.

239.

Sie ist der Ansicht, das Verfahren nach der Verordnung 2020/2092 sei zur Ahndung von Verstößen gegen die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit einfacher, schneller und effizienter als das Verfahren nach Art. 7 EUV und beeinträchtige das Letzterem zugrunde liegende und damit das in Art. 13 EUV geregelte institutionelle Gleichgewicht zulasten des betroffenen Mitgliedstaats. Zudem sehe es eine unbegrenzte Kontrolle durch den Gerichtshof vor, die wesentlich weiter sei als die nach Art. 269 AEUV.

240.

Das Parlament und der Rat treten diesen Argumenten entgegen. Sie meinen, das Verfahren nach der Verordnung 2020/2092 verstoße nicht gegen den Grundsatz des institutionellen Gleichgewichts, da es dem in anderen Haushaltsbestimmungen der Union herangezogenen Verfahren ähnele. Zudem müsse die in Art. 269 AEUV vorgeschriebene Beschränkung der Kontrolle des Gerichtshofs nicht auf die Mechanismen der finanziellen Konditionalität angewandt werden.

2. Würdigung

241.

Die ungarische Regierung führt zwei Gründe an, die zur Nichtigerklärung der Verordnung 2020/2092 führen sollen: a) die Einführung eines zum Verfahren nach Art. 7 EUV parallelen Verfahrens, das zu einer Verzerrung des dort und in Art. 13 Abs. 2 EUV niedergelegten institutionellen Gleichgewichts führe, und b) die Unvereinbarkeit der uneingeschränkten gerichtlichen Kontrolle der auf der Grundlage der Verordnung 2020/2092 angenommenen Maßnahmen durch den Gerichtshof mit der wesentlich eingeschränkteren Kontrolle nach Art. 269 AEUV.

a) Entscheidungsverfahren der Verordnung 2020/2092 im Vergleich zu dem des Art. 7 EUV

242.

Durch Art. 7 EUV wird ein starres Beschlussfassungssystem mit spezifischen Abstimmungsmodalitäten eingeführt ( 127 ). Die Verfahrensschritte divergieren, je nachdem, ob die bloße Gefahr einer Verletzung der Werte des Art. 2 EUV oder ihr Vorliegen festgestellt wird.

243.

Im erstgenannten Fall (Gefahr einer Verletzung) gilt:

Der Vorschlag kann von einem Drittel der Mitgliedstaaten, dem Europäischen Parlament oder der Kommission unterbreitet werden.

Der Rat kann mit der Mehrheit von vier Fünfteln seiner Mitglieder nach Zustimmung des Europäischen Parlaments feststellen, dass die eindeutige Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der in Art. 2 genannten Werte durch einen Mitgliedstaat besteht. Der Rat hört, bevor er eine solche Feststellung trifft, den betroffenen Mitgliedstaat und kann Empfehlungen an ihn richten, die er nach demselben Verfahren beschließt.

244.

Im letztgenannten Fall (Vorliegen einer Verletzung) gilt:

Auf Vorschlag eines Drittels der Mitgliedstaaten oder der Europäischen Kommission und nach Zustimmung des Europäischen Parlaments kann der Europäische Rat einstimmig feststellen, dass eine schwerwiegende und anhaltende Verletzung der in Art. 2 genannten Werte durch einen Mitgliedstaat vorliegt, nachdem er den betroffenen Mitgliedstaat zu einer Stellungnahme aufgefordert hat.

Wurde diese Feststellung getroffen, so kann der Rat mit qualifizierter Mehrheit beschließen, bestimmte Rechte auszusetzen, die sich aus der Anwendung der Verträge auf den betroffenen Mitgliedstaat herleiten. Der Rat kann zu einem späteren Zeitpunkt mit qualifizierter Mehrheit beschließen, die getroffenen Maßnahmen abzuändern oder aufzuheben, wenn in der Lage, die zu ihrer Verhängung geführt hat, Änderungen eingetreten sind.

245.

Art. 7 EUV sieht somit zwei Abstimmungen im Rat vor, die eine mit einer Mehrheit von vier Fünfteln und die andere mit qualifizierter Mehrheit, sowie eine weitere – Einstimmigkeit erfordernde – Abstimmung im Europäischen Rat, an denen der betroffene Staat nicht teilnehmen kann. Es handelt sich um ein fakultatives Verfahren, für dessen einzelnen Abschnitte keine Fristen gelten. Es spielt sich vornehmlich innerhalb des Rates ab, mit Ausnahme der Initiative zur Unterbreitung eines begründeten Vorschlags, die bei einem Drittel der Mitgliedstaaten, dem Parlament oder der Kommission liegt.

246.

Die Verordnung 2020/2092 weicht von diesem Schema ab und nähert sich den Verfahren nach Art. 258 AEUV an:

Die Initiative liegt ausschließlich bei der Kommission, die sie ergreift, wenn nach ihrer Auffassung hinreichende Gründe für die Feststellung vorliegen, dass die in Art. 4 der Verordnung 2020/2092 festgelegten Voraussetzungen erfüllt sind.

Die Kommission übermittelt dem betreffenden Mitgliedstaat „eine schriftliche Mitteilung und legt darin die Tatsachen und die spezifischen Gründe dar, auf denen ihre Feststellungen beruhen“ (Art. 6 Abs. 1).

Innerhalb der von der Kommission angegebenen Frist legt der Mitgliedstaat „sämtliche erforderlichen Informationen“ vor und „kann zugleich Stellung … nehmen“ und „die Annahme von Abhilfemaßnahmen vorschlagen, um auf die Feststellungen in der Mitteilung der Kommission zu reagieren“ (Art. 6 Abs. 5).

Die Kommission bewertet die erhaltenen Informationen und etwaige Stellungnahmen des Mitgliedstaats sowie die Angemessenheit der vorgeschlagenen Abhilfemaßnahmen. Beabsichtigt sie, dem Rat „einen Vorschlag … zu unterbreiten, so gibt sie dem Mitgliedstaat … die Möglichkeit, … zu den Feststellungen und insbesondere zur Verhältnismäßigkeit der in Aussicht genommenen Maßnahmen Stellung zu nehmen“ (Art. 6 Abs. 6 und 7).

Hält die Kommission an ihrer Absicht fest, legt sie dem Rat einen Entwurf für einen Durchführungsbeschluss vor, in dem sie die spezifischen Gründe und Beweismittel darlegt, auf denen ihre Feststellung beruht (Art. 6 Abs. 9).

Der Rat nimmt den Beschluss zur Durchführung des Kommissionsvorschlags an; er kann ihn auch mit qualifizierter Mehrheit ändern „und den geänderten Text durch einen Durchführungsbeschluss erlassen“ (Art. 6 Abs. 11).

247.

Die Verordnung 2020/2092 sieht also ein von der Kommission durchzuführendes Vorverfahren vor, das ähnlich wie bei den Vertragsverletzungsverfahren zwei Konsultationsrunden mit dem betroffenen Staat umfasst. Das Verfahren ist für die Kommission zwingend, und für alle seine Abschnitte gelten Fristen. Es kommt zu einer Abstimmung im Rat mit qualifizierter Mehrheit, an der der betroffene Staat teilnimmt.

248.

Im Vergleich zu dem Verfahren nach Art. 7 EUV ist das Verfahren nach der Verordnung 2020/2092 weniger starr und ermöglicht es unter den soeben dargestellten Voraussetzungen, leichter Abhilfemaßnahmen zu treffen.

249.

Der Rat vertritt die Auffassung, dass dieses Verfahren den Grundsatz des institutionellen Gleichgewichts achte und dem Verfahren für andere, auf Art. 317 Abs. 2 AEUV und Art. 291 Abs. 2 AEUV beruhende Haushaltsmaßnahmen der Union ähnele.

250.

Dieses Vorbringen stößt jedoch auf zwei Schwierigkeiten, die die Übertragung von Durchführungsbefugnissen auf den Rat und die Beteiligung des Europäischen Rates in außergewöhnlichen Situationen betreffen.

251.

Die Übertragung von Durchführungsbefugnissen auf den Rat ist „der Bedeutung der finanziellen Folgen der aufgrund [der] Verordnung [2020/2092] angenommenen Maßnahmen“ ( 128 ) geschuldet. Unklar ist allerdings, ob sie mit Art. 317 AEUV im Einklang steht, wonach allein die Kommission den Haushaltsplan zusammen mit den Mitgliedstaaten in eigener Verantwortung ausführt.

252.

Kann ein Rechtsakt wie die Verordnung 2020/2092, dessen Rechtsgrundlage Art. 322 Abs. 1 Buchst. a AEUV ist und der Vorschriften für die Ausführung des Haushaltsplans der Union enthält, die Zuständigkeit des Rates für die Durchführung dieser Vorschriften begründen? Die Rechtsprechung des Gerichtshofs ist bei der Beantwortung dieser Frage hilfreich ( 129 ). Man kann, wie der Rat in der mündlichen Verhandlung ausgeführt hat, zwischen dem Haushaltsvollzug im engeren Sinne (Mittelverwendung), für den nach Art. 317 AEUV die Kommission zuständig ist, und der in Art. 322 Abs. 1 Buchst. a AEUV unter Bezugnahme auf die Aufstellung und Ausführung des Haushaltsplans geregelten Ausführung des Haushaltsplans im weiteren Sinne unterscheiden. Die letztgenannten Regeln stellen den Rahmen für das spätere Tätigwerden der Kommission bei der Mittelverwendung dar. Für diese Haushaltsvorschriften sieht Art. 322 AEUV keine Beschränkung auf die Kommission vor. Daher ist die Beteiligung des Rates an der Durchführung der Vorschriften für die Aufstellung und Ausführung des Haushaltsplans im Wege von Art. 291 AEUV möglich ( 130 ), sofern es für seine Beteiligung eine Rechtfertigung gibt, wie sie im vorliegenden Fall dem 20. Erwägungsgrund der Verordnung 2020/2092 zu entnehmen ist.

253.

Der zum Abschnitt des AEUV über die „Rechtsakte der Union“ gehörende Art. 291 AEUV sieht Folgendes vor:

Gemäß Abs. 1 ergreifen die Mitgliedstaaten alle zur Durchführung der verbindlichen Rechtsakte der Union erforderlichen Maßnahmen nach innerstaatlichem Recht.

In Abs. 2 heißt es: „Bedarf es einheitlicher Bedingungen für die Durchführung der verbindlichen Rechtsakte der Union, so werden mit diesen Rechtsakten der Kommission oder, in entsprechend begründeten Sonderfällen …, dem Rat Durchführungsbefugnisse übertragen.“

254.

Diese Bestimmung gestattet es, sowohl die Kommission als auch den Rat mit normativen Durchführungsbefugnissen auszustatten, die subsidiär bei den Mitgliedstaaten liegen. Einer der spezifischen Fälle, in denen einheitliche Voraussetzungen für die Durchführung erforderlich sein könnten, um die Zuständigkeit auf den Rat zu übertragen, ist der Haushaltsvollzug im weiteren Sinne.

255.

Wie der Rat vorträgt, werden ihm durch andere Haushaltsvorschriften der Union ebenfalls Zuständigkeiten für den Haushaltsvollzug übertragen. Dies ist der Fall bei Art. 19 Abs. 6, 7, 8, 11 und 13 der Verordnung über gemeinsame Vorschriften für den Zeitraum 2021-2027, wo dem Rat die Befugnis zum Erlass von Durchführungsmaßnahmen im Rahmen des durch sie eingeführten makroökonomischen Konditionalitätsmechanismus verliehen wird. Auch bei der Verordnung 2021/241 ist dies der Fall; darin heißt es:

„Ein Vorschlag der Kommission für einen Beschluss über die Aussetzung von Mittelbindungen gilt als vom Rat angenommen, sofern der Rat nicht im Wege eines Durchführungsrechtsakts beschließt, den Vorschlag binnen eines Monats nach Übermittlung durch die Kommission mit qualifizierter Mehrheit abzulehnen“ (Art. 10 Abs. 3).

„Auf Vorschlag der Kommission billigt der Rat im Wege eines Durchführungsbeschlusses die Bewertung des von dem Mitgliedstaat … vorgelegten Aufbau- und Resilienzplans …“ (Art. 20).

256.

Somit kann davon ausgegangen werden, dass der Mechanismus der finanziellen Konditionalität der Verordnung 2020/2092 einer der „entsprechend begründeten Sonderfälle“ ist, in denen die Übertragung von Durchführungsbefugnissen auf den Rat zulässig ist.

257.

Die Beteiligung des Europäischen Rates am Entscheidungsverfahren nach der Verordnung 2020/2092 ist nur in deren 26. Erwägungsgrund ( 131 ) vorgesehen und nicht in ihr Artikelwerk aufgenommen worden (wenngleich sie in dem im Dezember 2020 im Europäischen Rat erzielten Kompromiss erwähnt wurde). Da die Erwägungsgründe den späteren Inhalt des verfügenden Teils eines Rechtsakts (also seine Artikel) knapp begründen sollen, haben sie, soweit sie diese Funktion überschreiten, keine rechtliche Wirkung ( 132 ).

258.

Diese Intervention des Europäischen Rates (in Form einer Notbremse im Entscheidungsprozess der Verordnung 2020/2092) würde gegen das Primärrecht verstoßen, wenn sie verbindliche Rechtswirkungen erzeugen würde ( 133 ), denn es gibt keine Vertragsbestimmung, die ihm solche Befugnisse zuweist ( 134 ).

259.

Die Kommission akzeptiert die Intervention des Europäischen Rates, da es sich um „eine politische Debatte [handelt], die weder einen förmlichen Schritt in dem Verfahren noch eine Beteiligung des Europäischen Rates an dem Haushaltsvollzug zur Folge hat und voraussichtlich nicht zu einem Unwirksamwerden des Mechanismus führt, da die Entscheidungsbefugnis des Rates und die Rolle der Kommission hiervon nicht berührt werden“ ( 135 ).

260.

So verstanden und ausgehend von der Prämisse, dass die politische Intervention des Europäischen Rates weder in der Verordnung 2020/2092 vorgesehen ist noch das dort geregelte Entscheidungsverfahren beeinflussen kann, gehen die Einwände der ungarischen Regierung gegen die Intervention des Europäischen Rates ins Leere.

b) Möglicher Verstoß gegen Art. 269 AEUV

261.

Die ungarische Regierung ist der Auffassung, die Maßnahmen nach der Verordnung 2020/2092 unterlägen der vollständigen Überprüfung durch den Gerichtshof, der über die angenommenen Beschlüsse in der Sache entscheiden könne und nicht nur über „die Einhaltung der … Verfahrensbestimmungen“. Die Anfechtung der im Rahmen von Art. 7 EUV erlassenen Rechtsakte des Europäischen Rates bzw. des Rates sei nach Art. 269 AEUV hingegen auf Letztere beschränkt.

262.

Im Rahmen dieses Teils des Klagegrundes wird implizit von der Prämisse ausgegangen, dass der Mechanismus der Verordnung 2020/2092 de facto mit dem des Art. 7 EUV übereinstimmt. Aus den bereits dargelegten Gründen halte ich diese Prämisse für falsch, was alle weiteren Argumente der ungarischen Regierung entkräftet.

263.

Das doppelte Niveau der gerichtlichen Überprüfung im einen Fall (Art. 263 AEUV) und im anderen (Art. 269 AEUV) ist unbestreitbar, denn der Gerichtshof

behält seine allgemeine Zuständigkeit für die Überprüfung der Rechtmäßigkeit von Rechtsakten, die von der Kommission und vom Rat in Anwendung der Verordnung 2020/2092 erlassen werden und Gegenstand einer Nichtigkeitsklage sind. Dies ergibt sich insbesondere aus Art. 263 AEUV (bezüglich der Beschlüsse, durch die Abhilfemaßnahmen vorgeschrieben werden) und aus Art. 265 AEUV (bezüglich einer möglichen Untätigkeit der Kommission bei der Durchführung des Verfahrens);

verfügt nach Art. 269 AEUV über eine auf die Einhaltung der Verfahrensbestimmungen und nicht der materiellen Vorschriften beschränkte Zuständigkeit, wenn eine Nichtigkeitsklage gegen Rechtsakte des Europäischen Rates oder des Rates nach Art. 7 EUV erhoben wird.

264.

Der Gerichtshof hat im Urteil vom 3. Juni 2021, Ungarn/Parlament ( 136 ), einige Aspekte des Verfahrens nach Art. 7 EUV präzisiert. Insbesondere hat er entschieden, dass

Art. 269 AEUV nur die Rechtsakte des Rates und des Europäischen Rates, die im Rahmen des in Art. 7 EUV vorgesehenen Verfahrens erlassen werden, betrifft, nicht aber die nach diesem Artikel angenommenen Entschließungen des Parlaments ( 137 );

die Entschließungen des Parlaments weiterhin der „allgemeinen Zuständigkeit [unterliegen], die dem Gerichtshof der Europäischen Union durch Art. 263 AEUV zur Kontrolle der Rechtmäßigkeit der Handlungen der Unionsorgane zuerkannt wird“ ( 138 );

Art. 269 AEUV eng auszulegen ist, da er eine Begrenzung der allgemeinen Zuständigkeit des Gerichtshofs enthält ( 139 ).

265.

Insbesondere besteht in Anbetracht der Unterschiede zwischen beiden Verfahren kein Hindernis dafür, die in Anwendung der Verordnung 2020/2092 angenommenen Rechtsakte der Kommission und des Rates einer vollständigen (also uneingeschränkten) Rechtmäßigkeitskontrolle durch den Gerichtshof gemäß Art. 263 AEUV zu unterwerfen und nicht der begrenzteren Kontrolle nach Art. 269 AEUV, die eine Ausnahme allein für die nach Art. 7 EUV erlassenen Rechtsakte darstellt.

266.

Der zweite Teil des zweiten Klagegrundes ist daher zurückzuweisen.

VII. Dritter Klagegrund: Verstoß gegen den Grundsatz der Rechtssicherheit

A.   Vorbringen der Parteien

267.

Die ungarische Regierung trägt vor, das Konzept der Rechtsstaatlichkeit, auf dem die Verordnung 2020/2092 beruhe, sei ein abstrakter Begriff, der im Unionsrecht nicht einheitlich definiert werden könne und in den Rechtsordnungen der einzelnen Mitgliedstaaten konkretisiert werden müsse. Art. 2 Buchst. a der Verordnung 2020/2092 erweitere dieses Konzept und beeinträchtige die Rechtssicherheit.

268.

Außerdem seien die „Punkte“, anhand deren der Begriff der Rechtsstaatlichkeit in Art. 4 Abs. 2 der Verordnung 2020/2092 (mit Beispielen für einige Bereiche, in denen Verstöße möglich seien) präzisiert werde, offen und abstrakt formuliert, was gegen die Anforderungen der Rechtssicherheit verstoße.

269.

Dieser Mangel erstrecke sich auf weitere Bestimmungen der Verordnung 2020/2092 (Art. 4 Abs. 1 und Abs. 2 Buchst. h, Art. 5 Abs. 3, Art. 6 Abs. 3 und 8), was einen hohen Grad an Rechtsunsicherheit mit sich bringe.

270.

Das Parlament und der Rat treten diesem Vorbringen entgegen. Die Definition der Rechtsstaatlichkeit für die Zwecke der Anwendung der Verordnung 2020/2092 sei stichhaltig und beachte die Rechtssicherheit, wie auch die übrigen Anwendungsvoraussetzungen des Konditionalitätsmechanismus.

B.   Würdigung

271.

Zunächst erinnere ich an folgende Rechtsprechung des Gerichtshofs:

Der Grundsatz der Rechtssicherheit „gebietet, dass Rechtsvorschriften – vor allem dann, wenn sie nachteilige Folgen für Einzelne und Unternehmen haben können – klar und bestimmt sowie in ihrer Anwendung für den Einzelnen vorhersehbar sind. Insbesondere verlangt dieser Grundsatz, dass eine Regelung es den Betroffenen ermöglicht, den Umfang der ihnen damit auferlegten Verpflichtungen genau zu erkennen, und dass sie ihre Rechte und Pflichten eindeutig erkennen und sich darauf einstellen können.“ ( 140 )

Dieser Grundsatz gilt „in besonderem Maße bei einer Regelung …, die finanzielle Konsequenzen haben kann“ ( 141 ).

„Gehört jedoch ein gewisser Grad an Unsicherheit in Bezug auf den Sinn und die Reichweite einer Rechtsnorm zu deren Wesen, so ist … die Prüfung auf die Frage zu beschränken, ob der betreffende Rechtsakt derart unklar ist, dass dieser Mitgliedstaat etwaige Zweifel in Bezug auf die Reichweite oder den Sinn der angefochtenen Verordnung nicht mit hinreichender Sicherheit ausräumen kann.“ ( 142 )

Die Anforderungen des Grundsatzes der Rechtssicherheit „können … nicht so verstanden werden, dass eine einen abstrakten Rechtsbegriff verwendende Rechtsvorschrift die verschiedenen konkreten Fälle nennen muss, in denen sie Anwendung finden kann, da der Gesetzgeber nicht jeden dieser Fälle im Voraus bestimmen kann“ ( 143 ).

Die Gebote der Rechtssicherheit sind gegen das öffentliche Interesse abzuwägen ( 144 ).

272.

Obgleich der in Art. 2 EUV als Wert der Union verankerte Begriff der Rechtsstaatlichkeit weit ist, ist der Unionsgesetzgeber durch nichts daran gehindert, ihn für einen spezifischen materiellen Bereich wie den der Ausführung des Haushaltsplans zwecks Schaffung eines Mechanismus der finanziellen Konditionalität zu präzisieren.

273.

Der Begriff der Rechtsstaatlichkeit hat in der Rechtsordnung der Union autonome Bedeutung. Die Festlegung seiner Umrisse kann wegen der Gefahr einer uneinheitlichen Anwendung nicht den nationalen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten überlassen werden. Auch wenn er bislang nicht Gegenstand einer systematischen Entwicklung durch den Gesetzgeber war, dürfte dem in den Bereichen der eigenen Zuständigkeiten der Union nichts entgegenstehen.

274.

Der Gerichtshof hat, wie bereits dargelegt, in seiner Rechtsprechung zur Fortentwicklung des Wertes der Rechtsstaatlichkeit in Bezug auf seine Implikationen für den effektiven gerichtlichen Rechtsschutz und die richterliche Unabhängigkeit beigetragen. Seine Ausführungen bieten dem Unionsgesetzgeber Hilfestellungen, die bei der näheren Ausgestaltung dieses Wertes in Vorschriften des abgeleiteten Rechts hilfreich sein können. So war es bei der Verordnung 2020/2092.

275.

Im Rahmen seiner Rechtmäßigkeitskontrolle muss der Gerichtshof prüfen, ob die Definition der Rechtsstaatlichkeit in Art. 2 Buchst. a der Verordnung 2020/2092 sowie die Hinweise auf einen Verstoß (Art. 3) und die Beispiele für Verstöße gegen die von ihr erfassten Grundsätze (Art. 4 Abs. 2) die Anforderungen des Grundsatzes der Rechtssicherheit erfüllen.

276.

Die Definition in Art. 2 Buchst. a der Verordnung 2020/2092 enthält drei Elemente:

Die Rechtsstaatlichkeit ist ein in Art. 2 EUV verankerter Wert der Union.

Ihm wohnen sieben Rechtsgrundsätze inne: die Rechtmäßigkeit, die transparente, rechenschaftspflichtige, demokratische und pluralistische Gesetzgebungsverfahren voraussetzen, die Rechtssicherheit, das Verbot der willkürlichen Ausübung von Hoheitsgewalt, der wirksame Rechtsschutz – einschließlich des Zugangs zur Justiz – durch unabhängige und unparteiische Gerichte, auch in Bezug auf Grundrechte, die Gewaltenteilung und die Nichtdiskriminierung und die Gleichheit vor dem Gesetz.

Diese Grundsätze sind so auszulegen, „dass auch die anderen in Artikel 2 EUV verankerten Werte und Grundsätze der Union berücksichtigt werden“.

277.

Diese Definition, die wie gesagt allein für die Zwecke der Verordnung 2020/2092 dient, nimmt den Begriff des Art. 2 EUV auf und entwickelt ihn fort, indem sie die sieben Grundsätze aufzählt, die der Gesetzgeber einbezogen hat. Sie stützen sich auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs und die Arbeiten der Kommission ( 145 ), die wiederum auf die von internationalen Einrichtungen wie der Venedig-Kommission herausgearbeiteten Elemente der Rechtsstaatlichkeit zurückgehen ( 146 ).

278.

Die Beschreibung der Rechtsstaatlichkeit unter Bezugnahme auf die genannten Grundsätze genügt den Mindestanforderungen an Klarheit, Genauigkeit und Vorhersehbarkeit nach dem Grundsatz der Rechtssicherheit. Die Mitgliedstaaten verfügen über einen hinreichenden Kenntnisstand in Bezug auf die sich daraus ergebenden Verpflichtungen, zumal die meisten von ihnen in der Rechtsprechung des Gerichtshofs entwickelt wurden.

279.

Diese Grundsätze weisen einen unvermeidlichen Abstraktionsgrad auf, und der Gesetzgeber kann nicht sämtliche Fälle regeln, in denen sie anwendbar sind. Dieser allen Rechtsvorschriften, die einem Rechtsgrundsatz Wirksamkeit verschaffen, gemeinsame Umstand verstößt für sich genommen nicht gegen die Anforderungen an die Rechtssicherheit. Die konkrete Anwendung im Einzelfall ist Auslegungssache.

280.

Die Aufzählung einiger „Hinweise auf Verstöße gegen die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit“ in Art. 3 der Verordnung 2020/2092 (Angriffe auf die richterliche Unabhängigkeit, das Versäumnis, willkürliche oder rechtswidrige Entscheidungen von Behörden zu ahnden, oder die Einschränkung der Zugänglichkeit und Wirksamkeit von Rechtsbehelfen) zeigt das Bestreben des Gesetzgebers, die Anwendung der Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit zu erleichtern und die Rechtssicherheit zu erhöhen.

281.

Dasselbe kann von Art. 4 Abs. 2 der Verordnung 2020/2092 gesagt werden, der eine indikative Liste von Umständen enthält, unter denen Verstöße gegen die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit vorliegen könnten.

282.

Mit dieser Liste soll eingegrenzt werden, welche Verstöße gegen die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit zum Erlass von Konditionalitätsmaßnahmen im Sinne der Verordnung 2020/2092 führen können, wenn ein unmittelbarer Zusammenhang mit der Ausführung des Haushaltsplans der Union besteht.

283.

Art. 4 Abs. 2 Buchst. h dieser Aufzählung bezieht sich auf „andere Umstände oder Verhaltensweisen von Behörden, die für die wirtschaftliche Führung des Haushalts der Union oder den Schutz ihrer finanziellen Interessen von Bedeutung sind“. Seine Aufnahme ist, wie ich bereits ausgeführt habe, logisch, und sein offener Wortlaut hat keine größeren Auswirkungen auf die Rechtssicherheit als andere vergleichbare Klauseln. Da es unmöglich ist, alle Handlungen der Mitgliedstaaten, die bei der Ausführung des Haushaltsplans der Union gegen die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit verstoßen können, umfassend zu katalogisieren, ist diese Klausel unverzichtbar.

284.

Art. 4 Abs. 2 der Verordnung 2020/2092 ist auf nur einen sachlichen Zuständigkeitsbereich der Union, und zwar die Ausführung des Haushaltsplans, anwendbar. Er schafft damit Rechtssicherheit für die Mitgliedstaaten, indem er es ihnen ermöglicht, vorab zu erfahren, bei welchen „Punkten“ ihres Handelns die finanzielle Konditionalität wegen eines Verstoßes gegen die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit, beschränkt auf die Ausführung des Haushaltsplans der Union, zum Tragen kommt.

285.

Die Verwendung relativ unbestimmter Begriffe in Art. 4 Abs. 2 der Verordnung 2020/2092 führt meines Erachtens nicht zu einer Mehrdeutigkeit, die gegen die Anforderungen des Grundsatzes der Rechtssicherheit verstößt. Die darin verwendeten Begriffe sind in anderen Unionsvorschriften, insbesondere im Finanzbereich, weit verbreitet. Ihre weitere Klärung wird Aufgabe der Verwaltungspraxis der Kommission ( 147 ) und des Rates bei der Anwendung der Verordnung 2020/2092 unter anschließender Kontrolle durch den Gerichtshof sein.

286.

Die ungarische Regierung führt aus, neben den soeben geprüften Artikeln der Verordnung 2020/2092 verstießen weitere ebenfalls gegen den Grundsatz der Rechtssicherheit.

287.

Erstens nennt sie Art. 4 Abs. 1 der Verordnung 2020/2092, der Abhilfemaßnahmen vorsieht, wenn „Verstöße gegen die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit in einem Mitgliedstaat die wirtschaftliche Führung des Haushalts der Union oder den Schutz ihrer finanziellen Interessen hinreichend unmittelbar beeinträchtigen oder ernsthaft zu beeinträchtigen drohen“.

288.

Die ungarische Regierung meint, mit der Möglichkeit, bei einer ernsthaften Gefahr Maßnahmen zu erlassen, werde die Anwendbarkeit der Verordnung 2020/2092 auf ungewisse oder nicht nachgewiesene Sachverhalte ausgedehnt. Zudem werde der Kommission die Befugnis eingeräumt, den Erlass willkürlicher Maßnahmen ohne Zusammenhang mit der Ausführung des Haushaltsplans der Union vorzuschlagen, was den Anforderungen an die Rechtssicherheit zuwiderlaufe.

289.

Ich halte diese Argumente nicht für stichhaltig. Dass Maßnahmen nicht nur bei einem nachgewiesenen Verstoß gegen die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit, der unmittelbar mit der Ausführung des Haushaltsplans der Union zusammenhängt, getroffen werden können, sondern auch, wenn die ernste Gefahr besteht, dass dies der Fall sein wird, führt nicht zu Rechtsunsicherheit.

290.

In der Antwort auf den vierten Klagegrund werde ich darlegen, dass es in Finanz- und Haushaltsbestimmungen der Union üblich ist, sowohl bereits begangene Verstöße als auch die ernste oder ernsthaft drohende Gefahr ihres Eintritts zu berücksichtigen.

291.

Folgte man der Auffassung der ungarischen Regierung, wäre es kaum möglich, eine Rechtsvorschrift auf eine Gefahr oder eine drohende Gefahr zu erstrecken, da es sich um Begriffe handelt, die als solche in nicht vollkommen vorhersehbarer Weise auf die Zukunft Bezug nehmen ( 148 ).

292.

Zweitens wiederholt die ungarische Regierung, die Bezugnahme in Art. 4 Abs. 2 Buchst. h der Verordnung 2020/2092 auf „andere Umstände oder Verhaltensweisen von Behörden, die für die wirtschaftliche Führung des Haushalts der Union oder den Schutz ihrer finanziellen Interessen von Bedeutung sind“, sei mit dem Grundsatz der Rechtssicherheit unvereinbar. Ich habe bereits dargelegt, weshalb ich diesem Argument nicht folge.

293.

Drittens vertritt die ungarische Regierung die Auffassung, Art. 5 Abs. 3 der Verordnung 2020/2092 verstoße gegen den Grundsatz der Rechtssicherheit, da Art und Umfang der Abhilfemaßnahmen, die gegen den Mitgliedstaat ergriffen werden könnten, nicht gebührend konkretisiert würden und nicht gewährleistet sei, dass zwischen ihnen und dem Verstoß gegen die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit ein unmittelbarer Zusammenhang bestehe.

294.

Art. 5 Abs. 3 der Verordnung 2020/2092 gestattet den Erlass von Maßnahmen, die in angemessenem Verhältnis zu den tatsächlichen oder potenziellen Auswirkungen der Verstöße gegen die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit auf die wirtschaftliche Führung des Haushalts der Union oder auf die finanziellen Interessen der Union stehen. Bei ihrem Erlass sind Art, Dauer, Schwere und Umfang der Verstöße gegen diese Grundsätze zu berücksichtigen.

295.

Für mich ist nicht ersichtlich, inwiefern diese Vorgehensweise bei der Bestimmung von Art und Umfang der Maßnahmen mit dem Grundsatz der Rechtssicherheit unvereinbar sein soll. Wie das Parlament ausgeführt hat, beruht die Effizienz des Mechanismus der finanziellen Konditionalität auf der Befugnis der Kommission, den Besonderheiten des Einzelfalls angepasste Abhilfemaßnahmen vorzuschlagen. Die Kommission muss die Maßnahmen, die sie dem Rat vorschlägt, in jedem Fall rechtfertigen und begründen, und sie unterliegen der Kontrolle durch den Gerichtshof.

296.

Auch das Vorbringen der ungarischen Regierung, es gebe keine unmittelbare Verbindung zwischen dem Verstoß und den Abhilfemaßnahmen, weil nach Art. 5 Abs. 3 Satz 4 der Verordnung 2020/2092 „[d]ie Maßnahmen … – soweit möglich – [ ( 149 )] auf die durch die Verstöße beeinträchtigten Handlungen der Union ausgerichtet [sind]“, erscheint mir wenig überzeugend.

297.

Ich kann in dieser Bestimmung keine Unvereinbarkeit mit dem Grundsatz der Rechtssicherheit erkennen, denn es gibt Situationen, in denen es nicht möglich ist, vorab zu regeln, welche Antworten den Verstößen am besten entsprechen. Es ist logisch, dass die Kommission und der Rat die Möglichkeit haben, Abhilfemaßnahmen, einschließlich „kreuzweiser“ im bereits erwähnten Sinne ( 150 ), zu ergreifen, sofern sie angemessen begründet sind und unter der anschließenden Kontrolle durch den Gerichtshof.

298.

Viertens bringt die ungarische Regierung vor, Art. 6 Abs. 3 und 8 der Verordnung 2020/2092 verstoße gegen den Grundsatz der Rechtssicherheit, weil nicht hinreichend genau definiert werde, welche Informationen die Kommission im Rahmen ihrer Bewertungen in Betracht ziehen müsse.

299.

Auch dieses Argument ist zurückzuweisen. Die Kommission muss die Verstöße gegen die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit sowie die Verhältnismäßigkeit der Abhilfemaßnahmen, die sie für erforderlich hält, um die Verstöße zu beseitigen, nachweisen. Es erscheint mir logisch, dass sie zu diesem Zweck Informationen aus allen ihr zur Verfügung stehenden Quellen heranziehen kann, wie sich aus Art. 6 Abs. 3 der Verordnung 2020/2092 ergibt. Ist der betreffende Staat der Auffassung, dass diese Informationen nicht zutreffen, kann er sie in zwei Konsultationsrunden mit der Kommission widerlegen, bevor sie dem Rat Maßnahmen vorschlägt.

300.

Infolgedessen ist der dritte Klagegrund zurückzuweisen.

VIII. Gründe für die teilweise Nichtigerklärung verschiedener Bestimmungen der Verordnung 2020/2092

301.

Mit den Klagegründen 4 bis 9 begehrt die ungarische Regierung die Nichtigerklärung verschiedener Bestimmungen der Verordnung 2020/2092 mit Argumenten, die zum größten Teil den im Rahmen der ersten drei Klagegründe geltend gemachten entsprechen.

302.

Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs ist die teilweise Nichtigerklärung eines Unionsrechtsakts nur möglich, sofern sich die Teile, deren Nichtigerklärung beantragt wird, vom Rest des Rechtsakts trennen lassen. Dieses Erfordernis ist nicht erfüllt, wenn durch die teilweise Nichtigerklärung der Wesensgehalt des Rechtsakts verändert würde ( 151 ).

303.

Nach dieser Rechtsprechung ist der vierte Klagegrund der ungarischen Regierung, mit dem sie die Nichtigerklärung von Art. 4 Abs. 1 der Verordnung 2020/2092 begehrt, unzulässig, denn diese Vorschrift spiegelt den Wesensgehalt der Verordnung selbst wider, da sie die Voraussetzungen für die Annahme von Abhilfemaßnahmen bei Verstößen gegen die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit, die in unmittelbarem Zusammenhang mit der Ausführung des Haushaltsplans der Union stehen, regelt. Ohne diesen Artikel könnte die Verordnung 2020/2092 nicht angewandt werden.

304.

Das Gleiche gilt für den siebten und den achten Klagegrund, mit denen die ungarische Regierung um die Nichtigerklärung von Art. 5 Abs. 3 der Verordnung 2020/2092 ersucht, der die Kriterien für den Erlass der Abhilfemaßnahmen festlegt. Ein Mechanismus der finanziellen Konditionalität, bei dem mangels Kriterien keine Abhilfemaßnahmen getroffen werden können, wäre nutzlos, so dass dieser Artikel für die praktische Umsetzung der angefochtenen Verordnung von grundlegender Bedeutung ist.

305.

Für den Fall, dass der Gerichtshof eine Prüfung der Begründetheit für angebracht halten sollte, werde ich gleichwohl alle geltend gemachten teilweisen Nichtigkeitsgründe prüfen, einschließlich der drei, die ich für unzulässig halte.

A.   Vierter Klagegrund: Art. 4 Abs. 1 der Verordnung 2020/2092

1. Vorbringen der Parteien

306.

Der ungarischen Regierung zufolge verstößt Art. 4 Abs. 1 der Verordnung 2020/2092 gegen die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und der Rechtssicherheit, weil er es gestatte, bei einer ernsthaften Gefahr für die wirtschaftliche Führung des Haushalts der Union oder ihre finanziellen Interessen Abhilfemaßnahmen zu ergreifen.

307.

Durch diese in anderen Haushaltsvorschriften der Union nicht vorgesehene Möglichkeit werde die Kommission der Verpflichtung enthoben, eine objektive Bewertung vorzunehmen, um die Verbindung zwischen einem Verstoß gegen die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit und der Ausführung des Haushaltsplans der Union nachzuweisen.

308.

Das Parlament und der Rat treten diesem Vorbringen der ungarischen Regierung entgegen.

2. Würdigung

309.

Art. 4 Abs. 1 der Verordnung 2020/2092 sieht Abhilfemaßnahmen vor, wenn „Verstöße gegen die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit in einem Mitgliedstaat die wirtschaftliche Führung des Haushalts der Union oder den Schutz ihrer finanziellen Interessen hinreichend unmittelbar … ernsthaft zu beeinträchtigen drohen“ ( 152 ).

310.

Andere Haushaltsvorschriften der Union sehen entsprechende Maßnahmen vor, sowohl für Situationen, in denen die Verstöße vollendet sind, als auch für solche, in denen die Gefahr von Verstößen besteht. Folgende Beispiele seien genannt:

Art. 63 Abs. 2 Unterabs. 2 und 4 der Haushaltsordnung betrifft die geteilte Mittelverwaltung zwischen der Union und den Mitgliedstaaten und verpflichtet diese Staaten zu Kontrollen, auch vor Ort, anhand repräsentativer und/oder risikogestützter Stichproben von Transaktionen. Weiter heißt es dort: „Als Teil ihrer Risikobewertung und im Einklang mit den sektorspezifischen Vorschriften überwacht die Kommission die in den Mitgliedstaaten eingerichteten Verwaltungs- und Kontrollsysteme. Bei ihrer Prüfungstätigkeit … berücksichtigt [die Kommission] das Ausmaß des bewerteten Risikos im Einklang mit den sektorspezifischen Vorschriften.“

In Art. 104 der Verordnung über gemeinsame Bestimmungen für den Zeitraum 2021-2027 heißt es: „Die Kommission nimmt Finanzkorrekturen vor, indem sie die Unterstützung aus den Fonds für ein Programm kürzt, wenn sie zu dem Schluss kommt, dass … ein gravierender Mangel vorliegt, der die bereits an das Programm gezahlte Unterstützung aus den Fonds gefährdet.“

Durch die Haushaltsordnung (Art. 135 bis 143) wird ein Früherkennungssystem eingeführt, um Begünstigte, die sich in einer Situation befinden, die eine ernste Gefahr für die finanziellen Interessen der Union darstellt, von der Zuweisung von Mitteln aus dem Haushalt der Union auszuschließen.

311.

Es ist mit der Wirtschaftlichkeit der Haushaltsführung der Union im Sinne des Art. 317 AEUV unvereinbar, allein auf bereits vollendete Verstöße (gegen Unionsvorschriften) abzustellen, nicht aber auf die ernste Gefahr ihres Eintritts. Eine wirtschaftliche Haushaltsführung impliziert, bereits begangenen Verstößen abzuhelfen, aber auch, die (ernsthaften und glaubwürdigen) Gefahren zu gewichten, dass solche Verstöße eintreten und unerwünschte finanzielle Konsequenzen nach sich ziehen werden.

312.

Die Rechtsprechung des Gerichtshofs spricht dafür, das Kriterium der schwerwiegenden Gefahr beim Erlass von Finanzkorrekturen oder anderen Maßnahmen zum Schutz des Haushaltsplans der Union gegenüber Mitgliedstaaten, in denen die Kontrollen unzureichend sind, heranzuziehen, ohne dass der Nachweis eines tatsächlichen und effektiven Verlusts notwendig ist ( 153 ).

313.

Bei der Verordnung 2020/2092 erscheint mir die Feststellung der schwerwiegenden Gefahr eines Verstoßes gegen einen Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit, der unmittelbar mit dem Haushaltsvollzug verbunden ist, als Kriterium für den Erlass von Abhilfemaßnahmen wegen des horizontalen Charakters des Konditionalitätsmechanismus besonders relevant.

314.

Für sich allein können generelle Mängel bei der Einhaltung der Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit durch die nationalen Behörden in Bezug auf die Haushaltsführung eine Gefahr für deren Wirtschaftlichkeit sowie die finanziellen Interessen der Union darstellen.

315.

Art. 4 Abs. 1 der Verordnung 2020/2092 regelt den Fall einer ernsthaften Bedrohung des Haushalts der Union oder ihrer finanziellen Interessen. Er erfüllt dabei die Erfordernisse des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit, denn die Maßnahmen, mit denen auf eine Gefahrensituation reagiert wird, müssen an deren Intensität und an ihre Auswirkungen auf den Haushaltsplan oder die finanziellen Interessen der Union angepasst sein. Art. 5 Abs. 3 der Verordnung 2020/2092 bestätigt dies.

316.

Entgegen dem Vorbringen der ungarischen Regierung wird keine „Risikovermutung“ aufgestellt, die die Verbindung zwischen dem Verstoß gegen die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit und der Ausführung des Haushaltsplans der Union verwässert. Die Kommission wird zu keinem Zeitpunkt ihrer Verpflichtung enthoben, das Vorliegen einer Bedrohung oder einer Gefahr nachzuweisen, die, wie zu betonen ist, schwerwiegend und real sein muss und nicht rein hypothetisch sein darf.

317.

Unter diesen Voraussetzungen ist Art. 4 Abs. 1 der Verordnung 2020/2092 mit dem Grundsatz der Rechtssicherheit vereinbar, so dass der vierte Klagegrund zurückzuweisen ist.

B.   Fünfter Klagegrund: Art. 4 Abs. 2 Buchst. h der Verordnung 2020/2092

318.

Die ungarische Regierung meint, in Art. 4 Abs. 2 Buchst. h der Verordnung 2020/2092 würden die Fälle eines möglichen Verstoßes gegen die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit nicht genau definiert. Da er sich ohne weitere Angaben auf „andere Umstände oder Verhaltensweisen von Behörden“ beziehe, verstoße die Bestimmung gegen den Grundsatz der Rechtssicherheit.

319.

Dieser Klagegrund ist aus den im Rahmen der Beantwortung des dritten Klagegrundes dargelegten Gründen zurückzuweisen.

C.   Sechster Klagegrund: Verstoß gegen Art. 5 Abs. 2 der Verordnung 2020/2092

1. Vorbringen der Parteien

320.

Die ungarische Regierung trägt vor, das Mandat in Art. 5 Abs. 2 der Verordnung 2020/2092 (wonach der Mitgliedstaat, gegen den Maßnahmen ergriffen werden, kurz gesagt den Endbegünstigten der Programme weiterhin Mittel zahlen muss)

sei unvereinbar mit der Rechtsgrundlage der Verordnung, da die Verpflichtung die Haushalte der Mitgliedstaaten treffe;

verstoße gegen die Rechtsvorschriften der Union im Bereich des Haushaltsdefizits und den Grundsatz der Gleichheit der Mitgliedstaaten.

321.

Das Parlament und der Rat treten dem entgegen und wiederholen ihr Vorbringen zum ersten Klagegrund, dass Art. 5 Abs. 2 der Verordnung 2020/2092 keine zusätzliche Verpflichtung neben den bereits bestehenden begründe und zur Gewährleistung des Schutzes der von den Begünstigten erworbenen Rechte unverzichtbar sei. Zudem trage der Mitgliedstaat die Verantwortung dafür, die Ziele im Bereich des Haushaltsdefizits nach Maßgabe seiner eigenen gesetzgeberischen Optionen zu erreichen, unbeschadet dessen, dass er die Rechtsnormen der Union (darunter die Verordnung 2020/2092) einhalten müsse.

2. Würdigung

322.

Zur Vereinbarkeit von Art. 5 Abs. 2 der Verordnung 2020/2092 mit der Rechtsgrundlage des Art. 322 Abs. 1 Buchst. a AEUV habe ich bereits im Rahmen der Prüfung des ersten Klagegrundes Stellung genommen.

323.

Ich teile die Ansicht der ungarischen Regierung zur (Un‑)Vereinbarkeit dieser Bestimmung mit den Unionsvorschriften über die Kontrolle übermäßiger Haushaltsdefizite nicht.

324.

Jeder Mitgliedstaat (vor allem, wenn er nicht der Eurozone angehört) ist in der Lage, seinen Haushaltsplan aufzustellen und zu kontrollieren, und muss dabei lediglich die Grenzen beachten, die das Unionsrecht zieht. Die Verordnung 2020/2092 greift nicht in die Freiheit der Mitgliedstaaten ein, innerhalb dieser Grenzen ihre eigenen Haushaltsoptionen bei den öffentlichen Einnahmen und Ausgaben zu wählen.

325.

Bei der Wahrnehmung seiner Haushaltsbefugnisse muss der Mitgliedstaat natürlich die Kosten der ihm im Rahmen der Verordnung 2020/2092 auferlegten Haushaltskorrekturen tragen und speziell die Kosten, die sich aus der Verpflichtung ergeben, den Endbegünstigen weiterhin Mittel zu zahlen.

326.

Zu dem Argument, es falle den großen Staaten leichter, dieser Verpflichtung nachzukommen, ist festzustellen, dass die Gleichheit zwischen den Mitgliedstaaten durch die Verordnung 2020/2092 nicht verletzt wird, denn sie erlegt allen Staaten eine identische Pflicht zur weiteren Mittelgewährung an die Endbegünstigten auf.

327.

Außerdem steht die Finanzierung, die ein Mitgliedstaat aus dem Unionshaushalt erhält, im Allgemeinen im Verhältnis zu seinem wirtschaftlichen Gewicht und seiner Bevölkerung als relevante Faktoren. Staaten mit einem geringeren wirtschaftlichen Gewicht und geringerer Bevölkerung kommen nach Maßgabe ihrer besonderen Gegebenheiten in den Genuss von Programmen der Union. Die Finanzkorrekturen wegen Verstößen gegen die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit treffen sie folglich im gleichen Maß.

328.

Der Umstand, dass ein Staat unabhängig von seinem wirtschaftlichen Gewicht und seiner Bevölkerung Nettozahler oder Nettoempfänger von Unionsmitteln ist, ändert daran nichts. Logischerweise sind Nettoempfänger von Mitteln aus dem Unionshaushalt dem Mechanismus der finanziellen Konditionalität vergleichsweise stärker ausgesetzt als Nettozahler, aber dies ist unvermeidbar und führt nicht zu einer Ungleichbehandlung der Mitgliedstaaten.

329.

Der sechste Klagegrund ist daher zurückzuweisen.

D.   Siebter Klagegrund: Art. 5 Abs. 3 vorletzter Satz der Verordnung 2020/2092

330.

Die ungarische Regierung meint, Art. 5 Abs. 3 Satz 3 der Verordnung 2020/2092 („Der Art, der Dauer, der Schwere und dem Umfang der Verstöße gegen die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit wird gebührend Rechnung getragen.“) sei mit der Rechtsgrundlage der Verordnung und mit Art. 7 EUV unvereinbar. Er weise keinen Zusammenhang mit dem Unionshaushalt oder den finanziellen Interessen der Union auf, und es fehle ihm außerdem an der nach dem Grundsatz der Rechtssicherheit erforderlichen Genauigkeit.

331.

Dieses Vorbringen ist aus den im Rahmen der Prüfung des ersten und des dritten Klagegrundes dargelegten Gründen zurückzuweisen.

E.   Achter Klagegrund: Art. 5 Abs. 3 letzter Satz der Verordnung 2020/2092

332.

Die ungarische Regierung macht geltend, durch Art. 5 Abs. 3 letzter Satz der Verordnung 2020/2092 („Die Maßnahmen sind – soweit möglich – auf die durch die Verstöße beeinträchtigten Handlungen der Union ausgerichtet.“) werde nicht sichergestellt, dass zwischen der konkret festgestellten Verletzung der Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit und den betreffenden Maßnahmen ein unmittelbarer Zusammenhang bestehe. Durch ihn werde sowohl der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als auch der Grundsatz der Rechtssicherheit verletzt.

333.

Dieser Klagegrund ist mit den im Rahmen des ersten und des dritten Klagegrundes dargelegten Argumenten zurückzuweisen.

F.   Neunter Klagegrund: Art. 6 Abs. 3 und 8 der Verordnung 2020/2092

334.

Die ungarische Regierung meint, Art. 6 Abs. 3 und 8 der Verordnung 2020/2092 (wonach die Kommission „sachdienliche Informationen aus verfügbaren Quellen, einschließlich Beschlüssen, Schlussfolgerungen und Empfehlungen von Organen der Union sowie von anderen einschlägigen internationalen Organisationen und anderen anerkannten Einrichtungen“ berücksichtigen muss) verletze den Grundsatz der Rechtssicherheit, denn die heranzuziehenden Informationen und Quellen würden unzureichend definiert.

335.

Dieser Klagegrund ist aus den im Rahmen des dritten Klagegrundes dargestellten Erwägungen zurückzuweisen.

IX. Kosten

336.

Nach Art. 138 Abs. 1 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da das Parlament und der Rat beantragt haben, Ungarn zur Tragung der Kosten zu verurteilen, und Ungarn mit seinem Vorbringen unterlegen ist, sind ihm die Kosten aufzuerlegen.

337.

Nach Art. 140 Abs. 1 der Verfahrensordnung tragen die Europäische Kommission, das Königreich Belgien, das Königreich Dänemark, die Bundesrepublik Deutschland, Irland, das Königreich Spanien, die Französische Republik, das Großherzogtum Luxemburg, das Königreich der Niederlande, die Republik Polen, die Republik Finnland und das Königreich Schweden ihre eigenen Kosten.

X. Ergebnis

338.

Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor,

1.

den Nebenantrag des Rates zurückzuweisen, mit dem er begehrt, die Passagen der Klageschrift Ungarns und ihrer Anlagen, insbesondere Anlage A.3, die auf das Gutachten des Juristischen Dienstes des Rates vom 25. Oktober 2018 (Ratsdokument 13593/18) Bezug nehmen, seinen Inhalt wiedergeben oder die darin vorgenommene Analyse widerspiegeln, nicht zu berücksichtigen;

2.

den ersten, den zweiten und den dritten Klagegrund der von Ungarn gegen die Verordnung (EU, Euratom) 2020/2092 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2020 über eine allgemeine Konditionalitätsregelung zum Schutz des Haushalts der Union erhobenen Nichtigkeitsklage zurückzuweisen;

3.

den vierten, den siebten und den achten Klagegrund für unzulässig zu erklären sowie den fünften, den sechsten und den neunten Klagegrund, mit denen, hilfsweise, die Nichtigkeitserklärung von Art. 4 Abs. 1, Art. 4 Abs. 2 Buchst. h, Art. 5 Abs. 2, Art. 5 Abs. 3 vorletzter Satz, Art. 5 Abs. 3 letzter Satz und Art. 6 Abs. 3 und 8 der Verordnung 2020/2092 begehrt wird, zurückzuweisen;

4.

Ungarn neben seinen eigenen Kosten die Kosten des Europäischen Parlaments und des Rates aufzuerlegen;

5.

der Europäischen Kommission, dem Königreich Belgien, dem Königreich Dänemark, der Bundesrepublik Deutschland, Irland, dem Königreich Spanien, der Französischen Republik, dem Großherzogtum Luxemburg, dem Königreich der Niederlande, der Republik Polen, der Republik Finnland und dem Königreich Schweden ihre eigenen Kosten aufzuerlegen.


( 1 ) Originalsprache: Spanisch.

( 2 ) In der Rechtssache C‑157/21, Polen/Parlament und Rat, stellt die Republik Polen einen entsprechenden Antrag. In beiden Rechtssachen verlese ich am heutigen Tag meine Schlussanträge.

( 3 ) Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2020 über eine allgemeine Konditionalitätsregelung zum Schutz des Haushalts der Union (ABl. 2020, L. 433I, S. 1, berichtigt im ABl. 2021, L 373, S. 94).

( 4 ) Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates vom 30. Mai 2001 über den Zugang der Öffentlichkeit zu Dokumenten des Europäischen Parlaments, des Rates und der Kommission (ABl. 2001, L 145, S. 43).

( 5 ) Ungarn hat gemäß Art. 16 Abs. 3 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union beantragt, dass die Große Kammer über die Rechtssache entscheidet.

( 6 ) Artikel in Político vom 29. Oktober 2018.

( 7 ) Ratsdokument ST 13593 2018 INIT. Die Rn. 1 bis 8 enthalten die Einleitung sowie die Darstellung des rechtlichen Rahmens und des Sachverhalts, nicht aber die rechtliche Würdigung. Sie wurden am 18. Dezember 2020 veröffentlicht (https://data.consilium.europa.eu/doc/document/ST‑13593-2018‑INIT/de/pdf). Vgl. hierzu Urteil des Gerichts vom 21. April 2021, Pech/Rat (T‑252/19, EU:T:2021:203, Rn. 2 bis 4).

( 8 ) Über einen ähnlichen Antrag hatte das Gericht zu entscheiden (Beschluss vom 20. Mai 2020, Nord Stream 2/Parlament und Rat, T‑526/19, EU:T:2020:210). Das dagegen eingelegte Rechtsmittel ist beim Gerichtshof anhängig; in dieser Rechtssache hat Generalanwalt Bobek am 6. Oktober 2021 seine Schlussanträge gestellt (Nord Stream 2/Parlament und Rat, C‑348/20 P, EU:C:2021:831).

( 9 )

( 10 ) Beschluss 2009/937/EU des Rates vom 1. Dezember 2009 zur Annahme seiner Geschäftsordnung (ABl. 2009, L 325, S. 35, berichtigt im ABl. 2010, L 55, S. 83). Art. 6 Abs. 2 der Geschäftsordnung lautet: „Der Rat oder der AStV kann die Vorlage einer Kopie oder eines Auszugs der Ratsdokumente vor Gericht genehmigen, wenn diese nicht gemäß den Bestimmungen über den Zugang der Öffentlichkeit zu Dokumenten der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurden.“

( 11 ) Art. 5: „Leitet ein Mitgliedstaat einen Antrag an den Rat weiter, so wird dieser Antrag gemäß den Artikeln 7 und 8 der Verordnung (EG) Nr. 1049/2001 und den einschlägigen Bestimmungen dieses Anhangs bearbeitet. Wird der Zugang ganz oder teilweise verweigert, so wird dem Antragsteller mitgeteilt, dass ein etwaiger Zweitantrag unmittelbar an den Rat zu richten ist.“

( 12 ) Vermerk des Rates vom 10. April 2018, Behandlung von ratsinternen Dokumenten (https://data.consilium.europa.eu/doc/document/ST‑7695-2018‑INIT/de/pdf).

( 13 ) Nr. 20: „‚LIMITE‘-Dokumente dürfen erst dann veröffentlicht werden, wenn ein entsprechender Beschluss von gehörig befugten Ratsbeamten, von der nationalen Verwaltung eines Mitgliedstaats (siehe Nummer 21) oder gegebenenfalls vom Rat gemäß der Verordnung (EG) Nr. 1049/2001 und der Geschäftsordnung des Rates gefasst wurde.“

Nr. 21: „Bedienstete eines Organs oder einer Einrichtung der EU, die keine Bediensteten des Rates sind, dürfen nicht selbst beschließen, ‚LIMITE‘-Dokumente zu veröffentlichen, ohne zuvor das Generalsekretariat des Rates zu konsultieren. Bedienstete der nationalen Verwaltungen der Mitgliedstaaten konsultieren gemäß Artikel 5 der Verordnung (EG) Nr. 1049/2001 das Generalsekretariat des Rates, bevor sie einen derartigen Beschluss fassen, es sei denn, es ist klar, dass das Dokument veröffentlicht werden kann.“

Nr. 22: „Der Inhalt von ‚LIMITE‘-Dokumenten darf nur auf gesicherten Websites oder Internetplattformen, die vom Rat genehmigt wurden oder mit geschützten Zugangsfunktionen ausgestattet sind (z. B. Delegierten-Portal), veröffentlicht werden.“

( 14 ) Urteil vom 31. Januar 2020, Slowenien/Kroatien (C‑457/18, EU:C:2020:65, im Folgenden: Urteil Slowenien/Kroatien, Rn. 67), und Beschluss vom 14. Mai 2019, Ungarn/Parlament (C‑650/18, nicht veröffentlicht, EU:C:2019:438, im Folgenden: Beschluss Ungarn/Parlament, Rn. 9, 12 und 13).

( 15 ) Urteil Slowenien/Kroatien (Rn. 66), unter Anführung des Beschlusses Ungarn/Parlament (Rn. 8 und 9).

( 16 ) Urteil vom 1. Juli 2008, Schweden und Turco/Rat (C‑39/05 P und C‑52/05 P, EU:C:2008:374, im Folgenden: Urteil Schweden und Turco/Rat, Rn. 42).

( 17 ) Ebd. (Rn. 36).

( 18 ) Vgl. in diesem Sinne Urteil Schweden und Turco/Rat (Rn. 38 bis 44), Urteil vom 3. Juli 2014, Rat/in’t Veld (C‑350/12 P, EU:C:2014:2039, Rn. 96), und Beschluss Ungarn/Parlament (Rn. 11).

( 19 ) Urteil vom 4. September 2018 (C‑57/16 P, EU:C:2018:660, Rn. 73 bis 75), und Beschluss Ungarn/Parlament (Rn. 13).

( 20 ) Urteil Slowenien/Kroatien (Rn. 70).

( 21 ) Beschluss Ungarn/Parlament (Rn. 14) und Urteil Slowenien/Kroatien (Rn. 68).

( 22 ) Urteil Schweden und Turco/Rat (Rn. 54).

( 23 ) Ebd. (Rn. 59).

( 24 ) Ebd. (Rn. 62 bis 66).

( 25 ) Ebd. (Rn. 68 und 69).

( 26 ) Eine solche ablehnende Entscheidung des Rates hat das Gericht im Urteil vom 21. April 2021, Pech/Rat (T‑252/19, EU:T:2021:203), für nichtig erklärt.

( 27 ) Beschluss Ungarn/Parlament (Rn. 14) und Urteil Slowenien/Rat (Rn. 68). Wie bereits ausgeführt, verweisen die Geschäftsordnung des Rates und seine allgemeinen Leitlinien über den Zugang zu Dokumenten auf die Verordnung Nr. 1049/2001.

( 28 ) Nr. 38 der vorliegenden Schlussanträge.

( 29 ) In der mündlichen Verhandlung musste der Rat zum Gutachten seines Juristischen Dienstes nicht Stellung nehmen.

( 30 ) Urteil Schweden und Turco/Rat (Rn. 67).

( 31 ) Ebd. (Rn. 59). Weiter heißt es dort: „Tatsächlich ist es eher das Fehlen von Information und Diskussion, das bei den Bürgern Zweifel hervorrufen kann, und zwar nicht nur an der Rechtmäßigkeit eines einzelnen Rechtsakts, sondern auch an der Rechtmäßigkeit des Entscheidungsprozesses insgesamt.“

( 32 ) Urteil Schweden und Turco/Rat (Rn. 68 und 71).

( 33 ) Ebd. (Rn. 57).

( 34 ) Ebd. (Rn. 69).

( 35 ) Ebd. (Rn. 64).

( 36 ) Vgl. Louis, J.‑V., „Respect de l’État de droit et protection des finances de l’Union“, Cahiers de droit européen, 2020, Nr. 1, S. 3 bis 20, und Baraggia, A., Bonelli, M., „Linking Money to Values: the new Rule of Law Regulation and its constitutional challenges“, German Law Journal, im Druck.

( 37 ) Nach den unter https://cohesiondata.ec.europa.eu/countries/HU veröffentlichten Daten der Kommission ist Ungarn mit 25424713942 Euro im MFR 2014-2020 (2532 Euro pro Einwohner) einer der größten Pro-Kopf-Empfänger von Mitteln aus Strukturfonds der Union, und ein hoher Anteil der öffentlichen Investitionen des Landes wird von der Union kofinanziert. Die Republik Polen gehört zu den Hauptbegünstigten von Strukturfonds der Union; nach den unter https://cohesiondata.ec.europa.eu/countries/PL abrufbaren Daten der Kommission hat sie 89990274817 Euro (2262 Euro pro Einwohner) im MFP 2014‑2020 erhalten.

( 38 ) Dokument COM(2014) 158 final vom 11. März 2014, Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat: Ein neuer EU-Rahmen zur Stärkung des Rechtsstaatsprinzips.

( 39 ) In der Stellungnahme des Juristischen Dienstes des Rates Nr. 10296/14 vom 27. Mai 2014 wird diese Mitteilung der Kommission kritisiert, da die Achtung der Rechtsstaatlichkeit nur Gegenstand eines Handelns der Organe im Rahmen des Verfahrens nach Art. 7 EUV oder bei Vorliegen einer anderen spezifischen materiellen Zuständigkeit sein könne.

( 40 ) Dokument COM(2019) 163 final vom 3. April 2019, Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Europäischen Rat und den Rat: Die weitere Stärkung der Rechtsstaatlichkeit in der Union. Aktuelle Lage und mögliche nächste Schritte; Dokument COM(2019) 343 final vom 17. Juli 2019, Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Europäischen Rat, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Die Stärkung der Rechtsstaatlichkeit in der Union. Ein Konzept für das weitere Vorgehen.

( 41 ) Vgl., für die Jahre 2020 und 2021, Dokument COM(2020) 580 final vom 30. September 2020, Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Bericht über die Rechtsstaatlichkeit 2020. Die Lage der Rechtsstaatlichkeit in der Europäischen Union, sowie Dokument COM(2021) 700 final vom 20. Juli 2021, Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Bericht über die Rechtsstaatlichkeit 2021. Die Lage der Rechtsstaatlichkeit in der Europäischen Union.

( 42 ) Dokument COM(2018) 324 final vom 2. Mai 2018, Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über den Schutz des Haushalts der Union im Falle von generellen Mängeln in Bezug auf das Rechtsstaatsprinzip in den Mitgliedstaaten.

( 43 ) Vgl. Stellungnahme Nr. 1/2018 des Rechnungshofs der Europäischen Union zu dem Vorschlag vom 2. Mai 2018 für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über den Schutz des Haushalts der Union im Falle von generellen Mängeln in Bezug auf das Rechtsstaatsprinzip in den Mitgliedstaaten (ABl. 2018, C 291, S. 1).

( 44 ) Dokument EUCO 10/20, Anlage, Rn. 22 und 23, Schlussfolgerungen des Europäischen Rates vom 21. Juli 2020.

( 45 ) Vgl. Rubio, E., Rule of Law Conditionality – what could an acceptable compromise look like?, Institut Jacques Delors Policy Brief, Oktober 2020, Dimitrovs, A., und Droste, H., „Conditionality Mechanism: What’s In It?“, VerfBlog, 2020/12/30, https://verfassungsblog.de/conditionality-mechanism-whats-in-it/.

( 46 ) EUCO 22/20, Rn. 2, Schlussfolgerungen des Europäischen Rates vom 11. Dezember 2020. Vgl. die Kritik an diesen Schlussfolgerungen von Beramdane, A., „Conditionnalité budgétaire ou conditionnalité de l’État de droit?“, Revue du droit de l’Union européenne, 2021, Nr. 1, S. 155, Scheppele, K. L., Pech, L., und Platon, S., „Compromising the Rule of Law while Compromising on the Rule of Law“, VerfBlog, 2020/12/13, https://verfassungsblog.de/compromising-the-rule-of-law-while-compromising-on-the-rule-of-law/, und von Alemanno, A., und Chamon, M., „To Save the Rule of Law you Must Apparently Break It“, VerfBlog, 2020/12/11, https://verfassungsblog.de/to-save-the-rule-of-law-you-must-apparently-break-it/, nach deren Ansicht der Europäische Rat ultra vires gehandelt hat.

( 47 ) Eine detaillierte Untersuchung enthält Editorial Comments, „Compromising (on) the general conditionality mechanism and the rule of law“, Common Market Law Review, 2021, Nr. 2, S. 267 bis 284.

( 48 ) Dieser Feststellung liegt die Vorstellung von der Verordnung als einem Instrument der Haushaltskonditionalität und nicht eines Mechanismus zum Schutz der Rechtsstaatlichkeit zugrunde.

( 49 ) Das Parlament widersprach diesem Kompromiss und kritisierte die Kommission, weil sie die Notwendigkeit der Ausarbeitung von Leitlinien für die Anwendung der Verordnung 2020/2092 akzeptiert und ihren Erlass vom Urteil des Gerichtshofs über etwaige Nichtigkeitsklagen gegen die Verordnung abhängig gemacht habe. Vgl. Entschließung des Europäischen Parlaments vom 8. Juli 2021 zur Festlegung von Leitlinien für die Anwendung der allgemeinen Konditionalitätsregelung zum Schutz des Haushalts der Union (2021/2071[INI]). Im Dezember 2021 sind die Leitlinien noch nicht erlassen worden, so dass die Anwendung der Verordnung de facto ausgesetzt ist.

( 50 ) Vgl. dazu Fn. 53 der vorliegenden Schlussanträge.

( 51 ) Entschließung des Europäischen Parlaments vom 17. Dezember 2020 zum Mehrjährigen Finanzrahmen 2021-2027, der interinstitutionellen Vereinbarung, dem EU-Aufbauinstrument und der Verordnung über die Rechtsstaatlichkeit (2020/2923[RSP]), insbesondere Nr. 4.

( 52 ) Siebter Erwägungsgrund der Verordnung des Rates vom 14. Dezember 2020 zur Schaffung eines Aufbauinstruments der Europäischen Union zur Unterstützung der Erholung nach der COVID-19-Krise (ABl. 2020, L 433I, S. 23). Vgl. auch Art. 8 der Verordnung 2021/241.

( 53 ) Nach dem 15. Erwägungsgrund der Verordnung 2020/2092 können „Verstöße gegen die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit, insbesondere jene, die das ordnungsgemäße Funktionieren der Behörden und die wirksame gerichtliche Kontrolle beeinträchtigen, … den finanziellen Interessen der Union schweren Schaden zufügen. Dies gilt für einzelne Verstöße gegen die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit und noch viel mehr für Verstöße, die weit verbreitet sind oder auf wiederholte Handlungen oder Unterlassungen von Behörden oder auf allgemeine Maßnahmen, die diese Behörden ergriffen haben, zurückzuführen sind.“ Unabhängig davon heißt es in den Schlussfolgerungen des Europäischen Rates vom 11. Dezember 2020, dass sich „die Verordnung … nicht auf generelle Mängel bezieht“. Diese Feststellung entspricht nicht den Ausführungen im angeführten Erwägungsgrund, so dass sie keine Auswirkung auf die Auslegung der Verordnung 2020/2092 haben kann.

( 54 ) Am 20. Oktober 2021 hat der Präsident des Europäischen Parlaments den Juristischen Dienst des Parlaments angewiesen, eine Klage gegen die Europäische Kommission wegen Nichtanwendung der Verordnung 2020/2092 vorzubereiten. Darauf beruht die beim Gerichtshof anhängige Klage in der Rechtssache C‑657/21, Europäisches Parlament/Kommission.

( 55 ) Für den MFR 2021-2027 handelt es sich um den Beschluss (EU, Euratom) 2020/2053 des Rates vom 14. Dezember 2020 über das Eigenmittelsystem der Europäischen Union und zur Aufhebung des Beschlusses 2014/335/EU, Euratom (ABl. 2020, L 424, S. 1).

( 56 ) Vgl. Lenaerts, K., und Adam, S., „La solidarité, valeur commune aux États membres et principe fédératif de l’Union européenne“, Cahiers de droit européen, 2021, Nr. 2, S. 307 bis 417.

( 57 ) Verordnung (EU, Euratom) 2020/2093 des Rates vom 17. Dezember 2020 zur Festlegung des mehrjährigen Finanzrahmens für die Jahre 2021 bis 2027 (ABl. 2020, L 433I, S. 11).

( 58 ) Dieses Instrument verleiht der Kommission die außerordentliche Befugnis, vorübergehend im Namen der Union auf den Kapitalmärkten Darlehen von bis zu 750000 Mio. Euro aufzunehmen, von denen bis zu 360000 Mio. Euro für die Gewährung von Darlehen und bis zu 390000 Mio. Euro für Kosten verwendet werden dürfen. Beide Beträge dienen ausschließlich dazu, den Folgen der Covid-19-Krise zu begegnen. Wie ich bereits in meinen Schlussanträgen vom 18. März 2021, Deutschland/Polen (C‑848/19, EU:C:2021:218, Fn. 43), ausgeführt habe, dürfte es sich dabei um den größten Fortschritt im Hinblick auf die Solidarität in der Geschichte der Union handeln.

( 59 ) In Art. 310 Abs. 5 AEUV wird bekräftigt: „Der Haushaltsplan wird entsprechend dem Grundsatz der Wirtschaftlichkeit der Haushaltsführung ausgeführt.“

( 60 ) Verordnung (EU, Euratom) 2018/1046 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 18. Juli 2018 über die Haushaltsordnung für den Gesamthaushaltsplan der Union, zur Änderung der Verordnungen (EU) Nr. 1296/2013, (EU) Nr. 1301/2013, (EU) Nr. 1303/2013, (EU) Nr. 1304/2013, (EU) Nr. 1309/2013, (EU) Nr. 1316/2013, (EU) Nr. 223/2014, (EU) Nr. 283/2014 und des Beschlusses Nr. 541/2014/EU sowie zur Aufhebung der Verordnung (EU, Euratom) Nr. 966/2012 (ABl. 2018, L 193, S. 1) (im Folgenden: Haushaltsordnung).

( 61 ) Art. 63 der Haushaltsordnung bestimmt: „Bei geteilter Mittelverwaltung überträgt die Kommission den Mitgliedstaaten Haushaltsvollzugsaufgaben. Die Kommission und die Mitgliedstaaten beachten die Grundsätze der Wirtschaftlichkeit der Haushaltsführung, der Transparenz und der Nichtdiskriminierung und sorgen bei der Verwaltung von Unionsmitteln für eine angemessene Sichtbarkeit des Handelns der Union. Zu diesem Zweck erfüllen die Kommission und die Mitgliedstaaten ihre jeweiligen Kontroll- und Prüfungspflichten sowie die damit verbundenen und in der vorliegenden Verordnung festgelegten Aufgaben. Zusätzliche Bestimmungen werden in sektorspezifischen Vorschriften festgelegt.“

( 62 ) In den Vereinigten Staaten haben sich die Bundesbehörden in ihren Beziehungen zu den Bundesstaaten und den Gebietskörperschaften der finanziellen Konditionalität bedient, um die Gewährung von Mitteln aus dem Bundeshaushalt u. a. von der Beachtung des Verbots der Rassentrennung im Unterricht und am Arbeitsplatz, der Einführung eines Mindestlohns, dem Aufbau einer unabhängigen öffentlichen Verwaltung oder der Einführung eines Tempolimits auf den Autobahnen im gesamten Land abhängig zu machen. Diese finanzielle Konditionalität hat ihre Grundlage in Article I Section 8 Clause 1 der Verfassung der Vereinigten Staaten (the Spending Clause of the Constitution), die dem Kongress die Befugnis einräumt, „to lay and collect Taxes, … to … provide for the … general Welfare of the United States“. Der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten hat die Voraussetzungen für die Anwendung dieser Konditionalität u. a. in den Urteilen South Dakota v. Dole, 483 U.S. 203 (1987), und NFIB v. Sebelius, 567 U.S. 519 (2012), entwickelt. Siehe Yeh, Brian T., The Federal Government’s Authority to Impose Conditions on Grant Funds, Congressional Research Service, 2017, abrufbar unter https://sgp.fas.org/crs/misc/R44797.pdf, und Margulies, P., „Deconstructing Sanctuary Cities: The Legality of Federal Grant Conditions That Require State and Local Cooperation on Immigration Enforcement“, Wash. & Lee L. Rev. 2018, S. 1507.

( 63 ) Vgl. Viță, V., „Revisiting the Dominant Discourse on Conditionality in the EU: The Case of EU Spending Conditionality“, Cambridge Yearbook of European Legal Studies, 2017, S. 116 bis 143.

( 64 ) Vgl. Viță, V., Conditionalities in Cohesion Policy, Research for REGI Committee, European Parliament, Policy Department for Structural and Cohesion Policies, Brüssel, 2018.

( 65 ) Verordnung (EU) 2021/1060 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 24. Juni 2021 mit gemeinsamen Bestimmungen für den Europäischen Fonds für regionale Entwicklung, den Europäischen Sozialfonds Plus, den Kohäsionsfonds, den Fonds für einen gerechten Übergang und den Europäischen Meeres‑, Fischerei- und Aquakulturfonds sowie mit Haushaltsvorschriften für diese Fonds und für den Asyl- und Migrationsfonds, den Fonds für die innere Sicherheit und das Instrument für finanzielle Unterstützung der Grenzverwaltung und der Visapolitik (ABl. 2021, L 231, S. 159, im Folgenden: Verordnung mit gemeinsamen Bestimmungen für 2021-2027). Diese Verordnung stärkt die bereits für den MFR 2014-2020 in der Verordnung (EU) Nr. 1303/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. Dezember 2013 mit gemeinsamen Bestimmungen über den Europäischen Fonds für regionale Entwicklung, den Europäischen Sozialfonds, den Kohäsionsfonds, den Europäischen Landwirtschaftsfonds für die Entwicklung des ländlichen Raums und den Europäischen Meeres- und Fischereifonds sowie mit allgemeinen Bestimmungen über den Europäischen Fonds für regionale Entwicklung, den Europäischen Sozialfonds, den Kohäsionsfonds und den Europäischen Meeres- und Fischereifonds und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1083/2006 des Rates (ABl. 2013, L 347, S. 320) vorgesehenen Konditionalitätsmechanismen.

( 66 ) Anhang IV enthält hingegen die „thematischen grundlegenden Voraussetzungen für den EFRE, den ESF+ und den Kohäsionsfonds …“

( 67 ) Beschluss vom 26. November 2009 über den Abschluss des Übereinkommens der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen durch die Europäische Gemeinschaft (ABl. 2010, L 23, S. 35).

( 68 ) Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. November 2011 über die Vermeidung und Korrektur makroökonomischer Ungleichgewichte (ABl. 2011, L 306, S. 25).

( 69 ) Verordnung des Rates vom 18. Februar 2002 zur Einführung einer Fazilität des mittelfristigen finanziellen Beistands zur Stützung der Zahlungsbilanzen der Mitgliedstaaten (ABl. 2002, L 53, S. 1).

( 70 ) Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21. Mai 2013 über den Ausbau der wirtschafts- und haushaltspolitischen Überwachung von Mitgliedstaaten im Euro-Währungsgebiet, die von gravierenden Schwierigkeiten in Bezug auf ihre finanzielle Stabilität betroffen oder bedroht sind (ABl. 2013, L 140, S. 1).

( 71 ) Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Februar 2021 zur Einrichtung der Aufbau- und Resilienzfazilität (ABl. 2021, L 57, S. 17).

( 72 ) Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates vom 7. Juli 2021 zur Schaffung eines Instruments für finanzielle Hilfe im Bereich Grenzverwaltung und Visumpolitik im Rahmen des Fonds für integrierte Grenzverwaltung (ABl. 2021, L 251, S. 48).

( 73 ) Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates vom 14. Juli 2021 über die Darlehensfazilität für den öffentlichen Sektor im Rahmen des Mechanismus für einen gerechten Übergang (ABl. 2021, L 274, S. 1).

( 74 ) Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. Dezember 2013 mit Vorschriften über Direktzahlungen an Inhaber landwirtschaftlicher Betriebe im Rahmen von Stützungsregelungen der Gemeinsamen Agrarpolitik und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 637/2008 des Rates und der Verordnung (EG) Nr. 73/2009 des Rates (ABl. 2013, L 347, S. 608).

( 75 ) Beispielsweise ist der Erhalt von Mitteln aus Strukturfonds wie dem EFRE oder dem ESF von der Einhaltung der Anforderungen an das makroökonomische Gleichgewicht durch den Mitgliedstaat abhängig.

( 76 ) Sechster Erwägungsgrund der Verordnung 2020/2092.

( 77 ) Aus der Rechtsprechung zur Konditionalität im Bereich des Umweltschutzes können die Urteile vom 27. Januar 2021, De Ruiter (C‑361/19, EU:C:2021:71, Rn. 31 bis 41), und vom 25. Juli 2018, Teglgaard und Fløjstrupgård (C‑239/17, EU:C:2018:597, Rn. 42 ff.), angeführt werden. Im Urteil vom 7. August 2018, Argo Kalda Mardi talu (C‑435/17, EU:C:2018:637, Rn. 39), heißt es: „Gemäß Art. 93 der Verordnung Nr. 1306/2013 gehören die Standards für die Erhaltung von Flächen in gutem landwirtschaftlichem und ökologischem Zustand zu den Cross-Compliance-Vorschriften, bei deren Nichterfüllung Art. 91 der Verordnung die Verhängung einer Verwaltungssanktion vorsieht. Diese Standards werden auf nationaler Ebene aufgestellt, sind in Anhang II der Verordnung aufgeführt und betreffen u. a. den Bereich des Umweltschutzes.“

( 78 ) Urteil vom 27. November 2012 (C‑370/12, EU:C:2012:756, Rn. 69): „Die strengen Auflagen, denen die Gewährung einer Finanzhilfe nach Abs. 3 von Art. 136 AEUV – der Bestimmung, auf die sich die Änderung des AEU-Vertrags bezieht – unterliegt, sollen aber gewährleisten, dass beim Einsatz dieses Mechanismus das Unionsrecht, einschließlich der von der Union im Rahmen der Koordinierung der Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten getroffenen Maßnahmen, beachtet wird.“

( 79 ) Vertrag zur Einrichtung des Europäischen Stabilitätsmechanismus zwischen dem Königreich Belgien, der Bundesrepublik Deutschland, der Republik Estland, Irland, der Hellenischen Republik, dem Königreich Spanien, der Französischen Republik, der Italienischen Republik, der Republik Zypern, dem Großherzogtum Luxemburg, Malta, dem Königreich der Niederlande, der Republik Österreich, der Portugiesischen Republik, der Republik Slowenien, der Slowakischen Republik und der Republik Finnland, geschlossen in Brüssel am 2. Februar 2012.

( 80 ) Urteil vom 27. November 2012, Pringle (C‑370/12, EU:C:2012:756, Rn. 111 und 112). Die Rn. 154 bis 156 betreffen die Rolle der Kommission bei der Überwachung der Einhaltung der mit der Finanzhilfe verbundenen Auflagen im Rahmen des ESM-Vertrags. Dieselben Bezugnahmen enthält bereits das Urteil vom 20. September 2016, Mallis und Malli/Kommission und EZB (C‑105/15 P, EU:C:2016:702, Rn. 54).

( 81 ) Im Folgenden wird zur Vermeidung von Wiederholungen davon ausgegangen, dass die Staaten, die an der mündlichen Verhandlung teilgenommen haben (logischerweise mit Ausnahme Ungarns und der Republik Polen), sowie die Kommission die Auffassung des Parlaments und des Rates teilen.

( 82 ) Urteile vom 8. Dezember 2020, Polen/Parlament und Rat (C‑626/18, EU:C:2020:1000, Rn. 43 bis 47), vom 8. Dezember 2020, Ungarn/Parlament und Rat (C‑620/128, EU:C:2020:1001, Rn. 38 bis 42), und vom 3. Dezember 2019, Tschechische Republik/Parlament und Rat (C‑482/17, EU:C:2019:1035).

( 83 ) Urteil vom 3. Dezember 2019, Tschechische Republik/Parlament und Rat (C‑482/17, EU:C:2019:1035, Rn. 31).

( 84 ) Ebd. (Rn. 32).

( 85 ) Ebd. (Rn. 38).

( 86 )

( 87 )

( 88 ) Vgl. Martín Rodríguez, P., El Estado de Derecho en la Unión Europea, Marcial Pons, Madrid, 2021, S. 131, der meint, „Art. 322 AEUV stellt eine mehr als hinreichende Rechtsgrundlage für die Aufstellung dieser [finanziellen] Anforderung dar, die andererseits für konkrete materielle Inhalte der Rechtsstaatlichkeit bereits bestanden hat …“.

( 89 ) Der europäische Mechanismus zum Schutz der Rechtsstaatlichkeit, das EU-Justizbarometer, das Vertragsverletzungsverfahren und das Verfahren nach Art. 7 EUV.

( 90 ) Die gemeinsame Erklärung lautet: „Unbeschadet des Initiativrechts der Kommission kommen das Europäische Parlament, der Rat und die Kommission überein, bei der nächsten Überarbeitung der vorliegenden Verordnung zu prüfen, ob deren Inhalt in die Verordnung (EU, Euratom) 2018/1046 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 18. Juli 2018 (‚Haushaltsordnung‘) aufgenommen werden sollte“. Vgl. ihren Wortlaut in der Anlage zum Dokument COM(2020) 843 final vom 14. Dezember 2020, Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament gemäß Artikel 294 Absatz 6 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union betreffend den Standpunkt des Rates im Hinblick auf den Erlass einer Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über eine allgemeine Konditionalitätsregelung zum Schutz des Haushalts der Union.

( 91 ) Vgl. in diesem Sinne die Stellungnahme Nr. 1/2018 des Rechnungshofs zu dem Vorschlag vom 2. Mai 2018 für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über den Schutz des Haushalts der Union im Falle von generellen Mängeln in Bezug auf das Rechtsstaatsprinzip in den Mitgliedstaaten (ABl. 2018, C 291, S. 1, Rn. 10 und 11).

( 92 ) Nach den Buchst. c („das ordnungsgemäße Arbeiten von Ermittlungs- und Strafverfolgungsinstanzen“), d („die wirksame gerichtliche Kontrolle … durch unabhängige Gerichte“) und e („die Verhütung und Ahndung von Betrug, einschließlich Steuerbetrug, Korruption und anderer Verstöße gegen das Unionsrecht“).

( 93 ) Nach Art. 2 Nr. 59 der Haushaltsordnung bedeutet „Wirtschaftlichkeit der Haushaltsführung“„den Vollzug des Haushaltsplans im Einklang mit den Grundsätzen der Sparsamkeit, der Wirtschaftlichkeit und der Wirksamkeit“.

( 94 ) Das Urteil vom 6. November 2014, Italien/Kommission (C‑385/13 P, EU:C:2014:2350, Rn. 68 und 69), spricht von der Notwendigkeit einer hinreichend unmittelbaren Beziehung zwischen dem mutmaßlichen Verstoß gegen Unionsrecht durch den begünstigen Mitgliedstaat und der Maßnahme, für die die Finanzierung beantragt wurde, als Kriterium, das es der Kommission ermöglicht, die Aussetzung der Auszahlung der Strukturfonds an den Mitgliedstaat anzuordnen.

( 95 ) Martín Rodríguez, P., a. a. O, S. 133, hebt ebenfalls hervor, dass der Schlüssel zur Auslegung der Verordnung 2020/2092 im Erfordernis der „hinreichend unmittelbaren“ Betroffenheit liegt.

( 96 ) Im Leitartikel von European Papers, 2020, Nr. 5, S. 1101 bis 1104, wird der von der Kommission verlangte Nachweis, dass sich der Verstoß gegen die Rechtsstaatlichkeit ausschließlich auf den Schutz der finanziellen Interessen der Union bezieht, als probatio diabolica bezeichnet. Diese Voraussetzung „will presumably render inoperative the conditionality mechanism“, und die Verordnung 2020/2092 „appears to be doomed to fail“, wenn sie ausschließlich bei Handlungen der Staaten angewandt werde, die sich auf die Wirtschaftlichkeit der Haushaltsführung der Union auswirkten.

( 97 ) In den Schlussfolgerungen des Europäischen Rates vom 10. und 11. Dezember 2020, Abschnitt 2 Buchst. e, wird bekräftigt, dass „der ursächliche Zusammenhang zwischen diesen Verletzungen und den negativen Auswirkungen auf die finanziellen Interessen der Union … hinreichend direkt und ordnungsgemäß festgestellt worden sein [muss]. Die bloße Feststellung einer Verletzung der Rechtsstaatlichkeit reicht nicht aus, um den Mechanismus auszulösen.“

( 98 ) Die Schlussfolgerungen des Europäischen Rates vom 10. und 11. Dezember 2020, Abschnitt 2 Buchst. h, gehen über den Wortlaut der Verordnung hinaus, wenn es dort heißt: „Werden solche Informationen und Erkenntnisse – gleich welchen Ursprungs – für die Zwecke der Verordnung verwendet, so stellt die Kommission sicher, dass ihre Relevanz und ihre Verwendung ausschließlich im Hinblick auf das Ziel der Verordnung, die finanziellen Interessen der Union zu schützen, bestimmt werden.“

( 99 ) Art. 61 Abs. 3 der Haushaltsordnung lautet: „Für die Zwecke des Absatzes 1 besteht ein Interessenkonflikt, wenn ein Finanzakteur oder eine sonstige Person nach Absatz 1 aus Gründen der familiären oder privaten Verbundenheit, der politischen Übereinstimmung oder der nationalen Zugehörigkeit, des wirtschaftlichen Interesses oder aus anderen Gründen, die auf direkten oder indirekten persönlichen Interessen beruhen, seine bzw. ihre Aufgaben nicht unparteiisch und objektiv wahrnehmen kann.“

( 100 ) In den Schlussfolgerungen des Europäischen Rates vom 10. und 11. Dezember 2020, Abschnitt 2 Buchst. d, wurde erklärt, dass „[b]ei der Anwendung des Mechanismus … sein subsidiärer Charakter geachtet [wird]. Maßnahmen im Rahmen des Mechanismus werden nur dann erwogen, wenn andere Verfahren nach dem Unionsrecht, einschließlich der Verordnung mit gemeinsamen Bestimmungen, der Haushaltsordnung oder Vertragsverletzungsverfahren im Rahmen des Vertrags, keinen wirksameren Schutz des Haushalts der Union ermöglichen.“

( 101 ) Vgl. analog die Rechtsprechung des Gerichtshofs, wonach „die Pflicht, einen durch eine Unregelmäßigkeit unrechtmäßig erhaltenen Vorteil zurückzugewähren, keine Sanktion ist, sondern lediglich die Folge der Feststellung, dass die Voraussetzungen für den Erhalt des unionsrechtlich vorgesehenen Vorteils nicht beachtet worden sind und der erlangte Vorteil rechtsgrundlos gewährt wurde“ (Urteile vom 1. Oktober 2020, Elme Messer Metalurgs, C‑743/18, EU:C:2020:767, Rn. 64, und vom 26. Mai 2016, Județul Neamț und Județul Bacău, C‑260/14 und C‑261/14, EU:C:2016:360, Rn. 50 und die dort angeführte Rechtsprechung).

( 102 ) Falls der Gerichtshof diesen Ansatz wegen der schwachen Verbindung mit dem Verstoß gegen die Rechtsstaatlichkeit nicht übernimmt, sollte er nur den Satzteil „soweit möglich“ in Art. 5 Abs. 3 a. E. der Verordnung 2020/2092 für nichtig erklären (der keine materiell-rechtliche Natur hat); dann hieße es dort lediglich, dass „[d]ie Maßnahmen … auf die durch die Verstöße beeinträchtigten Handlungen der Union ausgerichtet [sind]“.

( 103 ) Vgl. seine wörtliche Wiedergabe in Nr. 11 der vorliegenden Schlussanträge.

( 104 ) Zur Verteidigung der Begünstigten zieht der Rat den Schutz ihrer erworbenen Rechte und ihres berechtigten Vertrauens sowie den Grundsatz heran, dass die Antwort auf den Verstoß gegen eine Verpflichtung keinen anderen Verstoß mit sich bringen darf.

( 105 ) Zur Verwaltung der EFRE‑Mittel hat der Gerichtshof entschieden, dass dies sogar dann so sein muss, wenn die Wiedereinziehung der Zahlungen unmöglich ist, „wenn nachgewiesen wird, dass diese Unmöglichkeit die Folge eines diesem Mitgliedstaat anzulastenden Fehlers oder durch dessen Fahrlässigkeit entstanden ist“ (Urteil vom 1. Oktober 2020, Elme Messer Metalurgs, C‑743/18, EU:C:2020:767, Rn. 71).

( 106 ) Zur bisherigen Regelung und zur Rechtsprechung zu den Finanzkorrekturen vgl. Guillem Carrau, J., „Las correcciones financieras en materia de fondos estructurales“, Revista Aragonesa de Administración Pública, 2018, Nr. 51, S. 281 bis 319.

( 107 ) Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. Dezember 2013 über die Finanzierung, die Verwaltung und das Kontrollsystem der Gemeinsamen Agrarpolitik und zur Aufhebung der Verordnungen (EWG) Nr. 352/78, (EG) Nr. 165/94, (EG) Nr. 2799/98, (EG) Nr. 814/2000, (EG) Nr. 1290/2005 und (EG) Nr. 485/2008 des Rates (ABl. 2013, L 347, S. 549). Ihr Art. 11 lautet: „Sofern im Unionsrecht nicht ausdrücklich etwas anderes bestimmt ist, erfolgen die Zahlungen im Rahmen der in dieser Verordnung vorgesehenen Finanzierungen in voller Höhe an die Begünstigten.“

( 108 ) Vgl. in diesem Sinne Martín Rodríguez, P., a. a. O., S. 99 bis 101.

( 109 ) Vgl. Rossi, L. S., „La valeur juridique des valeurs. L’article 2 TUE: relations avec d’autres dispositions de droit primaire de l’UE et remèdes juridictionnels“, Revue trimestrielle de droit européen, 2020, Nr. 3, S. 639 bis 657.

( 110 ) Der Gerichtshof hat entschieden, dass „die Union aus Staaten besteht, die die in Art. 2 EUV genannten Werte von sich aus und freiwillig übernommen haben, diese achten und sich für deren Förderung einsetzen. Aus Art. 2 EUV geht insbesondere hervor, dass sich die Union auf Werte wie die Rechtsstaatlichkeit gründet, die allen Mitgliedstaaten in einer Gesellschaft, die sich u. a. durch Gerechtigkeit auszeichnet, gemeinsam sind. Das gegenseitige Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten und insbesondere ihren Gerichten beruht auf der grundlegenden Prämisse, dass die Mitgliedstaaten eine Reihe gemeinsamer Werte teilen, auf die sich, wie es in diesem Artikel heißt, die Union gründet“ (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 24. Juni 2019, Kommission/Polen [Unabhängigkeit des Obersten Gerichts], C‑619/18, EU:C:2019:531‚ Rn. 42 und 43, und vom 18. Mai 2021, Asociația Forumul Judecătorilor din România u. a., C‑83/19, C‑127/19, C‑195/19, C‑291/19, C‑355/19 und C‑397/19, EU:C:2021:393, Rn. 160).

( 111 ) Urteile vom 17. Dezember 2020, Openbaar Ministerie (Unabhängigkeit der ausstellenden Justizbehörde) (C‑354/20 PPU und C‑412/20 PPU, EU:C:2020:1033, Rn. 57 und 58), und vom 25. Juli 2018, Minister for Justice and Equality (Mängel des Justizsystems) (C‑216/18 PPU, EU:C:2018:586, Rn. 71 und 72). Der Gerichtshof zieht als zusätzlichen Grund für die Ablehnung der Vollstreckung dieser Art von Anordnungen den Schutz der Rechtsstaatlichkeit heran.

( 112 ) Urteil vom 22. Juni 2021, Venezuela/Rat (Betroffenheit eines Drittstaats) (C‑872/19 P, EU:C:2021:507, Rn. 48 bis 50).

( 113 ) Urteil vom 17. Dezember 2020, Openbaar Ministerie (Unabhängigkeit der ausstellenden Justizbehörde) (C‑354/20 PPU und C‑412/20 PPU, EU:C:2020:1033, Rn. 69).

( 114 ) Urteile vom 15. Juli 2021, Kommission/Polen (Disziplinarordnung für Richter) (C‑791/19, EU:C:2021:596, Rn. 58), und vom 20. April 2021, Repubblika (C‑896/19, EU:C:2021:311, Rn. 51).

( 115 ) Mit den Worten des Gerichtshofs gehört „[d]as Erfordernis der Unabhängigkeit der Gerichte, das dem Auftrag des Richters inhärent ist, … zum Wesensgehalt des Rechts auf wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz und des Grundrechts auf ein faires Verfahren, dem als Garant für den Schutz sämtlicher dem Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsender Rechte und für die Wahrung der in Art. 2 EUV genannten Werte, die den Mitgliedstaaten gemeinsam sind, u. a. des Wertes der Rechtsstaatlichkeit, grundlegende Bedeutung zukommt“. Urteile vom 15. Juli 2021, Kommission/Polen (Disziplinarordnung für Richter) (C‑791/19, EU:C:2021:596, Rn. 51 und 58), vom 20. April 2021, Repubblika (C‑896/19, EU:C:2021:311, Rn. 51), und vom 18. Mai 2021, Asociaţia Forumul Judecătorilor din România u. a. (C‑83/19, C‑127/19, C‑195/19, C‑291/19, C‑355/19 und C‑397/19, EU:C:2021:393), Rn. 162).

( 116 ) Wie das Rechnungsabschlussverfahren des EAGFL oder die Verfahren zur Aussetzung oder zur Rücknahme von Strukturbeihilfen.

( 117 ) Urteile vom 11. Januar 2001, Griechenland/Kommission (C‑247/98, EU:C:2001:4, Rn. 13), und vom 7. Februar 1979, Frankreich/Kommission (15/76 und 16/76, EU:C:1979:29, Rn. 27 und 28).

( 118 ) Das Rechnungsabschlussverfahren hat nicht nur den Zweck, festzustellen, ob Ausgaben tatsächlich und ordnungsgemäß getätigt wurden, sondern auch die aus der gemeinsamen Agrarpolitik folgenden finanziellen Belastungen zwischen Mitgliedstaaten und Gemeinschaft richtig aufzuteilen. Vgl. Urteil vom 11. Januar 2001, Griechenland/Kommission (C‑247/98, EU:C:2001:4, Rn. 13 und 14).

( 119 ) Urteil vom 25. Oktober 2007, Komninou u. a./Kommission (C‑167/06 P, EU:C:2007:633, Rn. 52), Beschluss vom 11. Juli 1996, An Taisce und WWF UK/Kommission (C‑325/94 P, nicht veröffentlicht, EU:C:1996:293, Rn. 23). Siehe auch Urteil des Gerichts vom 26. Februar 2013, Spanien/Kommission (T‑65/10, T‑113/10 und T‑138/10, EU:T:2013:93, Rn. 109).

( 120 ) Beschluss vom 11. Juli 1996, An Taisce und WWF UK/Kommission (C‑325/94 P, nicht veröffentlicht, EU:C:1996:293, Rn. 24).

( 121 ) Urteile vom 2. April 2020, Kommission/Spanien (C‑406/19 P EU:C:2020:276, Rn. 49 und 50), und vom 15. Oktober 2014, Dänemark/Kommission (C‑417/12 P, EU:C:2014:2288, Rn. 81 bis 83).

( 122 ) Eine Aussetzung der Genehmigung eines oder mehrerer Programme oder die Änderung der Aussetzung, eine Aussetzung von Mittelbindungen, eine Reduzierung von Mittelbindungen, einschließlich durch Finanzkorrekturen oder Mittelübertragungen auf andere Ausgabenprogramme, eine Reduzierung der Vorfinanzierung, eine Unterbrechung von Zahlungsfristen und eine Aussetzung von Zahlungen.

( 123 ) Nach dem 70. Erwägungsgrund der Verordnung über gemeinsame Bestimmungen für Strukturfonds für den Zeitraum 2021-2027 sollte im Rahmen der Maßnahmen zum Schutz der finanziellen Interessen und des Haushaltsplans der Union (Unterbrechung der Zahlungsfristen, Aussetzung von Zwischenzahlungen und Vornahme von Finanzkorrekturen) „[d]ie Kommission … den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachten und Art, Schwere und Häufigkeit der Unregelmäßigkeiten sowie ihre finanziellen Auswirkungen auf den Unionshaushalt berücksichtigen“.

( 124 ) Art. 10 Abs. 4 der Verordnung 2021/241 lautet: „Der Anwendungsbereich und die Höhe der Aussetzung der Mittelbindungen oder Zahlungen müssen verhältnismäßig sein, der Gleichbehandlung der Mitgliedstaaten Rechnung tragen und die wirtschaftlichen und sozialen Gegebenheiten des betreffenden Mitgliedstaats, insbesondere das Ausmaß der Arbeitslosigkeit, der Armut und der sozialen Ausgrenzung in dem betreffenden Mitgliedstaat im Vergleich mit dem Unionsdurchschnitt und die Auswirkungen der Aussetzung auf die Wirtschaft des betreffenden Mitgliedstaats, berücksichtigen.“

( 125 ) In der Praxis muss der Mitgliedstaat auf die Mittel aus dem Haushaltsplan der Union verzichten oder seine Verstöße gegen die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit, die Auswirkungen auf den Haushaltsplan der Union haben, abstellen.

( 126 ) Vgl. Art. 63 Abs. 8 a. E. der Haushaltsordnung.

( 127 ) Gemäß Art. 7 Abs. 5 EUV sind „[d]ie Abstimmungsmodalitäten, die für die Zwecke dieses Artikels für das Europäische Parlament, den Europäischen Rat und den Rat gelten, … in Artikel 354 [AEUV] festgelegt“.

( 128 ) 20. Erwägungsgrund der Verordnung 2020/2092.

( 129 ) Vgl. Urteil vom 24. Oktober 1989, Kommission/Rat (16/88, EU:C:1989:397, Rn. 15 bis 18).

( 130 ) Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs muss der Rat „entsprechend der Natur und dem Inhalt des umzusetzenden oder zu ändernden Basisrechtsakts eine ordnungsgemäße Begründung für eine Ausnahme von der Regel geben …, dass es normalerweise Aufgabe der Kommission ist, die Durchführungsbefugnis auszuüben“ (Urteil vom 1. März 2016, National Iranian Oil Company/Rat, C‑440/14 P, EU:C:2016:128, Rn. 60 und die dort angeführte Rechtsprechung).

( 131 ) Nach dem 26. Erwägungsgrund der Verordnung 2020/2092 sollte „[d]as Verfahren … die Grundsätze der Objektivität, der Nichtdiskriminierung und der Gleichbehandlung der Mitgliedstaaten achten und auf der Grundlage eines unparteilichen und evidenzbasierten Ansatzes durchgeführt werden. Sollte der betreffende Mitgliedstaat in Ausnahmefällen der Auffassung sein, dass schwere Verstöße gegen diese Grundsätze vorliegen, kann er den Präsidenten des Europäischen Rates ersuchen, den Europäischen Rat auf dessen nächster Tagung mit der Angelegenheit zu befassen. In diesen Ausnahmefällen sollte keine Entscheidung über die Maßnahmen getroffen werden, bis der Europäische Rat die Angelegenheit erörtert hat. Dieses Verfahren wird in der Regel innerhalb von drei Monaten, nachdem die Kommission dem Rat ihren Vorschlag übermittelt hat, abgeschlossen.“

( 132 ) Der Gerichtshof hat mehrfach darauf hinwiesen, dass die Erwägungsgründe eines Unionsrechtsakts rechtlich nicht verbindlich sind und weder herangezogen werden können, um von den Bestimmungen des betreffenden Rechtsakts abzuweichen, noch, um diese Bestimmungen in einem Sinne auszulegen, der ihrem Wortlaut offensichtlich widerspricht. Vgl. in diesem Sinne Urteile vom 4. März 2020, Marine Harvest/Kommission (C‑10/18 P, EU:C:2020:149, Rn. 44), vom 2. April 2009, Tyson Parketthandel (C‑134/08, EU:C:2009:229, Rn. 16), und vom 10. Januar 2006, IATA und ELFAA (C‑344/04, EU:C:2006:10, Rn. 76).

( 133 ) Ebenso wenig entfaltet Rechtswirkungen die im Dokument EUCO 22/20, Schlussfolgerungen des Europäischen Rates vom 11. Dezember 2020, Abschnitt 2, Buchst. j, wiedergegebene Verpflichtung des Europäischen Rates; dort heißt es: „Stellt der betreffende Mitgliedstaat ein Ersuchen nach Erwägungsgrund 26 der Verordnung, so setzt der Präsident des Europäischen Rates den Punkt auf die Tagesordnung des Europäischen Rates. Der Europäische Rat wird anstreben, einen gemeinsamen Standpunkt zu der Angelegenheit zu formulieren.“

( 134 ) Vgl. hierzu Urteil vom 6. September 2017, Slowakei und Ungarn/Rat (C‑643/15 und C‑647/15, EU:C:2017:631, Rn. 148), in dem es heißt: „Zum anderen gestattet Art. 78 Abs. 3 AEUV dem Rat, Maßnahmen mit qualifizierter Mehrheit zu erlassen, wie er es beim Erlass des angefochtenen Beschlusses getan hat. Der Grundsatz des institutionellen Gleichgewichts verbietet es, dass der Europäische Rat diese Abstimmungsregel ändert und dem Rat mittels Schlussfolgerungen, die gemäß Art. 68 AEUV ergangen sind, vorschreibt, einstimmig zu entscheiden.“

( 135 ) Dokument COM(2020) 843 final vom 14. Dezember 2020, Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament gemäß Artikel 294 Absatz 6 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union betreffend den Standpunkt des Rates im Hinblick auf den Erlass einer Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über eine allgemeine Konditionalitätsregelung zum Schutz des Haushalts der Union, S. 3.

( 136 ) C‑650/18, EU:C:2021:426, Rn. 30.

( 137 ) Urteil vom 3. Juni 2021, Ungarn/Parlament (C‑650/18, EU:C:2021:426, Rn. 32).

( 138 ) Ebd. (Rn. 33).

( 139 ) Ebd. (Rn. 31).

( 140 ) Urteil vom 29. April 2021, Banco de Portugal u. a. (C‑504/19, EU:C:2021:335, Rn. 51).

( 141 ) Ebd. (Rn. 52).

( 142 ) Urteil vom 14. April 2005, Belgien/Kommission (C‑110/03, EU:C:2005:223, Rn. 31).

( 143 ) Urteil vom 20. Juli 2017, Marco Tronchetti Provera u. a. (C‑206/16, EU:C:2017:572, Rn. 42).

( 144 ) Urteil vom 30. April 2020, Nelson Antunes da Cunha (C‑627/18, EU:C:2020:321, Rn. 45).

( 145 ) Dokument COM(2014) 158 final, Mitteilung der Kommission „Ein neuer Rahmen für das Rechtsstaatsprinzip“, Anhang I.

( 146 ) Europäische Kommission für Demokratie durch Recht (Venedig-Kommission) des Europarats.

( 147 ) Die Kommission hat in der mündlichen Verhandlung mitgeteilt, dass sie an einem Entwurf für Leitlinien zur Durchführung der Verordnung 2020/2092 arbeite und sich dabei einer in anderen Bereichen (z. B. im Bereich der staatlichen Beihilfen) weit verbreiteten Technik bediene.

( 148 ) In Art. 7 EUV ist von der „Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der in Artikel 2 genannten Werte“ die Rede.

( 149 ) Hervorhebung nur hier.

( 150 ) Nr. 181 und Fn. 102 der vorliegenden Schlussanträge.

( 151 ) Urteile vom 11. Dezember 2008, Kommission/Département du Loiret (C‑295/07 P, EU:C:2008:707, Rn. 105 und 106), und vom 24. Mai 2005, Frankreich/Parlament und Rat (C‑244/03, EU:C:2005:299, Rn. 12 und 13).

( 152 ) Hervorhebung nur hier.

( 153 ) Urteil vom 7. Oktober 2004, Spanien/Kommission (C‑153/01, EU:C:2004:589, Rn. 66 und 67).

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