URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)

20. April 2021 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Art. 2 EUV – Werte der Europäischen Union – Rechtsstaatlichkeit – Art. 49 EUV – Beitritt zur Union – Nichtabsenkung des Schutzniveaus für die Werte der Union – Wirksamer gerichtlicher Rechtsschutz – Art. 19 EUV – Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Anwendungsbereich – Unabhängigkeit der Richter eines Mitgliedstaats – Ernennungsverfahren – Befugnisse des Premierministers – Mitwirkung eines Ausschusses für Ernennungen im Justizwesen“

In der Rechtssache C‑896/19

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Prim’Awla tal-Qorti Ċivili – Ġurisdizzjoni Kostituzzjonali (Erste Kammer des Zivilgerichts als Verfassungsgericht, Malta) mit Entscheidung vom 25. November 2019, beim Gerichtshof eingegangen am 5. Dezember 2019, in dem Verfahren

Repubblika

gegen

Il-Prim Ministru,

Beteiligter:

WY,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Große Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, der Vizepräsidentin R. Silva de Lapuerta, des Kammerpräsidenten A. Arabadjiev, der Kammerpräsidentin A. Prechal, der Kammerpräsidenten M. Vilaras, M. Ilešič und N. Piçarra, der Richterin C. Toader, der Richter M. Safjan, S. Rodin und F. Biltgen, der Richterin K. Jürimäe, der Richter C. Lycourgos und P. G. Xuereb sowie der Richterin L. S. Rossi (Berichterstatterin),

Generalanwalt: G. Hogan,

Kanzler: C. Strömholm, Verwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 27. Oktober 2020,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

von Repubblika, vertreten durch J. Azzopardi, avukat, S. Busuttil, advocate, und T. Comodini Cachia, avukat,

der maltesischen Regierung, vertreten durch V. Buttigieg und A. Buhagiar als Bevollmächtigte im Beistand von D. Sarmiento Ramirez-Escudero und V. Ferreres Comella, abogados,

der belgischen Regierung, vertreten durch C. Pochet, M. Jacobs und L. Van den Broeck als Bevollmächtigte,

der niederländischen Regierung, vertreten durch M. K. Bulterman und C. S. Schillemans als Bevollmächtigte,

der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna und S. Żyrek als Bevollmächtigte,

der schwedischen Regierung, vertreten durch C. Meyer-Seitz, H. Shev, H. Eklinder, R. Shahsavan Eriksson, A. M. Runeskjöld, M. Salborn Hodgson, O. Simonsson und J. Lundberg als Bevollmächtigte,

der Europäischen Kommission, zunächst vertreten durch K. Mifsud-Bonnici, P. J. O. Van Nuffel, H. Krämer und J. Aquilina, dann durch K. Mifsud-Bonnici, P. J. O. Van Nuffel und J. Aquilina als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 17. Dezember 2020

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 19 EUV und Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).

2

Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Repubblika, einem in Malta als juristische Person eingetragenen Verein, dessen Ziel es ist, den Schutz von Gerechtigkeit und Rechtsstaatlichkeit in diesem Mitgliedstaat zu fördern, und Il-Prim Ministru (Premierminister, Malta) bezüglich einer Popularklage, mit der insbesondere in Frage gestellt wird, ob die Bestimmungen der maltesischen Verfassung (im Folgenden: Verfassung) über das Richterernennungsverfahren mit dem Unionsrecht vereinbar sind.

Rechtlicher Rahmen

3

Die Verfassung enthält in Kapitel VIII Vorschriften über das Richteramt, darunter solche über das Richterernennungsverfahren.

4

In diesem Kapitel VIII sieht Art. 96 der Verfassung vor:

„(1)   Die Imħallfin (Richter an den Obergerichten) werden vom Präsidenten der Republik entsprechend dem Rat des Premierministers ernannt.

(2)   Zur Ernennung als Richter an den Obergerichten ist nur qualifiziert, wer über einen Zeitraum von mindestens zwölf Jahren oder über mehrere Zeiträume von insgesamt mindestens zwölf Jahren in Malta eine Tätigkeit als Rechtsanwalt oder das Amt eines Maġistrat (Richter an den Untergerichten) oder auch beide Berufe nacheinander ausgeübt hat.

(3)   Unbeschadet der Bestimmungen in Abs. 4 muss die von dem durch Art. 96A der Verfassung eingerichteten Ausschuss für Ernennungen im Justizwesen vorzunehmende Beurteilung gemäß Art. 96A Abs. 6 Buchst. c, d oder e vorgenommen worden sein, bevor der Premierminister gemäß Abs. 1 seinen Rat bezüglich der Ernennung eines Richters an den Obergerichten (mit Ausnahme des Prim Imħallef [Oberster Richter]) erteilt.

(4)   Ungeachtet der Bestimmungen in Abs. 3 ist der Premierminister berechtigt, sich dafür zu entscheiden, sich nicht an das Ergebnis der in Abs. 3 genannten Beurteilung zu halten:

Sofern der Premierminister von der ihm durch diesen Absatz eingeräumten Befugnis Gebrauch gemacht hat, hat der Premierminister oder der Ministru responsabbli għall-ġustizzja (Justizminister):

a)

innerhalb von fünf Tagen in der Gazzetta tal-Gvern ta’ Malta eine Erklärung zu veröffentlichen, die die Bekanntgabe der Entscheidung, von dieser Befugnis Gebrauch zu machen, und die Gründe für diese Entscheidung enthält, sowie

b)

in der Kamra tad-Deputati (Repräsentantenhaus) eine Erklärung zu der betreffenden Entscheidung abzugeben, in der die Gründe, auf denen die Entscheidung beruht, erläutert werden, und zwar spätestens in der zweiten Sitzung des Repräsentantenhauses nach dem Zeitpunkt, zu dem dem Präsidenten der Republik der Rat gemäß Abs. 1 erteilt wurde:

Die erste Bedingung dieses Absatzes findet jedoch im Fall der Ernennung des Obersten Richters keine Anwendung.“

5

In Art. 96A der Verfassung heißt es:

„(1)   Es wird ein Ausschuss für Ernennungen im Justizwesen eingerichtet, in diesem Artikel als ‚Ausschuss‘ bezeichnet, der als Unterausschuss der durch Art. 101A der Verfassung eingerichteten Kummissjoni għall-Amministrazzjoni tal-ġustizzja (höherer Justizrat) aus folgenden Mitgliedern besteht:

a)

dem Obersten Richter;

b)

dem Avukat Ġenerali (Generalstaatsanwalt);

c)

dem Awditur Ġenerali (Generalrechnungsprüfer);

d)

dem Kummissarju għall-Investigazzjonijiet Amministrattivi (Kommissar für Verwaltungsuntersuchungen) (Bürgerbeauftragter) sowie

e)

dem Präsidenten der Kamra tal-Avukati (Rechtsanwaltskammer):

(2)   Der Vorsitz im Ausschuss wird vom Obersten Richter oder, in dessen Abwesenheit, von dem Richter geführt, der ihn gemäß Abs. 3 Buchst. d vertritt.

(3)   

a)

Eine Person kann nicht zum Mitglied des Ausschusses bestellt werden oder ihr Amt als Mitglied des Ausschusses weiter innehaben, wenn sie Minister, Parlamentarischer Staatssekretär, Mitglied des Repräsentantenhauses, Mitglied eines Gemeinderats oder Funktionär oder Kandidat einer politischen Partei ist:

(4)   Bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben handeln die Mitglieder des Ausschusses nach ihrem eigenen Urteil und unterliegen dabei keinerlei Weisung oder Kontrolle durch irgendeine Person oder Stelle.

(6)   Die Aufgaben des Ausschusses sind:

a)

Interessensbekundungen von Personen entgegenzunehmen und zu prüfen, die daran interessiert sind, zum Richter an den Obergerichten (mit Ausnahme des Amtes des Obersten Richters) oder zum Richter an den Untergerichten ernannt zu werden, mit Ausnahme der Personen, auf die Buchst. e Anwendung findet;

b)

ein ständiges Register der in Buchst. a genannten Interessensbekundungen und der hierauf bezogenen Handlungen zu führen, das geheim zu halten ist und nur den Mitgliedern des Ausschusses, dem Premierminister und dem Justizminister zugänglich sein darf;

c)

Bewerbungsgespräche zu führen und Beurteilungen der Kandidaten für die vorgenannten Ämter vorzunehmen, so wie er dies für angemessen hält, sowie zu diesem Zweck Informationen bei staatlichen Stellen anzufordern, die er für nach vernünftigem Ermessen erforderlich hält;

d)

den Premierminister über den Justizminister bezüglich der von ihm vorgenommenen Beurteilung der Befähigung und Eignung der Kandidaten für die vorgenannten Ämter zu beraten;

e)

den Premierminister auf dessen Verlangen über die Befähigung und Eignung von Personen, die bereits das Amt des Generalstaatsanwalts, des Generalrechnungsprüfers, des Kommissars für Verwaltungsuntersuchungen oder eines Richters an den Untergerichten innehaben, im Hinblick auf die Ernennung in ein Richteramt zu beraten;

f)

den Justizminister auf dessen jederzeit mögliche Anforderung bezüglich der Ernennung in jedes sonstige Richteramt oder Amt bei den Gerichten zu beraten:

Die in Buchst. d genannte Beurteilung ist nicht später als sechzig Tage nach Zugang der Interessensbekundung beim Ausschuss vorzunehmen, und die in den Buchst. e und f genannte Beratung ist nicht später als dreißig Tage nach ihrer Anforderung oder innerhalb der Fristen zu tätigen, die vom Justizminister im Einvernehmen mit dem Ausschuss durch Anordnung in der Gazzetta tal-Gvern ta’ Malta gesetzt werden können.

(7)   Die Tätigkeit des Ausschusses ist vertraulich und findet unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt; kein Mitglied oder Sekretär des Ausschusses darf geladen werden, um als Zeuge vor einem Gericht oder einer sonstigen Stelle über Dokumente, die dem Ausschuss zugegangen sind, oder Angelegenheiten, die von ihm erörtert wurden oder an ihn oder von ihm mitgeteilt wurden, auszusagen.

(8)   Der Ausschuss regelt sein eigenes Verfahren und ist verpflichtet, im Einvernehmen mit dem Justizminister die Kriterien zu veröffentlichen, nach denen er seine Beurteilungen vornimmt.“

6

Art. 97 der Verfassung bestimmt:

„(1)   Vorbehaltlich der Bestimmungen dieses Artikels scheidet ein Richter an den Obergerichten mit Vollendung des 65. Lebensjahrs aus dem Amt aus.

(2)   Ein Richter an den Obergerichten kann nur durch den Präsidenten der Republik seines Amtes enthoben werden, sofern dies mit einem Antrag des Repräsentantenhauses, dem mindestens zwei Drittel aller seiner Mitglieder zugestimmt haben, gefordert wird, weil der Richter (wegen körperlicher oder geistiger Gebrechen oder anderer Ursachen) erwiesenermaßen unfähig ist, die Aufgaben seines Amtes wahrzunehmen, oder weil erwiesenermaßen ein Fehlverhalten seinerseits vorliegt.

(3)   Das Parlament kann durch Gesetz das Verfahren für die Vorlage eines Antrags sowie für die Untersuchung und den Nachweis der Amtsunfähigkeit oder des Fehlverhaltens eines Richters an den Obergerichten gemäß den Bestimmungen des vorstehenden Absatzes festlegen.“

7

Art. 100 der Verfassung sieht vor:

„(1)   Die Richter an den Untergerichten werden vom Präsidenten der Republik entsprechend dem Rat des Premierministers ernannt.

(2)   Für eine Ernennung zum Richter an den Untergerichten ist nur qualifiziert, wer über einen Zeitraum von mindestens sieben Jahren oder über mehrere Zeiträume von insgesamt mindestens sieben Jahren eine Tätigkeit als Rechtsanwalt in Malta ausgeübt hat.

(3)   Vorbehaltlich der Bestimmungen von Abs. 4 scheidet ein Richter an den Untergerichten mit Vollendung des 65. Lebensjahrs aus dem Amt aus.

(4)   Die Bestimmungen von Art. 97 Abs. 2 und 3 der Verfassung finden auf die Richter an den Untergerichten entsprechende Anwendung.

(5)   Unbeschadet der Bestimmungen in Abs. 6 muss die von dem durch Art. 96A der Verfassung eingerichteten Ausschuss für Ernennungen im Justizwesen vorzunehmende Beurteilung gemäß Art. 96A Abs. 6 Buchst. c, d oder e vorgenommen worden sein, bevor der Premierminister gemäß Abs. 1 seinen Rat bezüglich der Ernennung eines Richters an den Untergerichten erteilt.

(6)   Ungeachtet der Bestimmungen in Abs. 5 ist der Premierminister berechtigt, sich dafür zu entscheiden, sich nicht an das Ergebnis der in Abs. 5 genannten Beurteilung zu halten:

Sofern der Premierminister von der ihm durch diesen Absatz eingeräumten Befugnis Gebrauch gemacht hat, hat der Premierminister oder der Justizminister:

a)

innerhalb von fünf Tagen in der Gazzetta tal-Gvern ta’ Malta eine Erklärung zu veröffentlichen, die die Bekanntgabe der Entscheidung, von dieser Befugnis Gebrauch zu machen, und die Gründe für diese Entscheidung enthält, sowie

b)

im Repräsentantenhaus eine Erklärung zu der betreffenden Entscheidung abzugeben, in der die Gründe, auf denen die Entscheidung beruht, erläutert werden, und zwar spätestens in der zweiten Sitzung des Repräsentantenhauses nach dem Zeitpunkt, zu dem dem Präsidenten der Republik der Rat gemäß Abs. 1 erteilt wurde.“

8

Art. 101B Abs. 1 der Verfassung bestimmt:

„Es wird ein Ausschuss für die Richter an den Obergerichten und den Untergerichten … eingerichtet, der als Unterausschuss des höheren Justizrats aus drei Mitgliedern der Richterschaft besteht, die nicht Mitglied des höheren Justizrats sind und die gemäß den vom höheren Justizrat erlassenen Regeln aus der Mitte der Richter an den Obergerichten und den Untergerichten gewählt werden, wobei jedoch in Disziplinarverfahren gegen einen Richter an den Untergerichten zwei der drei Mitglieder Richter an den Untergerichten und in Disziplinarverfahren gegen einen Richter an den Obergerichten zwei der drei Mitglieder Richter an den Obergerichten sein müssen.“

Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen

9

Repubblika erhob am 25. April 2019 gemäß Art. 116 der Verfassung beim vorlegenden Gericht eine als Popularklage eingestufte Klage mit dem Antrag, festzustellen, dass die Republik Malta mit ihrem derzeitigen System der Richterernennung, wie es in den Art. 96, 96A und 100 der Verfassung geregelt ist, gegen ihre Verpflichtungen insbesondere aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta verstößt. Ferner beantragt Repubblika, dass jede Richterernennung, die nach dem derzeitigen System und während des mit der Popularklage eingeleiteten Verfahrens erfolgt, für nichtig und unwirksam erklärt wird und keine weiteren Richterernennungen vorgenommen werden, es sei denn, diese stehen mit den Empfehlungen in der Stellungnahme Nr. 940/2018 der Europäischen Kommission für Demokratie durch Recht (im Folgenden: Venedig-Kommission) vom 17. Dezember 2018 zu den verfassungsrechtlichen Bestimmungen, der Gewaltenteilung, der Unabhängigkeit der Justiz und der Strafverfolgung in Malta (CDL-AD [2018]028) sowie mit Art. 19 Abs. 1 EUV und Art. 47 der Charta im Einklang.

10

Zur Stützung ihres Antrags macht Repubblika geltend, das dem Premierminister nach den Art. 96, 96A und 100 der Verfassung bei der Richterernennung zustehende Ermessen werfe Zweifel an der richterlichen Unabhängigkeit auf. Insoweit sei hervorzuheben, dass etliche der seit 2013 ernannten Richter sehr aktiv im gegenwärtig regierenden Partit laburista (Arbeiterpartei) gewesen seien oder auf solche Weise ernannt worden seien, dass der Verdacht einer politischen Einflussnahme auf die Justiz bestehe.

11

Repubblika stellt klar, sie wende sich konkret gegen alle Ernennungen vom 25. April 2019, mit denen drei Richter an den Untergerichten zu Richtern an den Obergerichten sowie drei neue Richter an den Untergerichten ernannt worden seien (im Folgenden: Ernennungen vom 25. April 2019), und gegen jede etwaige spätere Ernennung. Diese Ernennungen seien unter Missachtung der Stellungnahme Nr. 940/2018 der Venedig-Kommission vom 17. Dezember 2018 erfolgt.

12

Der Premierminister ist dagegen der Ansicht, dass die Ernennungen vom 25. April 2019 mit der Verfassung und dem Unionsrecht vereinbar seien. Es bestehe kein Unterschied zwischen diesen Ernennungen und jeder anderen Richterernennung, die seit der Verkündung der Verfassung im Jahr 1964 erfolgt sei, mit Ausnahme der Tatsache, dass im Unterschied zu den vor 2016 erfolgten Ernennungen die Eignung der 2019 vorgeschlagenen Kandidaten für die fraglichen Ämter von dem durch Art. 96A der Verfassung eingerichteten Ausschuss für Ernennungen im Justizwesen geprüft worden sei. Somit beträfen die von Repubblika vorgebrachten Argumente letztlich jede bislang erfolgte Richterernennung.

13

Nach Auffassung des Premierministers genügt das fragliche Ernennungsverfahren den Anforderungen von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und Art. 47 der Charta in der Auslegung durch den Gerichtshof.

14

Das vorlegende Gericht führt aus, dass im vorliegenden Fall der Aspekt, der vom Gerichtshof unter dem Blickwinkel von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und Art. 47 der Charta geprüft werden sollte, das dem Premierminister durch die Art. 96, 96A und 100 der Verfassung eingeräumte Ermessen im Richterernennungsverfahren betreffe. Außerdem stelle sich die Frage, ob die Verfassungsänderung von 2016 zu einer Verbesserung des fraglichen Verfahrens geführt habe.

15

Unter diesen Umständen hat die Prim’Awla tal-Qorti Ċivili – Ġurisdizzjoni Kostituzzjonali (Erste Kammer des Zivilgerichts als Verfassungsgericht, Malta) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.

Ist davon auszugehen, dass Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und Art. 47 der Charta, sei es separat oder in Verbindung miteinander gelesen, in Bezug auf die Rechtsgültigkeit der Art. 96, 96A und 100 der Verfassung anwendbar sind?

2.

Falls die erste Frage bejaht wird: Ist davon auszugehen, dass die Befugnisse des Premierministers im Verfahren zur Ernennung der Mitglieder der Richterschaft in Malta mit Art. 19 Abs. 1 EUV und Art. 47 der Charta, auch unter Berücksichtigung des 2016 in Kraft getretenen Art. 96A der Verfassung, im Einklang stehen?

3.

Falls die Befugnisse des Premierministers für nicht vereinbar befunden werden: Ist diese Tatsache bei künftigen Ernennungen zu berücksichtigen oder betrifft sie auch bisherige Ernennungen?

Antrag auf beschleunigtes Verfahren und Verfahren vor dem Gerichtshof

16

In ihrer Vorlageentscheidung hat die Prim’Awla tal-Qorti Ċivili – Ġurisdizzjoni Kostituzzjonali (Erste Kammer des Zivilgerichts als Verfassungsgericht) beantragt, das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen gemäß Art. 105 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs einem beschleunigten Verfahren zu unterwerfen.

17

Zur Stützung seines Antrags hat das vorlegende Gericht im Wesentlichen geltend gemacht, dass die Fragen, um die es in der vorliegenden Rechtssache gehe, von nationalem Interesse seien, da ihre Beantwortung sowohl die Rechtssicherheit in Bezug auf gerichtliche Entscheidungen, die bereits von verschiedenen maltesischen Gerichten, darunter auch von den im April 2019 ernannten Richtern, erlassen worden seien, als auch die Grundlagen und die Kontinuität des maltesischen Gerichtssystems beeinträchtigen könne. Hinzu komme, dass in naher Zukunft mehrere Richter das Ruhestandsalter erreichten und während des vorliegenden Verfahrens, wenn diese Richter nicht durch andere ersetzt würden, der aus dieser Situation entstehende Druck auf die Tätigkeit der im Amt verbleibenden Richter sich als nachteilig für das Grundrecht auf ein faires Verfahren innerhalb angemessener Frist erweisen könnte.

18

Art. 105 Abs. 1 der Verfahrensordnung sieht vor, dass der Präsident des Gerichtshofs auf Antrag des vorlegenden Gerichts oder ausnahmsweise von Amts wegen, nach Anhörung des Berichterstatters und des Generalanwalts, entscheiden kann, eine Vorlage zur Vorabentscheidung einem beschleunigten Verfahren zu unterwerfen, wenn die Art der Rechtssache ihre rasche Erledigung erfordert.

19

Insoweit ist daran zu erinnern, dass ein solches beschleunigtes Verfahren ein Verfahrensinstrument ist, mit dem auf eine außerordentliche Dringlichkeitssituation reagiert werden soll (Urteil vom 2. März 2021, A.B. u. a. [Ernennung von Richtern am Obersten Gericht – Rechtsbehelf], C‑824/18, EU:C:2021:153, Rn. 48).

20

Außerdem geht aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs auch hervor, dass das beschleunigte Verfahren keine Anwendung finden kann, wenn die Sensibilität und die Komplexität der durch einen Fall aufgeworfenen rechtlichen Fragen kaum mit der Anwendung des beschleunigten Verfahrens zu vereinbaren sind, insbesondere, wenn es nicht angebracht erscheint, das schriftliche Verfahren vor dem Gerichtshof zu verkürzen (Urteil vom 2. März 2021, A.B. u. a. [Ernennung von Richtern am Obersten Gericht – Rechtsbehelf], C‑824/18, EU:C:2021:153, Rn. 49).

21

Im vorliegenden Fall hat der Präsident des Gerichtshofs am 19. Dezember 2019 nach Anhörung der Berichterstatterin und des Generalanwalts entschieden, den in Rn. 16 des vorliegenden Urteils genannten Antrag des vorlegenden Gerichts zurückzuweisen.

22

Erstens ist das vorlegende Gericht nämlich selbst davon ausgegangen, dass das Ausgangsverfahren nicht so dringlich sei, dass es den Erlass einstweiliger Anordnungen rechtfertige. Zweitens ist die Erheblichkeit der Auswirkungen auf das maltesische Justizsystem, die das Urteil des Gerichtshofs in der vorliegenden Rechtssache haben könnte, als solche kein Grund, aus dem sich die für eine beschleunigte Behandlung erforderliche Dringlichkeit ergibt. Drittens wirft die vorliegende Rechtssache sensible und komplexe Fragen auf, die es gerechtfertigt haben, nicht von den gewöhnlichen Verfahrensvorschriften über Vorabentscheidungsersuchen abzuweichen.

23

Am selben Tag hat der Präsident des Gerichtshofs auch entschieden, die vorliegende Rechtssache gemäß Art. 53 Abs. 3 der Verfahrensordnung mit Vorrang zu behandeln.

24

In der mündlichen Verhandlung am 27. Oktober 2020 ist dem Gerichtshof mitgeteilt worden, dass im Juli 2020 im Anschluss an die von der Venedig-Kommission in der Stellungnahme Nr. 940/2018 vom 17. Dezember 2018 formulierten Empfehlungen zum System der Ernennungen im Justizwesen bestimmte Verfassungsänderungen erfolgt seien und diese Änderungen Gegenstand der Stellungnahme Nr. 993/2020 dieser Kommission vom 8. Oktober 2020 über die zehn Gesetze und Gesetzentwürfe zur Umsetzung der in der Stellungnahme der Venedig-Kommission vom 17. Dezember 2018 genannten Legislativvorschläge (CDL-AD [2020]019) gewesen seien.

Zu den Vorlagefragen

Zur Zulässigkeit

25

Die polnische Regierung hält die Vorlagefragen aus zwei Gründen für unzulässig.

26

Als Erstes gibt sie zu bedenken, dass das vorlegende Gericht seine Vorlagefragen dem Gerichtshof unterbreitet habe, damit es nach Maßgabe der Antworten auf diese Fragen über die Vereinbarkeit der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Bestimmungen des maltesischen Rechts mit dem Unionsrecht entscheiden könne. Für die Beurteilung der Vereinbarkeit nationaler Rechtsvorschriften mit dem Unionsrecht nach den Art. 258 und 259 AEUV sei jedoch allein der Gerichtshof zuständig, nicht die nationalen Gerichte, und nur die Europäische Kommission oder ein Mitgliedstaat könnten nach diesen unionsrechtlichen Bestimmungen ein Verfahren anstrengen. Folglich dürfe ein nationales Gericht, da andernfalls das in den Art. 258 und 259 AEUV vorgesehene Verfahren umgangen würde, nicht über die Vereinbarkeit nationalen Rechts mit dem Unionsrecht entscheiden, indem es sich auf die im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens vorgenommene Auslegung des Unionsrechts stütze, da sich ja der Gerichtshof selbst nicht als zuständig ansehe, im Vorabentscheidungsverfahren eine solche Konformitätskontrolle vorzunehmen. Die Auslegung des Unionsrechts durch den Gerichtshof im Rahmen des vorliegenden Verfahrens könne daher nicht als für die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits erforderlich im Sinne von Art. 267 AEUV angesehen werden.

27

Hierzu ist festzustellen, dass das vorlegende Gericht, wie sich aus dem Vorabentscheidungsersuchen ergibt, eine Auslegung von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und Art. 47 der Charta durch den Gerichtshof für geboten hält, und zwar im Hinblick auf seine im Rahmen einer Popularklage, die bei ihm nach nationalem Recht erhoben wurde, bestehenden Zweifel daran, ob die nationalen Vorschriften über das Richterernennungsverfahren mit diesen Bestimmungen des Unionsrechts vereinbar sind.

28

Das durch Art. 267 AEUV eingerichtete Vorabentscheidungsverfahren stellt aber gerade ein Verfahren des unmittelbaren Zusammenwirkens des Gerichtshofs und der Gerichte der Mitgliedstaaten dar. Im Rahmen dieses Verfahrens, das auf einer klaren Aufgabentrennung zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof beruht, fällt jede Beurteilung des Sachverhalts in die Zuständigkeit des nationalen Gerichts, das im Hinblick auf die Besonderheiten der Rechtssache sowohl die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung für den Erlass seines Urteils als auch die Erheblichkeit der dem Gerichtshof vorzulegenden Fragen zu beurteilen hat, während der Gerichtshof nur befugt ist, sich auf der Grundlage des ihm vom nationalen Gericht unterbreiteten Sachverhalts zur Auslegung oder zur Gültigkeit einer Unionsvorschrift zu äußern (Urteile vom 25. Oktober 2017, Polbud – Wykonawstwo, C‑106/16, EU:C:2017:804, Rn. 27, und vom 30. Mai 2018, Dell’Acqua,C‑370/16, EU:C:2018:344, Rn. 31).

29

Insoweit ist die Aufgabe des Gerichtshofs danach zu unterscheiden, ob er mit einem Vorabentscheidungsersuchen, wie im vorliegenden Fall, oder mit einer Vertragsverletzungsklage befasst ist. Während der Gerichtshof nämlich im Rahmen einer Vertragsverletzungsklage prüfen muss, ob die von der Kommission oder einem anderen als dem betroffenen Mitgliedstaat beanstandete nationale Maßnahme oder Praxis allgemein und ohne dass diesbezüglich ein Rechtsstreit vor die nationalen Gerichte gebracht zu werden braucht, dem Unionsrecht zuwiderläuft, besteht die Aufgabe des Gerichtshofs in einem Vorabentscheidungsverfahren dagegen darin, das vorlegende Gericht bei der Entscheidung des konkret bei ihm anhängigen Rechtsstreits zu unterstützen (Urteil vom 26. März 2020, Miasto Łowicz und Prokurator Generalny, C‑558/18 und C‑563/18, EU:C:2020:234, Rn. 47).

30

Ferner ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof, auch wenn es nicht seine Sache ist, im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens die Vereinbarkeit nationalen Rechts mit dem Unionsrecht zu beurteilen, gleichwohl befugt ist, dem vorlegenden Gericht alle Hinweise zur Auslegung des Unionsrechts zu geben, die es diesem ermöglichen, für die Entscheidung der bei ihm anhängigen Rechtssache über die Frage der Vereinbarkeit zu befinden (Urteil vom 26. Januar 2010, Transportes Urbanos y Servicios Generales,C‑118/08, EU:C:2010:39, Rn. 23 und die dort angeführte Rechtsprechung). Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, eine solche Beurteilung im Licht der vom Gerichtshof gegebenen Auslegungshinweise vorzunehmen.

31

Folglich ist der in Rn. 26 des vorliegenden Urteils dargelegte Einwand der polnischen Regierung, dass eine nach Art. 267 AEUV erfolgende Beantwortung der vom vorlegenden Gericht in der vorliegenden Rechtssache gestellten Fragen die Art. 258 und 259 AEUV umginge, zurückzuweisen.

32

Als Zweites führt die polnische Regierung aus, dass Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV, wonach die Mitgliedstaaten wirksame Rechtsbehelfe in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen schaffen müssten, weder die Substanz des Grundsatzes der begrenzten Einzelermächtigung noch den Umfang der Zuständigkeiten der Union modifiziere. Dieser Bestimmung liege vielmehr die Prämisse zugrunde, dass es, mangels einer Kompetenz der Union für die Organisation der Justizsysteme, Sache der Mitgliedstaaten sei, die zuständigen Gerichte zu benennen und angemessene Verfahrensregeln vorzusehen, die den Schutz der aus der Unionsrechtsordnung abgeleiteten Individualrechte bezweckten. Folglich ließen sich aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV keine spezifischen Regeln für die Ernennung von Richtern oder die Organisation der nationalen Gerichtsbarkeit ableiten. Art. 47 der Charta wiederum sei im vorliegenden Fall unanwendbar. Repubblika habe nämlich eine Popularklage erhoben, ohne sich auf ein aus dem Unionsrecht abgeleitetes subjektives Recht zu berufen. Daher liege keine „Durchführung“ des Unionsrechts im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta vor.

33

Hierzu genügt der Hinweis, dass diese von der polnischen Regierung vorgebrachten Einwände im Wesentlichen die Tragweite des Unionsrechts, insbesondere von Art. 19 EUV und Art. 47 der Charta, und damit die Auslegung dieser Bestimmungen betreffen. Ein solches Vorbringen bezieht sich also auf die inhaltliche Prüfung der vorgelegten Fragen und kann daher schon seinem Wesen nach nicht dazu führen, dass die Fragen als unzulässig anzusehen wären (Urteil vom 2. März 2021, A.B. u. a. [Ernennung von Richtern am Obersten Gericht – Rechtsbehelf], C‑824/18, EU:C:2021:153, Rn. 80).

34

Folglich sind die Vorlagefragen zulässig.

Zur ersten Frage

35

Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und Art. 47 der Charta dahin auszulegen sind, dass sie in einer Rechtssache Anwendung finden können, in der ein nationales Gericht mit einer im nationalen Recht vorgesehenen Klage befasst ist, die darauf gerichtet ist, dass dieses Gericht darüber entscheidet, ob bestimmte nationale Vorschriften über das Verfahren zur Ernennung der Richter des Mitgliedstaats, dem dieses Gericht angehört, mit dem Unionsrecht vereinbar sind.

36

Zunächst ist zum sachlichen Anwendungsbereich von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV darauf hinzuweisen, dass diese Bestimmung „in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen“ Anwendung findet, ohne dass es insoweit darauf ankäme, in welchem Kontext die Mitgliedstaaten Unionsrecht im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta durchführen (Urteile vom 27. Februar 2018, Associação Sindical dos Juízes Portugueses,C‑64/16, EU:C:2018:117, Rn. 29, sowie vom 2. März 2021, A.B. u. a. [Ernennung von Richtern am Obersten Gericht – Rechtsbehelf], C‑824/18, EU:C:2021:153, Rn. 111 und die dort angeführte Rechtsprechung).

37

Somit hat jeder Mitgliedstaat gemäß Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV u. a. dafür zu sorgen, dass Einrichtungen, die als „Gerichte“ im Sinne des Unionsrechts Bestandteil seines Rechtsbehelfssystems in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen sind und daher möglicherweise in dieser Eigenschaft über die Anwendung oder Auslegung des Unionsrechts entscheiden, den Anforderungen an einen wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz gerecht werden (Urteil vom 2. März 2021, A.B. u. a. [Ernennung von Richtern am Obersten Gericht – Rechtsbehelf], C‑824/18, EU:C:2021:153, Rn. 112 und die dort angeführte Rechtsprechung).

38

Insoweit steht außer Frage, dass die maltesischen Richter zur Entscheidung über Fragen im Zusammenhang mit der Anwendung oder der Auslegung des Unionsrechts angerufen werden können und dass sie als „Gerichte“ im Sinne des Unionsrechts Bestandteil des maltesischen Rechtsbehelfssystems in den „vom Unionsrecht erfassten Bereichen“ im Sinne von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV sind, so dass sie den Anforderungen an einen wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz gerecht werden müssen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 2. März 2021, A.B. u. a. [Ernennung von Richtern am Obersten Gericht – Rechtsbehelf], C‑824/18, EU:C:2021:153, Rn. 114 und die dort angeführte Rechtsprechung).

39

Im Übrigen geht aus dem Vorabentscheidungsersuchen und den Rn. 9 bis 11 des vorliegenden Urteils hervor, dass das vorlegende Gericht mit einer im nationalen Recht vorgesehenen Klage befasst ist, mit der Repubblika in Frage stellt, ob bestimmte Vorschriften über das Verfahren zur Ernennung maltesischer Richter insbesondere mit den unionsrechtlichen Erfordernissen der Unabhängigkeit der Justizsysteme der Mitgliedstaaten vereinbar sind. Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV ist aber im Zusammenhang mit einer Klage anwendbar, mit der auf diese Weise die Unionsrechtskonformität nationaler Rechtsvorschriften in Frage gestellt wird, bezüglich deren geltend gemacht wird, sie seien geeignet, die richterliche Unabhängigkeit zu beeinträchtigen (vgl. entsprechend Urteil vom 27. Februar 2018, Associação Sindical dos Juízes Portugueses,C‑64/16, EU:C:2018:117, Rn. 11 bis 13 und 46 bis 52).

40

Sodann ist in Bezug auf Art. 47 der Charta darauf hinzuweisen, dass nach dieser Bestimmung, die eine Bekräftigung des Grundsatzes des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes darstellt, jede Person, deren durch das Recht der Union garantierte Rechte oder Freiheiten verletzt worden sind, das Recht hat, bei einem Gericht einen wirksamen Rechtsbehelf einzulegen (Urteile vom 27. Juni 2013, Agrokonsulting-04, C‑93/12, EU:C:2013:432, Rn. 59, sowie vom 2. März 2021, A.B. u. a. [Ernennung von Richtern am Obersten Gericht – Rechtsbehelf], C‑824/18, EU:C:2021:153, Rn. 87 und die dort angeführte Rechtsprechung).

41

Somit setzt die Anerkennung dieses Rechts in einem bestimmten Einzelfall nach Art. 47 Abs. 1 der Charta voraus, dass sich die Person, die es geltend macht, auf durch das Recht der Union garantierte Rechte oder Freiheiten beruft (Urteile vom 6. Oktober 2020, Luxemburgischer Staat [Rechtsbehelf gegen ein Auskunftsersuchen in Steuersachen], C‑245/19 und C‑246/19, EU:C:2020:795, Rn. 55, sowie vom 2. März 2021, A.B. u. a. [Ernennung von Richtern am Obersten Gericht – Rechtsbehelf], C‑824/18, EU:C:2021:153, Rn. 88).

42

Aus den Angaben in der Vorlageentscheidung geht jedoch nicht hervor, dass sich Repubblika im Ausgangsrechtsstreit auf ein Recht beriefe, das ihr selbst aufgrund einer Bestimmung des Unionsrechts zustünde. Vielmehr geht es in diesem Rechtsstreit darum, ob die Verfassungsbestimmungen über die Ernennung von Richtern mit dem Unionsrecht vereinbar sind.

43

Zwar stellt Repubblika auch die Rechtmäßigkeit der Ernennungen vom 25. April 2019 sowie jeder etwaigen späteren Ernennung in Abrede, die mit den Empfehlungen in der Stellungnahme Nr. 940/2018 der Venedig-Kommission vom 17. Dezember 2018 sowie mit Art. 19 Abs. 1 EUV und Art. 47 der Charta unvereinbar sein sollte. Jedoch sind die Beanstandungen von Repubblika insoweit nur darauf gestützt, dass die genannten Verfassungsbestimmungen, auf deren Grundlage diese Ernennungen beschlossen wurden, mit dem Unionsrecht unvereinbar seien, ohne dass Repubblika irgendeine aus diesen Ernennungen resultierende Verletzung eines Rechts geltend machte, das ihr selbst aufgrund einer Bestimmung des Unionsrechts zustünde.

44

Unter diesen Umständen ist gemäß Art. 51 Abs. 1 der Charta deren Art. 47 als solcher auf den Ausgangsrechtsstreit nicht anwendbar.

45

Da Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV jedoch alle Mitgliedstaaten verpflichtet, die erforderlichen Rechtsbehelfe zu schaffen, damit in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen ein wirksamer Rechtsschutz insbesondere im Sinne von Art. 47 der Charta gewährleistet ist, ist letztere Bestimmung bei der Auslegung von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV gebührend zu berücksichtigen (Urteile vom 14. Juni 2017, Online Games u. a., C‑685/15, EU:C:2017:452, Rn. 54, sowie vom 2. März 2021, A.B. u. a. [Ernennung von Richtern am Obersten Gericht – Rechtsbehelf], C‑824/18, EU:C:2021:153, Rn. 143 und die dort angeführte Rechtsprechung).

46

Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV dahin auszulegen ist, dass er in einer Rechtssache Anwendung finden kann, in der ein nationales Gericht mit einer im nationalen Recht vorgesehenen Klage befasst ist, die darauf gerichtet ist, dass dieses Gericht darüber entscheidet, ob bestimmte nationale Vorschriften über das Verfahren zur Ernennung der Richter des Mitgliedstaats, dem dieses Gericht angehört, mit dem Unionsrecht vereinbar sind. Bei der Auslegung dieser Bestimmung ist Art. 47 der Charta gebührend zu berücksichtigen.

Zur zweiten Frage

47

Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV dahin auszulegen ist, dass er nationalen Bestimmungen entgegensteht, die dem Premierminister des betreffenden Mitgliedstaats eine entscheidende Befugnis im Richterernennungsverfahren einräumen, aber auch vorsehen, dass in diesem Verfahren ein Gremium tätig wird, das namentlich damit betraut ist, die Richteramtskandidaten zu beurteilen und dem Premierminister eine Stellungnahme zu übermitteln.

48

Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass zwar die Organisation der Justiz in den Mitgliedstaaten in deren Zuständigkeit fällt, die Mitgliedstaaten bei der Ausübung dieser Zuständigkeit jedoch die Verpflichtungen einzuhalten haben, die sich für sie aus dem Unionsrecht ergeben. Dies kann insbesondere dann der Fall sein, wenn es sich um nationale Vorschriften über den Erlass von Entscheidungen über die Ernennung von Richtern handelt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 2. März 2021, A.B. u. a. [Ernennung von Richtern am Obersten Gericht – Rechtsbehelf], C‑824/18, EU:C:2021:153, Rn. 68 und die dort angeführte Rechtsprechung sowie Rn. 79).

49

Art. 19 EUV überträgt den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof die Aufgabe, die volle Anwendung des Unionsrechts in allen Mitgliedstaaten sowie den gerichtlichen Schutz, der den Einzelnen aus diesem Recht erwächst, zu gewährleisten (Urteil vom 2. März 2021, A.B. u. a. [Ernennung von Richtern am Obersten Gericht – Rechtsbehelf], C‑824/18, EU:C:2021:153, Rn. 108).

50

Insoweit ist es, wie in Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV vorgesehen, Sache der Mitgliedstaaten, ein System von Rechtsbehelfen und Verfahren vorzusehen, das eine wirksame gerichtliche Kontrolle in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen gewährleistet, und dafür zu sorgen, dass die zu diesem System gehörenden Gerichte, die möglicherweise über die Anwendung oder Auslegung des Unionsrechts entscheiden, den Anforderungen an einen wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz gerecht werden (Urteil vom 2. März 2021, A.B. u. a. [Ernennung von Richtern am Obersten Gericht – Rechtsbehelf], C‑824/18, EU:C:2021:153, Rn. 109 und 112 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

51

In diesem Zusammenhang ist die Unabhängigkeit der Richter der Mitgliedstaaten aus verschiedenen Gründen für die Rechtsordnung der Union von fundamentaler Bedeutung (Urteil vom 9. Juli 2020, Land Hessen,C‑272/19, EU:C:2020:535, Rn. 45). So ist sie essenziell für das reibungslose Funktionieren des Systems der justiziellen Zusammenarbeit, das durch den Mechanismus des Vorabentscheidungsersuchens gemäß Art. 267 AEUV verkörpert wird, da die Vorlageberechtigung von Einrichtungen, die mit der Anwendung des Unionsrechts betraut sind, u. a. daran geknüpft ist, dass sie unabhängig sind (vgl. u. a. Urteil vom 21. Januar 2020, Banco de Santander, C‑274/14, EU:C:2020:17, Rn. 56 und die dort angeführte Rechtsprechung). Im Übrigen gehört das Erfordernis der Unabhängigkeit der Gerichte, das dem Auftrag des Richters inhärent ist, zum Wesensgehalt des in Art. 47 der Charta vorgesehenen Grundrechts auf wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz und auf ein faires Verfahren, dem als Garant für den Schutz sämtlicher dem Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsender Rechte und für die Wahrung der in Art. 2 EUV genannten Werte, die den Mitgliedstaaten gemeinsam sind, u. a. des Wertes der Rechtsstaatlichkeit, grundlegende Bedeutung zukommt (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 26. März 2020, Überprüfung Simpson/Rat und HG/Kommission, C‑542/18 RX‑II und C‑543/18 RX‑II, EU:C:2020:232, Rn. 70 und 71, sowie vom 2. März 2021, A.B. u. a. [Ernennung von Richtern am Obersten Gericht – Rechtsbehelf], C‑824/18, EU:C:2021:153, Rn. 116 und die dort angeführte Rechtsprechung).

52

Während also Art. 47 der Charta zur Wahrung des Rechts auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz jedes Einzelnen beiträgt, der sich in einem bestimmten Fall auf ein Recht beruft, das er aus dem Unionsrecht herleitet, soll Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV seinerseits sicherstellen, dass das von jedem Mitgliedstaat eingerichtete Rechtsbehelfssystem einen wirksamen Rechtsschutz in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen gewährleistet.

53

Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs setzen die nach dem Unionsrecht erforderlichen Garantien der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit voraus, dass es Regeln insbesondere für die Zusammensetzung der Einrichtung, die Ernennung, die Amtsdauer und die Gründe für Enthaltung, Ablehnung und Abberufung ihrer Mitglieder gibt, die es ermöglichen, bei den Rechtsunterworfenen jeden berechtigten Zweifel an der Unempfänglichkeit dieser Einrichtung für äußere Faktoren und an ihrer Neutralität in Bezug auf die widerstreitenden Interessen auszuräumen (Urteile vom 19. September 2006, Wilson, C‑506/04, EU:C:2006:587, Rn. 53, vom 25. Juli 2018, Minister for Justice and Equality [Mängel des Justizsystems], C‑216/18 PPU, EU:C:2018:586, Rn. 66, sowie vom 2. März 2021, A.B. u. a. [Ernennung von Richtern am Obersten Gericht – Rechtsbehelf], C‑824/18, EU:C:2021:153, Rn. 117 und die dort angeführte Rechtsprechung).

54

Nach dem für einen Rechtsstaat kennzeichnenden Grundsatz der Gewaltenteilung ist die Unabhängigkeit der Gerichte insbesondere gegenüber der Legislative und der Exekutive zu gewährleisten (Urteile vom 19. November 2019, A. K. u. a. [Unabhängigkeit der Disziplinarkammer des Obersten Gerichts], C‑585/18, C‑624/18 und C‑625/18, EU:C:2019:982, Rn. 124, sowie vom 2. März 2021, A.B. u. a. [Ernennung von Richtern am Obersten Gericht – Rechtsbehelf], C‑824/18, EU:C:2021:153, Rn. 118).

55

Dafür sind die Richter vor Interventionen oder Druck von außen, die ihre Unabhängigkeit gefährden könnten, zu schützen. Die in Rn. 53 des vorliegenden Urteils angeführten Regeln müssen es insbesondere ermöglichen, nicht nur jede Form der unmittelbaren Einflussnahme in Form von Weisungen auszuschließen, sondern auch die Formen der mittelbaren Einflussnahme, die zur Steuerung der Entscheidungen der betreffenden Richter geeignet sein könnten (Urteile vom 24. Juni 2019, Kommission/Polen [Unabhängigkeit des Obersten Gerichts], C‑619/18, EU:C:2019:531, Rn. 112, sowie vom 2. März 2021, A.B. u. a. [Ernennung von Richtern am Obersten Gericht – Rechtsbehelf], C‑824/18, EU:C:2021:153, Rn. 119).

56

Was speziell die Bedingungen betrifft, unter denen Entscheidungen über die Ernennung von Richtern ergehen, hat der Gerichtshof bereits klarstellen können, dass der bloße Umstand, dass die betreffenden Richter vom Präsidenten eines Mitgliedstaats ernannt werden, keine Abhängigkeit dieser Richter von ihm schaffen oder Zweifel an ihrer Unparteilichkeit aufkommen lassen kann, wenn sie nach ihrer Ernennung keinem Druck ausgesetzt sind und bei der Ausübung ihres Amtes keinen Weisungen unterliegen (Urteile vom 19. November 2019, A. K. u. a. [Unabhängigkeit der Disziplinarkammer des Obersten Gerichts], C‑585/18, C‑624/18 und C‑625/18, EU:C:2019:982, Rn. 133, sowie vom 2. März 2021, A.B. u. a. [Ernennung von Richtern am Obersten Gericht – Rechtsbehelf], C‑824/18, EU:C:2021:153, Rn. 122).

57

Der Gerichtshof hat jedoch auch darauf hingewiesen, dass sicherzustellen ist, dass die materiellen Voraussetzungen und die Verfahrensmodalitäten für den Erlass der Ernennungsentscheidungen so beschaffen sind, dass sie bei den Rechtsunterworfenen, sind die betreffenden Richter erst einmal ernannt, keine berechtigten Zweifel an deren Unempfänglichkeit für äußere Faktoren und an ihrer Neutralität in Bezug auf die widerstreitenden Interessen aufkommen lassen, und dass dafür die genannten Voraussetzungen und Modalitäten u. a. so ausgestaltet sein müssen, dass sie den in Rn. 55 des vorliegenden Urteils genannten Anforderungen genügen (Urteile vom 19. November 2019, A. K. u. a. [Unabhängigkeit der Disziplinarkammer des Obersten Gerichts], C‑585/18, C‑624/18 und C‑625/18, EU:C:2019:982, Rn. 134 und 135, sowie vom 2. März 2021, A.B. u. a. [Ernennung von Richtern am Obersten Gericht – Rechtsbehelf], C‑824/18, EU:C:2021:153, Rn. 123).

58

Im vorliegenden Fall betreffen die Zweifel, die das vorlegende Gericht im Hinblick auf Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV hegt, im Wesentlichen die nationalen Vorschriften, die dem Premierminister des betreffenden Mitgliedstaats eine entscheidende Befugnis im Richterernennungsverfahren einräumen, aber auch vorsehen, dass in diesem Verfahren ein Gremium tätig wird, das namentlich damit betraut ist, die Richteramtskandidaten zu beurteilen und dem Premierminister eine Stellungnahme zu übermitteln.

59

Hierzu ist als Erstes festzustellen, dass die Verfassungsbestimmungen über die Richterernennung, wie sich aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten ergibt, von ihrem Erlass im Jahr 1964 bis zur Verfassungsreform von 2016, mit der der in Art. 96A der Verfassung genannte Ausschuss für Ernennungen im Justizwesen eingerichtet wurde, unverändert geblieben sind. Vor dieser Reform waren die Befugnisse des Premierministers nur durch das Erfordernis beschränkt, dass die Richteramtskandidaten die in der Verfassung vorgesehenen Voraussetzungen erfüllen mussten, um für ein solches Amt in Betracht zu kommen.

60

Auf der Grundlage der vor dieser Reform geltenden Verfassungsbestimmungen ist die Republik Malta gemäß Art. 49 EUV der Union beigetreten.

61

Nach diesem Art. 49, wonach jeder europäische Staat beantragen kann, Mitglied der Union zu werden, besteht die Union aus Staaten, die die in Art. 2 EUV genannten Werte von sich aus und freiwillig übernommen haben, diese achten und sich für deren Förderung einsetzen.

62

Aus Art. 2 EUV geht insbesondere hervor, dass sich die Union auf Werte wie die Rechtsstaatlichkeit gründet, die allen Mitgliedstaaten in einer Gesellschaft, die sich u. a. durch Gerechtigkeit auszeichnet, gemeinsam sind. Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass das gegenseitige Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten und insbesondere zwischen deren Gerichten auf der Prämisse beruht, dass die Mitgliedstaaten eine Reihe gemeinsamer Werte teilen, auf die sich, wie es im genannten Artikel heißt, die Union gründet (vgl. in diesem Sinne Gutachten 2/13 [Beitritt der Union zur EMRK] vom 18. Dezember 2014, EU:C:2014:2454, Rn. 168, und Urteil vom 27. Februar 2018, Associação Sindical dos Juízes Portugueses, C‑64/16, EU:C:2018:117, Rn. 30).

63

Daraus folgt, dass die Achtung der in Art. 2 EUV verankerten Werte durch einen Mitgliedstaat eine Voraussetzung für den Genuss aller Rechte ist, die sich aus der Anwendung der Verträge auf diesen Mitgliedstaat ergeben. Ein Mitgliedstaat darf daher seine Rechtsvorschriften nicht dergestalt ändern, dass der Schutz des Wertes der Rechtsstaatlichkeit vermindert wird, eines Wertes, der namentlich durch Art. 19 EUV konkretisiert wird (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 2. März 2021, A.B. u. a. [Ernennung von Richtern am Obersten Gericht – Rechtsbehelf], C‑824/18, EU:C:2021:153, Rn. 108).

64

Die Mitgliedstaaten müssen somit dafür Sorge tragen, dass sie jeden nach Maßgabe dieses Wertes eintretenden Rückschritt in ihren Rechtsvorschriften über die Organisation der Justiz vermeiden, indem sie davon absehen, Regeln zu erlassen, die die richterliche Unabhängigkeit untergraben würden (vgl. entsprechend Urteil vom 17. Dezember 2020, Openbaar Ministerie [Unabhängigkeit der ausstellenden Justizbehörde], C‑354/20 PPU und C‑412/20 PPU, EU:C:2020:1033, Rn. 40).

65

In diesem Zusammenhang hat der Gerichtshof bereits der Sache nach entschieden, dass Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV dahin auszulegen ist, dass er nationalen Vorschriften über die Organisation der Justiz entgegensteht, die eine Verminderung des Schutzes des Wertes der Rechtsstaatlichkeit im betreffenden Mitgliedstaat, insbesondere eine Verminderung der Garantien für die richterliche Unabhängigkeit, darstellen können (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 19. November 2019, A. K. u. a. [Unabhängigkeit der Disziplinarkammer des Obersten Gerichts], C‑585/18, C‑624/18 und C‑625/18, EU:C:2019:982, sowie vom 2. März 2021, A.B. u. a. [Ernennung von Richtern am Obersten Gericht – Rechtsbehelf], C‑824/18, EU:C:2021:153).

66

Dagegen kann die Beteiligung eines Gremiums wie des Ausschusses für Ernennungen im Justizwesen, der im Zuge der Verfassungsreform von 2016 durch Art. 96A der Verfassung eingerichtet wurde, im Richterernennungsverfahren grundsätzlich zur Objektivierung dieses Verfahrens beitragen, indem sie den Handlungsspielraum des Premierministers bei der Ausübung der ihm in diesem Bereich übertragenen Befugnisse einschränkt. Allerdings muss ein solches Gremium selbst von der Legislative und der Exekutive sowie von dem Organ, dem es eine Stellungnahme über die Beurteilung der Richteramtskandidaten übermitteln soll, hinreichend unabhängig sein (vgl. entsprechend Urteile vom 19. November 2019, A. K. u. a. [Unabhängigkeit der Disziplinarkammer des Obersten Gerichts], C‑585/18, C‑624/18 und C‑625/18, EU:C:2019:982, Rn. 137 und 138, sowie vom 2. März 2021, A.B. u. a. [Ernennung von Richtern am Obersten Gericht – Rechtsbehelf], C‑824/18, EU:C:2021:153, Rn. 124 und 125).

67

Im vorliegenden Fall erscheint eine Reihe von Vorschriften, die das vorlegende Gericht anführt, geeignet, die Unabhängigkeit des Ausschusses für Ernennungen im Justizwesen gegenüber der Legislative und der Exekutive zu gewährleisten. Dies gilt für die in Art. 96A Abs. 1 bis 3 der Verfassung enthaltenen Vorschriften über die Zusammensetzung dieses Ausschusses und das Verbot für politisch aktive Personen, dem Ausschuss anzugehören, sowie für die den Ausschussmitgliedern durch Art. 96A Abs. 4 der Verfassung auferlegte Pflicht, vollkommen unabhängig und ohne Weisung oder Kontrolle durch irgendeine Person oder Stelle zu handeln, und für die Pflicht des Ausschusses, im Einvernehmen mit dem Justizminister die Kriterien, nach denen er seine Beurteilungen vornimmt, zu veröffentlichen, was im Übrigen geschehen ist, wie der Generalanwalt in Nr. 91 seiner Schlussanträge festgestellt hat.

68

Im Übrigen hat das vorlegende Gericht in der vorliegenden Rechtssache hinsichtlich der Voraussetzungen, unter denen die Mitglieder des durch Art. 96A der Verfassung eingerichteten Ausschusses für Ernennungen im Justizwesen bestellt wurden, oder hinsichtlich der Art und Weise, in der dieser Ausschuss seine Rolle konkret erfüllt, keine Zweifel geäußert.

69

Somit ist davon auszugehen, dass die durch Art. 96A der Verfassung erfolgte Einrichtung des Ausschusses für Ernennungen im Justizwesen die Garantie der richterlichen Unabhängigkeit stärkt.

70

Als Zweites ist festzustellen, dass, wie insbesondere die Kommission hervorhebt, der Premierminister zwar nach den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Bestimmungen über eine ihm fest zugeschriebene Befugnis bei der Richterernennung verfügt, die Ausübung dieser Befugnis jedoch durch die von den Richteramtskandidaten zu erfüllenden Voraussetzungen in Bezug auf Berufserfahrung eingegrenzt wird; diese Voraussetzungen sind in Art. 96 Abs. 2 und Art. 100 Abs. 2 der Verfassung vorgesehen.

71

Im Übrigen trifft es zwar zu, dass der Premierminister beschließen kann, dem Präsidenten der Republik die Ernennung eines Kandidaten zu unterbreiten, der nicht von dem durch Art. 96A der Verfassung eingerichteten Ausschuss für Ernennungen im Justizwesen vorgeschlagen wurde, doch ist er in einem solchen Fall gemäß Art. 96 Abs. 4 und Art. 100 Abs. 6 der Verfassung verpflichtet, seine Gründe dem Repräsentantenhaus und, außer in Bezug auf die Ernennung des Obersten Richters, mittels einer Erklärung in der Gazzetta tal-Gvern ta’ Malta der Öffentlichkeit mitzuteilen. Soweit der Premierminister von dieser Befugnis nur ganz ausnahmsweise Gebrauch macht und die Begründungspflicht strikt und effektiv einhält, ist diese Befugnis nicht geeignet, berechtigte Zweifel an der Unabhängigkeit der ausgewählten Kandidaten zu wecken.

72

Unter Berücksichtigung all dieser Gesichtspunkte ist nicht ersichtlich, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Bestimmungen über die Richterernennung als solche geeignet wären, bei den Rechtsunterworfenen berechtigte Zweifel an der Unempfänglichkeit der ernannten Richter für äußere Faktoren, insbesondere für unmittelbare oder mittelbare Einflussnahmen durch die Legislative und die Exekutive, und an ihrer Neutralität in Bezug auf die widerstreitenden Interessen aufkommen zu lassen, und dass diese Bestimmungen daher dazu führen könnten, dass diese Richter nicht den Eindruck vermitteln, unabhängig und unparteiisch zu sein, wodurch das Vertrauen beeinträchtigt werden könnte, das die Justiz in einer demokratischen Gesellschaft und in einem Rechtsstaat bei den Rechtsunterworfenen schaffen muss.

73

Nach alledem ist auf die zweite Frage zu antworten, dass Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV dahin auszulegen ist, dass er nationalen Bestimmungen, die dem Premierminister des betreffenden Mitgliedstaats eine entscheidende Befugnis im Richterernennungsverfahren einräumen, aber auch vorsehen, dass in diesem Verfahren ein unabhängiges Gremium tätig wird, das namentlich damit betraut ist, die Richteramtskandidaten zu beurteilen und dem Premierminister eine Stellungnahme zu übermitteln, nicht entgegensteht.

Zur dritten Frage

74

Angesichts der Antwort auf die zweite Frage ist die dritte Frage nicht zu beantworten.

Kosten

75

Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt:

 

1.

Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV ist dahin auszulegen, dass er in einer Rechtssache Anwendung finden kann, in der ein nationales Gericht mit einer im nationalen Recht vorgesehenen Klage befasst ist, die darauf gerichtet ist, dass dieses Gericht darüber entscheidet, ob bestimmte nationale Vorschriften über das Verfahren zur Ernennung der Richter des Mitgliedstaats, dem dieses Gericht angehört, mit dem Unionsrecht vereinbar sind. Bei der Auslegung dieser Bestimmung ist Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union gebührend zu berücksichtigen.

 

2.

Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV ist dahin auszulegen, dass er nationalen Bestimmungen, die dem Premierminister des betreffenden Mitgliedstaats eine entscheidende Befugnis im Richterernennungsverfahren einräumen, aber auch vorsehen, dass in diesem Verfahren ein unabhängiges Gremium tätig wird, das namentlich damit betraut ist, die Richteramtskandidaten zu beurteilen und dem Premierminister eine Stellungnahme zu übermitteln, nicht entgegensteht.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Maltesisch.