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Document 62020CO0507

    Beschluss des Gerichtshofs (Sechste Kammer) vom 3. März 2021.
    FGSZ Földgázszállító Zrt. gegen Nemzeti Adó- és Vámhivatal Fellebbviteli Igazgatósága.
    Vorabentscheidungsersuchen des Pécsi Törvényszék.
    Vorlage zur Vorabentscheidung – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem – Richtlinie 2006/112/EG – Art. 90 – Verminderung der Steuerbemessungsgrundlage – Vollständige oder teilweise Nichtbezahlung des Preises – Endgültig uneinbringlich gewordene Forderung – Ausschlussfrist für die Beantragung der nachträglichen Verminderung der Mehrwertsteuerbemessungsgrundlage – Zeitpunkt des Fristbeginns.
    Rechtssache C-507/20.

    ECLI identifier: ECLI:EU:C:2021:157

     BESCHLUSS DES GERICHTSHOFS (Sechste Kammer)

    3. März 2021 ( *1 )

    „Vorlage zur Vorabentscheidung – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem – Richtlinie 2006/112/EG – Art. 90 – Verminderung der Steuerbemessungsgrundlage – Vollständige oder teilweise Nichtbezahlung des Preises – Endgültig uneinbringlich gewordene Forderung – Ausschlussfrist für die Beantragung der nachträglichen Verminderung der Mehrwertsteuerbemessungsgrundlage – Zeitpunkt des Fristbeginns“

    In der Rechtssache C‑507/20

    betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Pécsi Törvényszék (Gerichtshof Pécs, Ungarn) mit Entscheidung vom 17. September 2020, beim Gerichtshof eingegangen am 8. Oktober 2020, in dem Verfahren

    FGSZ Földgázszállító Zrt.

    gegen

    Nemzeti Adó- és Vámhivatal Fellebbviteli Igazgatósága

    erlässt

    DER GERICHTSHOF (Sechste Kammer)

    unter Mitwirkung des Präsidenten der Sechsten Kammer, L. Bay Larsen, der Richterin C. Toader (Berichterstatterin) und des Richters M. Safjan,

    Generalanwältin: J. Kokott,

    Kanzler: A. Calot Escobar,

    aufgrund der nach Anhörung der Generalanwältin ergangenen Entscheidung, gemäß Art. 99 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs durch mit Gründen versehenen Beschluss zu entscheiden,

    folgenden

    Beschluss

    1

    Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 90 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1, im Folgenden: Mehrwertsteuerrichtlinie) in Verbindung mit den Grundsätzen der steuerlichen Neutralität, der Effektivität und der Verhältnismäßigkeit.

    2

    Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der FGSZ Földgázszállító Zrt., einer ungarischen Handelsgesellschaft (im Folgenden: FGSZ), und der Nemzeti Adó- és Vámhivatal Fellebbviteli Igazgatósága (Rechtsbehelfsdirektion der Nationalen Steuer- und Zollverwaltung Ungarns, im Folgenden: Rechtsbehelfsdirektion) wegen der Weigerung der Rechtsbehelfsdirektion, der FGSZ das Recht einzuräumen, die Bemessungsgrundlage für die Mehrwertsteuer um den Betrag der Gegenleistung zu vermindern, den sie infolge der Insolvenz des Schuldners nicht vereinnahmt hat.

    Rechtlicher Rahmen

    Unionsrecht

    3

    Art. 90 der Mehrwertsteuerrichtlinie bestimmt:

    „(1)   Im Falle der Annullierung, der Rückgängigmachung, der Auflösung, der vollständigen oder teilweisen Nichtbezahlung oder des Preisnachlasses nach der Bewirkung des Umsatzes wird die Steuerbemessungsgrundlage unter den von den Mitgliedstaaten festgelegten Bedingungen entsprechend vermindert.

    (2)   Die Mitgliedstaaten können im Falle der vollständigen oder teilweisen Nichtbezahlung von Absatz 1 abweichen.“

    4

    Art. 185 dieser Richtlinie lautet:

    „(1)   Die Berichtigung erfolgt insbesondere dann, wenn sich die Faktoren, die bei der Bestimmung des Vorsteuerabzugsbetrags berücksichtigt werden, nach Abgabe der Mehrwertsteuererklärung geändert haben, zum Beispiel bei rückgängig gemachten Käufen oder erlangten Rabatten.

    (2)   Abweichend von Absatz 1 unterbleibt die Berichtigung bei Umsätzen, bei denen keine oder eine nicht vollständige Zahlung geleistet wurde, in ordnungsgemäß nachgewiesenen oder belegten Fällen von Zerstörung, Verlust oder Diebstahl sowie bei Entnahmen für Geschenke von geringem Wert und Warenmuster im Sinne des Artikels 16.

    Bei Umsätzen, bei denen keine oder eine nicht vollständige Zahlung erfolgt, und bei Diebstahl können die Mitgliedstaaten jedoch eine Berichtigung verlangen.“

    5

    Art. 273 Abs. 1 der Richtlinie bestimmt:

    „Die Mitgliedstaaten können vorbehaltlich der Gleichbehandlung der von Steuerpflichtigen bewirkten Inlandsumsätze und innergemeinschaftlichen Umsätze weitere Pflichten vorsehen, die sie für erforderlich erachten, um eine genaue Erhebung der Steuer sicherzustellen und um Steuerhinterziehung zu vermeiden, sofern diese Pflichten im Handelsverkehr zwischen den Mitgliedstaaten nicht zu Formalitäten beim Grenzübertritt führen.“

    Ungarisches Recht

    6

    Das auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens anwendbare Az adózás rendjéről 2003. évi XCII. törvény (Gesetz Nr. XCII von 2003 über die Abgabenordnung) (Magyar Közlöny 2003/131. [XI. 14., S. 9990]) bestimmt in Art. 4 Abs. 3 Buchst. b im Wesentlichen, dass die Erstattung der Mehrwertsteuer als Haushaltszuwendung zu betrachten ist und daher den auf Haushaltszuwendungen anwendbaren Verjährungsbestimmungen unterliegt.

    7

    Art. 164 Abs. 1 des Gesetzes Nr. XCII von 2003 bestimmt im Wesentlichen, dass das Recht auf Beantragung einer Haushaltszuwendung nach Ablauf einer Frist von fünf Jahren erlischt, beginnend mit dem Jahr, in dem das Recht auf einen solchen Antrag entsteht.

    Ausgangsverfahren und Vorlagefrage

    8

    FGSZ hat ihrer Geschäftspartnerin, der EMFESZ Kft. (im Folgenden: Schuldnerin), zwischen Oktober 2010 und Januar 2011 mehrere Rechnungen inklusive Mehrwertsteuer ausgestellt. Im Laufe des Jahres 2011 hat FGSZ die Mehrwertsteuer für diese Rechnungen bei der Steuerbehörde angemeldet und abgeführt.

    9

    Bevor die genannten Rechnungen beglichen wurden, wurden über das Vermögen der Schuldnerin Insolvenzverfahren eröffnet, darunter das am 28. Januar 2014 vom Fővárosi Törvényszék (Hauptstädtischer Gerichtshof, Ungarn) eröffnete Verfahren. Die sich aus den genannten Rechnungen ergebende Forderung wurde von FGSZ angemeldet und vom Insolvenzverwalter der Schuldnerin am 7. Mai 2018 anerkannt. Am 13. Dezember 2019 stellte der Insolvenzverwalter fest, dass die Forderung uneinbringlich geworden sei.

    10

    Am 19. Dezember 2019 stellte FGSZ einen Antrag auf Erstattung der Mehrwertsteuer für die genannten Rechnungen und auf Zahlung von Verzugszinsen.

    11

    Mit Entscheidung vom 24. Januar 2020 wies die Steuerbehörde erster Instanz diesen Antrag mit der Begründung ab, dass die in den nationalen Rechtsvorschriften vorgesehene Ausschlussfrist von fünf Jahren am 31. Dezember 2016 abgelaufen sei.

    12

    FGSZ legte gegen diese Entscheidung bei der Rechtsbehelfsdirektion ein Rechtsmittel ein, das am 3. März 2020 zurückgewiesen wurde. Die Direktion wies darauf hin, dass Art. 90 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie zwar eine Verminderung der Steuerbemessungsgrundlage vorsehe, wenn – wie im Ausgangsverfahren – die Mehrwertsteuer auf Rechnungen nicht entrichtet werde, dass es jedoch Sache der Mitgliedstaaten sei, die Bedingungen für diese Verminderung festzulegen. In diesem Zusammenhang stellte sie fest, dass die Mitgliedstaaten für die Geltendmachung des Anspruchs auf Verminderung der Bemessungsgrundlage eine Ausschlussfrist vorsehen könnten. Diese Frist müsse ab der Erfüllbarkeit der Zahlungsverpflichtung, also dem in den Rechnungen genannten Datum, zu laufen beginnen.

    13

    FGSZ legte gegen die Entscheidung vom 3. März 2020 beim vorlegenden Gericht einen Rechtsbehelf ein. Sie stützte sich auf die Urteile vom 21. März 2018, Volkswagen (C‑533/16, EU:C:2018:204) und vom 12. April 2018, Biosafe – Indústria de Reciclagens (C‑8/17,EU:C:2018:249), und machte im Wesentlichen geltend, dass die Ausschlussfrist nicht ab Erfüllbarkeit der ursprünglichen Zahlungsverpflichtung zu laufen beginnen dürfe, sondern erst ab dem Zeitpunkt, zu dem die Forderung uneinbringlich werde.

    14

    Da dieser Fall nach Ansicht des Pécsi Törvényszék (Gerichtshof Pécs, Ungarn) Fragen zur Auslegung des Unionsrechts aufwirft, hat er beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

    Ist – insbesondere im Hinblick auf Nr. 63 der Schlussanträge der Generalanwältin Kokott in der Rechtssache C‑8/17, Biosafe – Indústria de Reciclagens (EU:C:2017:927), Rn. 27 des Urteils vom 23. November 2017 in der Rechtssache C‑246/16, Di Maura (EU:C:2017:887), und Rn. 36 des Urteils vom 22. Februar 2018 in der RechtssacheC‑396/16, T‑2 (EU:C:2018:109), sowie im Hinblick darauf, dass der Mitgliedstaat als Mehrwertsteuer keinen höheren Betrag als den erheben darf, den der Lieferer oder Dienstleistungserbringer für eine bestimmte Erfüllung tatsächlich erhalten hat – die Praxis eines Mitgliedstaats, nach der, unter Verweis auf die Ex-tunc-Wirkung der im Fall endgültiger Nichtbezahlung anzuwendenden Verminderung der Steuerbemessungsgrundlage gemäß Art. 90 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie, vorgesehen ist, dass die Ausschlussfrist von fünf Jahren, in der die Verminderung der Bemessungsgrundlage nach den allgemeinen Vorschriften dieses Mitgliedstaats möglich ist, ab dem Zeitpunkt zu laufen beginnt, in dem die Lieferung ursprünglich bewirkt wurde, und nicht ab dem Zeitpunkt, in dem eine bestimmte Forderung uneinbringlich geworden ist, und nach der unter Verweis auf den Ablauf dieser Ausschlussfrist einem gutgläubigen Steuerpflichtigen das ihm mit dem Eintritt der endgültigen Uneinbringlichkeit zustehende Recht, die Steuerbemessungsgrundlage zu vermindern, unter Umständen versagt wird, in denen zwischen dem Zeitpunkt der Lieferung und dem Zeitpunkt, in dem die Forderung endgültig uneinbringlich wird, durchaus mehrere Jahre vergehen können und unter denen die Regelung des Mitgliedstaats im Zeitpunkt der Lieferung die Verminderung der Steuerbemessungsgrundlage wegen endgültiger Uneinbringlichkeit einer Forderung unionsrechtswidrig nicht gestattete, mit den Grundsätzen der Verhältnismäßigkeit, der steuerlichen Neutralität und der Effektivität vereinbar?

    Zur Vorlagefrage

    15

    Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 90 der Mehrwertsteuerrichtlinie in Verbindung mit den Grundsätzen der steuerlichen Neutralität, der Effektivität und der Verhältnismäßigkeit dahin auszulegen ist, dass, wenn ein Mitgliedstaat eine Ausschlussfrist festsetzt, nach deren Ablauf der Steuerpflichtige, der über eine endgültig uneinbringlich gewordene Forderung verfügt, seinen Anspruch auf Verminderung der Steuerbemessungsgrundlage nicht mehr geltend machen kann, diese Frist ab dem Zeitpunkt der ursprünglichen Erfüllbarkeit der Zahlungsverpflichtung oder ab dem Zeitpunkt, zu dem die Forderung endgültig uneinbringlich geworden ist, zu laufen beginnen muss.

    16

    Nach Art. 99 seiner Verfahrensordnung kann der Gerichtshof, u. a. wenn die Antwort auf eine zur Vorabentscheidung vorgelegte Frage klar aus der Rechtsprechung abgeleitet werden kann, auf Vorschlag des Berichterstatters und nach Anhörung des Generalanwalts jederzeit die Entscheidung treffen, durch mit Gründen versehenen Beschluss zu entscheiden.

    17

    Diese Bestimmung ist in der vorliegenden Rechtssache anzuwenden.

    18

    Erstens ist zum einen darauf hinzuweisen, dass Art. 90 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie Fälle der Annullierung, der Rückgängigmachung, der Auflösung, der vollständigen oder teilweisen Nichtbezahlung oder des Preisnachlasses nach der Bewirkung des der Zahlung der Steuer zugrunde liegenden Umsatzes betrifft. Diese Bestimmung verpflichtet die Mitgliedstaaten, die Steuerbemessungsgrundlage und damit den Betrag der vom Steuerpflichtigen geschuldeten Mehrwertsteuer immer dann zu vermindern, wenn der Steuerpflichtige nach der Bewirkung eines Umsatzes die gesamte Gegenleistung oder einen Teil davon nicht erhält. Diese Bestimmung ist Ausdruck eines Grundprinzips dieser Richtlinie, nämlich des Grundsatzes der steuerlichen Neutralität, nach dem die tatsächlich erhaltene Gegenleistung als Steuerbemessungsgrundlage dient und aus dem folgt, dass die Steuerverwaltung keinen Betrag als Mehrwertsteuer erheben darf, der den an den Steuerpflichtigen bezahlten Betrag übersteigt (Beschluss vom 24. Oktober 2019, Porr Építési Kft., C‑292/19, nicht veröffentlicht, EU:C:2019:901, Rn. 19 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie Urteil vom 15. Oktober 2020, E. [Mehrwertsteuer – Verminderung der Steuerbemessungsgrundlage], C‑335/19, EU:C:2020:829, Rn. 21 und die dort angeführte Rechtsprechung).

    19

    Angesichts des Wortlauts von Art. 90 Abs. 1 in Verbindung mit jenem von Art. 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie sowie des Grundsatzes der steuerlichen Neutralität müssen sich die Formalitäten, die von den Steuerpflichtigen zu erfüllen sind, damit sie gegenüber den Steuerbehörden das Recht auf Verminderung der Mehrwertsteuerbemessungsgrundlage ausüben können, auf diejenigen beschränken, die den Nachweis ermöglichen, dass nach der Bewirkung des Umsatzes die Gegenleistung zum Teil oder in vollem Umfang endgültig nicht erlangt wurde (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 15. Oktober 2020, E. [Mehrwertsteuer – Verminderung der Steuerbemessungsgrundlage], C‑335/19, EU:C:2020:829, Rn. 22 bis 25 und die dort angeführte Rechtsprechung).

    20

    Zum anderen können die Mitgliedstaaten nach Art. 90 Abs. 2 der Mehrwertsteuerrichtlinie im Fall der vollständigen oder teilweisen Nichtbezahlung des Preises des Umsatzes von der Regelung des Art. 90 Abs. 1 dieser Richtlinie abweichen. In dieser Hinsicht hat der Gerichtshof klargestellt, dass die Ausübung dieser Abweichungsbefugnis es den Mitgliedstaaten nicht erlaubt, die Verminderung der Mehrwertsteuerbemessungsgrundlage im Fall der Nichtbezahlung einfach ohne Weiteres auszuschließen. Diese Abweichungsbefugnis soll es den Mitgliedstaaten lediglich ermöglichen, der Unsicherheit über die Nichtbezahlung einer Rechnung oder über ihre Endgültigkeit entgegenzuwirken, und beantwortet nicht die Frage, ob eine Verminderung der Steuerbemessungsgrundlage bei Nichtbezahlung entfallen kann (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 15. Oktober 2020, E. [Mehrwertsteuer – Verminderung der Steuerbemessungsgrundlage], C‑335/19, EU:C:2020:829, Rn. 29 und 30 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

    21

    Im vorliegenden Fall wurde am 13. Dezember 2019 festgestellt, dass die Forderung von FGSZ uneinbringlich ist, da die Schuldnerin die Rechnungen vollständig nicht bezahlt hat. Am 19. Dezember 2019 stellte FGSZ einen Antrag auf Erstattung der Mehrwertsteuer für diese Rechnungen.

    22

    Daraus ergibt sich, dass zum Zeitpunkt der Antragstellung die Uneinbringlichkeit der Forderung endgültig feststand.

    23

    Zweitens geht aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs hervor, dass die Möglichkeit, ohne jede zeitliche Beschränkung einen Antrag auf Erstattung zu stellen, dem Grundsatz der Rechtssicherheit zuwiderliefe, der verlangt, dass die steuerliche Lage des Steuerpflichtigen in Anbetracht seiner Rechte und Pflichten gegenüber der Steuerverwaltung nicht unbegrenzt lange offenbleiben kann. Wenn das Vorhandensein einer Ausschlussfrist, deren Ablauf bedeutet, dass ein Gläubiger keine Verminderung der Bemessungsgrundlage um die mit bestimmten Forderungen verbundene Mehrwertsteuer mehr beantragen kann, nicht als mit der Mehrwertsteuerrichtlinie unvereinbar angesehen werden kann, richtet sich der Zeitpunkt, ab dem diese Frist zu laufen beginnt, unter Vorbehalt der Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität nach dem nationalen Recht (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 21. Januar 2010, Alstom Power Hydro, C‑472/08, EU:C:2010:32, Rn. 16 und 17 sowie die dort angeführte Rechtsprechung, und vom 12. April 2018, Biosafe – Indústria de Reciclagens, C‑8/17, EU:C:2018:249, Rn. 36 und 37 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

    24

    Hinsichtlich des Äquivalenzgrundsatzes ist festzustellen, dass der Gerichtshof über keinerlei Anhaltspunkte verfügt, die Zweifel an der Vereinbarkeit der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Regelung mit diesem Grundsatz hervorrufen könnten.

    25

    Zum Grundsatz der Effektivität hat der Gerichtshof hinsichtlich Art. 185 der Mehrwertsteuerrichtlinie, der dem Gerichtshof zufolge mit Art. 90 der Richtlinie kohärent auszulegen ist (Urteil vom 22. Februar 2018, T‑2, C‑396/16, EU:C:2018:109, Rn. 35), entschieden, dass, sofern der Steuerpflichtige keinen Mangel an Sorgfalt an den Tag gelegt hat und weder ein Missbrauch noch ein kollusives Zusammenwirken vorliegen, eine Frist, die ab dem Zeitpunkt der Ausstellung der ursprünglichen Rechnungen zu laufen begonnen hätte und für bestimmte Umsätze vor der Berichtigung abgelaufen gewesen wäre, nicht wirksam gegen die Ausübung des Rechts auf Vorsteuerabzug eingewandt werden könnte (vgl. in diesem Sinne Urteil von 12. April 2018, Biosafe – Indústria de Reciclagens, C‑8/17, EU:C:2018:249, Rn. 43 und die dort angeführte Rechtsprechung).

    26

    Derartige Berechnungsmodalitäten können nicht durch die Notwendigkeit gerechtfertigt werden, die Unsicherheit hinsichtlich der Endgültigkeit der Uneinbringlichkeit der Forderung zu berücksichtigen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 15. Oktober 2020, E. [Mehrwertsteuer – Verminderung der Steuerbemessungsgrundlage], C‑335/19, EU:C:2020:829, Rn. 33 bis 35 und 44).

    27

    In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof bereits entschieden hat, dass das Unionsrecht einer Regelung eines Mitgliedstaats entgegensteht, nach der die Inanspruchnahme des Rechts auf Erstattung der Mehrwertsteuer mit der Begründung versagt wird, dass die in dieser Regelung vorgesehene Ausschlussfrist entweder ab dem Zeitpunkt der Lieferung zu laufen begonnen habe und vor Stellung des Erstattungsantrags abgelaufen sei (Urteil vom 21. März 2018, Volkswagen, C‑533/16, EU:C:2018:204, Rn. 51) oder zum Zeitpunkt der Ausstellung der ursprünglichen Rechnungen zu laufen begonnen habe und abgelaufen sei (Urteil vom 12. April 2018, Biosafe – Indústria de Reciclagens, C‑8/17, EU:C:2018:249, Rn. 44).

    28

    Daraus ergibt sich, dass, wenn ein Mitgliedstaat vorgesehen hat, dass das Recht eines Gläubigers auf Verminderung der Steuerbemessungsgrundlage gemäß Art. 90 der Mehrwertsteuerrichtlinie einer Ausschlussfrist unterliegt, diese Frist nicht ab dem Zeitpunkt der Erfüllbarkeit der ursprünglich vorgesehenen Zahlungsverpflichtung zu laufen beginnen darf, sondern erst ab dem Zeitpunkt, zu dem die Forderung endgültig uneinbringlich geworden ist.

    29

    Im vorliegenden Fall sieht die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Regelung eine Ausschlussfrist von fünf Jahren vor, die mit dem Jahr beginnt, in dem das Recht zur Stellung eines derartigen Antrags entstanden ist. Aus den Angaben des vorlegenden Gerichts ergibt sich, dass FGSZ am 19. Dezember 2019 einen Antrag auf Erstattung der Mehrwertsteuer gestellt hat, also sechs Tage nach der Feststellung der Uneinbringlichkeit der streitigen Forderung durch den Insolvenzverwalter der Schuldnerin.

    30

    Durch die Einbringung des Antrags innerhalb einer so kurzen Zeit hat die Steuerpflichtige ihre Sorgfalt unter Beweis gestellt. Folglich sollte ihr das Recht auf Verminderung der Steuerbemessungsgrundlage nicht genommen werden.

    31

    Schließlich ist auch festzustellen, dass zum einen Art. 90 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie die Voraussetzungen erfüllt, um unmittelbare Wirkung zu entfalten, und zum anderen der Grundsatz vom Vorrang des Unionsrechts bedeutet, dass jedes im Rahmen seiner Zuständigkeit angerufene nationale Gericht als Organ eines Mitgliedstaats verpflichtet ist, jede nationale Bestimmung, die einer Bestimmung des Unionsrechts, die in dem bei ihm anhängigen Rechtsstreit unmittelbare Wirkung hat, entgegensteht, unangewandt zu lassen. Wenn also ein Steuerpflichtiger wie FGSZ die in der nationalen Regelung festgelegten Voraussetzungen nicht erfüllt, die nicht mit dieser Bestimmung in Einklang stehen, kann er sich vor den nationalen Gerichten gegenüber dem betreffenden Mitgliedstaat auf diese Bestimmung berufen, um die Verminderung seiner Besteuerungsgrundlage gewährt zu bekommen (Urteil vom 15. Oktober 2020, E. [Mehrwertsteuer – Verminderung der Steuerbemessungsgrundlage], C‑335/19, EU:C:2020:829, Rn. 51 und 52).

    32

    Vor dem Hintergrund der vorstehenden Erwägungen ist auf die vorgelegte Frage zu antworten, dass Art. 90 der Mehrwertsteuerrichtlinie in Verbindung mit den Grundsätzen der steuerlichen Neutralität und der Effektivität dahin auszulegen ist, dass, wenn ein Mitgliedstaat eine Ausschlussfrist festlegt, nach deren Ablauf der Steuerpflichtige, der über eine endgültig uneinbringlich gewordene Forderung verfügt, seinen Anspruch auf Verminderung der Bemessungsgrundlage nicht mehr geltend machen kann, diese Frist nicht ab dem Zeitpunkt der Erfüllbarkeit der ursprünglich vorgesehenen Zahlungsverpflichtung zu laufen beginnen darf, sondern erst ab dem Zeitpunkt, zu dem die Forderung endgültig uneinbringlich geworden ist.

    Kosten

    33

    Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

     

    Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Sechste Kammer) beschlossen:

     

    Art. 90 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem in Verbindung mit den Grundsätzen der steuerlichen Neutralität und der Effektivität ist dahin auszulegen, dass, wenn ein Mitgliedstaat eine Ausschlussfrist festlegt, nach deren Ablauf ein Steuerpflichtiger, der über eine endgültig uneinbringlich gewordene Forderung verfügt, seinen Anspruch auf Verminderung der Bemessungsgrundlage nicht mehr geltend machen kann, diese Frist nicht ab dem Zeitpunkt der Erfüllbarkeit der ursprünglich vorgesehenen Zahlungsverpflichtung zu laufen beginnen darf, sondern erst ab dem Zeitpunkt, zu dem die Forderung endgültig uneinbringlich geworden ist.

     

    Unterschriften.


    ( *1 ) Verfahrenssprache: Ungarisch.

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