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Document 62020CJ0721

Urteil des Gerichtshofs (Vierte Kammer) vom 27. Oktober 2022.
DB Station & Service AG gegen ODEG Ostdeutsche Eisenbahn GmbH.
Vorabentscheidungsersuchen des Kammergerichts Berlin.
Vorlage zur Vorabentscheidung – Eisenbahnverkehrsleistungen – Art. 102 AEUV – Missbrauch einer beherrschenden Stellung – Richtlinie 2001/14/EG – Zugang zur Eisenbahninfrastruktur – Art. 30 – Regulierungsstelle für den Eisenbahnverkehr – Überprüfung der Entgelte für die Nutzung von Infrastruktur – Nationale Gerichte – Wettbewerbsrechtliche Überprüfung der Entgelte – Aufteilung der Zuständigkeiten zwischen der Regulierungsstelle und den nationalen Gerichten.
Rechtssache C-721/20.

Court reports – general – 'Information on unpublished decisions' section

ECLI identifier: ECLI:EU:C:2022:832

 URTEIL DES GERICHTSHOFS (Vierte Kammer)

27. Oktober 2022 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Eisenbahnverkehrsleistungen – Art. 102 AEUV – Missbrauch einer beherrschenden Stellung – Richtlinie 2001/14/EG – Zugang zur Eisenbahninfrastruktur – Art. 30 – Regulierungsstelle für den Eisenbahnverkehr – Überprüfung der Entgelte für die Nutzung von Infrastruktur – Nationale Gerichte – Wettbewerbsrechtliche Überprüfung der Entgelte – Aufteilung der Zuständigkeiten zwischen der Regulierungsstelle und den nationalen Gerichten“

In der Rechtssache C‑721/20

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Kammergericht Berlin (Deutschland) mit Entscheidung vom 10. Dezember 2020, beim Gerichtshof eingegangen am 30. Dezember 2020, in dem Verfahren

DB Station & Service AG

gegen

ODEG Ostdeutsche Eisenbahn GmbH

erlässt

DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten C. Lycourgos, der Richterin L. S. Rossi, der Richter J.‑C. Bonichot (Berichterstatter) und S. Rodin sowie der Richterin O. Spineanu‑Matei,

Generalanwältin: T. Ćapeta,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

der DB Station & Service AG, vertreten durch die Rechtsanwälte M. Köhler und M. Weitner,

der ODEG Ostdeutsche Eisenbahn GmbH, vertreten durch die Rechtsanwälte A. R. Schüssler und B. Uhlenhut,

der Europäischen Kommission, vertreten durch B. Ernst und G. Meessen als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 7. April 2022

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 102 AEUV und der Art. 4, 7 bis 12 und 30 der Richtlinie 2001/14/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Februar 2001 über die Zuweisung von Fahrwegkapazität der Eisenbahn und die Erhebung von Entgelten für die Nutzung von Eisenbahninfrastruktur (ABl. 2001, L 75, S. 29, berichtigt in ABl. 2004, L 220, S. 16) in der durch die Richtlinie 2007/58/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. Oktober 2007 (ABl. 2007, L 315, S. 44) geänderten Fassung (im Folgenden: Richtlinie 2001/14).

2

Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der DB Station & Service AG (im Folgenden: DB Station & Service) und der ODEG Ostdeutsche Eisenbahn GmbH (im Folgenden: ODEG) über die Höhe der Entgelte, die die letztgenannte Gesellschaft für die Nutzung der von der erstgenannten Gesellschaft betriebenen Verkehrsstationen zu zahlen hat.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

Richtlinie 2001/14

3

In den Erwägungsgründen 5, 11, 16, 32, 40 und 46 der Richtlinie 2001/14 hieß es:

„(5)

Um Transparenz und einen nichtdiskriminierenden Zugang zu den Eisenbahnfahrwegen für alle Eisenbahnunternehmen sicherzustellen, sind alle für die Wahrnehmung der Zugangsrechte benötigten Informationen in den Schienennetz-Nutzungsbedingungen zu veröffentlichen.

(11)

Bei den Entgelt- und Kapazitätszuweisungsregelungen sollte allen Unternehmen ein gleicher und nichtdiskriminierender Zugang geboten werden und soweit wie möglich angestrebt werden, den Bedürfnissen aller Nutzer und Verkehrsarten gerecht und in nichtdiskriminierender Weise zu entsprechen.

(16)

Entgelt- und Kapazitätszuweisungsregelungen sollten einen fairen Wettbewerb bei der Erbringung von Eisenbahnverkehrsleistungen ermöglichen.

(32)

Die Wettbewerbsverzerrungen, die sich aufgrund wesentlicher Unterschiede bei den Entgeltgrundsätzen zwischen Fahrwegen oder Verkehrsträgern ergeben könnten, sind so gering wie möglich zu halten.

(40)

Der Fahrweg stellt ein natürliches Monopol dar. Es ist deshalb erforderlich, den Betreibern der Infrastruktur Anreize zur Kostensenkung und zur effizienten Verwaltung ihrer Fahrwege zu geben.

(46)

Die effiziente Verwaltung und gerechte und nichtdiskriminierende Nutzung von Eisenbahnfahrwegen erfordert die Einrichtung einer Regulierungsstelle, die über die Anwendung dieser gemeinschaftlichen Rechtsvorschriften wacht und ungeachtet der gerichtlichen Nachprüfbarkeit als Beschwerdestelle fungieren kann.“

4

Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 2001/14 bestimmte:

„Gegenstand dieser Richtlinie sind die Grundsätze und Verfahren für die Festlegung und Berechnung von Wegeentgelten im Eisenbahnverkehr und die Zuweisung von Fahrwegkapazität der Eisenbahn.

…“

5

Art. 2 der Richtlinie 2001/14 enthielt Begriffsbestimmungen. Er bestimmte:

„Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck

b)

‚Antragsteller‘ ein zugelassenes Eisenbahnunternehmen und/oder eine internationale Gruppierung von Eisenbahnunternehmen und – in Mitgliedstaaten, die eine solche Möglichkeit vorsehen – andere natürliche und/oder juristische Personen, die ein einzelwirtschaftliches oder gemeinwirtschaftliches Interesse am Erwerb von Fahrwegkapazität für die Durchführung eines Eisenbahnverkehrsdienstes in ihrem jeweiligen Hoheitsgebiet haben …

f)

‚Rahmenvertrag‘ eine rechtsverbindliche allgemeine öffentlich-rechtliche oder privatrechtliche Vereinbarung über die Rechte und Pflichten eines Antragstellers und des Betreibers der Infrastruktur oder der Zuweisungsstelle in Bezug auf die zuzuweisende Fahrwegkapazität und die zu erhebenden Entgelte über einen längeren Zeitraum als eine Netzfahrplanperiode;

h)

‚Betreiber der Infrastruktur‘ eine Einrichtung oder ein Unternehmen, die bzw. das insbesondere für die Einrichtung und Unterhaltung der Fahrwege der Eisenbahn zuständig ist. …

…“

6

Art. 4 („Festsetzung, Berechnung und Erhebung von Entgelten“) der Richtlinie 2001/14 bestimmte:

„(1)   Die Mitgliedstaaten schaffen eine Entgeltrahmenregelung, wobei die Unabhängigkeit der Geschäftsführung gemäß Artikel 4 der Richtlinie 91/440/EWG [des Rates vom 29. Juli 1991 zur Entwicklung der Eisenbahnunternehmen der Gemeinschaft (ABl. 1991, L 237, S. 25)] zu wahren ist.

Vorbehaltlich der genannten Bedingung der Unabhängigkeit der Geschäftsführung legen die Mitgliedstaaten auch einzelne Entgeltregeln fest oder delegieren diese Befugnisse an den Betreiber der Infrastruktur. Die Berechnung des Wegeentgeltes und die Erhebung dieses Entgelts nimmt der Betreiber der Infrastruktur vor.

(5)   Die Betreiber der Infrastruktur tragen dafür Sorge, dass die Anwendung der Entgeltregelung zu gleichwertigen und nichtdiskriminierenden Entgelten für unterschiedliche Eisenbahnunternehmen führ[t], die Dienste gleichwertiger Art in ähnlichen Teilen des Markts erbringen[,] und dass die tatsächlich erhobenen Entgelte den in den Schienennetz-Nutzungsbedingungen vorgesehenen Regeln entsprechen.

…“

7

Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 2001/14 bestimmte:

„Die Eisenbahnunternehmen haben unter Ausschluss jeglicher Diskriminierung Anspruch auf das in Anhang II beschriebene Mindestzugangspaket sowie auf den dort beschriebenen Schienenzugang zu Serviceeinrichtungen. Die Erbringung der in Anhang II Nummer 2 genannten Leistungen erfolgt unter Ausschluss jeglicher Diskriminierung, wobei entsprechende Anträge von Eisenbahnunternehmen nur abgelehnt werden dürfen, wenn vertretbare Alternativen unter Marktbedingungen vorhanden sind. …“

8

Art. 7 („Entgeltgrundsätze“) der Richtlinie 2001/14 bestimmte in Abs. 7:

„Die Erbringung der in Anhang II Nummer 2 genannten Leistungen fällt nicht unter diesen Artikel. Unbeschadet dessen wird bei der Festsetzung der Preise für die in Anhang II Nummer 2 genannten Leistungen die Wettbewerbssituation des Eisenbahnverkehrs berücksichtigt.“

9

Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2001/14 bestimmte:

„Unbeschadet der Artikel 81, 82, 86 und 87 [EG] und ungeachtet des Artikels 7 Absatz 3 dieser Richtlinie müssen alle Nachlässe auf Entgelte, die der Betreiber der Infrastruktur von einem Eisenbahnunternehmen für einen Dienst erhebt, den in diesem Artikel genannten Kriterien entsprechen.“

10

Art. 17 („Rahmenverträge“) der Richtlinie 2001/14 bestimmte in Abs. 1:

„Unbeschadet der Artikel 81, 82 und 86 [EG] kann mit einem Antragsteller ein Rahmenvertrag geschlossen werden. In dem Rahmenvertrag werden die Merkmale der vom Antragsteller beantragten und ihm angebotenen Fahrwegkapazität für einen längeren Zeitraum als eine Netzfahrplanperiode festgelegt. Der Rahmenvertrag regelt keine Zugtrassen im Einzelnen, sollte aber so gestaltet sein, dass er den legitimen kommerziellen Erfordernissen des Antragstellers entgegenkommt. …“

11

Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2001/14 bestimmte:

„Sind geeignete Alternativstrecken vorhanden, so kann der Betreiber der Infrastruktur nach Konsultation der Beteiligten bestimmte Fahrwege für die Nutzung durch bestimmte Arten von Verkehrsdiensten ausweisen. Wurde eine solche Nutzungsbeschränkung ausgesprochen, kann der Betreiber der Infrastruktur unbeschadet der Artikel 81, 82 und 86 [EG] Verkehrsdiensten dieser Art bei der Zuweisung von Fahrwegkapazität Vorrang einräumen.

…“

12

Art. 30 („Regulierungsstelle“) der Richtlinie 2001/14 bestimmte:

„(1)   Unbeschadet des Artikels 21 Absatz 6 richten die Mitgliedstaaten eine Regulierungsstelle ein. Diese Stelle, bei der es sich um das für Verkehrsfragen zuständige Ministerium oder eine andere Behörde handeln kann, ist organisatorisch, bei ihren Finanzierungsbeschlüssen, rechtlich und in ihrer Entscheidungsfindung von Betreibern der Infrastruktur, entgelterhebenden Stellen, Zuweisungsstellen und Antragstellern unabhängig. Darüber hinaus ist die Regulierungsstelle funktionell unabhängig von allen zuständigen Behörden, die bei der Vergabe von Verträgen über öffentliche Dienstleistungen mitwirken. Für die Tätigkeit der Regulierungsstelle gelten die Grundsätze dieses Artikels; Rechtsbehelfs- und Regulierungsfunktionen können gesonderten Stellen übertragen werden.

(2)   Ist ein Antragsteller der Auffassung, ungerecht behandelt, diskriminiert oder auf andere Weise in seinen Rechten verletzt worden zu sein, so kann er die Regulierungsstelle befassen, und zwar insbesondere mit Entscheidungen des Betreibers der Infrastruktur oder gegebenenfalls des Eisenbahnunternehmens betreffend

a)

die Schienennetz-Nutzungsbedingungen,

d)

die Entgeltregelung,

e)

die Höhe oder Struktur der Wegeentgelte, die er zu zahlen hat oder hätte,

f)

[die] Zugangsvereinbarungen gemäß Artikel 10 der [Richtlinie 91/440 in der Fassung der Richtlinie 2004/51/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 (ABl. 2004, L 164, S. 164, berichtigt in ABl. 2004, L 220, S. 58)].

(3)   Die Regulierungsstelle gewährleistet, dass die vom Betreiber der Infrastruktur festgesetzten Entgelte dem Kapitel II entsprechen und nichtdiskriminierend sind. Verhandlungen zwischen Antragstellern und einem Betreiber der Infrastruktur über die Höhe von Wegeentgelten sind nur zulässig, sofern sie unter Aufsicht der Regulierungsstelle erfolgen. Die Regulierungsstelle hat einzugreifen, wenn bei den Verhandlungen ein Verstoß gegen die Bestimmungen dieser Richtlinie droht.

(5)   Die Regulierungsstelle hat über Beschwerden zu entscheiden und binnen zwei Monaten ab Erhalt aller Auskünfte Abhilfemaßnahmen zu treffen.

Ungeachtet des Absatzes 6 sind Entscheidungen der Regulierungsstelle für alle davon Betroffenen verbindlich.

(6)   Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Maßnahmen, um die gerichtliche Nachprüfbarkeit von Entscheidungen der Regulierungsstelle zu gewährleisten.“

13

Anhang II Nr. 2 der Richtlinie 2001/14 bestimmte:

„Der Schienenzugang zu Serviceeinrichtungen und die entsprechende Erbringung von Leistungen umfasst Folgendes:

c) Personenbahnhöfe, deren Gebäude und sonstige Einrichtungen;

…“

Richtlinie 2012/34/EU

14

Art. 55 Abs. 1 der Richtlinie 2012/34/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21. November 2012 zur Schaffung eines einheitlichen europäischen Eisenbahnraums (ABl. 2012, L 343, S. 32) bestimmt:

„Jeder Mitgliedstaat richtet für den Eisenbahnsektor eine einzige nationale Regulierungsstelle ein. Diese Stelle ist unbeschadet des Absatzes 2 eine eigenständige Behörde, die in Bezug auf ihre Organisation, Funktion, hierarchische Stellung und Entscheidungsfindung rechtlich getrennt und unabhängig von anderen öffentlichen oder privaten Stellen ist. Sie ist außerdem organisatorisch, bei ihren Finanzierungsbeschlüssen, rechtlich und in ihrer Entscheidungsfindung von Infrastrukturbetreibern, entgelterhebenden Stellen, Zuweisungsstellen und Antragstellern unabhängig. Darüber hinaus ist die Regulierungsstelle funktionell unabhängig von allen zuständigen Behörden, die bei der Vergabe öffentlicher Dienstleistungsaufträge mitwirken.“

15

Art. 56 („Aufgaben der Regulierungsstelle“) bestimmt:

„(1)   Ist ein Antragsteller der Auffassung, ungerecht behandelt, diskriminiert oder auf andere Weise in seinen Rechten verletzt worden zu sein, so hat er unbeschadet des Artikels 46 Absatz 6 das Recht, die Regulierungsstelle zu befassen, und zwar insbesondere gegen Entscheidungen des Infrastrukturbetreibers oder gegebenenfalls des Eisenbahnunternehmens oder des Betreibers einer Serviceeinrichtung betreffend:

a)

den Entwurf und die Endfassung der Schienennetz-Nutzungsbedingungen;

d)

die Entgeltregelung;

e)

die Höhe oder Struktur der Wegeentgelte, die er zu zahlen hat oder hätte;

g)

den Zugang zu Leistungen gemäß Artikel 13 und die dafür erhobenen Entgelte.

(2)   Unbeschadet der Befugnisse der nationalen Wettbewerbsbehörden für die Sicherstellung des Wettbewerbs in den Schienenverkehrsmärkten ist die Regulierungsstelle berechtigt, die Wettbewerbssituation in den Schienenverkehrsmärkten zu überwachen; sie prüft insbesondere von sich aus die in Absatz 1 Buchstaben a bis g genannten Punkte, um der Diskriminierung von Antragstellern vorzubeugen. Sie prüft insbesondere, ob die Schienennetz-Nutzungsbedingungen diskriminierende Bestimmungen enthalten oder den Infrastrukturbetreibern einen Ermessensspielraum geben, der die Diskriminierung von Antragstellern ermöglicht.

(6)   Die Regulierungsstelle gewährleistet, dass die vom Infrastrukturbetreiber festgesetzten Entgelte dem Kapitel IV Abschnitt 2 entsprechen und nichtdiskriminierend sind. …

(9)   Binnen eines Monats ab Erhalt einer Beschwerde prüft die Regulierungsstelle die Beschwerde und fordert gegebenenfalls einschlägige Auskünfte an und leitet Gespräche mit allen Betroffenen ein. Innerhalb einer vorab bestimmten angemessenen Frist, in jedem Fall aber binnen sechs Wochen nach Erhalt aller sachdienlichen Informationen entscheidet sie über die betreffenden Beschwerden, trifft Abhilfemaßnahmen und setzt die Betroffenen über ihre begründete Entscheidung in Kenntnis. Unbeschadet der Zuständigkeiten der nationalen Wettbewerbsbehörden für die Sicherstellung des Wettbewerbs in den Schienenverkehrsmärkten entscheidet sie gegebenenfalls von sich aus über geeignete Maßnahmen zur Korrektur von Fällen der Diskriminierung von Antragstellern, Marktverzerrung und anderer unerwünschter Entwicklungen in diesen Märkten, insbesondere in Bezug auf Absatz 1 Buchstaben a bis g.

Entscheidungen der Regulierungsstelle sind für alle davon Betroffenen verbindlich und unterliegen keiner Kontrolle durch eine andere Verwaltungsinstanz. Die Regulierungsstelle muss ihre Entscheidungen durchsetzen können und geeignete Sanktionen, einschließlich Geldbußen, verhängen können.

…“

Verordnung (EG) Nr. 1/2003

16

Art. 3 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 1/2003 des Rates vom 16. Dezember 2002 zur Durchführung der in den Artikeln [101 und 102 AEUV] niedergelegten Wettbewerbsregeln (ABl. 2003, L 1, S. 1) bestimmt:

„Wenden die Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten oder einzelstaatliche Gerichte das einzelstaatliche Wettbewerbsrecht auf Vereinbarungen zwischen Unternehmen, Beschlüsse von Unternehmensvereinigungen und aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen im Sinne des Artikels [101] Absatz 1 [AEUV] an, welche den Handel zwischen Mitgliedstaaten im Sinne dieser Bestimmung beeinträchtigen können, so wenden sie auch Artikel [101 AEUV] auf diese Vereinbarungen, Beschlüsse und aufeinander abgestimmten Verhaltensweisen an. Wenden die Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten oder einzelstaatliche Gerichte das einzelstaatliche Wettbewerbsrecht auf nach Artikel [102 AEUV] verbotene Missbräuche an, so wenden sie auch Artikel [102 AEUV] an.“

Deutsches Recht

17

Das Allgemeine Eisenbahngesetz in der durch das Dritte Gesetz zur Änderung eisenbahnrechtlicher Vorschriften vom 27. April 2005 (BGBl. 2005 I S. 1138) geänderten Fassung, wie sie bis zum 1. September 2016 galt (im Folgenden: AEG), bestimmte in § 14b:

„(1)   Der Regulierungsbehörde obliegt die Aufgabe, die Einhaltung der Vorschriften des Eisenbahnrechts über den Zugang zur Eisenbahninfrastruktur zu überwachen, insbesondere hinsichtlich

4.

der Benutzungsbedingungen, der Entgeltgrundsätze und der Entgelthöhen.

(2)   Die Aufgaben und Zuständigkeiten der Kartellbehörden nach dem Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen bleiben unberührt. Die Regulierungsbehörde und die Eisenbahnaufsichtsbehörden sowie die Kartellbehörden und die nach dem Telekommunikationsgesetz und dem Energiewirtschaftsgesetz zuständigen Regulierungsbehörden teilen einander Informationen mit, die für die Erfüllung der jeweiligen Aufgaben von Bedeutung sein können. Insbesondere sollen sie sich gegenseitig über beabsichtigte Entscheidungen informieren, mit denen ein missbräuchliches oder diskriminierendes Verhalten von Eisenbahninfrastrukturunternehmen untersagt werden soll. Sie sollen einander Gelegenheit zur Stellungnahme geben, bevor das Verfahren von der zuständigen Behörde abgeschlossen wird.“

18

§ 14d AEG bestimmte:

„Die öffentlichen Eisenbahninfrastrukturunternehmen haben die Regulierungsbehörde zu unterrichten über

6.

die beabsichtigte Neufassung oder Änderung von Schienennetz-Benutzungsbedingungen und von Nutzungsbedingungen für Serviceeinrichtungen einschließlich der jeweils vorgesehenen Entgeltgrundsätze und Entgelthöhen.“

19

§ 14e Abs. 1 AEG bestimmte:

„Die Regulierungsbehörde kann nach Eingang einer Mitteilung nach § 14d innerhalb von

4.

vier Wochen der beabsichtigten Neufassung oder Änderung nach § 14d Satz 1 Nr. 6

widersprechen, soweit die beabsichtigten Entscheidungen nicht den Vorschriften des Eisenbahnrechts über den Zugang zur Eisenbahninfrastruktur entsprechen.“

20

§ 14f AEG bestimmte:

„(1)   Die Regulierungsbehörde kann von Amts wegen

2.

Regelungen über die Höhe oder Struktur der Wegeentgelte und sonstiger Entgelte

eines Eisenbahninfrastrukturunternehmens überprüfen. Die Regulierungsbehörde kann mit Wirkung für die Zukunft

1.

das Eisenbahninfrastrukturunternehmen zur Änderung der Bedingungen nach Satz 1 Nr. 1 oder der Entgeltregelungen nach Satz 1 Nr. 2 nach ihren Maßgaben verpflichten oder

2.

Bedingungen nach Satz 1 Nr. 1 oder Entgeltregelungen nach Satz 1 Nr. 2 für ungültig erklären,

soweit diese nicht den Vorschriften des Eisenbahnrechts über den Zugang zur Eisenbahninfrastruktur entsprechen.

(2)   Kommt eine Vereinbarung über den Zugang nach § 14 Abs. 6 oder über einen Rahmenvertrag nach § 14a nicht zustande, können die Entscheidungen des Eisenbahninfrastrukturunternehmens durch die Regulierungsbehörde auf Antrag oder von Amts wegen überprüft werden. Antragsberechtigt sind die Zugangsberechtigten, deren Recht auf Zugang zur Eisenbahninfrastruktur beeinträchtigt sein kann. Der Antrag ist innerhalb der Frist zu stellen, in der das Angebot zum Abschluss von Vereinbarungen nach Satz 1 angenommen werden kann. Überprüft werden können insbesondere

3.

die Höhe oder Struktur der Wege- und sonstigen Entgelte.

Die Regulierungsbehörde hat die Beteiligten aufzufordern, innerhalb einer angemessenen Frist, die zwei Wochen nicht überschreiten darf, alle erforderlichen Auskünfte zu erteilen. Nach Ablauf dieser Frist hat die Regulierungsbehörde über den Antrag binnen zwei Monaten zu entscheiden.

(3)   Beeinträchtigt im Fall des Absatzes 2 die Entscheidung eines Eisenbahninfrastrukturunternehmens das Recht des Antragstellers auf Zugang zur Eisenbahninfrastruktur,

1.

verpflichtet die Regulierungsbehörde das Eisenbahninfrastrukturunternehmen zur Änderung der Entscheidung oder

2.

legt die Regulierungsbehörde die Vertragsbedingungen fest, entscheidet über die Geltung des Vertrags und erklärt entgegenstehende Verträge für unwirksam.“

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

21

DB Station & Service ist eine Tochtergesellschaft der Deutsche Bahn AG, des etablierten Eisenbahnunternehmens in Deutschland. Sie betreibt in Deutschland etwa 5400 Verkehrsstationen. Die Bedingungen ihrer Nutzung sind in Rahmenverträgen festgelegt, die DB Station & Service mit den Eisenbahnverkehrsunternehmen schließt. Nach diesen Bedingungen richtet sich die Höhe der Nutzungsentgelte nach einer Preisliste von DB Station & Service.

22

ODEG ist ein Eisenbahnverkehrsunternehmen, das im Rahmen seiner Tätigkeit des Schienenpersonennahverkehrs die Infrastruktur von DB Station & Service nutzt. Die beiden Unternehmen haben hierzu einen Rahmenvertrag geschlossen.

23

Zum 1. Januar 2005 führte DB Station & Service eine neue Preisliste ein, das Preissystem „SPS 05“. Für ODEG führte die neue Preisliste zu einer Erhöhung der Entgelte für die Nutzung von Infrastruktur, mit der sie nicht einverstanden war. Sie zahlte die Entgelte deshalb nur unter Vorbehalt.

24

Mit Bescheid vom 10. Dezember 2009 erklärte die Bundesnetzagentur (Deutschland) als zuständige Regulierungsbehörde das „SPS 05“ mit Wirkung zum 1. Mai 2010 für ungültig. DB Station & Service legte gegen diesen Bescheid Widerspruch ein. Mit Beschluss vom 23. März 2010 ordnete das Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen (Deutschland) dessen aufschiebende Wirkung an. Zum Zeitpunkt des Erlasses der Vorlageentscheidung in der vorliegenden Rechtssache war in diesem Verfahren jedoch noch keine Entscheidung in der Hauptsache ergangen.

25

ODEG erhob beim Landgericht Berlin (Deutschland) mehrere Klagen auf Rückzahlung der für den Zeitraum November 2006 bis Dezember 2010 gemäß dem „SPS 05“ gezahlten Entgelte, soweit diese über die Entgelte hinausgehen, die nach der alten Preisliste, dem „SPS 99“, zu zahlen gewesen wären. Das Landgericht Berlin gab diesen Klagen gemäß § 315 des Bürgerlichen Gesetzbuchs, der es dem Richter ermöglicht, einem Ungleichgewicht zwischen Leistung und Gegenleistung abzuhelfen, aus Gründen der „Billigkeit“ statt. Dagegen legte DB Station & Service beim vorlegenden Gericht, dem Kammergericht Berlin (Deutschland), Berufung ein. Dieses Gericht verband die verschiedenen Rechtssachen mit Beschluss vom 30. November 2015.

26

Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass die Beschwerden mehrerer Eisenbahnverkehrsunternehmen, mit denen die rückwirkende Überprüfung der Rechtmäßigkeit der gemäß dem „SPS 05“ erhobenen Entgelte begehrt wurde, von der Bundesnetzagentur mit Beschluss vom 11. Oktober 2019 als unzulässig verworfen wurden. Gegen diesen Beschluss wurde eine Klage erhoben, die zum Zeitpunkt des Erlasses der Vorlageentscheidung in der vorliegenden Rechtssache noch beim Verwaltungsgericht Köln (Deutschland) anhängig war.

27

Das vorlegende Gericht ist der Auffassung, dass die Entscheidung des bei ihm anhängigen Rechtsstreits von der Auslegung der Richtlinie 2001/14 abhängig sei, die zeitlich und sachlich anwendbar sei. Es fragt sich insbesondere, in welchem Verhältnis die Zuständigkeit der Regulierungsstellen gemäß Art. 30 der Richtlinie 2001/14 zu der der nationalen Zivilgerichte steht, wenn diese Art. 102 AEUV anzuwenden haben.

28

Der Gerichtshof habe in Rn. 103 des Urteils vom 9. November 2017, CTL Logistics (C‑489/15, EU:C:2017:834), entschieden, dass es nicht mit der Richtlinie 2001/14 vereinbar sei, dass die ordentlichen Gerichte die Entgelte für die Nutzung von Infrastruktur im Einzelfall unabhängig von der in Art. 30 der Richtlinie vorgesehenen Überwachung durch die Regulierungsstelle auf Billigkeit überprüften. Es sei aber nicht sicher, ob die Erwägungen dieses Urteils auch dann zum Tragen kommen könnten, wenn die ordentlichen Gerichte die Rechtmäßigkeit solcher Entgelte nach den Maßstäben von Art. 102 AEUV und des einzelstaatlichen Wettbewerbsrechts zu überprüfen hätten, die u. a. den Missbrauch einer beherrschenden Stellung verböten.

29

Mehrere deutsche Gerichte seien davon ausgegangen, dass sie durch die in dem Urteil vom 9. November 2017, CTL Logistics (C‑489/15, EU:C:2017:834), aufgestellten Grundsätze daran gehindert seien, über Rückforderungsklagen zu entscheiden, solange insoweit keine bestandskräftige Entscheidung der zuständigen Regulierungsstelle vorliege. Hingegen habe der Bundesgerichtshof (Deutschland) in einem Urteil vom 29. Oktober 2019 („Trassenentgelte“) festgestellt, dass die Anwendung von Art. 102 AEUV durch die Zivilgerichte zulässig und geboten sei, ohne dass hierfür eine zuvor ergangene bestandskräftige Entscheidung der Regulierungsstelle notwendig sei.

30

Nach Auffassung des vorlegenden Gerichts sprechen jedoch gute Gründe dafür, von der Auffassung des obersten deutschen Zivilgerichts abzuweichen.

31

Erstens könne die Überprüfung durch die Zivilgerichte einen Übergriff in die ausschließliche Zuständigkeit der Regulierungsstelle darstellen, wie sie in dem Urteil vom 9. November 2017, CTL Logistics (C‑489/15, EU:C:2017:834), angesprochen worden sei.

32

Zweitens hätten die nationalen Gerichte Art. 102 AEUV nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs, insbesondere nach dem Urteil vom 30. Januar 1974, BRT und Société belge des auteurs, compositeurs et éditeurs (127/73, EU:C:1974:6), zwar unmittelbar anzuwenden. Der Gerichtshof habe aber noch nicht über das Verhältnis dieser Verpflichtung zu den Befugnissen der Regulierungsstelle entschieden, die nach der Richtlinie 2001/14 die Aufgabe habe, die Entgelte zu überwachen.

33

Drittens habe der Gerichtshof in Rn. 135 des Urteils vom 10. Juli 2014, Telefónica und Telefónica de España/Kommission (C‑295/12 P, EU:C:2014:2062), zwar entschieden, dass die Anwendung von Art. 102 AEUV durch die Europäische Kommission keine vorherige Überprüfung der betreffenden Maßnahmen durch die nationale Regulierungsstelle voraussetze. Diese Entscheidung sei aber dadurch gerechtfertigt, dass bei einem Tätigwerden der Kommission anders als bei der Anwendung von Art. 102 AEUV durch die Zivilgerichte nicht die Gefahr einer Vielzahl unter Umständen voneinander abweichender Entscheidungen bestehe.

34

Viertens schließlich habe der Bundesgerichtshof mit seinem Urteil „Stationspreissystem II“ vom 1. September 2020 festgestellt, dass die Regulierungsstelle nach Art. 30 Abs. 3 der Richtlinie 2001/14 keine Befugnis zur Überprüfung bereits gezahlter Entgelte oder gar zur Anordnung einer Rückzahlung habe. Er habe daraus gefolgert, dass die Missbrauchskontrolle gemäß Art. 102 AEUV nicht mit den Befugnissen der Regulierungsstelle in Konflikt geraten könne, da die Missbrauchskontrolle gemäß Art. 102 AEUV auf die nachträgliche Zuerkennung von Schadensersatz für in der Vergangenheit liegende Verhaltensweisen der Unternehmen beschränkt sei.

35

Das vorlegende Gericht hält dieses Verständnis des Unionsrechts für unzutreffend. Zum einen finde sich in der Richtlinie 2001/14 keinerlei Stütze für die Auffassung, dass die Regulierungsstelle nur für die Zukunft entscheide. Zum anderen ermögliche Art. 102 AEUV den Erlass von Entscheidungen, mit denen die Nichtigkeit von Handlungen festgestellt werde oder das Abstellen eines Verhaltens angeordnet werde. Abgesehen davon könne auch die Erstattung bereits gezahlter Entgelte zu Wettbewerbsverzerrungen führen und mit den Zielen der Richtlinie 2001/14 in Konflikt geraten.

36

Das Kammergericht Berlin hat daher beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.

Ist es mit der Richtlinie 2001/14 – insbesondere ihren Bestimmungen zur Unabhängigkeit der Geschäftsführung des Infrastrukturunternehmens (Art. 4), zu den Grundsätzen der Entgeltfestsetzung (Art. 7 bis 12) und zu den Aufgaben der Regulierungsstelle (Art. 30) – vereinbar, wenn innerstaatliche Zivilgerichte im Einzelfall und unabhängig von der Überwachung durch die Regulierungsstelle die Höhe der verlangten Entgelte nach den Maßstäben von Art. 102 AEUV und/oder des nationalen Kartellrechts überprüfen?

2.

Wenn Frage 1 zu bejahen sein sollte: Ist eine Missbrauchskontrolle durch die innerstaatlichen Zivilgerichte nach den Maßstäben von Art. 102 AEUV und/oder des nationalen Kartellrechts auch dann zulässig und geboten, wenn für die Eisenbahnverkehrsunternehmen die Möglichkeit besteht, eine Überprüfung der Angemessenheit gezahlter Entgelte durch die zuständige Regulierungsstelle zu erreichen? Sind die innerstaatlichen Zivilgerichte gehalten, eine entsprechende Entscheidung der Regulierungsbehörde und, sofern diese gerichtlich angefochten wird, gegebenenfalls deren Bestandskraft abzuwarten?

Zu den Vorlagefragen

Zu Frage 1

Vorbemerkungen

37

Zunächst ist festzustellen, dass das vorlegende Gericht über eine von ODEG, einem Eisenbahnunternehmen, gegen DB Station & Service erhobene Klage auf Rückzahlung von nach Auffassung von ODEG zu viel gezahlten Entgelten für die Nutzung von Infrastruktur, nämlich von Leistungen gemäß Anhang II Nr. 2 der Richtlinie 2001/14, hier des Zugangs zu „Personenbahnhöfen“, zu entscheiden hat.

38

Gegenstand der Klage sind nur Entgelte, die ODEG bereits gezahlt hat, und zwar in der Zeit von November 2006 bis Dezember 2010. ODEG begehrt hingegen nicht die Abänderung der Entgelte, die sie seitdem zu zahlen hatte bzw. zu zahlen hat.

39

Sodann möchte das vorlegende Gericht mit Frage 1 wissen, ob die nationalen Zivilgerichte zum einen Art. 102 AEUV und gleichzeitig die einschlägigen Vorschriften des einzelstaatlichen Wettbewerbsrechts und zum anderen ausschließlich Letztere anwenden können.

40

Nach Art. 3 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1/2003 müssen die Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten oder die nationalen Gerichte, wenn sie das einzelstaatliche Wettbewerbsrecht auf eine missbräuchliche Verhaltensweise eines Unternehmens mit beherrschender Marktstellung anwenden, die den Handel zwischen den Mitgliedstaaten beeinträchtigen kann, auch Art. 102 AEUV anwenden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 3. Mai 2011, Tele2 Polska, C‑375/09, EU:C:2011:270, Rn. 20).

41

Nach den Angaben, die das vorlegende Gericht im Vorabentscheidungsersuchen gemacht hat, scheint es sich hier so zu verhalten.

42

Der Darstellung des Ausgangsrechtsstreits ist hingegen in keiner Weise zu entnehmen, dass das vorlegende Gericht ausschließlich die Vorschriften des einzelstaatlichen Wettbewerbsrechts, die einseitige Handlungen eines Unternehmens verbieten, anwenden könnte oder wollte. Der entsprechende Teil seiner Frage ist demzufolge hypothetisch und unzulässig.

43

Schließlich geht aus dem Vorabentscheidungsersuchen hervor, dass die Zweifel, die das vorlegende Gericht bei der Auslegung hat, im Wesentlichen die Frage betreffen, in welchem Verhältnis die Zuständigkeiten der Regulierungsstellen gemäß Art. 30 der Richtlinie 2001/14 zu der Zuständigkeit der Zivilgerichte für die Anwendung von Art. 102 AEUV stehen.

44

Mit Frage 1 möchte das vorlegende Gericht mithin wissen, ob Art. 30 der Richtlinie 2001/14 dahin auszulegen ist, dass er dem entgegensteht, dass die nationalen Gerichte über eine gleichzeitig auf Art. 102 AEUV und das einzelstaatliche Wettbewerbsrecht gestützte Klage auf Rückzahlung der Entgelte für die Nutzung von Infrastruktur unabhängig von der Überwachung durch die zuständige Regulierungsstelle entscheiden.

Erfordernisse gemäß Art. 102 AEUV

45

Art. 102 AEUV bezieht sich u. a. auf Missbrauch, der in der unmittelbaren oder mittelbaren Erzwingung von unangemessenen Einkaufs- oder Verkaufspreisen oder sonstigen Geschäftsbedingungen (Buchst. a) oder in der Anwendung unterschiedlicher Bedingungen bei gleichwertigen Leistungen gegenüber Handelspartnern (Buchst. c) besteht.

46

Art. 102 AEUV erzeugt in den Beziehungen zwischen Einzelnen unmittelbare Wirkungen und lässt in deren Person Rechte entstehen, die die Gerichte der Mitgliedstaaten zu wahren haben (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 30. Januar 1974, BRT und Société belge des auteurs, compositeurs et éditeurs, 127/73, EU:C:1974:6, Rn. 16, und vom 28. März 2019, Cogeco Communications, C‑637/17, EU:C:2019:263, Rn. 38).

47

Die volle Wirksamkeit von Art. 102 AEUV und insbesondere die praktische Wirksamkeit des in diesem Artikel ausgesprochenen Verbots wären beeinträchtigt, wenn nicht jedermann Ersatz des Schadens verlangen könnte, der ihm durch ein missbräuchliches Verhalten eines beherrschenden Unternehmens, das den Wettbewerb beschränken oder verfälschen kann, entstanden ist (Urteil vom 28. März 2019, Cogeco Communications, C‑637/17, EU:C:2019:263, Rn. 39 und die dort angeführte Rechtsprechung).

48

Daher kann jedermann Ersatz des ihm entstandenen Schadens verlangen, wenn zwischen dem Schaden und einem nach Art. 102 AEUV verbotenen Missbrauch einer beherrschenden Stellung ein ursächlicher Zusammenhang besteht (Urteil vom 28. März 2019, Cogeco Communications, C‑637/17, EU:C:2019:263, Rn. 40 und die dort angeführte Rechtsprechung).

49

Das Recht eines jeden, Ersatz eines solchen Schadens zu verlangen, erhöht nämlich die Durchsetzungskraft der Wettbewerbsregeln der Union und ist geeignet, Unternehmen vom Missbrauch einer beherrschenden Stellung abzuhalten, der den Wettbewerb beschränken oder verfälschen kann; damit trägt es zur Aufrechterhaltung eines wirksamen Wettbewerbs in der Union bei (Urteil vom 28. März 2019, Cogeco Communications, C‑637/17, EU:C:2019:263, Rn. 41 und die dort angeführte Rechtsprechung).

50

Nach Maßgabe dieser Erwägungen ist nun zu prüfen, welche Tragweite Art. 30 Abs. 2 der Richtlinie 2001/14 hat und welche Erfordernisse sich daraus für ein nationales Gericht ergeben, das über eine auf Art. 102 AEUV gestützte Klage auf Rückzahlung von Entgelten für die Nutzung von Infrastruktur zu entscheiden hat.

Tragweite von Art. 30 Abs. 2 der Richtlinie 2001/14

51

Als Erstes ist festzustellen, dass die effiziente Verwaltung und die gerechte und nicht diskriminierende Nutzung von Eisenbahnfahrwegen dem 46. Erwägungsgrund der Richtlinie 2001/14 zufolge die Einrichtung einer Regulierungsstelle erfordern, die über die Anwendung der Rechtsvorschriften der Union wacht und ungeachtet der gerichtlichen Nachprüfbarkeit als Beschwerdestelle fungieren kann.

52

Nach Art. 30 Abs. 1 der Richtlinie 2001/14 haben die Mitgliedstaaten eine Regulierungsstelle einzurichten, die nach Art. 30 Abs. 2 der Richtlinie von einem Antragsteller befasst werden kann, der der Auffassung ist, „ungerecht behandelt, diskriminiert oder auf andere Weise in seinen Rechten verletzt worden zu sein“ (Urteil vom 9. November 2017, CTL Logistics, C‑489/15, EU:C:2017:834, Rn. 56).

53

Folglich steht der in Art. 30 Abs. 2 der Richtlinie 2001/14 vorgesehene Rechtsbehelf nur „Antragstellern“ offen. Der Begriff des Antragstellers, wie er in Art. 2 Buchst. b der Richtlinie 2001/14 bestimmt wird, umfasst u. a. jedes zugelassene Eisenbahnunternehmen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 24. Februar 2022, ORLEN KolTrans, C‑563/20, EU:C:2022:113, Rn. 55) sowie andere natürliche und/oder juristische Personen, die ein einzelwirtschaftliches oder gemeinwirtschaftliches Interesse am Erwerb von Fahrwegkapazität haben.

54

Wie sich aus der Auflistung in Art. 30 Abs. 2 Buchst. a bis f der Richtlinie 2001/14 ergibt, ist der in Art. 30 Abs. 2 der Richtlinie vorgesehene Rechtsbehelf statthaft gegen Entscheidungen und Handlungen der Betreiber der Infrastruktur oder gegebenenfalls der Eisenbahnunternehmen, sofern diese den Zugang zur Eisenbahninfrastruktur betreffen, einschließlich der in Anhang II Nr. 2 der Richtlinie genannten Leistungen. Nach Art. 30 Abs. 2 Buchst. d und e der Richtlinie können insbesondere Entscheidungen über die Entgeltregelung oder die Höhe oder Struktur der Wegeentgelte, die der Antragsteller zu zahlen hat oder hätte, angefochten werden.

55

Vorbehaltlich einer etwaigen späteren Überprüfung durch die nationalen Gerichte, die über Klagen gegen die Entscheidungen der Regulierungsstelle zu entscheiden haben, ist diese für den in Art. 30 Abs. 2 der Richtlinie 2001/14 vorgesehenen Rechtsbehelf ausschließlich zuständig (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 9. November 2017, CTL Logistics, C‑489/15, EU:C:2017:834, Rn. 86).

56

Demnach müssen sich die Antragsteller, wenn sie Ersatz eines Schadens begehren, der mit den Entgelten für die Nutzung von Infrastruktur zusammenhängt, die von einem Betreiber der Infrastruktur oder demjenigen, der die in Anhang II Nr. 2 der Richtlinie 2001/14 genannten Leistungen erbringt, festgelegt worden sind, an die Regulierungsstelle wenden.

57

Als Zweites ist festzustellen, dass die ausschließliche Zuständigkeit der Regulierungsstelle für Rechtsstreitigkeiten, die unter Art. 30 Abs. 2 der Richtlinie 2001/14 fallen, eng mit den besonderen technischen Gegebenheiten des Eisenbahnsektors zusammenhängt.

58

Denn die Eisenbahninfrastruktur stellt, wie der Unionsgesetzgeber insbesondere im 40. Erwägungsgrund der Richtlinie 2001/14 festgestellt hat, ein natürliches Monopol dar. Die begrenzte Kapazität kann nur von einer bestimmten Zahl von Unternehmen genutzt werden, die dabei die Zeitfenster einzuhalten haben, die ihnen von den Betreibern der Infrastruktur, nämlich den Stellen und Unternehmen, die insbesondere die Aufgabe haben, den Zugang zu den Fahrwegen zu organisieren, zugewiesen worden sind. Die Betreiber der Infrastruktur haben daher gegenüber den Eisenbahnunternehmen strukturbedingt eine beherrschende Stellung.

59

Wie sich insbesondere aus den Erwägungsgründen 5 und 11 der Richtlinie 2001/14 ergibt, wird mit der Richtlinie daher das Ziel verfolgt, einen nicht diskriminierenden Zugang zur Eisenbahninfrastruktur sicherzustellen. Insoweit heißt es im 16. Erwägungsgrund der Richtlinie, dass Entgelt- und Kapazitätszuweisungsregelungen einen fairen Wettbewerb bei der Erbringung von Eisenbahnverkehrsleistungen ermöglichen sollten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 9. November 2017, CTL Logistics, C‑489/15, EU:C:2017:834, Rn. 36 und 37).

60

Die ausschließliche Zuständigkeit der Eisenbahn-Regulierungsstellen ist nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs genau durch diese Ziele gerechtfertigt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 9. November 2017, CTL Logistics, C‑489/15, EU:C:2017:834, Rn. 87) und impliziert die speziellen Befugnisse, über die die Regulierungsstellen nach Art. 30 Abs. 2, 3 und 5 der Richtlinie 2001/14 verfügen.

61

Diese Befugnisse ermöglichen es den Regulierungsstellen nämlich, die genannten Ziele zu verwirklichen und den technischen Anforderungen der Eisenbahninfrastruktur (siehe oben, Rn. 58) Rechnung zu tragen.

62

Insoweit hat der Gerichtshof zu der Richtlinie 2012/34, mit der die Richtlinie 2001/14 aufgehoben und ersetzt wurde, entschieden, dass die Befugnis der Regulierungsstelle, über die Anwendung der Vorschriften der Richtlinie zu wachen, von Amts wegen ausgeübt werden kann und somit nicht von der Erhebung einer Beschwerde oder einer Klage abhängt und dass die effiziente Verwaltung und die gerechte und nicht diskriminierende Nutzung der Eisenbahninfrastruktur – beides Anliegen der Richtlinie – die Einrichtung einer staatlichen Stelle erfordern, die gleichzeitig beauftragt ist, von sich aus über die Anwendung der Vorschriften der Richtlinie durch die Akteure des Eisenbahnsektors zu wachen und als Beschwerdestelle zu fungieren (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 3. Mai 2022, CityRail, C‑453/20, EU:C:2022:341, Rn. 57 und 60).

63

Wird eine gemäß Art. 55 der Richtlinie 2012/34 eingerichtete Regulierungsstelle mit einem Rechtsbehelf befasst, lässt dieser Umstand daher die Befugnis dieser Stelle unberührt, erforderlichenfalls von Amts wegen geeignete Maßnahmen zu ergreifen, um jeden Verstoß gegen die geltende Regelung abzustellen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 3. Mai 2022, CityRail, C‑453/20, EU:C:2022:341, Rn. 61).

64

Diese Erwägungen gelten auch für die Richtlinie 2001/14, deren Art. 30 im Wesentlichen Art. 56 der Richtlinie 2012/34 entspricht, auf den sich die Rn. 57, 60 und 61 des Urteils vom 3. Mai 2022, CityRail (C‑453/20, EU:C:2022:341), beziehen.

65

Daraus folgt insbesondere, dass die Regulierungsstelle nach Art. 30 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 2001/14 sowohl als Beschwerdestelle zu fungieren als auch von sich aus über die Anwendung der Vorschriften der Richtlinie durch die Akteure des Eisenbahnsektors zu wachen hat. Sie ist nach Art. 30 Abs. 5 der Richtlinie 2001/14 befugt, bei Verstößen gegen die Richtlinie Abhilfemaßnahmen zu treffen, gegebenenfalls von Amts wegen.

66

Nach Art. 30 Abs. 5 der Richtlinie 2001/14 sind die Entscheidungen der Regulierungsstelle im Übrigen nicht nur für die Parteien eines Rechtsstreits, über den sie zu entscheiden hat, sondern für alle davon Betroffenen des Eisenbahnsektors, und zwar sowohl für die Verkehrsunternehmen als auch für die Betreiber der Infrastruktur, verbindlich. Die Regulierungsstelle ist auf diese Weise in der Lage, die Gleichbehandlung der beteiligten Unternehmen hinsichtlich des Zugangs zur Infrastruktur und die Aufrechterhaltung eines fairen Wettbewerbs im Sektor der Erbringung von Eisenbahnverkehrsleistungen zu gewährleisten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 9. November 2017, CTL Logistics, C‑489/15, EU:C:2017:834, Rn. 94 und 96).

67

Als Drittes ist festzustellen, dass mit dem in Art. 30 Abs. 2 der Richtlinie 2001/14 vorgesehenen Rechtsbehelf – gegebenenfalls mit einer anschließenden gerichtlichen Überprüfung der von der Regulierungsstelle in diesem Zusammenhang erlassenen Entscheidungen – gewährleistet werden kann, dass Art. 102 AEUV, der den Missbrauch einer beherrschenden Stellung verbietet, beachtet wird.

68

Bereits aus dem Ziel der Richtlinie 2001/14, einen nicht diskriminierenden Zugang zu der Infrastruktur unter Bedingungen eines fairen Wettbewerbs sicherzustellen, und den Verpflichtungen, die den Betreibern von Infrastruktur insoweit auferlegt werden, ergibt sich nämlich, dass sich die Eisenbahnunternehmen vor der Regulierungsstelle auf einen Verstoß gegen Art. 102 AEUV berufen können.

69

Die materiellen Vorschriften der Richtlinie 2001/14, insbesondere betreffend die Berechnung der Entgelte für die Nutzung von Infrastruktur, einschließlich der Entgelte für die in Anhang II Nr. 2 der Richtlinie genannten Leistungen, tragen zur Erreichung der Ziele von Art. 102 AEUV bei.

70

Insoweit hat der Gerichtshof wiederholt entschieden, dass es Sache der Betreiber der Infrastruktur ist, die die Entgelte ohne Diskriminierung berechnen und erheben müssen, nicht nur die Schienennetz-Nutzungsbedingungen auf alle Fahrwegnutzer gleich anzuwenden, sondern auch dafür Sorge zu tragen, dass die tatsächlich erhobenen Entgelte diesen Bedingungen entsprechen (Urteil vom 24. Februar 2022, ORLEN KolTrans, C‑563/20, EU:C:2022:113, Rn. 53 und die dort angeführte Rechtsprechung).

71

Wie sich aus den Art. 9, 17 und 24 der Richtlinie 2001/14 ergibt, erfolgt die Anwendung der Bestimmungen über den Zugang zur Eisenbahninfrastruktur im Übrigen unbeschadet der Wettbewerbsvorschriften, die sich unmittelbar aus dem AEU‑Vertrag, insbesondere Art. 102 AEUV, ergeben. Damit wollte der Unionsgesetzgeber klarstellen, dass die Betreiber der Infrastruktur bei Entscheidungen über die Zuweisung von Fahrwegkapazität und die Entgelte für die Nutzung von Infrastruktur diese Vorschriften des primären Unionsrechts zu beachten haben.

72

Dies gilt insbesondere für die in Anhang II Nr. 2 der Richtlinie 2001/14 genannten Leistungen. Aus Art. 5 Abs. 1 und Art. 7 Abs. 7 der Richtlinie ergibt sich nämlich nicht nur, dass diese Leistungen unter Ausschluss jeglicher Diskriminierung zu erbringen sind, sondern auch, dass bei der Festsetzung der Preise die Wettbewerbssituation des Eisenbahnverkehrs zu berücksichtigen ist.

73

Die Regulierungsstelle, die dafür zu sorgen hat, dass sowohl die Betreiber der Infrastruktur als auch die Erbringer der Eisenbahnverkehrsleistungen ihre Verpflichtungen einhalten, ist daher, wenn sie über einen Rechtsbehelf eines Eisenbahnunternehmens zu entscheiden hat, verpflichtet, entsprechend dem Wortlaut von Art. 30 Abs. 2 der Richtlinie 2001/14 zu prüfen, ob der Antragsteller ungerecht behandelt, diskriminiert oder auf andere Weise in seinen Rechten verletzt worden ist, was sowohl Fragen betreffend die Entgelte für die Nutzung der Infrastruktur bzw. die Inanspruchnahme von Leistungen als auch wettbewerbsrechtliche Fragen umfasst.

74

Wird sie auf der Grundlage von Art. 30 Abs. 2 der Richtlinie 2001/14 angerufen, kann die zuständige nationale Regulierungsstelle ihre Zuständigkeit für die Feststellung eines Verstoßes gegen Art. 102 AEUV daher nicht mit der Begründung verneinen, dass eine innerstaatliche Rechtsvorschrift wie § 14f AEG es ihr nicht ermögliche, über die Rechtmäßigkeit bereits gezahlter Entgelte für die Nutzung von Infrastruktur zu entscheiden.

Verhältnis zwischen den bei der Regulierungsstelle und den bei den nationalen Gerichten eingelegten Rechtsbehelfen

75

Art. 30 Abs. 5 Unterabs. 2 der Richtlinie 2001/14 bestimmt, dass die Entscheidungen der Regulierungsstelle für alle davon Betroffenen verbindlich sind, regelt aber nicht die Frage, ob die Entscheidungen der Regulierungsstelle für die Gerichte verbindlich sind, die über eine auf Art. 102 AEUV gestützte Klage auf Rückzahlung zu viel gezahlter Entgelte für die Nutzung von Infrastruktur zu entscheiden haben.

76

Zwar hat der Gerichtshof in seinem Urteil vom 9. November 2017, CTL Logistics (C‑489/15, EU:C:2017:834), entschieden, dass die Zuständigkeit der Zivilgerichte für die Entscheidung über die Rückzahlung von Entgelten für die Nutzung von Infrastruktur nach den Vorschriften des nationalen Zivilrechts nur dann in Betracht kommt, wenn die Unvereinbarkeit des Entgelts mit der Regelung über den Zugang zur Eisenbahninfrastruktur zuvor von der Regulierungsstelle oder von einem Gericht, das die Entscheidung dieser Stelle überprüft hat, im Einklang auch mit den Vorschriften des nationalen Rechts festgestellt worden ist (Rn. 97), und dass es nicht mit der der Regulierungsstelle durch Art. 30 der Richtlinie 2001/14 zuerkannten ausschließlichen Zuständigkeit vereinbar wäre, wenn alle nationalen Zivilgerichte damit betraut würden, unmittelbar die in der Richtlinie 2001/14 enthaltenen Vorschriften des Eisenbahnregulierungsrechts anzuwenden (Rn. 84 und 86).

77

In dem betreffenden Fall – und damit dem betreffenden dem Gerichtshof vorgelegten Vorabentscheidungsersuchen – ging es aber um eine von einem Eisenbahnunternehmen gegen einen Betreiber der Infrastruktur erhobene Klage auf Rückzahlung von Entgelten für die Nutzung von Eisenbahninfrastruktur, die auf Rechtsvorschriften des deutschen Zivilrechts gestützt war, die es dem Zivilrichter im Wesentlichen ermöglichten, über die Höhe der Entgelte eine Entscheidung nach billigem Ermessen zu treffen. Im vorliegenden Fall hat das vorlegende Gericht bei seiner Entscheidung über die Klage von ODEG auf Rückzahlung der Entgelte für die Nutzung von Infrastruktur hingegen nicht das deutsche Zivilrecht, sondern eine Bestimmung des primären Unionsrechts, nämlich Art. 102 AEUV, und gleichzeitig die entsprechenden Bestimmungen des einzelstaatlichen Wettbewerbsrechts anzuwenden.

78

Die Überprüfung der Entgelte für die Nutzung von Infrastruktur nach Maßgabe der zivilrechtlichen Vorschriften eines Mitgliedstaats, die nichts mit den Vorschriften der Richtlinie 2001/14 zu tun haben, ist bereits ihrem Wesen nach nicht mit den technischen Erfordernissen des Eisenbahnsektors, den Zielen der Richtlinie 2001/14 und den Aufgaben der Regulierungsstelle (siehe oben, Rn. 58 bis 60) vereinbar. Dies gilt aber nicht für die Anfechtung der Höhe der Entgelte auf der Grundlage von Art. 102 AEUV, wie sich insbesondere aus den Rn. 71 bis 73 des vorliegenden Urteils ergibt.

79

Damit die volle Wirksamkeit von Art. 102 AEUV gewahrt und insbesondere gewährleistet wird, dass die Antragsteller wirksam gegen Schäden geschützt sind, die durch einen Verstoß gegen das Wettbewerbsrecht entstehen, sind die zuständigen nationalen Gerichte deshalb durch die ausschließliche Zuständigkeit, die der Regulierungsstelle durch Art. 30 der Richtlinie 2001/14 zuerkannt wird, nicht daran gehindert, über auf Art. 102 AEUV gestützte Klagen auf Rückzahlung zu viel gezahlter Entgelte für die Nutzung von Infrastruktur zu entscheiden.

80

Im Hinblick auf die Erfordernisse einer kohärenten Verwaltung des Eisenbahnnetzes (siehe insbesondere oben, Rn. 57 bis 66) steht Art. 102 AEUV aber – vorbehaltlich der nachstehenden Erwägungen – dem nicht entgegen, dass die ausschließliche Zuständigkeit der Regulierungsstelle gewahrt wird, bei Rechtsstreitigkeiten, mit denen sie nach Art. 30 Abs. 2 der Richtlinie 2001/14 befasst wird, über sämtliche Gesichtspunkte zu entscheiden.

81

Demnach muss ein Eisenbahnunternehmen, das die Rückzahlung zu viel gezahlter Entgelte für die Nutzung von Infrastruktur auf der Grundlage von Art. 102 AEUV begehrt, die nationale Regulierungsstelle mit der Frage der Rechtmäßigkeit dieser Entgelte befassen, bevor es die zuständigen nationalen Gerichte anruft.

82

Im Übrigen hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass eine regulatorische Verpflichtung für die Beurteilung der Frage relevant sein kann, ob die Verhaltensweise eines Unternehmens in beherrschender Stellung, für das eine Bereichsregelung gilt, im Sinne von Art. 102 AEUV missbräuchlich ist (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 14. Oktober 2010, Deutsche Telekom/Kommission, C‑280/08 P, EU:C:2010:603, Rn. 224, und vom 25. März 2021, Deutsche Telekom/Kommission, C‑152/19 P, EU:C:2021:238, Rn. 57).

83

Damit den technischen Anforderungen Rechnung getragen wird, die mit der Funktionsweise des Eisenbahnsektors zusammenhängen, und die praktische Wirksamkeit der Vorschriften über den Zugang zur Infrastruktur gewahrt wird und gleichzeitig die Beachtung von Art. 102 AEUV und dessen volle Wirksamkeit gewährleistet werden, sind die nationalen Gerichte, die über eine Klage auf Rückzahlung zu viel gezahlter Entgelte für die Nutzung von Infrastruktur zu entscheiden haben, somit verpflichtet, loyal mit den nationalen Regulierungsstellen zusammenzuarbeiten. Auch wenn die nationalen Gerichte, die über solche Klagen zu entscheiden haben, nicht an die Entscheidungen der nationalen Regulierungsstellen gebunden sind, sind sie demnach gehalten, diese zu berücksichtigen und sich bei der Begründung ihrer eigenen Entscheidungen mit den Feststellungen zum Sachverhalt und der rechtlichen Würdigung auseinanderzusetzen, die die nationalen Regulierungsstellen in Bezug auf den Rechtsstreit, über den sie zu entscheiden hatten, insbesondere im Hinblick auf die Anwendung der einschlägigen sektorspezifischen Regelung auf den betreffenden Fall, vorgenommen haben.

84

Mit dem Erfordernis der vorherigen Anrufung der nationalen Regulierungsstelle und dem Erfordernis der loyalen Zusammenarbeit zwischen der Regulierungsstelle und den nationalen Gerichten (siehe oben, Rn. 81 bis 83) wird gewährleistet, dass die Aufgabe der Regulierungsstelle und damit auch die praktische Wirksamkeit von Art. 30 der Richtlinie 2001/14 – anders als in dem Fall, um den es in dem Urteil vom 8. Juli 2021, Koleje Mazowieckie (C‑120/20, EU:C:2021:553), ging, worauf der Gerichtshof in Rn. 54 jenes Urteils hingewiesen hat – nicht in Frage gestellt wird, wenn die nationalen Gerichte über eine auf Art. 102 AEUV gestützte Klage zu entscheiden haben.

85

Damit die volle Wirksamkeit von Art. 102 AEUV gewährleistet wird, sind die nationalen Gerichte, die über eine auf diese Bestimmung gestützte Klage auf Rückzahlung zu viel gezahlter Entgelte für die Nutzung von Infrastruktur zu entscheiden haben, nicht verpflichtet, den Ausgang der Gerichtsverfahren abzuwarten, die gegen die Entscheidungen der zuständigen Regulierungsstelle eingeleitet wurden.

86

Dasselbe gilt für den Fall, dass ein nationales Gericht gemäß Art. 3 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1/2003 gleichzeitig Art. 102 AEUV und die entsprechenden Vorschriften des einzelstaatlichen Wettbewerbsrechts anzuwenden hat.

87

Was das Ausgangsverfahren angeht, ist festzustellen, dass die Bundesnetzagentur mit den oben in den Rn. 24 und 26 genannten Entscheidungen die Rechtswidrigkeit der Entgelte für den Zugang zu der in Rede stehenden Infrastruktur nur für die Zukunft festgestellt hat. Wie bereits ausgeführt (siehe oben, Rn. 74), kann die auf der Grundlage von Art. 30 Abs. 2 der Richtlinie 2001/14 angerufene Bundesnetzagentur jedoch ihre Zuständigkeit für die Entscheidung über die Rechtmäßigkeit der in der Vergangenheit für die Nutzung von Infrastruktur gezahlten Entgelte nicht verneinen.

88

Nach alledem ist auf Frage 1 zu antworten, dass Art. 30 der Richtlinie 2001/14 dahin auszulegen ist, dass er dem nicht entgegensteht, dass die nationalen Gerichte bei der Entscheidung über eine Klage auf Rückzahlung der Entgelte für die Nutzung von Infrastruktur gleichzeitig Art. 102 AEUV und das einzelstaatliche Wettbewerbsrecht anwenden, sofern die zuständige Regulierungsstelle vorher über die Rechtmäßigkeit der betreffenden Entgelte entschieden hat. Insoweit sind die nationalen Gerichte zur loyalen Zusammenarbeit verpflichtet; sie müssen bei ihrer Würdigung die Entscheidungen der zuständigen Regulierungsstelle berücksichtigen und sich bei der Begründung ihrer eigenen Entscheidungen mit dem gesamten Inhalt der ihnen vorgelegten Akten auseinandersetzen.

Zu Frage 2

89

In Anbetracht der Antwort auf Frage 1 ist Frage 2 nicht zu prüfen.

Kosten

90

Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Vierte Kammer) für Recht erkannt:

 

Art. 30 der Richtlinie 2001/14/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Februar 2001 über die Zuweisung von Fahrwegkapazität der Eisenbahn und die Erhebung von Entgelten für die Nutzung von Eisenbahninfrastruktur in der durch die Richtlinie 2007/58/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. Oktober 2007 geänderten Fassung

 

ist wie folgt auszulegen:

 

Er steht dem nicht entgegen, dass die nationalen Gerichte bei der Entscheidung über eine Klage auf Rückzahlung der Entgelte für die Nutzung von Infrastruktur gleichzeitig Art. 102 AEUV und das einzelstaatliche Wettbewerbsrecht anwenden, sofern die zuständige Regulierungsstelle vorher über die Rechtmäßigkeit der betreffenden Entgelte entschieden hat. Insoweit sind die nationalen Gerichte zur loyalen Zusammenarbeit verpflichtet; sie müssen bei ihrer Würdigung die Entscheidungen der zuständigen Regulierungsstelle berücksichtigen und sich bei der Begründung ihrer eigenen Entscheidungen mit dem gesamten Inhalt der ihnen vorgelegten Akten auseinandersetzen.

 

Lycourgos

Rossi

Bonichot

Rodin

Spineanu-Matei

Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 27. Oktober 2022.

Der Kanzler

A. Calot Escobar

Der Kammerpräsident

C. Lycourgos


( *1 ) Verfahrenssprache: Deutsch.

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