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Document 62018CJ0347

Urteil des Gerichtshofs (Erste Kammer) vom 4. September 2019.
Alessandro Salvoni gegen Anna Maria Fiermonte.
Vorabentscheidungsersuchen des Tribunale di Milano.
Vorlage zur Vorabentscheidung – Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen – Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 – Art. 53 – Bescheinigung nach Anhang I über eine Entscheidung in Zivil- und Handelssachen – Befugnisse des Ursprungsgerichts – Prüfung von Amts wegen zur Feststellung, ob Verstöße gegen die Vorschriften über die Zuständigkeit bei Verbraucherverträgen vorliegen.
Rechtssache C-347/18.

Court reports – general

ECLI identifier: ECLI:EU:C:2019:661

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Erste Kammer)

4. September 2019 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen – Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 – Art. 53 – Bescheinigung nach Anhang I über eine Entscheidung in Zivil- und Handelssachen – Befugnisse des Ursprungsgerichts – Prüfung von Amts wegen zur Feststellung, ob Verstöße gegen die Vorschriften über die Zuständigkeit bei Verbraucherverträgen vorliegen“

In der Rechtssache C‑347/18

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Tribunale di Milano (Gericht Mailand, Italien) mit Entscheidung vom 14. Mai 2018, beim Gerichtshof eingegangen am 28. Mai 2018, in dem Verfahren

Alessandro Salvoni

gegen

Anna Maria Fiermonte

erlässt

DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten J.‑C. Bonichot, der Richterin C. Toader (Berichterstatterin) sowie der Richter A. Rosas, L. Bay Larsen und M. Safjan,

Generalanwalt: M. Bobek,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von P. Pucciariello, avvocato dello Stato,

der tschechischen Regierung, vertreten durch M. Smolek, J. Vláčil und A. Kasalická als Bevollmächtigte,

von Irland, vertreten durch J. Quaney, G. Hodge, M. Browne und A. Joyce als Bevollmächtigte,

der Europäischen Kommission, vertreten durch F. Moro, M. Heller und M. Wilderspin als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 7. Mai 2019

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 53 der Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2012 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (ABl. 2012, L 351, S. 1) in der durch die Delegierte Verordnung (EU) 2015/281 der Kommission vom 26. November 2014 (ABl. 2015, L 54, S. 1) geänderten Fassung (im Folgenden: Verordnung Nr. 1215/2012) und Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).

2

Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Herrn Alessandro Salvoni und Frau Anna Maria Fiermonte wegen der Beträge, die sie ihm für die von ihm erbrachten Leistungen als Rechtsanwalt schuldet.

Rechtlicher Rahmen

3

In den Erwägungsgründen 29 und 32 der Verordnung Nr. 1215/2012 heißt es:

„(29)

… [D]er Schuldner [sollte] die Versagung der Anerkennung oder der Vollstreckung einer Entscheidung beantragen können, wenn er der Auffassung ist, dass einer der Gründe für die Versagung der Anerkennung vorliegt.

(32)

Um den Schuldner über die Vollstreckung einer in einem anderen Mitgliedstaat ergangenen Entscheidung zu unterrichten, sollte die gemäß dieser Verordnung ausgestellte Bescheinigung – erforderlichenfalls zusammen mit der Entscheidung – dem Schuldner innerhalb einer angemessenen Frist vor der ersten Vollstreckungsmaßnahme zugestellt werden. In diesem Zusammenhang sollte als erste Vollstreckungsmaßnahme die erste Vollstreckungsmaßnahme nach einer solchen Zustellung gelten.“

4

Die Art. 17 bis 19 der Verordnung Nr. 1215/2012 stehen in Kapitel II, das die gerichtliche Zuständigkeit betrifft, und zwar in dessen Abschnitt 4 („Zuständigkeit bei Verbrauchersachen“). Art. 17 Abs. 1 Buchst. c der Verordnung Nr. 1215/2012 sieht vor:

„(1)   Bilden ein Vertrag oder Ansprüche aus einem Vertrag, den eine Person, der Verbraucher, zu einem Zweck geschlossen hat, der nicht der beruflichen oder gewerblichen Tätigkeit dieser Person zugerechnet werden kann, den Gegenstand des Verfahrens, so bestimmt sich die Zuständigkeit unbeschadet des Artikels 6 und des Artikels 7 Nummer 5 nach diesem Abschnitt,

c)

in allen anderen Fällen, wenn der andere Vertragspartner in dem Mitgliedstaat, in dessen Hoheitsgebiet der Verbraucher seinen Wohnsitz hat, eine berufliche oder gewerbliche Tätigkeit ausübt oder eine solche auf irgendeinem Wege auf diesen Mitgliedstaat oder auf mehrere Staaten, einschließlich dieses Mitgliedstaats, ausrichtet und der Vertrag in den Bereich dieser Tätigkeit fällt.“

5

Art. 18 Abs. 2 dieser Verordnung bestimmt:

„Die Klage des anderen Vertragspartners gegen den Verbraucher kann nur vor den Gerichten des Mitgliedstaats erhoben werden, in dessen Hoheitsgebiet der Verbraucher seinen Wohnsitz hat.“

6

Art. 28 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1215/2012 lautet:

„Lässt sich der Beklagte, der seinen Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats hat und der vor dem Gericht eines anderen Mitgliedstaats verklagt wird, auf das Verfahren nicht ein, so hat sich das Gericht von Amts wegen für unzuständig zu erklären, wenn seine Zuständigkeit nicht nach dieser Verordnung begründet ist.“

7

Art. 37 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1215/2012 bestimmt:

„Eine Partei, die in einem Mitgliedstaat eine in einem anderen Mitgliedstaat ergangene Entscheidung geltend machen will, hat Folgendes vorzulegen:

a)

eine Ausfertigung der Entscheidung, die die für ihre Beweiskraft erforderlichen Voraussetzungen erfüllt,

b)

die nach Artikel 53 ausgestellte Bescheinigung.“

8

Art. 42 dieser Verordnung sieht vor:

„(1)   Soll in einem Mitgliedstaat eine in einem anderen Mitgliedstaat ergangene Entscheidung vollstreckt werden, hat der Antragsteller der zuständigen Vollstreckungsbehörde Folgendes vorzulegen:

a)

eine Ausfertigung der Entscheidung, die die für ihre Beweiskraft erforderlichen Voraussetzungen erfüllt, und

b)

die nach Artikel 53 ausgestellte Bescheinigung, mit der bestätigt wird, dass die Entscheidung vollstreckbar ist, und die einen Auszug aus der Entscheidung sowie gegebenenfalls relevante Angaben zu den erstattungsfähigen Kosten des Verfahrens und der Berechnung der Zinsen enthält.

(2)   Soll in einem Mitgliedstaat eine in einem anderen Mitgliedstaat ergangene Entscheidung vollstreckt werden, mit der eine einstweilige Maßnahme einschließlich einer Sicherungsmaßnahme angeordnet wird, hat der Antragsteller der zuständigen Vollstreckungsbehörde Folgendes vorzulegen:

a)

eine Ausfertigung der Entscheidung, die die für ihre Beweiskraft erforderlichen Voraussetzungen erfüllt,

b)

die nach Artikel 53 ausgestellte Bescheinigung, die eine Beschreibung der Maßnahme enthält und mit der bestätigt wird, dass

i)

das Gericht in der Hauptsache zuständig ist,

ii)

die Entscheidung im Ursprungsmitgliedstaat vollstreckbar ist, und

c)

wenn die Maßnahme ohne Vorladung des Beklagten angeordnet wurde, den Nachweis der Zustellung der Entscheidung.

…“

9

Art. 43 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1215/2012 lautet:

„Soll eine in einem anderen Mitgliedstaat ergangene Entscheidung vollstreckt werden, so wird die gemäß Artikel 53 ausgestellte Bescheinigung dem Schuldner vor der ersten Vollstreckungsmaßnahme zugestellt. Der Bescheinigung wird die Entscheidung beigefügt, sofern sie dem Schuldner noch nicht zugestellt wurde.“

10

In Bezug auf die Versagung der Anerkennung und Vollstreckung sieht Art. 45 Abs. 1 Buchst. e und Abs. 2 vor:

„(1)   Die Anerkennung einer Entscheidung wird auf Antrag eines Berechtigten versagt, wenn

e)

die Entscheidung unvereinbar ist

i)

mit Kapitel II Abschnitte 3, 4 oder 5, sofern der Beklagte Versicherungsnehmer, Versicherter, Begünstigter des Versicherungsvertrags, Geschädigter, Verbraucher oder Arbeitnehmer ist, oder

(2)   Das mit dem Antrag befasste Gericht ist bei der Prüfung, ob eine der in Absatz 1 Buchstabe e angeführten Zuständigkeiten gegeben ist, an die tatsächlichen Feststellungen gebunden, aufgrund deren das Ursprungsgericht seine Zuständigkeit angenommen hat.“

11

Nach Art. 46 der Verordnung Nr. 1215/2012 „[wird] [d]ie Vollstreckung einer Entscheidung … auf Antrag des Schuldners versagt, wenn festgestellt wird, dass einer der in Artikel 45 genannten Gründe gegeben ist“.

12

Gemäß Art. 53 dieser Verordnung „[stellt] [d]as Ursprungsgericht … auf Antrag eines Berechtigten die Bescheinigung unter Verwendung des Formblatts in Anhang I aus“.

13

Nr. 4 („Entscheidung“) dieses Formblatts nennt unter 4.6.2 Angaben, die vom Ursprungsgericht im Fall einer einstweiligen Maßnahme oder einer Sicherungsmaßnahme in Bezug auf die Zuständigkeit des Gerichts, das eine solche Maßnahme angeordnet hat, einzutragen sind.

Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage

14

Mit am 3. November 2015 eingegangenem Antrag beantragte Herr Salvoni, der Rechtsanwalt ist und seine Kanzlei in Mailand (Italien) hat, beim Tribunale di Milano (Gericht Mailand, Italien) den Erlass eines Mahnbescheids gegen Frau Fiermonte, wohnhaft in Hamburg (Deutschland), wegen der Vergütung seiner Leistungen im Rahmen des Verfahrens zur Anfechtung des eigenhändigen Testaments des Vaters seiner Mandantin.

15

Das vorlegende Gericht erließ einen Mahnbescheid über einen Betrag zuzüglich Zinsen und Kosten. Da Frau Fiermonte dieser Entscheidung nicht widersprach, beantragte Herr Salvoni bei diesem Gericht zum Zweck der Vollstreckung, eine Bescheinigung gemäß Art. 53 der Verordnung Nr. 1215/2012 unter Verwendung des Formblatts in Anhang I dieser Verordnung zu erlassen.

16

Das vorlegende Gericht führte von Amts wegen eine Internet-Recherche durch, die ergab, dass Herr Salvoni eine auf Deutschland ausgerichtete Tätigkeit ausübte. Das vorlegende Gericht forderte Herrn Salvoni daher auf, nachzuweisen, für welche Kanzlei er in dem Zeitraum tätig war, in dem er Frau Fiermonte anwaltlichen Beistand leistete. Die von Herrn Salvoni eingereichten Unterlagen bestätigen, dass seine Tätigkeit auf Deutschland ausgerichtet war und dass Frau Fiermonte zu der Zeit, als er ihr anwaltlichen Beistand leistete, in Deutschland wohnte.

17

Das vorlegende Gericht war der Ansicht, dass das Verhältnis zwischen Herrn Salvoni und Frau Fiermonte einem Verbrauchervertrag gleichzustellen sei, und zog aus den Angaben zur beruflichen Tätigkeit von Herrn Salvoni den Schluss, dass der Mahnbescheid unter Verstoß gegen die Zuständigkeitsregeln in Abschnitt 4 des Kapitels II der Verordnung Nr. 1215/2012 über die gerichtliche Zuständigkeit in Verbrauchersachen erlassen worden sei.

18

In diesem Zusammenhang hegt das vorlegende Gericht Zweifel hinsichtlich der Befugnisse, über die das mit Ausstellung der Bescheinigung gemäß Art. 53 der Verordnung Nr. 1215/2012 betraute Gericht verfügt, wenn eine nach nationalem Verfahrensrecht rechtskräftig gewordene Entscheidung unter Verstoß gegen die in dieser Verordnung vorgesehenen Vorschriften über die gerichtliche Zuständigkeit erlassen wurde.

19

Es fragt sich insbesondere, ob Art. 53 der Verordnung Nr. 1215/2012 dem mit einem Antrag auf Erteilung der Bescheinigung befassten Gericht vorschreibt, die im Ursprungsmitgliedstaat erlassene Entscheidung unverändert in diese Bescheinigung zu übernehmen, oder ob es nach dieser Bestimmung von Amts wegen beschließen kann, den beklagten Verbraucher, gegen den die Entscheidung in einem anderen Mitgliedstaat als dem Ursprungsmitgliedstaat zu vollstrecken ist, über den möglichen Verstoß gegen die in Kapitel II Abschnitt 4 dieser Verordnung niedergelegten Zuständigkeitsregeln und damit über die Möglichkeit, der Anerkennung im Sinne von Art. 45 Abs. 1 Buchst. e der genannten Verordnung zu widersprechen, zu unterrichten.

20

Das vorlegende Gericht ist der Auffassung, dass die Art. 42 und 53 der Verordnung Nr. 1215/2012 wohl dahin ausgelegt werden könnten, dass das mit der Ausstellung dieser Bescheinigung betraute Gericht über keinerlei Ermessen verfügt und den Inhalt der fraglichen Entscheidung automatisch in das Formblatt des Anhangs I dieser Verordnung übertragen muss, um zu bescheinigen, dass diese Entscheidung im Ursprungsmitgliedstaat vollstreckbar ist.

21

Gleichwohl könne eine solche Auslegung gegen Art. 47 der Charta, wie ihn der Gerichtshof im Bereich des Verbraucherschutzrechts ausgelegt habe, verstoßen. Insoweit ergebe sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs, insbesondere aus den Urteilen vom 14. Juni 2012, Banco Español de Crédito (C‑618/10, EU:C:2012:349‚ Rn. 39, 41 und 43), und vom 18. Februar 2016, Finanmadrid EFC (C‑49/14, EU:C:2016:98‚ Rn. 46), dass die schwächere Verhandlungsposition und der geringere Informationsstand des Verbrauchers gegenüber dem Gewerbetreibenden nur durch ein positives Eingreifen des Gerichts ausgeglichen werden könnten, das verpflichtet sei, von Amts wegen die etwaige Missbräuchlichkeit einer Vertragsklausel zu prüfen, wenn es über die hierzu erforderlichen rechtlichen und tatsächlichen Grundlagen verfüge.

22

Zu der in Art. 53 der Verordnung Nr. 1215/2012 vorgesehenen Bescheinigung führt das vorlegende Gericht aus, dass es sich bei der Bestätigung einer gerichtlichen Entscheidung, wie der Gerichtshof in Bezug auf die Bestätigung nach Art. 9 der Verordnung (EG) Nr. 805/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21. April 2004 zur Einführung eines europäischen Vollstreckungstitels für unbestrittene Forderungen (ABl. 2004, L 143, S. 15) im Urteil vom 16. Juni 2016, Pebros Servizi (C‑511/14, EU:C:2016:448), entschieden habe, um eine Handlung mit Rechtsprechungscharakter handele. Im Rahmen der Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates vom 22. Dezember 2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (ABl. 2001, L 12, S. 1) habe der Gerichtshof auch entschieden, dass die der Bescheinigung nach Art. 54 dieser Verordnung zugedachte Funktion darin bestehe, den Erlass der Entscheidung, mit der die im Ursprungsmitgliedstaat erlassene Entscheidung für vollstreckbar erklärt werde, zu erleichtern (Urteil vom 6. September 2012, Trade Agency, C‑619/10, EU:C:2012:531, Rn. 41). Das vorlegende Gericht hebt in diesem Zusammenhang hervor, dass die Bedeutung einer solchen Bescheinigung in der durch die Verordnung Nr. 1215/2012 geschaffenen Regelung gestärkt worden sei.

23

Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts ist es seine Aufgabe, das mit der Verordnung Nr. 1215/2012 angestrebte Ziel der schnellen Zirkulation von Entscheidungen und den wirksamen Schutz der Verbraucher durch die Möglichkeit, den Verbraucher bei der Ausstellung der in Art. 53 dieser Verordnung vorgesehenen Bescheinigung von einem Verstoß gegen die in Kapitel II Abschnitt 4 dieser Verordnung enthaltenen Zuständigkeitsregeln zu unterrichten, miteinander in Einklang zu bringen.

24

Vor diesem Hintergrund hat das Tribunale di Milano (Gericht Mailand) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Sind Art. 53 der Verordnung Nr. 1215/2012 und Art. 47 der Charta dahin auszulegen, dass es ihnen zuwiderläuft, wenn das Ursprungsgericht, bei dem die Ausstellung der in Art. 53 dieser Verordnung vorgesehenen Bescheinigung in Bezug auf eine rechtskräftige Entscheidung beantragt wurde, die Möglichkeit hat, von Amts wegen Befugnisse auszuüben, die darauf abzielen, das Vorliegen eines Verstoßes gegen die Vorschriften des Kapitels II Abschnitt 4 der genannten Verordnung zu prüfen, um den Verbraucher über einen eventuell festgestellten Verstoß zu informieren und es ihm zu erlauben, in Kenntnis der Sachlage die Möglichkeit zu erwägen, von dem in Art. 45 der genannten Verordnung vorgesehenen Rechtsbehelf Gebrauch zu machen?

Zur Vorlagefrage

Zur Zulässigkeit

25

Zunächst ist zu prüfen, ob ein Gericht, bei dem ein Antrag auf Erteilung einer Bescheinigung nach Art. 53 der Verordnung Nr. 1215/2012 gestellt wird, in Ausübung einer Rechtsprechungstätigkeit im Sinne von Art. 267 AEUV handelt oder ob das Verfahren, nach dem es vorgeht, einem rein administrativen Verfahren oder einem Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit gleichgestellt werden kann.

26

Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs hängt dessen Anrufung gemäß Art. 267 AEUV zwar nicht davon ab, ob das Verfahren, in dem das nationale Gericht eine Vorlagefrage stellt, streitigen Charakter hat, doch können die nationalen Gerichte den Gerichtshof nur anrufen, wenn bei ihnen ein Rechtsstreit anhängig ist und sie im Rahmen eines Verfahrens zu entscheiden haben, das auf eine Entscheidung mit Rechtsprechungscharakter abzielt (Urteil vom 16. Juni 2016, Pebros Servizi, C‑511/14, EU:C:2016:448, Rn. 24 und die dort angeführte Rechtsprechung).

27

Der Ausdruck „Erlass seines Urteils“ im Sinne von Art. 267 Abs. 2 AEUV umfasst das gesamte zur Entscheidung des vorlegenden Gerichts führende Verfahren und ist daher weit auszulegen, um zu verhindern, dass zahlreiche Verfahrensfragen als unzulässig angesehen werden und nicht Gegenstand einer Auslegung durch den Gerichtshof sein können und dass er nicht über die Auslegung aller vom vorlegenden Gericht anzuwendenden Vorschriften des Unionsrechts entscheiden kann (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Juni 2016, Pebros Servizi, C‑511/14, EU:C:2016:448, Rn. 28 und die dort angeführte Rechtsprechung).

28

Hierzu hat der Gerichtshof in den Rn. 39 bis 41 des Urteils vom 28. Februar 2019, Gradbeništvo Korana (C‑579/17, EU:C:2019:162), entschieden, dass ein Ursprungsgericht richterliche Aufgaben wahrnimmt, wenn es prüft, ob es für die Ausstellung der Bescheinigung nach Art. 53 der Verordnung Nr. 1215/2012 zuständig ist.

29

Diese Lösung kann sich nicht auf die Fälle beschränken, in denen die Zuständigkeit für die Ausstellung einer solchen Bescheinigung streitig ist, da die Stelle, die die in diesem Artikel vorgesehene Bescheinigung ausstellt, auch in anderen Fällen gerichtliche Aufgaben wahrzunehmen hat.

30

Somit rechtfertigen die Funktionen, die die in Art. 53 der Verordnung Nr. 1215/2012 vorgesehene Bescheinigung in dem durch diese Verordnung geschaffenen System erfüllt, dass das Ursprungsgericht, wenn ein Teil der in dieser Bescheinigung zu übermittelnden Angaben in der Entscheidung, deren Vollstreckung beantragt wird, nicht enthalten ist oder eine Auslegung dieser Entscheidung erfordert oder streitig ist, gerichtliche Aufgaben wahrnimmt. In diesen Fällen schließt das Gericht an das vorherige Gerichtsverfahren an, indem es insofern dessen volle Wirksamkeit sicherstellt, als eine Entscheidung ohne Bescheinigung nicht frei im europäischen Rechtsraum zirkulieren kann. Dieses Ergebnis entspricht dem Erfordernis der Gewährleistung der raschen Vollstreckung der gerichtlichen Entscheidungen unter gleichzeitiger Wahrung der Rechtssicherheit, auf der das gegenseitige Vertrauen in die Rechtspflege innerhalb der Europäischen Union beruht.

31

Folglich weist das Verfahren zur Ausstellung einer Bescheinigung nach Art. 53 der Verordnung Nr. 1215/2012 rechtsprechenden Charakter auf, so dass ein im Rahmen eines solchen Verfahrens angerufenes innerstaatliches Gericht befugt ist, dem Gerichtshof eine Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen.

32

Somit ist das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen zulässig.

Zur Begründetheit

33

Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 53 der Verordnung Nr. 1215/2012 in Verbindung mit Art. 47 der Charta dahin auszulegen ist, dass er es dem Ursprungsgericht, bei dem die Ausstellung der in diesem Art. 53 vorgesehenen Bescheinigung in Bezug auf eine rechtskräftige Entscheidung beantragt wird, nicht erlaubt, von Amts wegen zu prüfen, ob gegen die Vorschriften des Kapitels II Abschnitt 4 dieser Verordnung verstoßen wurde, um den Verbraucher über einen eventuell festgestellten Verstoß zu informieren und es ihm zu erlauben, in Kenntnis der Sachlage die Möglichkeit zu erwägen, von dem in Art. 45 der genannten Verordnung vorgesehenen Rechtsbehelf Gebrauch zu machen.

34

Zunächst ergibt sich aus einem Vergleich von Art. 42 Abs. 1 Buchst. b mit Art. 42 Abs. 2 Buchst. b der Verordnung Nr. 1215/2012, dass das mit einem Antrag auf Erteilung dieser Bescheinigung befasste Gericht die Zuständigkeit des Gerichts, das die Entscheidung in der Hauptsache erlassen hat, anders als bei einer Entscheidung, mit der eine einstweilige oder sichernde Maßnahme angeordnet wird, nicht prüfen darf.

35

Während nämlich Art. 42 Abs. 1 Buchst. b dieser Verordnung dem Antragsteller lediglich vorschreibt, zum Zweck der Vollstreckung einer Entscheidung in der Sache die Bescheinigung zu übermitteln, die bestätigt, dass eine Entscheidung vollstreckbar ist, sieht Art. 42 Abs. 2 Buchst. b dieser Verordnung vor, dass die Bescheinigung, die zum Zweck der Vollstreckung einer Entscheidung übermittelt wird, mit der eine einstweilige oder sichernde Maßnahme angeordnet wird, speziell bestätigen muss, dass das Ursprungsgericht für die Entscheidung in der Hauptsache zuständig war.

36

Diese Feststellung wird durch den Inhalt dieser Bescheinigung bestätigt, der in Anhang I dieser Verordnung wiedergegeben ist, insbesondere durch Nr. 4.6.2 dieses Anhangs, die sich auf einstweilige oder sichernde Maßnahmen bezieht.

37

Diese Unterscheidung steht im Übrigen im Einklang damit, dass in den anderen Fällen das mit dem Antrag auf Ausstellung der Bescheinigung befasste Gericht das Ursprungsgericht ist, das die Entscheidung in der Sache, deren Anerkennung oder Vollstreckung beantragt wird, erlassen hat und das folglich gemäß Art. 2 der Verordnung Nr. 1215/2012, als es die betreffende Entscheidung erlassen hat, seine Zuständigkeit ausdrücklich oder stillschweigend förmlich begründet hat.

38

Des Weiteren ist dem Wortlaut von Art. 53 der Verordnung Nr. 1215/2012 zu entnehmen, dass das Ursprungsgericht die Bescheinigung auszustellen hat, wenn ein Berechtigter dies beantragt. Diese Bestimmung sieht hingegen keineswegs vor, dass dieses Gericht die Aspekte des Rechtsstreits zu prüfen hätte, die nicht die Anwendung dieser Vorschrift betreffen, wie etwa Fragen der Begründetheit und der Zuständigkeit, die bereits in der Entscheidung, deren Vollstreckung beantragt wird, beurteilt worden sind. Im Übrigen ergibt sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass die Ausstellung der genannten Bescheinigung fast automatisch erfolgt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. September 2012, Trade Agency, C‑619/10, EU:C:2012:531‚ Rn. 41).

39

Daraus folgt, dass Art. 53 der Verordnung Nr. 1215/2012 dahin auszulegen ist, dass er es dem Gericht des Ursprungsmitgliedstaats, bei dem der Antrag auf Ausstellung der in diesem Artikel genannten Bescheinigung in Bezug auf eine gegen einen Verbraucher ergangene rechtskräftige Entscheidung anhängig ist, nicht erlaubt, in einer Rechtssache wie der des Ausgangsverfahrens von Amts wegen zu prüfen, ob diese Entscheidung unter Beachtung der in dieser Verordnung vorgesehenen Zuständigkeitsregeln erlassen wurde.

40

Schließlich ist noch zu prüfen, ob die in Rn. 21 des vorliegenden Urteils angeführte Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Richtlinie 93/13/EWG des Rates vom 5. April 1993 über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen (ABl. 1993, L 95, S. 29) in Verbindung mit Art. 47 der Charta dieses Ergebnis insofern in Frage stellen könnte, als sich aus ihr ergäbe, dass das Ursprungsgericht verpflichtet ist, den Verbraucher von Amts wegen über den mutmaßlichen Verstoß zu informieren, um dem Ungleichgewicht zwischen dem Verbraucher und dem Gewerbetreibenden abzuhelfen.

41

Was erstens die Zuständigkeitsvorschriften der Verordnung Nr. 1215/2012 betrifft, heißt es im 18. Erwägungsgrund dieser Verordnung, dass die schwächere Partei durch Zuständigkeitsvorschriften geschützt werden sollte, die für sie günstiger sind als die allgemeine Regelung.

42

Dieses Ziel wird durch genaue Verfahrensvorschriften der Verordnung Nr. 1215/2012 umgesetzt. So ergibt sich aus Art. 17 Abs. 1 dieser Verordnung, dass sich die Zuständigkeit in den darin aufgeführten Fällen nach besonderen Vorschriften bestimmt, die auf Verträge zwischen einem Verbraucher und einem beruflich oder gewerblich Tätigen Anwendung finden und in Kapitel II Abschnitt 4 dieser Verordnung festgelegt sind.

43

Was zweitens die Anerkennung und Vollstreckung einer Entscheidung in dem ersuchten Mitgliedstaat betrifft, sollte nach dem 29. Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 1215/2012 der Schuldner die Versagung der Anerkennung oder der Vollstreckung einer Entscheidung beantragen können, wenn er der Auffassung ist, dass einer der Gründe für die Versagung der Anerkennung vorliegt, wozu auch eine Verletzung der besonderen Zuständigkeitsregeln gehört.

44

Unter diesen Umständen ist, wie der Generalanwalt in den Nrn. 76 und 77 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, die Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Richtlinie 93/13 nicht auf den Kontext der Verordnung Nr. 1215/2012 übertragbar; Letztere enthält Verfahrensvorschriften, während die Richtlinie 93/13 eine Mindestharmonisierung des Rechts der Mitgliedstaaten in Bezug auf missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen bezweckt.

45

Auch ein Verstoß gegen das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf im Sinne von Art. 47 der Charta liegt nicht vor, da sich der Beklagte nach Art. 45 der Verordnung Nr. 1215/2012 u. a., wenn ein Verbrauchervertrag vorliegt, auf einen etwaigen Verstoß gegen die Zuständigkeitsvorschriften in Kapitel II Abschnitt 4 berufen kann.

46

Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 53 der Verordnung Nr. 1215/2012 in Verbindung mit Art. 47 der Charta dahin auszulegen ist, dass er es dem Ursprungsgericht, bei dem die Ausstellung der in diesem Art. 53 vorgesehenen Bescheinigung in Bezug auf eine rechtskräftige Entscheidung beantragt wird, nicht erlaubt, von Amts wegen zu prüfen, ob gegen die Vorschriften des Kapitels II Abschnitt 4 dieser Verordnung verstoßen wurde, um den Verbraucher über einen eventuell festgestellten Verstoß zu informieren und es ihm zu erlauben, in Kenntnis der Sachlage die Möglichkeit zu erwägen, von dem in Art. 45 der genannten Verordnung vorgesehenen Rechtsbehelf Gebrauch zu machen.

Kosten

47

Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt:

 

Art. 53 der Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2012 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen in der durch die Delegierte Verordnung (EU) 2015/281 der Kommission vom 26. November 2014 geänderten Fassung in Verbindung mit Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ist dahin auszulegen, dass er es dem Ursprungsgericht, bei dem die Ausstellung der in diesem Art. 53 vorgesehenen Bescheinigung in Bezug auf eine rechtskräftige Entscheidung beantragt wird, nicht erlaubt, von Amts wegen zu prüfen, ob gegen die Vorschriften des Kapitels II Abschnitt 4 dieser Verordnung verstoßen wurde, um den Verbraucher über einen eventuell festgestellten Verstoß zu informieren und es ihm zu erlauben, in Kenntnis der Sachlage die Möglichkeit zu erwägen, von dem in Art. 45 der genannten Verordnung vorgesehenen Rechtsbehelf Gebrauch zu machen.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Italienisch.

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