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Document 62017CC0514

Schlussanträge des Generalanwalts Y. Bot vom 6. September 2018.

ECLI identifier: ECLI:EU:C:2018:672

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

YVES BOT

vom 6. September 2018 ( 1 )

Rechtssache C‑514/17

Ministère public

gegen

Marin-Simion Sut

(Vorabentscheidungsersuchen der Cour d’appel de Liège [Appellationshof Lüttich, Belgien])

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung – Rahmenbeschluss 2002/584/JI – Europäischer Haftbefehl und Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten – Art. 4 Nr. 6 – Grund, aus dem die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls abgelehnt werden kann – Geltendmachung – Straftat, die im Ausstellungsmitgliedstaat mit einer Freiheitsstrafe geahndet wurde, während sie im Vollstreckungsmitgliedstaat nur mit Geldstrafe bedroht ist – Art. 2 Abs. 4 – Tragweite der Bedingung der beiderseitigen Strafbarkeit – Rahmenbeschluss 2008/909/JI – Art. 8 Abs. 3 – Anpassung der Sanktion“

I. Einleitung

1.

Kann ein Gericht, das über die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls zu entscheiden hat, den in Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI ( 2 ) vorgesehenen fakultativen Ablehnungsgrund geltend machen, wenn die Straftat, wegen der dieser Haftbefehl erlassen wurde, im Ausstellungsmitgliedstaat mit einer Freiheitsstrafe geahndet wurde, während sie nach dem Recht des Vollstreckungsmitgliedstaats nur mit Geldstrafe bedroht ist?

2.

Dies ist im Wesentlichen die Frage, die die Cour d’appel de Liège (Appellationshof Lüttich, Belgien) im Zusammenhang mit der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls stellt, der vor mehr als sieben Jahren, am 26. August 2011, von den rumänischen Behörden gegen den in Belgien wohnhaften rumänischen Staatsangehörigen Marin-Simion Sut zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und zwei Monaten wegen Führens eines Kraftfahrzeugs ohne Fahrerlaubnis erlassen wurde.

3.

Nach Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584 kann die Justizbehörde des Vollstreckungsmitgliedstaats die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls, der zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe ausgestellt worden ist, verweigern, wenn sich die gesuchte Person im Vollstreckungsmitgliedstaat aufhält, dessen Staatsangehöriger ist oder dort ihren Wohnsitz hat und dieser Staat sich verpflichtet, die Strafe nach seinem innerstaatlichen Recht zu vollstrecken.

4.

Nach ständiger Rechtsprechung soll diese Bestimmung es der vollstreckenden Justizbehörde ermöglichen, im Rahmen des ihr eingeräumten Ermessens zu beurteilen, inwieweit die Vollstreckung der Strafe im Vollstreckungsmitgliedstaat die Resozialisierungschancen der gesuchten Person nach Verbüßung der gegen sie verhängten Strafe erhöhen würde ( 3 ).

5.

In der vorliegenden Rechtssache hat der Betroffene seiner Übergabe nicht zugestimmt und den Wunsch geäußert, seine Strafe in Belgien zu verbüßen. Das vorlegende Gericht weist in seiner Vorlageentscheidung darauf hin, dass er Bindungen zu Belgien besitze, so dass die Vollstreckung der Strafe in Belgien unter Berücksichtigung seiner konkreten Situation seine Resozialisierungschancen erhöhen könnte.

6.

Das vorlegende Gericht stellt jedoch fest, dass die Straftat, wegen der der Betroffene in Rumänien zu einer Freiheitsstrafe verurteilt wurde, nach Art. 30 Abs. 1 der Loi relative à la police de la circulation routière (Straßenverkehrsordnung) vom 16. März 1968 ( 4 ) in der auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens anwendbaren Fassung mit Geldstrafe bedroht war.

7.

Deshalb vertrat das Ministère public (belgische Staatsanwaltschaft) in seiner beim vorlegenden Gericht erhobenen Anklage die Auffassung, dass es der vollstreckenden Justizbehörde unmöglich sei, den in Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584 vorgesehenen fakultativen Ablehnungsgrund geltend zu machen, da sie nach Art. 8 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses 2008/909/JI ( 5 ) eine von der ausstellenden Justizbehörde verhängte Freiheitsstrafe nicht in eine Geldstrafe umwandeln könne. Somit könne sich die vollstreckende Justizbehörde nicht verpflichten, die gegen den Betroffenen in Rumänien verhängte Strafe nach belgischem Recht zu vollstrecken.

8.

Das vorlegende Gericht hat Zweifel an der von der Staatsanwaltschaft in der Anklage vorgenommenen Auslegung des Unionsrechts und hat deshalb die Entscheidung in dem bei ihm anhängigen Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:

Kann Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584 dahin ausgelegt werden, dass er nicht auf Handlungen anwendbar ist, für die ein Gericht eines Ausstellungsstaats eine Freiheitsstrafe verhängt hat, wenn diese Handlungen im Vollstreckungsstaat nur mit Geldstrafe bedroht sind, was nach dem nationalen Recht des Vollstreckungsstaats dazu führt, dass die Freiheitsstrafe – zum Nachteil der Resozialisierung sowie der familiären, sozialen, wirtschaftlichen oder sonstigen Bindungen der verurteilten Person – im Vollstreckungsmitgliedstaat nicht vollstreckt werden kann?

9.

Die belgische Regierung hat in ihren beim Gerichtshof eingereichten Erklärungen die Auffassung der Staatsanwaltschaft bekräftigt und ausgeführt, es sei der vollstreckenden Justizbehörde faktisch unmöglich, den in Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584 vorgesehenen fakultativen Ablehnungsgrund geltend zu machen, da sie die von der Judecătoria Carei (Gericht erster Instanz Carei, Rumänien) verhängte Freiheitsstrafe nach Art. 8 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses 2008/909 nicht in eine Geldstrafe umwandeln könne.

10.

Das Vorbringen der belgischen Regierung, wie ich es verstehe, läuft in Wirklichkeit darauf hinaus, dass der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung ihrer Meinung nach nur dann anwendbar ist, wenn die Tat, für die er geltend gemacht wird, mit Strafen geahndet wird, die im Recht des Ausstellungsmitgliedstaats und dem des Vollstreckungsmitgliedstaats wenn schon nicht identisch, so doch wenigstens vergleichbar sind. Das belgische Gericht stehe somit vor zwei Schwierigkeiten: erstens dem Unterschied zwischen den nationalen Strafvorschriften für Verkehrsdelikte und zweitens der Unmöglichkeit, die „rumänische“ Freiheitsstrafe in eine „belgische“ Geldstrafe umzuwandeln.

11.

Das vorliegende Ersuchen wird es dem Gerichtshof somit ermöglichen, die Bedeutung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung in seiner im Rahmenbeschluss 2002/584 konkretisierten Form klarzustellen. Es wird ihm ferner Gelegenheit geben, im Anschluss an die Urteile vom 17. Juli 2008, Kozłowski ( 6 ), vom 6. Oktober 2009, Wolzenburg ( 7 ), vom 11. Januar 2017, Grundza ( 8 ), und vom 29. Juni 2017, Popławski ( 9 ), die Voraussetzungen, unter denen ein Gericht, das über die Vollstreckung eines Europäischer Haftbefehls zu entscheiden hat, den in Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584 vorgesehenen fakultativen Ablehnungsgrund geltend machen kann, weiter zu präzisieren und darzulegen, wie der Mechanismus des durch diesen Rahmenbeschluss eingeführten Europäischen Haftbefehls mit den im Rahmenbeschluss 2008/909 enthaltenen Regeln und Grundsätzen in Einklang zu bringen ist.

12.

In den vorliegenden Schlussanträgen werde ich erläutern, weshalb ich die Auffassung, die die belgische Regierung in dieser Rechtssache vertritt, nicht teile.

13.

Ich werde dem Gerichtshof vorschlagen, für Recht zu erkennen, dass Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584 in einem Fall wie dem vorliegenden, in dem die Straftat, wegen der der Europäische Haftbefehl erlassen wurde, im Ausstellungsmitgliedstaat mit einer Freiheitsstrafe geahndet wurde, dahin auszulegen ist, dass es der vollstreckenden Justizbehörde nicht gestattet ist, zu prüfen, ob die abgeurteilten Taten im Vollstreckungsmitgliedstaat ebenfalls mit Freiheitsstrafe bedroht sind, und dies für das Gebrauchmachen von dem in dieser Bestimmung vorgesehenen fakultativen Ablehnungsgrund zu verlangen.

II. Unionsrechtlicher Rahmen

A.   Rahmenbeschluss 2002/584

14.

Der Rahmenbeschluss 2002/584 bezweckt, im Verhältnis der Mitgliedstaaten untereinander das in Übereinkünften, an denen diese Mitgliedstaaten Vertragsparteien sind, vorgesehene förmliche Auslieferungsverfahren abzuschaffen und durch ein System der Übergabe zwischen Justizbehörden zu ersetzen ( 10 ). Er beruht auf dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung strafrechtlicher Entscheidungen, die den „Eckstein“ der justiziellen Zusammenarbeit darstellt ( 11 ), und auf einem „hohen Maß an Vertrauen“ zwischen den Mitgliedstaaten ( 12 ).

15.

Art. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 („Definition des Europäischen Haftbefehls und Verpflichtung zu seiner Vollstreckung“) bestimmt:

„(1)   Bei dem Europäischen Haftbefehl handelt es sich um eine justizielle Entscheidung, die in einem Mitgliedstaat ergangen ist und die Festnahme und Übergabe einer gesuchten Person durch einen anderen Mitgliedstaat zur Strafverfolgung oder zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung bezweckt.

(2)   Die Mitgliedstaaten vollstrecken jeden Europäischen Haftbefehl nach dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung und gemäß den Bestimmungen dieses Rahmenbeschlusses.

…“

16.

Nach Art. 2 Abs.1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 kann ein Europäischer Haftbefehl zur Vollstreckung einer verhängten Freiheitsstrafe oder einer angeordneten freiheitsentziehenden Maßregel erlassen werden, wenn deren Dauer mindestens vier Monate beträgt.

17.

Art. 2 Abs. 2 enthält eine Liste mit 32 Straftaten, bei denen, wenn sie im Ausstellungsmitgliedstaat mit einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren bedroht sind, der Europäische Haftbefehl auch dann vollstreckt werden muss, wenn die fraglichen Taten im Vollstreckungsmitgliedstaat nicht strafbar sind.

18.

Bei den anderen Straftaten kann der Vollstreckungsmitgliedstaat die Übergabe der Person, gegen die ein Europäischer Haftbefehl erlassen wurde, von der beiderseitigen Strafbarkeit abhängig machen. Art. 2 Abs. 4 des genannten Rahmenbeschlusses lautet:

„Bei anderen Straftaten als denen des Absatzes 2 kann die Übergabe davon abhängig gemacht werden, dass die Handlungen, derentwegen der Europäische Haftbefehl ausgestellt wurde, eine Straftat nach dem Recht des Vollstreckungsmitgliedstaats darstellen, unabhängig von den Tatbestandsmerkmalen oder der Bezeichnung der Straftat.“

19.

Die Art. 3 und 4 des Rahmenbeschlusses 2002/584 betreffen die Gründe, aus denen die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls abzulehnen ist bzw. abgelehnt werden kann.

20.

Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses lautet:

„Die vollstreckende Justizbehörde kann die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls verweigern,

6. wenn der Europäische Haftbefehl zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung ausgestellt worden ist, sich die gesuchte Person im Vollstreckungsmitgliedstaat aufhält, dessen Staatsangehöriger ist oder dort ihren Wohnsitz hat und dieser Staat sich verpflichtet, die Strafe oder die Maßregel der Sicherung nach seinem innerstaatlichen Recht zu vollstrecken.“

B.   Rahmenbeschluss 2008/909

21.

Der Rahmenbeschluss 2008/909, der nach dem Rahmenbeschluss 2002/584 erlassen wurde, dient der Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Urteile und Entscheidungen in Strafsachen, der in Art. 82 Abs. 1 AEUV verankert ist, der an die Stelle des Art. 31 EUV, aufgrund dessen dieser Rahmenbeschluss erlassen wurde ( 13 ), getreten ist. Er bezweckt nach seinem Art. 3, im Hinblick auf die Erleichterung der sozialen Wiedereingliederung der verurteilten Person die Anerkennung und Vollstreckung der Urteile, durch die in einem anderen Mitgliedstaat als dem Ausstellungsmitgliedstaat eine Freiheitsstrafe verhängt wurde, sicherzustellen ( 14 ).

22.

Art. 7 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2008/909 („Beiderseitige Strafbarkeit“) enthält eine Liste mit 32 Straftaten, bei denen, wenn sie im Ausstellungsmitgliedstaat mit einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren bedroht sind, der Vollstreckungsmitgliedstaat ohne Überprüfung der beiderseitigen Strafbarkeit das Urteil anerkennt und die Sanktion vollstreckt.

23.

Für die übrigen Straftaten bestimmt Art. 7 Abs. 3 dieses Rahmenbeschlusses:

„Bei Straftaten, die nicht unter Absatz 1 fallen, kann der Vollstreckungsstaat die Anerkennung des Urteils und die Vollstreckung der Sanktion davon abhängig machen, dass die ihm zugrunde liegenden Handlungen auch nach dem Recht des Vollstreckungsstaats eine Straftat darstellen, unabhängig von den Tatbestandsmerkmalen oder der Bezeichnung der Straftat.“

24.

Art. 8 des Rahmenbeschlusses 2008/909 („Anerkennung des Urteils und Vollstreckung der Sanktion“) bestimmt:

„(1)   Die zuständige Behörde des Vollstreckungsstaats erkennt ein … übermitteltes Urteil an und ergreift unverzüglich alle für die Vollstreckung der Sanktion erforderlichen Maßnahmen, es sei denn, sie beschließt, einen der Gründe für die Versagung der Anerkennung und der Vollstreckung gemäß Artikel 9 geltend zu machen.

(3)   Ist die Sanktion nach ihrer Art mit dem Recht des Vollstreckungsstaats nicht vereinbar, so kann die zuständige Behörde des Vollstreckungsstaats diese an die nach ihrem eigenen Recht für vergleichbare Straftaten vorgesehene Strafe oder Maßnahme anpassen. Diese Strafe oder Maßnahme muss so weit wie möglich der im Ausstellungsstaat verhängten Sanktion entsprechen, weshalb deren Umwandlung in eine Geldstrafe nicht in Betracht kommt.“

25.

In Art. 25 des Rahmenbeschlusses 2008/909 heißt es:

„[Die] Bestimmungen des vorliegenden Rahmenbeschlusses [gelten], unbeschadet des Rahmenbeschlusses 2002/584 und soweit sie mit diesem vereinbar sind, sinngemäß für die Vollstreckung von Sanktionen in Fällen, in denen ein Mitgliedstaat sich zur Vollstreckung der Sanktion in Fällen gemäß Artikel 4 [Nr.] 6 jenes Rahmenbeschlusses verpflichtet …“

III. Vorbemerkungen

26.

Vor der Prüfung der Vorlagefrage ist darauf hinzuweisen, dass der belgische Gesetzgeber die Strafvorschriften für Verstöße gegen die Straßenverkehrsordnung ganz kürzlich geändert hat.

27.

Die Loi relative à l’amélioration de la sécurité routière (Gesetz zur Verbesserung der Straßenverkehrssicherheit) vom 6. März 2018 ( 15 ) hat die Vorschriften der Straßenverkehrsordnung durch eine Verschärfung der Strafen für Verkehrsdelikte grundlegend geändert. Nach Art. 7 dieses Gesetz bestimmt Art. 30 Abs. 1 der Straßenverkehrsordnung nunmehr, dass das Führen eines Kraftfahrzeugs ohne die erforderliche Fahrerlaubnis mit einer Freiheitsstrafe von acht Tagen bis zwei Jahren und einer Geldstrafe von 200 Euro bis 2000 Euro oder einer dieser beiden Strafen bestraft wird.

28.

Es hat daher den Anschein, als ob die Straftat, wegen der der Europäische Haftbefehl erlassen wurde, im Ausstellungsmitgliedstaat und im Vollstreckungsmitgliedstaat nunmehr mit einer gleichartigen Strafe, nämlich einer Freiheitsstrafe, geahndet wird. Dies bedeutet, dass das rechtliche Hindernis, auf das sich die belgischen Behörden gegen die Vollstreckung der gegen Herrn Sut in Rumänien verhängten Strafe in Belgien berufen, heute offensichtlich weggefallen ist.

29.

Gleichwohl schlage ich dem Gerichtshof vor, das Vorabentscheidungsersuchen zu beantworten, da das vorlegende Gericht es nach der genannten Gesetzesänderung nicht zurückgenommen hat.

IV. Untersuchung

30.

Die Vorlagefrage geht im Wesentlichen dahin, ob Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584 in einem Fall wie dem hier vorliegenden, in dem die Vollstreckung der Freiheitsstrafe im Vollstreckungsmitgliedstaat die Resozialisierungschancen der gesuchten Person erhöhen würde, dahin auszulegen ist, dass sich die vollstreckende Justizbehörde nicht auf den in dieser Bestimmung vorgesehenen fakultativen Ablehnungsgrund berufen kann und folglich zur Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls verpflichtet ist, wenn die Taten, für die diese Strafe im Ausstellungsmitgliedstaat verhängt wurde, im Vollstreckungsmitgliedstaat nur mit Geldstrafe bedroht sind.

31.

Vor der Prüfung dieser Frage ist auf einen wesentlichen Punkt betreffend das Zusammenwirken der beiden von der Cour d’appel de Liège (Appellationshof Lüttich) in ihrer Vorlageentscheidung bezeichneten Rahmenbeschlüsse hinzuweisen, nämlich des Rahmenbeschlusses 2002/584, der die Grundlage für den Mechanismus des Europäischen Haftbefehls bildet, und des Rahmenbeschlusses 2008/909, wonach der Vollstreckung von Freiheitsstrafen in dem Mitgliedstaat, in dem diese die Resozialisierung der verurteilten Person am ehesten begünstigt, der Vorzug zu geben ist.

32.

Es trifft zu, dass die Bestimmungen des Rahmenbeschlusses 2008/909 nach dessen Art. 25 sinngemäß für die Vollstreckung von Sanktionen in Fällen gelten, in denen ein Mitgliedstaat sich zur Vollstreckung der Sanktion in Fällen gemäß Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584 verpflichtet, soweit sie mit diesem vereinbar sind.

33.

Das vom Unionsgesetzgeber vorgesehene Zusammenwirken zwischen dem Rahmenbeschluss 2002/584 und dem Rahmenbeschluss 2008/909 sollte zur Gewährleistung der Anwendung eines wesentlichen Grundsatzes des Strafrechts beitragen, nämlich der sozialen Wiedereingliederung der verurteilten Person durch eine individuelle Strafzumessung. Dieses Ziel ist beiden Rahmenbeschlüssen gemeinsam.

34.

Die belgische Regierung irrt jedoch bei ihrer Auslegung, wenn sie sich auf Art. 8 Abs. 3 des Rahmenbeschluss 2008/909 beruft, um die Anwendung des Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584 einzuschränken.

35.

Sie berücksichtigt nämlich nicht, dass der Rahmenbeschluss 2002/584 dem Rahmenbeschluss 2008/909 vorgeht, wie ausdrücklich in Art. 25 des Letzteren bestimmt wird.

36.

Der Unionsgesetzgeber hat auf diese Weise klar seinen Willen zum Ausdruck gebracht, den Sinn und Zweck und das Gewicht des Mechanismus des durch den Rahmenbeschluss 2002/584 geschaffenen Europäischen Haftbefehls nicht zu schwächen, indem er in Art. 25 des Rahmenbeschlusses 2008/909 präzisiert hat, dass dessen Bestimmungen „unbeschadet des Rahmenbeschlusses 2002/584“ sinngemäß gelten, „soweit sie mit diesem vereinbar sind“ ( 16 ).

37.

Ferner berücksichtigt die belgische Regierung nicht den ganz unterschiedlichen Anwendungsbereich dieser beiden Rahmenbeschlüsse.

38.

Der Rahmenbeschluss 2002/584 regelt die zwangsweise Überstellung einer auf der Flucht befindlichen Person, die verfolgt oder verurteilt ist oder deren Aufenthalt unbekannt ist und von der zu befürchten ist, dass sie versucht, sich den Konsequenzen ihres Handelns zu entziehen, von einem Mitgliedstaat in einen anderen. Er will somit verhindern, dass diese Person aufgrund einer räumlichen Entfernung straflos bleibt.

39.

Im Gegensatz dazu beruht der Rahmenbeschluss 2008/909 nicht auf der Prämisse, dass sich der tatsächliche oder vermeintliche Straftäter auf der Flucht befindet und deshalb seine zwangsweise Überstellung organisiert werden muss. Er bezweckt vielmehr die Schaffung eines harmonisierten Systems der Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, um die Art der Vollstreckung strafrechtlicher Entscheidungen genauso sicherzustellen, wie sie in jedem Mitgliedstaat üblich ist, und auf diese Weise die soziale Wiedereingliederung der verurteilten Person zu begünstigen. Der Rahmenbeschluss 2008/909 erstreckt in Wirklichkeit die tägliche Praxis der einzelstaatlichen Gerichte auf diesen einheitlichen Raum. In jedem Mitgliedstaat berücksichtigt das für die Vollstreckung der Strafe zuständige Gericht bei der Festlegung des Ortes der Strafverbüßung die Persönlichkeit, die familiäre und berufliche Situation und den Wohnsitz der verurteilten Person, um zu vermeiden, dass allein die Inhaftierung ihren sozialen Ausschluss verstärkt. So wird eine Person, die von den Justizbehörden in Brest (Frankreich) verurteilt wurde, aber in Straßburg (Frankreich) wohnt, ihre Strafe in einer Strafanstalt in der Nähe von Straßburg verbüßen. Durch den Erlass des Rahmenbeschlusses 2008/909 ermöglicht es der Unionsgesetzgeber, genauso zu verfahren, wenn diese Person in Frankfurt am Main (Deutschland) wohnt.

40.

Der Rahmenbeschluss 2008/909 will somit die soziale Wiedereingliederung der in einem Mitgliedstaat zu einer Freiheitsstrafe verurteilten Person dadurch begünstigen, dass er es ihr ermöglicht, ihre Strafe oder Reststrafe in ihrer ursprünglichen sozialen Umgebung, also in einem anderen Mitgliedstaat, zu verbüßen. Es handelt sich somit für den Vollstreckungsmitgliedstaat darum, eine gerichtliche Entscheidung einer Justizbehörde des Ausstellungsmitgliedstaats genauso zu vollstrecken, wie er dies üblicherweise bei seinen eigenen strafrechtlichen Entscheidungen tut, d. h., dass er sich vergewissert, dass alle zur Vollstreckung und Gestaltung dieser Strafe ergriffenen Maßnahmen individuell festgelegt werden ( 17 ).

41.

Dies vorausgeschickt ist nunmehr zu untersuchen, ob die zuständige belgische Justizbehörde bei Berücksichtigung der wesentlichen Grundsätze, auf denen die in den Verträgen, aber auch in den einschlägigen Bestimmungen des Rahmenbeschlusses 2002/584 geregelte gerichtliche Zusammenarbeit in Strafsachen beruht, die von der Judecătoria Carei (Gericht erster Instanz in Carei) gegen den Betroffenen verhängte Freiheitsstrafe vollstrecken kann oder nicht.

42.

Aus den Gründen, die ich im Folgenden darlegen werde, steht die von der belgischen Regierung vertretene Auffassung meines Erachtens im Widerspruch zu dem Rahmenbeschluss 2002/584, da sie der Bedeutung des Begriffs „gegenseitige Anerkennung“ nicht gerecht wird und zur Wiedereinführung eines Systems führt, das mit dem der Auslieferung vergleichbar ist, die der Unionsgesetzgeber zwischen den Mitgliedstaaten gerade ausdrücklich abschaffen wollte.

A.   Die gegenseitige Anerkennung

43.

Die in Europa in Strafsachen bestehende justizielle Zusammenarbeit beruht, wie sich klar aus Art. 82 Abs. 1 AEUV ergibt, auf dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung. Dieser Grundsatz bildet den „Eckstein“ dieser Zusammenarbeit ( 18 ) und hat nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs zusammen mit dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens, auf dem er beruht, „fundamentale Bedeutung“, da er die Schaffung und Aufrechterhaltung eines Raums ohne Binnengrenzen ermöglicht ( 19 ).

44.

Nach dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung hat eine von einer Justizbehörde gemäß dem nationalen Recht, dem sie unterliegt, erlassene Entscheidung uneingeschränkte und unmittelbare Wirkung in der ganzen Union, so dass die zuständigen Behörden aller anderen Mitgliedstaaten so bei ihrer Vollstreckung mitwirken müssen, als ob sie von einer Justizbehörde in ihrem eigenen Staat erlassen worden wäre ( 20 ).

45.

Wenn sich die Justizbehörde eines Mitgliedstaats verpflichtet, eine von einem Gericht eines anderen Mitgliedstaats verhängte Sanktion zu vollstrecken, muss sie also diese Sanktion nach dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung so vollstrecken, wie sie von diesem Gericht verhängt wurde und genauso, als ob es sich dabei um ihre eigene Entscheidung handeln würde.

46.

Wie sich nämlich aus dem Urteil vom 11. Februar 2003, Gözütok und Brügge ( 21 ), betreffend den Grundsatz ne bis in idem ergibt, impliziert der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung unabhängig von der Art und Weise der Verhängung der Sanktion zwingend, dass ein gegenseitiges Vertrauen der Mitgliedstaaten in ihre jeweiligen Strafjustizsysteme besteht und dass jeder Mitgliedstaat die Anwendung des in den anderen Mitgliedstaaten geltenden Strafrechts akzeptiert, auch wenn die Anwendung seines eigenen nationalen Rechts zu einem anderen Ergebnis führen würde ( 22 ).

47.

Der Anwendungsbereich einer justiziellen Entscheidung ist also nicht mehr auf das Hoheitsgebiet des Ausstellungsmitgliedstaats beschränkt, sondern erstreckt sich nunmehr auf die gesamte Union.

48.

Daher muss allein der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung es ermöglichen, sicherzustellen, dass das Urteil der Judecătoria Carei (Gericht erster Instanz in Carei) vom 8. Juni 2011 anerkannt wird und die gegen den Betroffenen verhängte Freiheitsstrafe von einem Jahr und zwei Monaten vom Tribunal de première instance de Liège (Gericht erster Instanz in Lüttich, Belgien) genauso vollstreckt wird, als wäre dieses Urteil vom Tribunal de première instance Arlon (Gericht erster Instanz in Arlon, Belgien) erlassen und die Sanktion von diesem verhängt worden.

49.

Auf dieser Grundlage ist nunmehr zu untersuchen, ob die belgischen Justizbehörden im Rahmen des durch den Rahmenbeschluss 2002/584 eingeführten Mechanismus des Europäischen Haftbefehls und namentlich bei der Anwendung des in Art. 4 Nr. 6 vorgesehenen fakultativen Ablehnungsgrundes wegen der mangelnden Übereinstimmung der Tatbestandsmerkmale der Straftat und speziell der Strafe im Recht des Ausstellungsmitgliedstaats und dem des Vollstreckungsmitgliedstaats von diesem Grundsatz abweichen können.

B.   Wortlaut, systematischer Zusammenhang und Zielsetzung des Rahmenbeschlusses 2002/584

50.

Der Rahmenbeschluss 2002/584 beruht auf der gegenseitigen Anerkennung sowie einem „hohen Maß an Vertrauen“ zwischen den Mitgliedstaaten ( 23 ). Nach seinem sechsten Erwägungsgrund stellt er im strafrechtlichen Bereich die erste konkrete Verwirklichung des vom Europäischen Rat von Tampere vom 15. und 16. Oktober 1999 als „Eckstein“ der justiziellen Zusammenarbeit bezeichneten Prinzips der gegenseitigen Anerkennung dar.

51.

Der Rahmenbeschluss 2002/584 hat, wie namentlich aus seinem fünften Erwägungsgrund und Art. 31 hervorgeht, ausdrücklich zum Ziel, das Auslieferungsverfahren zwischen den Mitgliedstaaten abzuschaffen und durch ein System der Übergabe zu ersetzen, in dessen Rahmen die vollstreckende Justizbehörde diese Übergabe nur durch eine Entscheidung ablehnen kann, die auf einen der obligatorischen oder fakultativen Ablehnungsgründe gestützt werden muss, die in den Art. 3 und 4 des Rahmenbeschlusses abschließend aufgeführt sind.

52.

So kann die Justizbehörde des Vollstreckungsmitgliedstaats nach Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584 die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls verweigern, wenn dieser zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe ausgestellt worden ist, sich die gesuchte Person im Vollstreckungsmitgliedstaat aufhält, dessen Staatsangehöriger ist oder dort ihren Wohnsitz hat und dieser Staat sich verpflichtet, die Strafe nach seinem innerstaatlichen Recht zu vollstrecken.

53.

Wie gesagt soll diese Bestimmung die vollstreckende Justizbehörde in die Lage versetzen, im Rahmen des ihr eingeräumten Ermessens zu prüfen, ob die Vollstreckung der Strafe im Vollstreckungsmitgliedstaat geeignet ist, die Resozialisierungschancen der gesuchten Person nach Verbüßung der gegen sie verhängten Strafe zu erhöhen ( 24 ). Diese Bestimmung macht ganz deutlich, wie das Gericht den Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung, wonach die gesuchte Person in der Regel übergeben werden muss, und den Grundsatz der individuellen Strafzumessung miteinander in Einklang bringen muss, der es dem Gericht im Gegenteil in bestimmten Fällen gebietet, eine Ausnahme von dem Grundsatz der Übergabe dieser Person zu machen, um ihre soziale Wiedereingliederung sicherzustellen ( 25 ). Es handelt sich hier eindeutig um eine Ausnahme vom Grundsatz der Übergabe der verurteilten Person und nicht von dem der gegenseitigen Anerkennung, denn durch die Geltendmachung des in Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584 vorgesehenen fakultativen Ablehnungsgrundes erkennt die vollstreckende Justizbehörde die von der ausstellenden Justizbehörde erlassene Entscheidung gerade an, da sie sich erbietet, diese an deren Stelle zu vollstrecken.

54.

Diese Haltung, die das Bestreben zum Ausdruck bringt, die Resozialisierungsfunktion der Strafe zu gewährleisten, bezeugt die Existenz des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, in dem die wesentlichen Grundsätze des Strafrechts angewandt werden, und zwar auch bei der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls, wenn erst einmal die Gefahr der Straflosigkeit durch die Festnahme der verurteilten Person beseitigt ist.

55.

Wie alle Ausnahmen vom Grundsatz der Übergabe ist der in Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584 vorgesehene fakultative Ablehnungsgrund eng auszulegen ( 26 ). Folglich muss die vollstreckende Justizbehörde, um die Gefahr der Straflosigkeit auszuschließen, vor einer Ablehnung der Übergabe des Betroffenen prüfen, ob es nach ihrem innerstaatlichen Recht überhaupt möglich ist, die Strafe tatsächlich zu vollstrecken ( 27 ).

56.

Im Ausgangsverfahren hat das Gericht, das über die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls zu entscheiden hat, Zweifel, ob es ihm nach seinem innerstaatlichen Recht überhaupt möglich ist, die Strafe tatsächlich zu vollstrecken, da die Straftat, wegen der der Haftbefehl erlassen wurde, im Ausstellungsmitgliedstaat mit einer Freiheitsstrafe geahndet wurde, während sie nach seinem innerstaatlichen Recht nur mit Geldstrafe bedroht war. Das Gericht fragt sich, ob in diesem Fall nicht der Umstand, dass die nach dem Recht des Ausstellungsmitgliedstaats verhängte und die im Vollstreckungsmitgliedstaat angedrohte Strafe nicht von derselben Art sind, der Geltendmachung des in Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584 vorgesehenen fakultativen Ablehnungsgrundes entgegensteht.

57.

Die Prüfung des Wortlauts, des systematischen Zusammenhangs und der Zielsetzung dieses Rahmenbeschlusses ergibt, dass der Unionsgesetzgeber in einem Fall wie dem hier vorliegenden, in dem die Straftat, wegen der der Europäische Haftbefehl erlassen wurde, im Ausstellungsmitgliedstaat mit einer Freiheitsstrafe geahndet wurde, nicht beabsichtigt hat, die Anwendung des in Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584 vorgesehenen fakultativen Ablehnungsgrundes davon abhängig zu machen, dass die abgeurteilten Taten auch im Vollstreckungsmitgliedstaat mit einer wenn schon nicht identischen, so doch wenigstens vergleichbaren Strafe bedroht sind.

58.

Erstens enthält wie erinnerlich Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584 nach seinem Wortlaut einen Grund für die Verweigerung der Vollstreckung eines zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe erlassenen Europäischen Haftbefehls, wenn sich die gesuchte Person im Vollstreckungsmitgliedstaat aufhält, dessen Staatsangehöriger ist oder dort ihren Wohnsitz hat und wenn dieser Staat sich verpflichtet, „die Strafe“ nach seinem innerstaatlichen Recht zu vollstrecken.

59.

Wie die Verwendung des bestimmten Artikels „die“ zeigt, ist der Vollstreckungsmitgliedstaat sehr wohl verpflichtet, die im Ausstellungsmitgliedstaat verhängte Freiheitsstrafe zu vollstrecken. Andernfalls würde die Angabe der Dauer der verhängten Freiheitsstrafe oder der noch zu verbüßenden Reststrafe, die in Buchst. c dieses Haftbefehls gemacht werden muss, teilweise ihre praktische Wirksamkeit verlieren ( 28 ).

60.

Die Regel, dass der Vollstreckungsmitgliedstaat diese Strafe „nach seinem innerstaatlichen Recht“ vollstrecken muss, bringt lediglich den Grundsatz zum Ausdruck, dass sich die Strafvollzugsmaßnahmen nach dem Recht des Vollstreckungsmitgliedstaats richten ( 29 ). Es handelt sich um Maßnahmen, die es ermöglichen müssen, den tatsächlichen Strafvollzug sicherzustellen und die soziale Wiedereingliederung der verurteilten Person zu gewährleisten ( 30 ). Diese Regel beruht auf dem in allen Mitgliedstaaten geltenden strafrechtlichen Territorialitätsgrundsatz und dem Grundsatz der individuellen Strafzumessung, die eine der Funktionen der Strafe selbst ist.

61.

Diese Regel dient also der Lösung von Gesetzes- und Kompetenzkonflikten, die sich bei der Vollstreckung der Freiheitsstrafe in einem anderen Mitgliedstaat als dem, in dem sie verhängt wurde, ergeben könnten, und kann somit nicht dahin verstanden werden, dass sie es der vollstreckenden Justizbehörde gestattet, die im Ausstellungsmitgliedstaat verhängte Freiheitsstrafe so anzupassen oder umzuwandeln, dass sie der Strafe entspricht, die nach dem Recht des Vollstreckungsmitgliedstaats für dieselbe Straftat verhängt worden wäre.

62.

Zweitens führt die von der belgischen Regierung vertretene Auffassung wie gesagt zur Wiedereinführung eines Verfahrens, das dem Auslieferungsverfahren ähnelt.

63.

Der Rahmenbeschluss 2002/584 besiegelt aber eindeutig die Abschaffung des Auslieferungsverfahrens zwischen den Mitgliedstaaten, das es diesen aufgrund des mangelnden Vertrauens zu einem ausländischen Strafrechtssystem gestattete, für die Auslieferung nicht nur zu verlangen, dass die Handlungen, derentwegen sie beantragt wurde, nach dem Recht des ersuchten Staates eine Straftat darstellten, sondern auch, dass die Tatbestandsmerkmale der Straftat identisch waren.

64.

Nach dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung, der dem Rahmenbeschluss 2002/584 zugrunde liegt, hat eine von einer Justizbehörde gemäß dem nationalen Recht, dem sie unterliegt, erlassene Entscheidung uneingeschränkte und unmittelbare Wirkung in der ganzen Union, so dass die zuständigen Behörden aller anderen Mitgliedstaaten so bei ihrer Vollstreckung mitwirken müssen, als ob sie von einer Justizbehörde in ihrem eigenen Staat erlassen worden wäre. Wie sich einmal mehr aus dem Urteil vom 11. Februar 2003, Gözütok und Brügge ( 31 ), ergibt, impliziert der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung zwingend, dass ein gegenseitiges Vertrauen der Mitgliedstaaten in ihre jeweiligen Strafjustizsysteme besteht und dass jeder Mitgliedstaat die Anwendung des in den anderen Mitgliedstaaten geltenden Strafrechts akzeptiert.

65.

Im Rahmen des Mechanismus des Europäischen Haftbefehls fand dieses Vertrauen Ausdruck im Verzicht der Mitgliedstaaten auf die Kontrolle der beiderseitigen Strafbarkeit der Tat bei den 32 in Art. 2 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses 2002/584 aufgeführten Straftaten ( 32 ).

66.

Bei den in Art. 2 Abs. 4 dieses Rahmenbeschlusses genannten „anderen Straftaten“, zu denen die in der vorliegenden Rechtssache in Rede stehende Straftat gehört, ist diese Kontrolle übrigens sehr beschränkt. In diesem Fall kann die vollstreckende Justizbehörde nur prüfen, ob „die Handlungen, derentwegen der Europäische Haftbefehl ausgestellt wurde, eine Straftat nach dem Recht des Vollstreckungsmitgliedstaats darstellen, unabhängig von den Tatbestandsmerkmalen oder der Bezeichnung der Straftat“.

67.

Die Strafe gehört zu den strafrechtlichen Tatbestandsmerkmalen.

68.

Die Straftat bezeichnet eine Handlung, die das Gesetz definiert und unter Androhung von Strafe verbietet. Sie enthält also zwei Elemente: den Straftatbestand und die Strafe. Der Straftatbestand ist die Beschreibung der verbotenen Handlung. Die Strafe ist die Sanktion der Begehung der strafbaren Handlung. Aus diesem Grund muss das Gesetz, durch das die Strafe verhängt wird, bei der Formulierung der Strafrechtsnormen unter Berücksichtigung des wesentlichen Grundsatzes der Festsetzung der Straftaten und der Strafen durch Gesetz die Art der verbotenen Handlung einschließlich der subjektiven Tatbestandsmerkmale, d. h. des Vorsatzes, sowie die Art und die Schwere der Strafe, mit der der Rechtsverstoß geahndet wird, genau beschreiben.

69.

Der Gerichtshof hat den Umfang der Kontrolle der beiderseitigen Strafbarkeit bei diesen „anderen Straftaten“ im Kontext des Rahmenbeschlusses 2008/909 im Urteil vom 11. Januar 2017, Grundza ( 33 ), bestimmt, und dieses Ergebnis erscheint mir im Rahmen des Mechanismus des Europäischen Haftbefehls ohne Weiteres anwendbar.

70.

Art. 2 Abs. 4 des Rahmenbeschlusses 2002/584 wurde nämlich in Art. 7 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses 2008/909, der nach dem Rahmenbeschluss 2002/584 erlassen wurde, wörtlich übernommen, was den festen Willen des Unionsgesetzgebers zeigt, so weit wie möglich nach dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung jeden Rechtsvergleichungsversuch der vollstreckenden Justizbehörde, sei es im Rahmen des Mechanismus des Europäischen Haftbefehls, sei es bei der Anwendung des Rahmenbeschlusses 2008/909, einzuschränken.

71.

So hat der Gerichtshof in den Rn. 33 bis 38 des Urteils vom 11. Januar 2017, Grundza ( 34 ), entschieden, dass sich die vollstreckende Justizbehörde bei der Beurteilung der beiderseitigen Strafbarkeit darauf beschränken muss, zu überprüfen, ob die der Straftat zugrunde liegenden Sachverhaltselemente, wie sie in dem von der ausstellenden Justizbehörde erlassenen Urteil wiedergegeben werden, als solche auch nach dem Recht des Vollstreckungsmitgliedstaats einer strafrechtlichen Sanktion unterliegen würden, wenn sie sich in dessen Hoheitsgebiet ereignet hätten. Es handele sich dabei um die „notwendige und hinreichende“ Bedingung für die Beurteilung der beiderseitigen Strafbarkeit, so dass keine exakte Übereinstimmung der Tatbestandsmerkmale der Straftat – zu denen die Strafe gehört – oder der Bezeichnung bzw. der Klassifizierung dieser Straftat nach den jeweiligen nationalen Rechtsordnungen bestehen müsse.

72.

Deshalb kann die beiderseitige Strafbarkeit, auf die Art. 2 Abs. 4 des Rahmenbeschlusses 2002/584 Bezug nimmt, nicht so verstanden werden, dass sie es der vollstreckenden Justizbehörde gestattet, zu prüfen, ob die im Ausstellungsmitgliedstaat abgeurteilten Handlungen im Vollstreckungsmitgliedstaat mit einer wenn schon nicht identischen, so doch wenigstens vergleichbaren Strafe geahndet werden, und dies für das Gebrauchmachen von dem in Art. 4 Nr. 6 dieses Rahmenbeschlusses vorgesehenen fakultativen Ablehnungsgrund zu verlangen. Die von der vollstreckenden Justizbehörde vorgenommene Rechtsvergleichung ist somit begrenzt und darf sich nicht auf die Art der im Ausstellungsmitgliedstaat und der im Vollstreckungsmitgliedstaat verhängten Strafe erstrecken.

73.

In einem Fall wie dem vorliegenden eine solche Identität zu fordern würde also offensichtlich gegen den Wortlaut des Art. 2 Abs. 4 des Rahmenbeschlusses 2002/584 in seiner Auslegung durch den Gerichtshof verstoßen.

74.

Auch würde die Wirksamkeit des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung der im Rahmen des Mechanismus des Europäischen Haftbefehls erlassenen gerichtlichen Entscheidungen erkennbar geschmälert, wenn ein Mitgliedstaat verlangen könnte, dass die im Ausstellungsmitgliedstaat abgeurteilten Taten in seinem eigenen Recht mit einer wenn schon nicht identischen, so doch wenigstens vergleichbaren Strafe bedroht sind. Ein solches Vorgehen würde nämlich darauf hinauslaufen, ein Verfahren wiedereinzuführen, das mit dem Auslieferungsverfahren vergleichbar ist. Dies würde jedoch eindeutig dem klar zum Ausdruck gebrachten Willen des Unionsgesetzgebers zuwiderlaufen, das Auslieferungsverfahren, das zwischen den Mitgliedstaaten bestand, durch ein auf das gegenseitige Vertrauen zwischen ihnen gegründetes Übergabeverfahren zu ersetzen.

75.

Ferner würde die von der belgischen Regierung befürwortete Auslegung dem in Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584 vorgesehenen fakultativen Ablehnungsgrund immer dann jede praktische Wirksamkeit nehmen, wenn der Europäische Haftbefehl eine Straftat betrifft, die im Vollstreckungsmitgliedstaat nur mit Geldstrafe bedroht ist. Dies ist häufig der Fall, besonders wenn es sich bei der Straftat, die dem Europäischen Haftbefehl zugrunde liegt, nicht um eine der in Art. 2 Abs. 2 dieses Rahmenbeschlusses aufgeführten 32 schweren Straftaten handelt, sondern um eine Tat, bei der die nationalen Rechtsordnungen mangels einer Harmonisierung auf Unionsebene voneinander abweichen. Dieses Vorgehen, das den Anwendungsbereich dieses Grundes deutlich einschränkt, hat zwangsläufig negative Folgen für das vom Gesetzgeber mit Art. 4 Nr. 6 dieses Rahmenbeschlusses verfolgte Ziel der sozialen Wiedereingliederung.

76.

Schließlich würde die einem Mitgliedstaat eingeräumte Befugnis, die Geltendmachung des in Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584 vorgesehenen fakultativen Ablehnungsgrundes davon abhängig zu machen, dass die Straftat im Ausstellungsmitgliedstaat und im Vollstreckungsmitgliedstaat mit einer wenn schon nicht identischen, so doch wenigstens vergleichbaren Strafe bedroht ist, die Harmonisierung der Gründe für die Verweigerung der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls in Frage stellen, die den Konsens widerspiegelt, zu dem alle Mitgliedstaaten bezüglich der Bedeutung des Ziels der sozialen Wiedereingliederung der verurteilten Person gelangt sind. Dieses Vorgehen hat der Gerichtshof im Urteil vom 26. Februar 2013, Melloni ( 35 ), förmlich zurückgewiesen, in dem es um den in Art. 4a des Rahmenbeschlusses 2002/584 genannten Grund für die Nichtanerkennung von Entscheidungen ging, die im Anschluss an eine Verhandlung ergangen sind, zu der der Betroffene nicht persönlich erschienen ist.

77.

In Wirklichkeit liegt hier ein Fall vor, in dem der ausländischen Entscheidung dieselbe Wirkung verliehen werden muss wie einer inländischen Entscheidung, auch wenn das nationale Recht zu einem anderen Ergebnis geführt hätte, und dies aufgrund der Bedeutung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung in seiner Auslegung durch den Gerichtshof in Anlehnung an seine Auslegung des Grundsatzes ne bis in idem im Urteil vom 11. Februar 2003, Gözütok und Brügge ( 36 ).

78.

Nach alledem ist Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584 in einem Fall wie dem vorliegenden, in dem die Straftat, wegen der der Europäische Haftbefehl erlassen wurde, im Ausstellungsmitgliedstaat mit einer Freiheitsstrafe geahndet wurde, meiner Meinung nach dahin auszulegen, dass er es der vollstreckenden Justizbehörde nicht gestattet, zu prüfen, ob die abgeurteilten Taten auch im Vollstreckungsmitgliedstaat mit Freiheitsstrafe bedroht sind, und dies für das Gebrauchmachen von dem in dieser Bestimmung vorgesehenen fakultativen Ablehnungsgrund zu verlangen.

79.

Da die Vollstreckung der von der rumänischen Justizbehörde verhängten Sanktion Handlungen betrifft, die nach belgischem Recht eine Straftat darstellen, spricht nichts dagegen, dass die belgische Justizbehörde sich unter Berufung auf den fakultativen Ablehnungsgrund des Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584 verpflichtet, diese Sanktion zu vollstrecken, wenn sie der Meinung ist, dass die Vollstreckung der Strafe in Belgien unter Berücksichtigung der Bindungen von Herrn Sut zu diesem Staat seine Resozialisierungschancen erhöhen könnte.

C.   Zum Anwendungsbereich und zu den Grenzen der Anwendung des Rahmenbeschlusses 2008/909

80.

Die im Rahmenbeschluss 2008/909 enthaltenen Bestimmungen stehen dieser Auslegung des Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584 nicht entgegen.

81.

Erstens hat der Unionsgesetzgeber wie gesagt klar seinen Willen zum Ausdruck gebracht, durch den Erlass des Rahmenbeschlusses 2008/909 den Sinn und Zweck oder auch nur das Gewicht des Mechanismus des Europäischen Haftbefehls nicht zu schwächen.

82.

Zum einen gelten die Bestimmungen des Rahmenbeschlusses 2008/909 nach dessen Art. 25 sinngemäß für die Vollstreckung von Sanktionen in Fällen, in denen sich ein Mitgliedstaat gemäß Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584 zur Vollstreckung der Sanktion verpflichtet; der Unionsgesetzgeber hat jedoch ausdrücklich bestimmt, dass diese Bestimmungen nur anwendbar sind, „soweit sie mit diesem vereinbar sind“.

83.

Folglich schränkt keine Bestimmung des Rahmenbeschlusses 2008/909 den Anwendungsbereich oder auch nur die Modalitäten der Anwendung des in Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584 vorgesehenen fakultativen Ablehnungsgrundes ein, und keine seiner Bestimmungen kann entgegen dem Rahmenbeschluss 2002/584 ausgelegt werden.

84.

Zum anderen hat der Unionsgesetzgeber in den Rahmenbeschluss 2008/909 Bestimmungen aufgenommen, die mit denen des Rahmenbeschlusses 2002/584 vergleichbar sind, um sicherzustellen, dass der Mechanismus des Europäischen Haftbefehls weder in Frage gestellt noch abgeschwächt wird.

85.

Zweitens ist für den Fall, dass der Gerichtshof Art. 8 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses 2008/909 hier für anwendbar erklärt, die von der belgischen Regierung befürwortete Auslegung seiner Tragweite abzulehnen.

86.

Art. 8 des Rahmenbeschlusses 2008/909 enthält, wie sich aus seiner Überschrift ergibt, den Grundsatz der Anerkennung des Urteils und der Vollstreckung der von der ausstellenden Justizbehörde verhängten Sanktion gemäß dem Prinzip der gegenseitigen Anerkennung.

87.

Art. 8 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2008/909 schließt somit grundsätzlich jede Anpassung der von der ausstellenden Justizbehörde verhängten Sanktion aus ( 37 ). Im Urteil vom 8. November 2016, Ognyanov ( 38 ), hat der Gerichtshof diese Bestimmung dahin ausgelegt, dass sie eine grundsätzliche Verpflichtung enthält, so dass die vollstreckende Justizbehörde verpflichtet ist, das ihr übermittelte Urteil anzuerkennen und die Sanktion in einer Dauer und Art zu vollstrecken, die denen entsprechen, die in dem von der ausstellenden Justizbehörde erlassenen Urteil vorgesehen sind ( 39 ). Der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung gestattet es der vollstreckenden Justizbehörde also nicht, die von der ausstellenden Justizbehörde verhängte Sanktion anzupassen, selbst wenn die Anwendung des Rechts des Vollstreckungsmitgliedstaats zur Verhängung einer Strafe von anderer Dauer oder anderer Art geführt hätte.

88.

Die Kommission hat in ihrem Bericht über die Umsetzung des Rahmenbeschlusses 2008/909 ausgeführt: „Da die Rahmenbeschlüsse auf dem Vertrauen in die Rechtssysteme anderer Mitgliedstaaten basieren, sollte die Entscheidung des Richters im Anordnungsstaat anerkannt und grundsätzlich keine Revision oder Anpassung der Entscheidung vorgenommen werden.“ ( 40 )

89.

Deshalb ist Art. 8 des Rahmenbeschlusses 2008/909 meines Erachtens im vorliegenden Fall eindeutig nicht anwendbar.

90.

Falls dies noch einer Bestätigung bedarf, möchte ich hinzufügen, dass sich die belgische Regierung auch irrt, was die Tragweite und den Sinn der Grenze betrifft, die der Unionsgesetzgeber der Anpassungsbefugnis der vollstreckenden Justizbehörde in Art. 8 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses 2008/909 gesetzt hat.

91.

Wie erinnerlich führt die belgische Regierung unter Berufung auf diese Bestimmung aus, dass es der vollstreckenden Justizbehörde unter Berücksichtigung der Vorschriften der Straßenverkehrsordnung, wonach das Führen eines Kraftfahrzeugs ohne Fahrerlaubnis mit einer Geldstrafe bedroht sei, unmöglich sei, die von der ausstellenden Justizbehörde verhängte Freiheitsstrafe anzupassen, so dass sie sich nicht verpflichten könne, die gegen den Betroffenen verhängte Strafe tatsächlich zu vollstrecken.

92.

In Art. 8 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses 2008/909 verbietet der Gesetzgeber es der vollstreckenden Justizbehörde ausdrücklich, eine von der ausstellenden Justizbehörde verhängte Freiheitsstrafe in eine Geldstrafe umzuwandeln. Damit will er sicherstellen, dass die Strafe im Großen und Ganzen mit der am Tag der Verurteilung verhängten Sanktion übereinstimmt, und insbesondere, dass sie verhältnismäßig bleibt und eine angemessene Reaktion auf die Störung der öffentlichen Ordnung des Ausstellungsmitgliedstaats darstellt. Auf diese Weise will der Gesetzgeber das gegenseitige Vertrauen gewährleisten, das die nationalen Justizbehörden zueinander haben sollen.

93.

Die Bestimmungen des Art. 8 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses 2008/909 über die Anpassung der Sanktion sind allerdings nur anwendbar, wenn die von der ausstellenden Justizbehörde verhängte Sanktion nach ihrer Art „mit dem Recht des Vollstreckungsstaats nicht vereinbar ist“. Der Gerichtshof hat im Urteil vom 8. November 2016, Ognyanov ( 41 ), darauf hingewiesen, dass der Unionsgesetzgeber deshalb für die Anpassung der Strafe besonders „strenge“ Voraussetzungen aufgestellt hat ( 42 ).

94.

Die belgische Regierung vergleicht jedoch die Art der von der Judecătoria Carei (Gericht erster Instanz in Carei) verhängten Strafe nicht mit seiner Rechtsordnung insgesamt, sondern mit Art. 30 der Straßenverkehrsordnung, also seiner eigenen Rechtsvorschrift, die speziell das in Rede stehende Verkehrsdelikt mit Strafe bedroht. Dadurch, dass die belgische Regierung diesen Vergleich vornimmt und auf diese Weise die rumänische öffentliche Ordnung mit ihrer eigenen vergleicht – die wie gesagt geändert wurde und sich nunmehr der rumänischen annähert –, argumentiert sie einmal mehr in Anlehnung an das Recht der Auslieferung und stellt sich damit außerhalb des Anwendungsbereichs des Rahmenbeschlusses 2008/909 wie auch des Rahmenbeschlusses 2002/584.

95.

Das belgische Recht kennt die Freiheitsstrafe – so dass nicht gesagt werden kann, dass die Art der von den rumänischen Justizbehörden gegen Herrn Sut verhängten Sanktion mit dem belgischen Recht nicht vereinbar ist –, und die belgischen Justizbehörden kennen das Prinzip der sozialen Wiedereingliederung, was gerade zu der Frage des vorlegenden Gerichts geführt hat.

96.

Da die Justizbehörde, die über die Vollstreckung des gegen den Betroffenen erlassenen Europäischen Haftbefehls zu entscheiden hat, offensichtlich der Meinung ist, dass dieser so enge Bindungen zu Belgien hat, dass die Vollstreckung der Strafe in Belgien seine Resozialisierungschancen erhöhen könnte, sehe ich nichts, was sie daran hindert, sich zu der Vollstreckung der gegen diesen in Rumänien verhängten Strafe zu verpflichten.

97.

Aufgrund aller dieser Erwägungen bin ich der Auffassung, dass Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584 in einem Fall wie dem vorliegenden, in dem die Straftat, wegen der der Europäische Haftbefehl erlassen wurde, im Ausstellungsmitgliedstaat mit einer Freiheitsstrafe geahndet wurde, dahin auszulegen ist, dass er es der vollstreckenden Justizbehörde nicht gestattet, zu prüfen, ob die abgeurteilten Taten auch im Vollstreckungsmitgliedstaat mit Freiheitsstrafe bedroht sind, und dies für das Gebrauchmachen von dem in dieser Bestimmung vorgesehenen fakultativen Ablehnungsgrund zu verlangen.

V. Ergebnis

98.

Aufgrund der vorstehenden Überlegungen schlage ich dem Gerichtshof vor, die von der Cour d’appel de Liège (Appellationshof Lüttich, Belgien) zur Vorabentscheidung vorgelegte Frage wie folgt zu beantworten:

Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten in der Fassung des Rahmenbeschlusses 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 ist in einem Fall wie dem vorliegenden, in dem die Straftat, wegen der der Europäische Haftbefehl erlassen wurde, im Ausstellungsmitgliedstaat mit einer Freiheitsstrafe geahndet wurde, dahin auszulegen, dass es der vollstreckenden Justizbehörde nicht gestattet ist, zu prüfen, ob die abgeurteilten Taten im Vollstreckungsmitgliedstaat ebenfalls mit Freiheitsstrafe bedroht sind, und dies für das Gebrauchmachen von dem in dieser Bestimmung vorgesehenen fakultativen Ablehnungsgrund zu verlangen.


( 1 ) Originalsprache: Französisch.

( 2 ) Rahmenbeschluss des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (ABl. 2002, L 190, S. 1) in der Fassung des Rahmenbeschlusses 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 (ABl. 2009, L 81, S. 24) (im Folgenden: Rahmenbeschluss 2002/584).

( 3 ) Vgl. Urteile vom 17. Juli 2008, Kozłowski (C‑66/08, EU:C:2008:437, Rn. 45), vom 6. Oktober 2009, Wolzenburg (C‑123/08, EU:C:2009:616, Rn. 62 und 67), vom 21. Oktober 2010, B. (C‑306/09, EU:C:2010:626, Rn. 52), vom 5. September 2012, Lopes Da Silva Jorge (C‑42/11, EU:C:2012:517, Rn. 32), und vom 29. Juni 2017, Popławski (C‑579/15, EU:C:2017:503, Rn. 21).

( 4 ) Moniteur belge vom 27. März 1968, S. 3146, im Folgenden: Straßenverkehrsordnung.

( 5 ) Rahmenbeschluss des Rates vom 27. November 2008 über die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung auf Urteile in Strafsachen, durch die eine freiheitsentziehende Strafe oder Maßnahme verhängt wird, für die Zwecke ihrer Vollstreckung in der Europäischen Union (ABl. 2008, L 327, S. 27) in der Fassung des Rahmenbeschlusses 2009/299 (im Folgenden: Rahmenbeschluss 2008/909).

( 6 ) C‑66/08, EU:C:2008:437.

( 7 ) C‑123/08, EU:C:2009:616.

( 8 ) C‑289/15, EU:C:2017:4.

( 9 ) C‑579/15, EU:C:2017:503.

( 10 ) Vgl. Erwägungsgründe 1 und 5 dieses Rahmenbeschlusses.

( 11 ) Vgl. sechster Erwägungsgrund dieses Rahmenbeschlusses.

( 12 ) Vgl. zehnter Erwägungsgrund des Rahmenbeschlusses 2002/584.

( 13 ) Vgl. Erwägungsgründe 1, 2 und 5 des Rahmenbeschlusses 2008/909.

( 14 ) Vgl. neunter Erwägungsgrund und Art. 3 Abs. 1 dieses Rahmenbeschlusses.

( 15 ) Moniteur belge vom 15. März 2018, S. 23236.

( 16 ) Hervorhebung nur hier.

( 17 ) Ganz unrichtig wäre die Annahme, dass in jedem dieser Mitgliedstaaten die Vollstreckung einer von einem Gericht eines anderen Mitgliedstaats verhängten Freiheitsstrafe den Erlass eines nationalen Haftbefehls erfordert.

( 18 ) Vgl. sechster Erwägungsgrund des Rahmenbeschlusses 2002/584.

( 19 ) Vgl. Urteile vom 25. Juli 2018, Minister for Justice and Equality (Mängel des Justizsystems) (C‑216/18 PPU, EU:C:2018:586, Rn. 36) und Generalstaatsanwaltschaft (Haftbedingungen in Ungarn) (C‑220/18 PPU, EU:C:2018:589, Rn. 49).

( 20 ) Vgl. dazu Mitteilung der Kommission an den Rat und das Europäische Parlament vom 26. Juli 2000 zur gegenseitigen Anerkennung von Endentscheidungen in Strafsachen (KOM[2000] 495 endgültig, namentlich S. 8).

( 21 ) C‑187/01 und C‑385/01, EU:C:2003:87. Vgl. ferner Urteile vom 9. März 2006, Van Esbroeck (C‑436/04, EU:C:2006:165), vom 28. September 2006, Van Straaten (C‑150/05, EU:C:2006:614), vom 28. September 2006, Gasparini u. a. (C‑467/04, EU:C:2006:610), vom 18. Juli 2007, Kraaijenbrink (C‑367/05, EU:C:2007:444), und vom 16. November 2010, Mantello (C‑261/09, EU:C:2010:683).

( 22 ) Vgl. Rn. 33 dieses Urteils.

( 23 ) Vgl. zehnter Erwägungsgrund dieses Rahmenbeschlusses.

( 24 ) Vgl. Urteile vom 17. Juli 2008, Kozłowski (C‑66/08, EU:C:2008:437, Rn. 45), vom 6. Oktober 2009, Wolzenburg (C‑123/08, EU:C:2009:616, Rn. 62 und 67), vom 21. Oktober 2010, B. (C‑306/09, EU:C:2010:626, Rn. 52), vom 5. September 2012, Lopes Da Silva Jorge (C‑42/11, EU:C:2012:517, Rn. 32), und vom 29. Juni 2017, Popławski (C‑579/15, EU:C:2017:503, Rn. 21).

( 25 ) Der Gerichtshof betont in der angeführten Rechtsprechung ebenso wie der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (vgl. u. a. EGMR vom 30. Juni 2015, Khoroshenko/Russland, CE:ECHR:2015:0630JUD004141804, § 121) die Bedeutung des Ziels der sozialen Wiedereingliederung der verurteilten Person nicht nur im Rahmen der Einzelfallbeurteilung des entscheidenden Gerichts über die Bedingungen der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe, sondern auch im Rahmen der Strafrechtspolitik der Mitgliedstaaten. In diesem Zusammenhang hat der Gerichtshof vor Kurzem im Urteil vom 17. April 2018, B und Vomero (C‑316/16 und C‑424/16, EU:C:2018:256, Rn. 75 und die dort angeführte Rechtsprechung), darauf hingewiesen, dass die Resozialisierung des Unionsbürgers in dem Staat, in den er vollständig integriert ist, nicht nur im Interesse dieses Staates, sondern auch im Interesse der Europäischen Union insgesamt liegt.

( 26 ) Vgl. Urteile vom 25. Juli 2018, AY (Haftbefehl – Zeuge) (C‑268/17, EU:C:2018:602, Rn. 52 und die dort angeführte Rechtsprechung) sowie Minister for Justice and Equality (Mängel des Justizsystems) (C‑216/18 PPU, EU:C:2018:586, Rn. 54 und die dort angeführte Rechtsprechung).

( 27 ) Vgl. Urteil vom 29. Juni 2017, Popławski (C‑579/15, EU:C:2017:503, Rn. 22).

( 28 ) Vgl. das Standardformular des Europäischen Haftbefehls im Anhang zum Rahmenbeschluss 2002/584.

( 29 ) Dieser Grundsatz findet sich ebenfalls in Art. 17 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2008/909, zu dem der Gerichtshof am 8. November 2016 auf ein Vorabentscheidungsersuchen das Urteil Ognyanov (C‑554/14, EU:C:2016:835) erlassen hat.

( 30 ) Ich habe in den Nrn. 70 bis 73 meiner Schlussanträge in der Rechtssache Ognyanov (C‑554/14, EU:C:2016:319) ausgeführt, dass sich die zuständigen Justizbehörden in diesem Rahmen veranlasst sehen, die Modalitäten des Strafvollzugs und dessen Gestaltung festzulegen, indem sie z. B. über den Freigang, die Ausgangsgenehmigungen, den offenen Vollzug, die Fraktionierung und die Aussetzung der Strafe, Maßnahmen der vorzeitigen oder der bedingten Entlassung des Strafgefangenen oder die elektronische Überwachung entscheiden. Ich habe ferner darauf hingewiesen, dass das Strafvollstreckungsrecht auch Maßnahmen umfasst, die nach der Freilassung der verurteilten Person ergriffen werden können, wie etwa die Unterstellung unter richterliche Aufsicht oder auch die Teilnahme an Wiedereingliederungsprogrammen oder etwa Maßnahmen zur Opferentschädigung.

( 31 ) C‑187/01 und C‑385/01, EU:C:2003:87.

( 32 ) Unter diesen Umständen muss die vollstreckende Justizbehörde die gegen den Betroffenen verhängte Strafe vollstrecken, selbst wenn die fraglichen Handlungen im Vollstreckungsmitgliedstaat nicht strafbar sind. Maßgeblich ist, wie der Gerichtshof ausgeführt hat, die Definition dieser Straftaten und der für sie angedrohten Strafen, die sich aus dem Recht des Ausstellungsmitgliedstaats ergibt, denn der Rahmenbeschluss ist nicht auf eine Angleichung der fraglichen Straftaten hinsichtlich ihrer Tatbestandsmerkmale oder der angedrohten Strafen gerichtet. Vgl. dazu Urteil vom 3. Mai 2007, Advocaten voor de Wereld (C‑303/05, EU:C:2007:261, Rn. 52 und 53).

( 33 ) C‑289/15, EU:C:2017:4.

( 34 ) C‑289/15, EU:C:2017:4.

( 35 ) C‑399/11, EU:C:2013:107.

( 36 ) C‑187/01 und C‑385/01, EU:C:2003:87.

( 37 ) Der Unionsgesetzgeber hat von dieser grundsätzlichen Verpflichtung zwei Ausnahmen vorgesehen: Nach Art. 8 Abs. 2 und 3 des Rahmenbeschlusses 2008/909 kann die vollstreckende Justizbehörde die Dauer oder die Art der von der ausstellenden Justizbehörde verhängten Sanktion ändern, um deren Vollstreckung unter Beachtung des Rechts des Vollstreckungsmitgliedstaats sicherzustellen.

( 38 ) C‑554/14, EU:C:2016:835.

( 39 ) Vgl. Rn. 36 dieses Urteils.

( 40 ) Bericht der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat
vom 5. Februar 2014: Umsetzung der Rahmenbeschlüsse 2008/909/JI, 2008/947/JI und 2009/829/JI über die gegenseitige Anerkennung von Urteilen, durch die eine freiheitsentziehende Strafe oder Maßnahme verhängt wird, von Bewährungsentscheidungen und alternativen Sanktionen und von Überwachungsmaßnahmen als Alternative zur Untersuchungshaft durch die Mitgliedstaaten (COM[2014] 57 final, insbesondere Nr. 4.2, S. 7 und 8).

( 41 ) C‑554/14, EU:C:2016:835, Rn. 36.

( 42 ) Die Fälle, in denen die im Ausstellungsmitgliedstaat verhängte Sanktion nach ihrer Art mit dem Recht des Vollstreckungsmitgliedstaats nicht vereinbar ist, sind meines Erachtens selten, da die Strafen, auch wenn sie nicht harmonisiert wurden, gleichwohl in den Mitgliedstaaten große Ähnlichkeiten aufweisen.

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