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Document 62014CJ0554

Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 8. November 2016.
Strafverfahren gegen Atanas Ognyanov.
Vorabentscheidungsersuchen des Sofiyski gradski sad.
Vorlage zur Vorabentscheidung – Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Rahmenbeschluss 2008/909/JI – Art. 17 – Für die Vollstreckung einer Sanktion maßgebliches Recht – Auslegung einer nationalen Vorschrift des Vollstreckungsstaats, die eine Verkürzung der Freiheitsstrafe aufgrund der von der verurteilten Person während ihrer Haft im Ausstellungsstaat geleisteten Arbeit vorsieht – Rechtswirkungen der Rahmenbeschlüsse – Pflicht zur unionsrechtskonformen Auslegung.
Rechtssache C-554/14.

Court reports – general

ECLI identifier: ECLI:EU:C:2016:835

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)

8. November 2016 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung — Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen — Rahmenbeschluss 2008/909/JI — Art. 17 — Für die Vollstreckung einer Sanktion maßgebliches Recht — Auslegung einer nationalen Vorschrift des Vollstreckungsstaats, die eine Verkürzung der Freiheitsstrafe aufgrund der von der verurteilten Person während ihrer Haft im Ausstellungsstaat geleisteten Arbeit vorsieht — Rechtswirkungen der Rahmenbeschlüsse — Pflicht zur unionsrechtskonformen Auslegung“

In der Rechtssache C‑554/14

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Sofiyski gradski sad (Stadtgericht Sofia, Bulgarien) mit Entscheidung vom 25. November 2014, beim Gerichtshof eingegangen am 3. Dezember 2014, ergänzt am 15. Dezember 2014, in dem Strafverfahren gegen

Atanas Ognyanov,

Beteiligte:

Sofiyska gradska prokuratura,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Große Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, des Vizepräsidenten A. Tizzano, der Kammerpräsidentin R. Silva de Lapuerta, der Kammerpräsidenten M. Ilešič und J. L. da Cruz Vilaça, der Kammerpräsidentin M. Berger (Berichterstatterin), der Richter J.‑C. Bonichot und A. Arabadjiev, der Richterin C. Toader sowie der Richter M. Safjan, E. Jarašiūnas, C. G. Fernlund, C. Vajda, S. Rodin und F. Biltgen,

Generalanwalt: Y. Bot,

Kanzler: M. Aleksejev, Verwaltungsrat,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 12. Januar 2016,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

der deutschen Regierung, vertreten durch T. Henze und J. Kemper als Bevollmächtigte,

der spanischen Regierung, vertreten durch A. Rubio González als Bevollmächtigten,

der niederländischen Regierung, vertreten durch M. Bulterman und M. Gijzen als Bevollmächtigte,

der österreichischen Regierung, vertreten durch G. Eberhard als Bevollmächtigten,

der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch D. Blundell und L. Barfoot als Bevollmächtigte,

der Europäischen Kommission, vertreten durch R. Troosters, W. Bogensberger und V. Soloveytchik als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 3. Mai 2016

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 17 Abs. 1 und 2 des Rahmenbeschlusses 2008/909/JI des Rates vom 27. November 2008 über die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung auf Urteile in Strafsachen, durch die eine freiheitsentziehende Strafe oder Maßnahme verhängt wird, für die Zwecke ihrer Vollstreckung in der Europäischen Union (ABl. 2008, L 327, S. 27) in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 (ABl. 2009, L 81, S. 24) geänderten Fassung (im Folgenden: Rahmenbeschluss).

2

Es ergeht im Rahmen eines Verfahrens über die Anerkennung eines strafrechtlichen Urteils und die Vollstreckung einer von einem dänischen Gericht gegen Herrn Atanas Ognyanov verhängten Freiheitsstrafe in Bulgarien.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

3

Der Rahmenbeschluss 2008/909 ersetzte ab dem 5. Dezember 2011 in den meisten Mitgliedstaaten die entsprechenden Bestimmungen des Übereinkommens des Europarats vom 21. März 1983 über die Überstellung verurteilter Personen und des dazugehörigen Zusatzprotokolls vom 18. Dezember 1997.

4

Der fünfte Erwägungsgrund dieses Rahmenbeschlusses lautet:

„Die Verfahrensrechte in Strafverfahren sind ein entscheidendes Element, um wechselseitiges Vertrauen unter den Mitgliedstaaten im Rahmen der justiziellen Zusammenarbeit zu gewährleisten. Die Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten, die von einem besonderen wechselseitigen Vertrauen in die Rechtssysteme der übrigen Mitgliedstaaten geprägt sind, ermöglichen es, dass Entscheidungen der Behörden des Ausstellungsstaats von dem Vollstreckungsstaat anerkannt werden. Daher sollte eine Weiterentwicklung der Zusammenarbeit, die in den Übereinkünften des Europarats betreffend die Vollstreckung von Strafurteilen vorgesehen ist, in Betracht gezogen werden, insbesondere in Fällen, in denen in einem anderen Mitgliedstaat ein Strafurteil gegen einen Unionsbürger ergangen ist und gegen die betreffende Person eine freiheitsentziehende Strafe oder Maßnahme verhängt wurde. …“

5

In Art. 3 („Zweck und Geltungsbereich“) dieses Rahmenbeschlusses heißt es:

„(1)   Zweck dieses Rahmenbeschlusses ist es, im Hinblick auf die Erleichterung der sozialen Wiedereingliederung der verurteilten Person die Regeln festzulegen, nach denen ein Mitgliedstaat ein Urteil anerkennt und die verhängte Sanktion vollstreckt.

(3)   Dieser Rahmenbeschluss gilt nur für die Anerkennung von Urteilen und die Vollstreckung von Sanktionen im Sinne des Rahmenbeschlusses. …

…“

6

Art. 8 („Anerkennung des Urteils und Vollstreckung der Sanktion“) des Rahmenbeschlusses 2008/909 bestimmt:

„(1)   Die zuständige Behörde des Vollstreckungsstaats erkennt ein … übermitteltes Urteil an und ergreift unverzüglich alle für die Vollstreckung der Sanktion erforderlichen Maßnahmen, es sei denn, sie beschließt, einen der Gründe für die Versagung der Anerkennung und der Vollstreckung gemäß Artikel 9 geltend zu machen.

(2)   Ist die Sanktion nach ihrer Dauer mit dem Recht des Vollstreckungsstaats nicht vereinbar, so kann die zuständige Behörde des Vollstreckungsstaats eine Anpassung dieser Sanktion nur in den Fällen beschließen, in denen die Sanktion die für vergleichbare Straftaten nach ihrem innerstaatlichen Recht vorgesehene Höchststrafe überschreitet. Die angepasste Sanktion darf nicht niedriger als die nach dem Recht des Vollstreckungsstaats für vergleichbare Straftaten vorgesehene Höchststrafe sein.

(3)   Ist die Sanktion nach ihrer Art mit dem Recht des Vollstreckungsstaats nicht vereinbar, so kann die zuständige Behörde des Vollstreckungsstaates diese an die nach ihrem eigenen Recht für vergleichbare Straftaten vorgesehene Strafe oder Maßnahme anpassen. Diese Strafe oder Maßnahme muss so weit wie möglich der im Ausstellungsstaat verhängten Sanktion entsprechen, weshalb deren Umwandlung in eine Geldstrafe nicht in Betracht kommt.

(4)   Die angepasste Sanktion darf nach Art oder Dauer die im Ausstellungsstaat verhängte Sanktion nicht verschärfen.“

7

Art. 10 („Teilweise Anerkennung und teilweise Vollstreckung“) dieses Rahmenbeschlusses bestimmt in seinem Abs. 1:

„Sofern die zuständige Behörde des Vollstreckungsstaats die teilweise Anerkennung des Urteils und die teilweise Vollstreckung der Sanktion in Erwägung ziehen könnte, kann sie vor der Entscheidung, die Anerkennung des Urteils und die Vollstreckung der Sanktion vollständig zu versagen, die zuständige Behörde des Ausstellungsstaats konsultieren, um … zu einer Einigung zu gelangen.“

8

Art. 13 dieses Rahmenbeschlusses sieht vor:

„Solange im Vollstreckungsstaat noch nicht mit der Vollstreckung der Sanktion begonnen wurde, kann der Ausstellungsstaat die Bescheinigung aus diesem Staat unter Angabe von Gründen zurückziehen. Nach Zurückziehung der Bescheinigung wird der Vollstreckungsstaat die Sanktion nicht länger vollstrecken.“

9

Art. 17 („Für die Vollstreckung maßgebliches Recht“) des Rahmenbeschlusses 2008/909 lautet:

„(1)   Auf die Vollstreckung einer Sanktion ist das Recht des Vollstreckungsstaats anwendbar. Nur die Behörden des Vollstreckungsstaats können vorbehaltlich der Absätze 2 und 3 über die Vollstreckungsverfahren entscheiden und die damit zusammenhängenden Maßnahmen bestimmen; dies gilt auch für die Gründe einer vorzeitigen oder bedingten Entlassung.

(2)   Die zuständige Behörde des Vollstreckungsstaats rechnet die volle Dauer des Freiheitsentzugs, der im Zusammenhang mit der Sanktion, die mit dem Urteil verhängt wurde, bereits verbüßt wurde, auf die Gesamtdauer des zu verbüßenden Freiheitsentzugs an.

(3)   Die zuständige Behörde des Vollstreckungsstaats unterrichtet die zuständige Behörde des Ausstellungsstaats auf deren Ersuchen über die für eine etwaige vorzeitige oder bedingte Entlassung geltenden Bestimmungen. Der Ausstellungsstaat kann der Anwendung dieser Bestimmungen zustimmen oder die Bescheinigung zurückziehen.

(4)   Die Mitgliedstaaten können vorsehen, dass bei der Entscheidung über die vorzeitige oder bedingte Entlassung die vom Ausstellungsstaat angegebenen Bestimmungen seines nationalen Rechts berücksichtigt werden, nach denen die betreffende Person zu einem bestimmten Zeitpunkt einen Anspruch auf vorzeitige oder bedingte Entlassung hat.“

10

Das im Ausstellungsstaat ergangene Urteil ist zusammen mit einer Bescheinigung an den Vollstreckungsstaat zu übermitteln. In Anhang I des Rahmenbeschlusses 2008/909 ist ein Standardformular für diese Bescheinigung wiedergegeben.

11

Buchst. i Nr. 2 dieses Standardformulars betrifft die „Angaben zur Dauer der Sanktion“. So muss der Ausstellungsstaat Angaben machen erstens zur Gesamtdauer der Sanktion (in Tagen) (Buchst. i Nr. 2.1 der Bescheinigung), zweitens zur Gesamtzeit des Freiheitsentzugs, der im Zusammenhang mit der Sanktion, die mit dem Urteil verhängt wurde, bereits verbüßt wurde (in Tagen) (Buchst. i Nr. 2.2 dieser Bescheinigung), und drittens zur Anzahl der Tage, die von der Gesamtdauer der Sanktion aus anderen als den unter Nr. 2.2 genannten Gründen abzuziehen sind (Buchst. i Nr. 2.3 der Bescheinigung).

Bulgarisches Recht

12

Der Vorlageentscheidung ist zu entnehmen, dass zum Zeitpunkt ihres Erlasses der Rahmenbeschluss 2008/909 noch nicht in bulgarisches Recht umgesetzt worden war.

13

Art. 41 Abs. 3 des Nakazatelen kodeks (Strafgesetzbuch) lautet:

„Die von der verurteilten Person geleistete Arbeit wird zur Verkürzung der Strafdauer angerechnet, wobei zwei Arbeitstage als drei Tage Freiheitsentzug gelten.“

14

Art. 457 des Nakazatelno protsesualen kodeks (Strafprozessordnung, im Folgenden: NPK) über die Fragen im Zusammenhang mit der Vollstreckung des Urteils im Rahmen der Überstellung verurteilter Personen sieht in seinen Abs. 4 bis 6 vor:

„(4)   Liegt die im Recht der Republik Bulgarien für die begangene Straftat vorgesehene Höchstdauer der Freiheitsstrafe unter der im Urteil festgelegten Dauer, verkürzt sie das Gericht auf diese Dauer. Sieht das Recht der Republik Bulgarien keine Freiheitsstrafe für die begangene Straftat vor, setzt das Gericht eine Strafe fest, die am ehesten der in dem Urteil verhängten Sanktion entspricht.

(5)   Der Zeitraum der Untersuchungshaft und der bereits im Urteilsstaat verbüßten Strafe wird angerechnet und – wenn die Sanktionen unterschiedlich sind – bei der Bestimmung der Strafdauer berücksichtigt.

(6)   Im Urteil verhängte zusätzliche Strafen müssen vollstreckt werden, wenn sie in den entsprechenden Vorschriften des Rechts der Republik Bulgarien vorgesehen sind und im Urteilsstaat nicht vollstreckt wurden.“

15

Nach der vom Varhoven kasatsionen sad (Oberster Kassationsgerichtshof, Bulgarien) erlassenen Auslegungsentscheidung Nr. 3/13 vom 12. November 2013 (im Folgenden: Auslegungsentscheidung) ist Art. 457 Abs. 5 NPK in Verbindung mit Art. 41 Abs. 3 des Strafgesetzbuchs dahin auszulegen, dass die vom überstellten bulgarischen Verurteilten im Urteilsstaat geleistete gemeinnützige Arbeit von der zuständigen Stelle des Vollstreckungsstaats im Hinblick auf die Strafverkürzung in dem Sinne zu berücksichtigen ist, dass zwei Arbeitstage drei Tagen Freiheitsentzug gleichgesetzt werden, es sei denn, der Urteilsstaat hatte diese Strafe bereits entsprechend verkürzt.

16

In seinem Vorabentscheidungsersuchen weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass es an diese Auslegungsentscheidung gebunden sei.

17

Außerdem sei weder nach dem Gesetz noch nach dieser Auslegungsentscheidung die Unterrichtung des Ausstellungsstaats bzw. die Einholung seiner Stellungnahme oder seiner Zustimmung zur Vornahme einer solchen Strafverkürzung durch die zuständigen bulgarischen Behörden erforderlich.

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

18

Mit Urteil vom 28. November 2012 wurde Herr Ognyanov, ein bulgarischer Staatsangehöriger, vom Rett i Glostrup (Gericht Glostrup, Dänemark) wegen Mordes und schweren Raubes zu einer Gesamtstrafe von 15 Jahren Freiheitsentzug verurteilt.

19

Herr Ognyanov befand sich zunächst in Dänemark in Untersuchungshaft, und zwar vom 10. Januar bis zum 28. November 2012, dem Tag, an dem das Urteil über die gegen ihn verhängte Sanktion Rechtskraft erlangte.

20

Anschließend verbüßte er vom 28. November 2012 bis zum 1. Oktober 2013, dem Tag seiner Überstellung an die bulgarischen Behörden, einen Teil seiner Freiheitsstrafe in Dänemark.

21

Während seiner Haft in Dänemark arbeitete Herr Ognyanov vom 23. Januar 2012 bis zum 30. September 2013.

22

Der Vorlageentscheidung ist zu entnehmen, dass sich die dänischen Behörden für die Überstellung von Herrn Ognyanov an die bulgarischen Behörden auf den Rahmenbeschluss 2008/909 stützten. Sie ersuchten die bulgarischen Behörden darum, in Bezug auf die Strafe, die sie zu vollstrecken gedachten, und in Bezug auf die für eine vorzeitige Entlassung in Bulgarien geltenden Regeln unterrichtet zu werden. Zudem wiesen sie ausdrücklich darauf hin, dass das dänische Gesetz keine Verkürzung der Freiheitsstrafe aufgrund der während ihrer Vollstreckung geleisteten Arbeit vorsehe.

23

Zu einem in der Vorlageentscheidung nicht näher bestimmten Zeitpunkt befasste die Sofiyska gradska prokuratura (Staatsanwaltschaft der Stadt Sofia, Bulgarien) das vorlegende Gericht gemäß Art. 457 NPK, damit es über die Fragen im Zusammenhang mit der Vollstreckung des vom dänischen Gericht gegen Herrn Ognyanov erlassenen Urteils entscheide.

24

Angesichts der in der Auslegungsentscheidung vertretenen Lösung fragt sich das vorlegende Gericht, ob es für die Festlegung der Dauer der von Herrn Ognyanov zu verbüßenden Reststrafe den Zeitraum berücksichtigen muss, in dem er in einer dänischen Justizvollzugsanstalt gearbeitet hat. Wäre dies der Fall, würde seine Strafe nicht um ein Jahr, acht Monate und 20 Tage verkürzt, sondern um zwei Jahre, sechs Monate und 24 Tage, was ihm zu einer vorzeitigen Freilassung verhelfen würde. Das vorlegende Gericht fügt hinzu, dass der Rahmenbeschluss 2008/909 eine solche Strafverkürzung nicht vorsehe.

25

Es führt in seiner Entscheidung die Gründe an, die ihm die Schlussfolgerung nahelegen, dass das bulgarische Recht nicht im Einklang mit den einschlägigen Bestimmungen des Rahmenbeschlusses 2008/909 stehe.

26

Erstens nämlich ermächtige Art. 17 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2008/909 die zuständigen Behörden des Vollstreckungsstaats, zu entscheiden, in welcher Art und Weise eine freiheitsentziehende Strafe zu vollstrecken „sein werde“, nicht aber dazu, die im Ausstellungsstaat bereits vollstreckte Sanktion rechtlich neu zu bewerten. Daher könnten die zuständigen Behörden des Vollstreckungsstaats nicht wegen von der verurteilten Person in einer Justizvollzugsanstalt des Ausstellungstaats geleisteter Arbeit eine Verkürzung der zu verbüßenden Reststrafe gewähren.

27

Zweitens verpflichte Art. 17 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses 2008/909 den Vollstreckungsstaat zur vollständigen Anrechnung der von der verurteilten Person zum Zeitpunkt der Überstellung im Ausstellungsstaat bereits verbüßten Freiheitsstrafe; dieser Zweck könne jedoch nicht erreicht werden, wenn die zuständigen Behörden des Vollstreckungsstaats einen Zeitraum anrechneten, der kürzer oder länger sei als die nach dem Recht des Ausstellungsstaats vollstreckte Strafe. Daher stünde die Anrechnung eines Zeitraums, der länger als der tatsächliche Freiheitsentzug sei, im Widerspruch zu dieser Bestimmung.

28

Im Übrigen sind nach Ansicht des vorlegenden Gerichts die beiden anderen eine Möglichkeit der Strafverkürzung bietenden Bestimmungen des Rahmenbeschlusses 2008/909, nämlich dessen Art. 8 Abs. 2 und Art. 10 Abs. 1, auf die bei ihm anhängige Rechtssache offensichtlich nicht anwendbar.

29

In diesem Zusammenhang hat der Sofiyski gradski sad (Stadtgericht Sofia) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.

Lassen die Bestimmungen des Rahmenbeschlusses 2008/909 es zu, dass der Vollstreckungsstaat im Verfahren zur Überstellung die Dauer der vom Ausstellungsstaat verhängten Sanktion „Freiheitsentzug“ aufgrund während der Verbüßung dieser Sanktion im Ausstellungsstaat geleisteter Arbeit wie folgt verkürzt:

a)

Die Verkürzung der Sanktion ist die Folge der Anwendung des Rechts des Vollstreckungsstaats auf die Vollstreckung der Sanktion gemäß Art. 17 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2008/909. Lässt diese Vorschrift es zu, dass das Recht des Vollstreckungsstaats betreffend die Vollstreckung der Sanktion bereits im Verfahren zur Überstellung im Hinblick auf Umstände angewandt wird, die während der Zeit entstanden sind, in der der Verurteilte der Gerichtsbarkeit des Ausstellungsstaats unterlag (nämlich im Hinblick auf während der Haft in der Justizvollzugsanstalt des Ausstellungsstaats geleistete Arbeit)?

b)

Die Verkürzung der Sanktion erfolgt aufgrund der Anrechnung gemäß Art. 17 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses 2008/909. Lässt diese Vorschrift die Anrechnung eines Zeitraums zu, der länger ist als die nach dem Recht des Ausstellungsstaats bestimmte Haftdauer, wenn das Recht des Vollstreckungsstaats angewandt wird und dadurch die im Ausstellungsstaat entstandenen Umstände (nämlich die in der Justizvollzugsanstalt des Ausstellungsstaats geleistete Arbeit) rechtlich neu bewertet werden?

2.

Falls diese oder andere Rechtsvorschriften des Rahmenbeschlusses 2008/909 auf die erörterte Verkürzung der Sanktion anwendbar sind, ist der Ausstellungsstaat darüber zu unterrichten, wenn er darum ausdrücklich ersucht hat und ist das Verfahren zur Überstellung bei Weigerung seinerseits einzustellen? Falls das Erfordernis der Unterrichtung bejaht wird, wie soll die Unterrichtung erfolgen – allgemein und abstrakt über das anwendbare Recht oder über die konkrete Verkürzung, die das Gericht bei der konkret verurteilten Person vornehmen wird?

3.

Sollte der Gerichtshof feststellen, dass die Bestimmungen des Art. 17 Abs. 1 und 2 des Rahmenbeschlusses 2008/909 es nicht zulassen, dass der Vollstreckungsstaat auf der Grundlage seines innerstaatlichen Rechts die Strafe (wegen im Ausstellungstaat geleisteter Arbeit) verkürzt, steht dann die Entscheidung des nationalen Gerichts, gleichwohl sein nationales Recht anzuwenden, weil dieses milder ist als Art. 17 des Rahmenbeschlusses, im Einklang mit dem europäischen Recht?

Zu den Vorlagefragen

Zur ersten Frage

30

Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 17 Abs. 1 und 2 des Rahmenbeschlusses 2008/909 dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Vorschrift entgegensteht, die in einer Weise ausgelegt wird, dass sie den Vollstreckungsstaat berechtigt, der verurteilten Person aufgrund der während ihrer Haft im Ausstellungsstaat von ihr geleisteten Arbeit eine Strafverkürzung zu gewähren, obwohl die zuständigen Behörden des Ausstellungsstaats nach dessen Recht eine solche Strafverkürzung nicht gewährt haben.

31

Für die Beantwortung dieser Frage ist darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs bei der Auslegung einer Vorschrift des Unionsrechts nicht nur ihr Wortlaut zu berücksichtigen ist, sondern auch ihr Zusammenhang und die Ziele, die mit der Regelung, zu der sie gehört, verfolgt werden (Urteil vom 16. Juli 2015, Lanigan, C‑237/15 PPU, EU:C:2015:474, Rn. 35).

32

Zum Wortlaut des Art. 17 Abs. 1 und 2 des Rahmenbeschlusses 2008/909 ist darauf hinzuweisen, dass nach dessen Abs. 1 zwar „[a]uf die Vollstreckung einer Sanktion … das Recht des Vollstreckungsstaats anwendbar [ist]“, dass er jedoch – wie der Generalanwalt in Nr. 63 seiner Schlussanträge feststellt – nicht erläutert, ob es sich um die Vollstreckung der Strafe ab Verkündung des Urteils im Ausstellungsstaat oder erst ab Überstellung der verurteilten Person an den Vollstreckungsstaat handelt.

33

Gemäß Art. 17 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses 2008/909 „[rechnet d]ie zuständige Behörde des Vollstreckungsstaats … die volle Dauer des Freiheitsentzugs, der im Zusammenhang mit der Sanktion, die mit dem Urteil verhängt wurde, bereits verbüßt wurde, auf die Gesamtdauer des zu verbüßenden Freiheitsentzugs an“. Anhand dieser Bestimmung, die von der Prämisse ausgeht, dass eine verurteilte Person vor ihrer Überstellung einen Teil ihrer Strafe im Ausstellungsstaat verbüßen kann, lässt sich nicht feststellen, ob der Vollstreckungsstaat eine Strafverkürzung vornehmen kann, die der von der verurteilten Person während ihrer Haft im Ausstellungsstaat geleisteten Arbeit Rechnung trägt.

34

Daher ist der Zusammenhang von Art. 17 des Rahmenbeschlusses 2008/909 zu berücksichtigen. Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass dieser Artikel zu Kapitel II („Anerkennung von Urteilen und Vollstreckung von Sanktionen“) dieses Rahmenbeschlusses gehört. Dieses Kapitel, das aus den Art. 4 bis 25 besteht, stellt eine Reihe von Grundsätzen in chronologischer Reihenfolge auf.

35

Wie der Generalanwalt in Nr. 100 seiner Schlussanträge feststellt, legen die Art. 4 bis 14 des Rahmenbeschlusses 2008/909 in einem ersten Schritt die Regeln fest, die die Mitgliedstaaten bei der Überstellung der verurteilten Person anzuwenden haben. So erläutern die Art. 4 bis 6 dieses Rahmenbeschlusses zunächst die Modalitäten der Übermittlung des Urteils und der Bescheinigung an den Vollstreckungsstaat. Die Art. 7 bis 14 dieses Rahmenbeschlusses legen sodann die für die Entscheidungen über die Anerkennung des Urteils und über die Vollstreckung der Sanktion geltenden Grundsätze fest.

36

Insbesondere führt Art. 8 dieses Rahmenbeschlusses strenge Voraussetzungen für die Anpassung der im Ausstellungsstaat verhängten Sanktion durch die zuständige Behörde des Vollstreckungsstaats ein, die somit die einzigen Ausnahmen von der grundsätzlichen Verpflichtung dieser Behörde darstellen, das ihr übermittelte Urteil anzuerkennen und die Sanktion in einer Dauer und Art zu vollstrecken, die denen entsprechen, die in dem im Ausstellungsstaat ergangenen Urteil vorgesehen sind.

37

Zudem ist Art. 13 des Rahmenbeschlusses 2008/909 zu entnehmen, dass der Ausstellungsstaat seine Zuständigkeit für die Vollstreckung einer Strafe solange behält, solange „im Vollstreckungsstaat noch nicht mit der Vollstreckung der Sanktion begonnen wurde“.

38

In einem zweiten Schritt legt Art. 15 des Rahmenbeschlusses 2008/909 die Modalitäten fest, die für die Überstellung der verurteilten Person gelten, und Art. 16 dieses Rahmenbeschlusses sieht besondere Bestimmungen für den Fall der Durchbeförderung der verurteilten Person durch das Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats vor.

39

Art. 17 des Rahmenbeschlusses 2008/909 stellt die Fortsetzung der ihm vorangehenden Bestimmungen dar, indem er die Grundsätze aufstellt, die für die Vollstreckung der Sanktion gelten, sobald die verurteilte Person an die zuständige Behörde des Vollstreckungsstaats überstellt wurde.

40

Folglich ist Art. 17 des Rahmenbeschlusses 2008/909 dahin auszulegen, dass, auch hinsichtlich der Frage der etwaigen Gewährung einer Strafverkürzung auf den Teil der Strafe, den die betroffene Person bis zu ihrer Überstellung in den Vollstreckungsstaat im Ausstellungsstaat verbüßt hat, nur das Recht des Ausstellungsstaats anwendbar ist. Das Recht des Vollstreckungsstaats gilt nur für den Teil der Strafe, den diese Person nach dieser Überstellung in dessen Hoheitsgebiet noch zu verbüßen hat.

41

Eine solche Auslegung ergibt sich auch aus der Musterbescheinigung in Anhang I des Rahmenbeschlusses 2008/909.

42

Insoweit ist zu beachten, dass diese Musterbescheinigung ein Standardformular darstellt, das von der zuständigen Behörde des Ausstellungsstaats auszufüllen und dann mit dem die Sanktion verhängenden Urteil an die zuständige Behörde des Vollstreckungsstaats zu übermitteln ist. Nach Art. 8 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2008/909 erkennt die zuständige Behörde des Vollstreckungsstaats das die Sanktion verhängende Urteil an und stützt sich dabei auf die von der zuständigen Behörde des Ausstellungsstaats in dieser Bescheinigung gemachten Angaben.

43

In Bezug auf die zur Dauer der Sanktion zu machenden Angaben ergibt sich aus Buchst. i Nr. 2.2 der Musterbescheinigung, dass der Ausstellungsstaat die Gesamtzeit des im Rahmen der mit dem Urteil verhängten Sanktion bereits verbüßten Freiheitsentzugs in Tagen angeben muss. In Buchst. i Nr. 2.3 dieses Musters hat der Ausstellungsstaat die Anzahl der Tage anzugeben, die von der Gesamtdauer der Sanktion aus anderen als den unter Buchst. i Nr. 2.2 dieses Musters genannten Gründen abzuziehen sind. Eine nicht abschließende Liste dieser „anderen Gründe“ ist auch in Buchst. i Nr. 2.3 der Musterbescheinigung zu finden, zu denen in Bezug auf die Sanktion bereits gewährte Begnadigungen oder Gnadenakte zählen. Wie der Generalanwalt in Nr. 116 seiner Schlussanträge ausführt, ermöglicht dieser Buchst. i Nr. 2.3 dem Ausstellungsstaat, zusätzliche Angaben zu machen, wenn besondere Umstände, wie z. B. die von der verurteilten Person in der Haft geleistete Arbeit, bereits eine Strafverkürzung nach sich gezogen haben.

44

Nach alledem ist es Sache des Ausstellungsstaats, vor der Anerkennung des die Sanktion verhängenden Urteils durch den und vor der Überstellung der verurteilten Person in den Vollstreckungsstaat, die auf den im Hoheitsgebiet des Ausstellungsstaats zurückgelegten Haftzeitraum entfallenden Strafverkürzungen festzulegen. Nur der Ausstellungsstaat ist befugt, für die vor der Überstellung geleistete Arbeit eine Strafverkürzung zu gewähren und gegebenenfalls in der Bescheinigung nach Art. 4 des Rahmenbeschlusses 2008/909 dem Vollstreckungsstaat diese Verkürzung mitzuteilen. Daher darf der Vollstreckungsstaat in Bezug auf den Teil der Strafe, den die betroffene Person bereits im Hoheitsgebiet des Ausstellungsstaats verbüßt hat, nicht rückwirkend sein Strafvollzugsrecht und insbesondere seine Vorschriften über Strafverkürzungen anstelle des Rechts des Ausstellungsstaats anwenden.

45

Im vorliegenden Fall ist den beim Gerichtshof eingereichten Unterlagen zu entnehmen, dass die dänischen Behörden bei der Überstellung von Herrn Ognyanov an die zuständigen bulgarischen Behörden ausdrücklich darauf hingewiesen haben, dass das dänische Gesetz keine Verkürzung der Freiheitsstrafe aufgrund der von der verurteilten Person während ihrer Haft geleisteten Arbeit vorsehe. Folglich darf die Behörde, die im Vollstreckungsstaat für Fragen der Vollstreckung der Strafe zuständig ist, wie etwa das vorlegende Gericht, in Bezug auf den von der verurteilten Person im Hoheitsgebiet des Ausstellungsstaats bereits verbüßten Teil der Strafe keine Strafverkürzung gewähren, wenn dessen Behörden nach ihrem nationalen Recht keine solche Strafverkürzung gewährt haben.

46

Eine gegenteilige Auslegung könnte schließlich die mit dem Rahmenbeschluss 2008/909 verfolgten Ziele beeinträchtigen, zu denen insbesondere der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung gehört, der nach dem ersten Erwägungsgrund des Rahmenbeschlusses in Verbindung mit Art. 82 Abs. 1 AEUV den „Eckstein“ der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen in der Europäischen Union bildet (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 5. April 2016, Aranyosi und Căldăraru, C‑404/15 und C‑659/15 PPU, EU:C:2016:198, Rn. 79).

47

Insoweit betont der fünfte Erwägungsgrund des Rahmenbeschlusses 2008/909, dass diese Zusammenarbeit auf einem besonderen wechselseitigen Vertrauen der Mitgliedstaaten in die Rechtssysteme der übrigen Mitgliedstaaten beruht.

48

Würde ein nationales Gericht des Vollstreckungsstaats gemäß seinem nationalen Recht, nachdem es das von einem Gericht des Ausstellungsstaats verkündete die Sanktion verhängende Urteil anerkannt hat und sobald die verurteilte Person an die Behörden des Vollstreckungsstaats überstellt worden ist, in Bezug auf den von dieser Person bereits im Hoheitsgebiet des Ausstellungsstaats verbüßten Teil der Strafe eine Strafverkürzung gewähren, wenn dessen zuständigen Behörden auf der Grundlage ihres nationalen Rechts keine solche Strafverkürzung gewährt haben, würde das besondere wechselseitige Vertrauen der Mitgliedstaaten in die Rechtssysteme der übrigen Mitgliedstaaten untergraben.

49

In einem solchen Fall würde das nationale Gericht des Vollstreckungsstaats dann nämlich rückwirkend sein nationales Recht auf den Teil der Strafe anwenden, der in dem der Gerichtsbarkeit des Ausstellungsstaats unterliegenden Hoheitsgebiet verbüßt wurde. Es würde somit eine Überprüfung des im Hoheitsgebiet dieses Staates zurückgelegten Haftzeitraums vornehmen, was gegen den Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung verstieße.

50

Im Übrigen geht aus Art. 3 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2008/909 hervor, dass die Anerkennung des Urteils und die Vollstreckung der Sanktion durch einen anderen Mitgliedstaat als den, der dieses Urteil verkündet hat, der Erleichterung der sozialen Wiedereingliederung der verurteilten Person dienen sollen. Daher würde eine Missachtung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung auch dieses Ziel beeinträchtigen.

51

Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 17 Abs. 1 und 2 des Rahmenbeschlusses 2008/909 dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Vorschrift entgegensteht, die in der Weise ausgelegt wird, dass sie den Vollstreckungsstaat berechtigt, der verurteilten Person aufgrund der während ihrer Haft im Ausstellungsstaat von ihr geleisteten Arbeit eine Strafverkürzung zu gewähren, obwohl die zuständigen Behörden des Ausstellungsstaats nach dessen Recht eine solche Strafverkürzung nicht gewährt haben.

Zur zweiten Frage

52

Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob der Vollstreckungsstaat in dem Fall, dass Art. 17 des Rahmenbeschlusses 2008/909 der zuständigen Behörde des Vollstreckungsstaats gestatten würde, eine Strafverkürzung wie die im Ausgangsverfahren fragliche in Bezug auf den Teil der Strafe zu gewähren, den die verurteilte Person bereits auf dem Hoheitsgebiet des Ausstellungsstaats verbüßt hat, verpflichtet wäre, den Ausstellungsstaat über diese Verkürzung zu unterrichten, wenn dieser darum ausdrücklich ersucht hat. Für den Fall, dass diese Frage bejaht wird, möchte das vorlegende Gericht wissen, welcher Art die Angaben seien, die dann zu übermitteln wären.

53

In Anbetracht der Antwort auf die erste Frage ist die zweite Frage des vorlegenden Gerichts nicht zu prüfen.

Zur dritten Frage

54

Mit seiner dritten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob das Unionsrecht dahin auszulegen ist, dass es ein nationales Gericht hindert, eine nationale Vorschrift wie die im Ausgangsverfahren fragliche, obwohl sie gegen Art. 17 Abs. 1 und 2 des Rahmenbeschlusses 2008/909 verstößt, mit der Begründung anzuwenden, dass diese nationale Vorschrift milder sei als die unionsrechtliche Bestimmung.

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Es ist zunächst hervorzuheben, dass das vorlegende Gericht den Grundsatz der rückwirkenden Anwendung des milderen Strafgesetzes auf der Grundlage der Prämisse heranzieht, dass das bulgarische Recht – insbesondere dessen Vorschriften über die Strafverkürzung – auch auf den Haftzeitraum zur Anwendung kommt, den Herr Ognyanov vor seiner Überstellung nach Bulgarien in Dänemark zurückgelegt hat. Wie sich aus der Antwort auf die erste Frage ergibt, ist diese Prämisse jedoch falsch.

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Nach dieser Klarstellung ist noch darauf hinzuweisen, dass der Rahmenbeschluss 2008/909 – anders, als das vorlegende Gericht und die Europäische Kommission offenbar nahelegen wollen – keine unmittelbare Wirkung hat. Dieser Rahmenbeschluss wurde nämlich auf der Grundlage des ehemaligen dritten Pfeilers der Union, u. a. gemäß Art. 34 Abs. 2 Buchst. b EU, erlassen. Nach dieser Bestimmung sind zum einen die Rahmenbeschlüsse für die Mitgliedstaaten hinsichtlich des zu erreichenden Ziels verbindlich, überlassen jedoch den innerstaatlichen Stellen die Wahl der Form und der Mittel, und zum anderen sind die Rahmenbeschlüsse nicht unmittelbar wirksam.

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Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass gemäß Art. 9 des den Verträgen beigefügten Protokolls (Nr. 36) über die Übergangsbestimmungen die Rechtsakte der Organe, der Einrichtungen und der sonstigen Stellen der Union, die vor dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon auf der Grundlage des EU-Vertrags angenommen wurden, so lange Rechtswirkung behalten, bis sie in Anwendung der Verträge aufgehoben, für nichtig erklärt oder geändert werden. Da der Rahmenbeschluss 2008/909 nicht in dieser Weise aufgehoben, für nichtig erklärt oder geändert wurde, entfaltet er demnach weiterhin seine Rechtswirkungen gemäß Art. 34 Abs. 2 Buchst. b EU.

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Es ist auch ständige Rechtsprechung, dass die Rahmenbeschlüsse gemäß Art. 34 Abs. 2 Buchst. b EU zwar keine unmittelbare Wirkung haben, doch ihr zwingender Charakter für die nationalen Behörden und insbesondere auch die nationalen Gerichte eine Verpflichtung zu rahmenbeschlusskonformer Auslegung des nationalen Rechts zur Folge hat (vgl. Urteil vom 5. September 2012, Lopes Da Silva Jorge, C‑42/11, EU:C:2012:517, Rn. 53 und die dort angeführte Rechtsprechung).

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Die nationalen Gerichte müssen bei der Anwendung des nationalen Rechts dieses daher so weit wie möglich anhand des Wortlauts und des Zwecks des Rahmenbeschlusses auslegen, um das im Rahmenbeschluss festgelegte Ziel zu erreichen. Diese Verpflichtung zur unionsrechtskonformen Auslegung des nationalen Rechts ist dem System des AEU-Vertrags immanent, da den nationalen Gerichten dadurch ermöglicht wird, im Rahmen ihrer Zuständigkeiten die volle Wirksamkeit des Unionsrechts sicherzustellen, wenn sie über die bei ihnen anhängigen Rechtsstreitigkeiten entscheiden (vgl. Urteil vom 5. September 2012, Lopes Da Silva Jorge, C‑42/11, EU:C:2012:517, Rn. 54 und die dort angeführte Rechtsprechung).

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Zudem ist der Vorlageentscheidung zu entnehmen, dass zum Zeitpunkt ihres Erlasses der Rahmenbeschluss 2008/909 noch nicht in bulgarisches Recht umgesetzt worden war, obwohl gemäß Art. 29 dieses Rahmenbeschlusses diese Umsetzung vor dem 5. Dezember 2011 hätte erfolgen müssen.

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Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass das vorlegende Gericht ab dem Zeitpunkt des Ablaufs der Frist für die Umsetzung dieses Rahmenbeschlusses zur Wahrung des Grundsatzes der rahmenbeschlusskonformen Auslegung verpflichtet ist (vgl. entsprechend Urteil vom 4. Juli 2006, Adeneler u. a., C‑212/04, EU:C:2006:443, Rn. 115 und 124).

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Allerdings unterliegt der Grundsatz der rahmenbeschlusskonformen Auslegung bestimmten Schranken.

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So wird die Verpflichtung des nationalen Richters, bei der Auslegung und Anwendung der einschlägigen Vorschriften seines nationalen Rechts den Inhalt eines Rahmenbeschlusses heranzuziehen, durch die allgemeinen Rechtsgrundsätze und speziell durch den Grundsatz der Rechtssicherheit und das Rückwirkungsverbot begrenzt (vgl. Urteile vom 16. Juni 2005, Pupino, C‑105/03, EU:C:2005:386, Rn. 44, und vom 5. September 2012, Lopes Da Silva Jorge, C‑42/11, EU:C:2012:517, Rn. 55).

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Nach diesen Grundsätzen darf diese Verpflichtung insbesondere nicht dazu führen, dass auf der Grundlage eines Rahmenbeschlusses unabhängig von einem zu seiner Durchführung erlassenen Gesetz die strafrechtliche Verantwortlichkeit derjenigen, die gegen die Vorschriften dieses Beschlusses verstoßen, festgelegt oder verschärft wird (vgl. Urteil vom 16. Juni 2005, Pupino, C‑105/03, EU:C:2005:386, Rn. 45).

65

Im vorliegenden Fall würde die Verpflichtung zur rahmenbeschlusskonformen Auslegung jedoch bedeuten, dass Herr Ognyanov nicht nach bulgarischem Recht eine Strafverkürzung aufgrund der Arbeit in Anspruch nehmen kann, die er während seines Haftzeitraums in Dänemark geleistet hat; diese Strafverkürzung fällt nämlich in die ausschließliche Zuständigkeit Dänemarks. Sie hätte hingegen nicht zur Folge, die strafrechtliche Verantwortlichkeit von Herrn Ognyanov festzulegen oder zu verschärfen oder zu seinen Lasten die Dauer der Sanktion zu verändern, die sich aus dem vom Rett i Glostrup (Gericht Glostrup) am 28. November 2012 gegen ihn erlassenen Urteil ergibt.

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Die Verpflichtung zur rahmenbeschlusskonformen Auslegung besteht auch dann nicht mehr, wenn das nationale Recht nicht so angewandt werden kann, dass ein mit dem Rahmenbeschluss vereinbares Ergebnis erzielt wird. Mit anderen Worten kann der Grundsatz der rahmenbeschlusskonformen Auslegung nicht die Grundlage für eine Auslegung des nationalen Rechts contra legem bilden. Dieser Grundsatz verlangt jedoch, dass das nationale Gericht gegebenenfalls das gesamte nationale Recht berücksichtigt, um zu beurteilen, inwieweit es so angewandt werden kann, dass kein dem Rahmenbeschluss widersprechendes Ergebnis erzielt wird (vgl. Urteile vom 16. Juni 2005, Pupino, C‑105/03, EU:C:2005:386, Rn. 47, und vom 5. September 2012, Lopes Da Silva Jorge, C‑42/11, EU:C:2012:517, Rn. 55 und 56).

67

In diesem Zusammenhang ist klarzustellen, dass das Erfordernis einer rahmenbeschlusskonformen Auslegung die Verpflichtung der nationalen Gerichte einschließlich der Gerichte letzter Instanz umfasst, eine gefestigte Rechtsprechung gegebenenfalls abzuändern, wenn sie auf einer Auslegung des nationalen Rechts beruht, die mit den Zielen eines Rahmenbeschlusses nicht vereinbar ist (vgl. entsprechend Urteile vom 19. April 2016, DI, C‑441/14, EU:C:2016:278, Rn. 33, und vom 5. Juli 2016, Ognyanov, C‑614/14, EU:C:2016:514, Rn. 35).

68

Im vorliegenden Fall ist den beim Gerichtshof eingereichten Unterlagen zu entnehmen, dass sich die im Ausgangsverfahren fragliche nationale Vorschrift, nach der die im Ausstellungsstaat von dem überstellten bulgarischen Verurteilten geleistete gemeinnützige Arbeit von der zuständigen Stelle des Vollstreckungsstaats im Hinblick auf eine Strafverkürzung zu berücksichtigen ist, aus der Auslegung des Art. 457 Abs. 5 NPK in Verbindung mit Art. 41 Abs. 3 des Strafgesetzbuchs ableitet, die der Varhoven kasatsionen sad (Oberster Kassationsgerichtshof) in seiner Auslegungsentscheidung vorgenommen hat.

69

Somit darf das vorlegende Gericht im Ausgangsverfahren nicht davon ausgehen, dass es die in Rede stehende nationale Vorschrift allein deshalb nicht im Einklang mit dem Unionsrecht auslegen könne, weil diese Vorschrift vom Varhoven kasatsionen sad (Oberster Kassationsgerichtshof) in einem nicht mit dem Unionsrecht vereinbaren Sinne ausgelegt worden sei (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. April 2016, DI, C‑441/14, EU:C:2016:278, Rn. 34).

70

Unter diesen Umständen ist es Sache des vorlegenden Gerichts, für die volle Wirksamkeit des Rahmenbeschlusses 2008/909 Sorge zu tragen und erforderlichenfalls die durch den Varhoven kasatsionen sad (Oberster Kassationsgerichtshof) vorgenommene Auslegung aus eigener Entscheidungsbefugnis unangewandt zu lassen, da diese Auslegung nicht mit dem Unionsrecht vereinbar ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 5. Juli 2016, Ognyanov, C‑614/14, EU:C:2016:514, Rn. 36).

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Nach alledem ist auf die dritte Frage zu antworten, dass das Unionsrecht dahin auszulegen ist, dass ein nationales Gericht sämtliche Vorschriften des nationalen Rechts berücksichtigen und sie so weit wie möglich im Einklang mit dem Rahmenbeschluss 2008/909 auslegen muss, um das mit ihm angestrebte Ergebnis zu erreichen, wobei es erforderlichenfalls aus eigener Entscheidungsbefugnis die von einem letztinstanzlichen nationalen Gericht vorgenommene Auslegung unangewandt lässt, wenn diese Auslegung nicht mit dem Unionsrecht vereinbar ist.

Kosten

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Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt:

 

1.

Art. 17 Abs. 1 und 2 des Rahmenbeschlusses 2008/909/JI des Rates vom 27. November 2008 über die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung auf Urteile in Strafsachen, durch die eine freiheitsentziehende Strafe oder Maßnahme verhängt wird, für die Zwecke ihrer Vollstreckung in der Europäischen Union in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Vorschrift entgegensteht, die in der Weise ausgelegt wird, dass sie den Vollstreckungsstaat berechtigt, der verurteilten Person aufgrund der während ihrer Haft im Ausstellungsstaat von ihr geleisteten Arbeit eine Strafverkürzung zu gewähren, obwohl die zuständigen Behörden des Ausstellungsstaats nach dessen Recht eine solche Strafverkürzung nicht gewährt haben.

 

2.

Das Unionsrecht ist dahin auszulegen, dass ein nationales Gericht sämtliche Vorschriften des nationalen Rechts berücksichtigen und sie so weit wie möglich im Einklang mit dem Rahmenbeschluss 2008/909 in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299 geänderten Fassung auslegen muss, um das mit ihm angestrebte Ergebnis zu erreichen, wobei es erforderlichenfalls aus eigener Entscheidungsbefugnis die von einem letztinstanzlichen nationalen Gericht vorgenommene Auslegung unangewandt lässt, wenn diese Auslegung nicht mit dem Unionsrecht vereinbar ist.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Bulgarisch.

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