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Document 52011AE0060

    Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Grünbuch der Kommission — Optionen für die Einführung eines Europäischen Vertragsrechts für Verbraucher und Unternehmen“ KOM(2010) 348 endg.

    ABl. C 84 vom 17.3.2011, p. 1–6 (BG, ES, CS, DA, DE, ET, EL, EN, FR, IT, LV, LT, HU, MT, NL, PL, PT, RO, SK, SL, FI, SV)

    17.3.2011   

    DE

    Amtsblatt der Europäischen Union

    C 84/1


    Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Grünbuch der Kommission — Optionen für die Einführung eines Europäischen Vertragsrechts für Verbraucher und Unternehmen“

    KOM(2010) 348 endg.

    2011/C 84/01

    Berichterstatter: Antonello PEZZINI

    Die Europäische Kommission beschloss am 1. Juli 2010, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 304 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

    Grünbuch der Kommission - Optionen für die Einführung eines Europäischen Vertragsrechts für Verbraucher und Unternehmen

    KOM(2010) 348 endg.

    Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion und Verbrauch nahm ihre Stellungnahme am 17. Dezember 2010 an.

    Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 468. Plenartagung am 19./20. Januar 2011 (Sitzung vom 19. Januar) mit 148 gegen 5 Stimmen bei 8 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

    1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

    1.1   Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) teilt die Ansicht der Kommission, wonach die Verwirklichung des Binnenmarkts auch durch ein europäisches Vertragsrecht vorangetrieben werden sollte, und anerkennt die Bedeutung der wissenschaftlichen Arbeiten bezüglich des Gemeinsamen Referenzrahmens, der auch auf praktischer Ebene nutzbar sein sollte.

    1.2   In Bezug auf die verschiedenen, von der Kommission vorgeschlagenen Optionen bevorzugt der EWSA eine Mischvariante, bei der Kostensenkungen und Rechtssicherheit berücksichtigt werden mittels:

    einer Toolbox in Form des Gemeinsamen Referenzrahmen, auf den die Vertragsparteien beim Aufsetzen grenzüberschreitender Verträge zurückgreifen können, ergänzt durch

    einer fakultativen Regelung, mit der die Grundzüge eines Meistbegünstigungsprinzips für die Vertragsparteien in Form „eines neuen fakultativen fortgeschrittenen Regimes“ festgelegt werden. Dieses Regime sollte für die Regelung grenzüberschreitender Vertragsverhältnisse alternativ zu den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften zur Verfügung stehen. Voraussetzung dafür ist, dass sowohl die Toolbox als auch die Verordnung in allen EU-Amtssprachen zur Verfügung stehen und ausgehend von den am weitesten entwickelten Schutzmethoden für Verbraucher und Unternehmen für Rechtssicherheit sorgen. Eine solche Regelung darf keinen Mitgliedstaat daran hindern, striktere Verbraucherschutzmaßnahmen beizubehalten oder einzuführen.

    1.3   Nach Ansicht des Ausschusses sollten diese Ziele schrittweise angestrebt werden, wobei mit Kaufverträgen für den grenzüberschreitenden gewerblichen Warenverkehr (Business-to-business oder B2B) in Form von Pilotprojekten begonnen werden könnte, anhand derer die Koexistenz verschiedener rechtlicher Regelungen sowie deren konkrete Anwendung überprüft werden können.

    1.4   Der EWSA vertritt die Ansicht, dass die vom Gemeinsamen Referenzrahmen gebotene Toolbox dazu beitragen könnte, die Gesamtkohärenz des europäischen Vertragsrechts zu gewährleisten, Handelshindernisse abzubauen und den Wettbewerb im Binnenmarkt zu fördern.

    1.5   Zudem sollte „ein neues fakultatives fortgeschrittenes Regime“, das in Form einer EU-Verordnung Eingang in das Gemeinschaftsrecht und in die einzelstaatlichen Rechtsordnungen fände, den Vertragsparteien, die es für grenzüberschreitende Geschäfte im Warenhandel in Anspruch nehmen, die Allgemeingültigkeit, Anwendungssicherheit und Rechtssicherheit der Regelung garantieren.

    1.6   Der Anwendungsbereich dieser beiden neuen Instrumente - „gemeinsame Toolbox“ und „neues fakultatives fortgeschrittenes Regime“ - sollte sich auf Kaufverträge für den grenzüberschreitenden gewerblichen Warenverkehr (B2B) erstrecken. Das Vertragsrecht in Bezug auf Arbeitsverhältnisse und soziale Sicherheit ist vom Anwendungsbereich der neuen Instrumente ausgeschlossen.

    1.7   Der Ausschuss spricht sich für die Vertragsfreiheit und die freie Aushandlung der Vertragsbedingungen aus. Für Verträge zwischen Unternehmen und Verbrauchern sowie kleinen und mittleren Unternehmen (KMU) wird - neben Rechtssicherheit und Verbraucherschutz - das höchste effektive Schutzniveau zugesichert.

    1.8   Nach Auffassung des Ausschusses sollte die Kommission nach mehrjähriger Anwendung dieser beiden neuen Instrumente und vor einer eventuellen Ausdehnung auf andere Vertragsarten als grenzüberschreitende Warenkaufverträge die Auswirkungen dieser Instrumente auf den Binnenmarkt bewerten und den dabei erzielten europäischen Mehrwert in Form von Kosten und Vorteilen für die Wirtschaftsakteure und Verbraucher evaluieren.

    1.9   Der Ausschuss hält es für wichtig, dass die Kommission möglichst rasch die bestehenden Hürden in puncto Transaktionskosten und Rechtsunsicherheit ermittelt, die insbesondere KMU, die 99 % aller Unternehmen in der EU ausmachen, die volle Nutzung der Vorteile und Möglichkeiten des Binnenmarktes erschweren.

    1.10   Der EWSA fordert die Kommission auf, eine Folgenabschätzung für die auf dem Binnenmarkt zur Verfügung stehenden Mittel vorzunehmen sowie den europäischen Zusatznutzen dieses neuen Rechtssystems mit Blick auf Kosten und Vorteile für Wirtschaftsakteure und Verbraucher zu untersuchen.

    1.11   Der EWSA legt der Kommission ebenfalls nahe, für die neuen Rechtsinstrumente bereits jetzt - sowohl auf Ebene der Lehre als auch der Rechtspraxis - Ausbildungs- und Informationsmaßnahmen vorzusehen, die sich an alle Juristen, die Wissenschaftler und die Endnutzer der neuen Instrumente wenden.

    1.12   Der Ausschuss fordert, stärker - wie das Europäische Parlament - als Beobachter in die Arbeiten der von der Kommission eingesetzten Expertengruppe eingebunden zu werden, um zur Weiterentwicklung der Initiativen beizutragen, was insbesondere für den Gemeinsamen Referenzrahmen für ein europäisches Vertragsrecht und unter Berücksichtigung der Ergebnisse der derzeit laufenden öffentlichen Konsultation gilt.

    2.   Einleitung

    2.1   Die Wirtschaftsbeziehungen im Binnenmarkt sind das Ergebnis einer Vielzahl vertraglicher Schuldverhältnisse, für die ganz unterschiedliche einzelstaatliche Rechtssysteme gelten. Doch können die Unterschiede im Vertragsrecht der Mitgliedstaaten:

    zusätzliche Transaktionskosten verursachen,

    zu Rechtsunsicherheit für Unternehmen führen,

    das Vertrauen der Verbraucher in den Binnenmarkt schwächen und

    Handelshemmnisse bilden.

    2.1.1   Mit dem Vertrag von Lissabon werden europaweite Maßnahmen im Bereich der gerichtlichen Zusammenarbeit in Zivilsachen und des Verbraucherschutzes vereinfacht durch:

    die Artikel 12, 38, 164 und 168 des Vertrags und Artikel 169 Absatz 4, der den Vorrang nationaler Vorschriften sicherstellt, sofern diese verbraucherfreundlicher sind,

    Ausweitung des Anwendungsbereichs der Gemeinschaftsmethode (1),

    Annahme der von der Kommission unterbreiteten Vorschläge mit qualifizierter Mehrheit,

    Stärkung der Rolle des Europäischen Parlaments,

    mehr demokratische Einbeziehung der nationalen Parlamente,

    eine bessere Legalitätskontrolle durch den Gerichtshof.

    2.1.2   Gemäß dem Stockholmer Programm „Ein offenes und sicheres Europa im Dienste und zum Schutz der Bürger“ kann die Union, soweit dies zur Erleichterung der gegenseitigen Anerkennung von Urteilen und gerichtlichen Entscheidungen sowie zur Stärkung der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen erforderlich ist, gemeinsame Mindestnormen festlegen.

    2.1.3   Täglich werden Unternehmen und Bürger damit konfrontiert, dass für eine Tätigkeit in verschiedenen Staaten immer noch Hindernisse bestehen, obwohl sie sich von Rechts wegen in einem Binnenmarkt bewegen. Sie stellen fest, dass Netze nicht ausreichend miteinander verbunden sind und die Binnenmarktvorschriften nicht einheitlich angewendet werden.

    2.1.4   Nach Ansicht der Kommission sind folgende Maßnahmen notwendig, um die bestehenden Binnenmarkthindernisse zu beseitigen (2):

    Voranbringen der Agenda für intelligente Regulierung, gegebenenfalls unter vermehrtem Rückgriff auf Verordnungen anstelle von Richtlinien,

    Maßnahmen, um Unternehmen und Verbrauchern Verträge mit Geschäftspartnern in anderen EU-Ländern zu erleichtern und zu verbilligen, u.a. durch harmonisierte Regeln für Verbraucherverträge und Modell-Vertragsklauseln,

    Maßnahmen, um die Durchsetzung von Verträgen für Unternehmen und Verbraucher effizienter und billiger zu machen und die Anerkennung von gerichtlichen Entscheidungen und Schriftstücken in anderen EU-Ländern zu gewährleisten.

    2.1.5   Die Schaffung eines fakultativen Instruments für das Vertragsrecht ist zudem eine der Schwerpunktmaßnahmen der Digitalen Agenda für Europa, welche die Kommission am 19. Mai 2010 vorgeschlagen hat.

    2.1.6   Bereits 2001 hatte die Kommission eine Diskussion über das europäische Vertragsrecht unter Einbeziehung des Europäischen Parlaments, des Rates und aller interessierter Kreise einschließlich der Wirtschaft, der Juristen, Wissenschaftler und der Verbraucherverbände eingeleitet.

    2.1.7   Das Europäische Parlament hat eine ganze Reihe von Entschließungen zur möglichen Harmonisierung des materiellen Privatrechts angenommen. 1989 und 1994 rief das Europäische Parlament dazu auf, mit den Vorbereitungen für die Ausarbeitung eines einheitlichen europäischen Zivilgesetzbuches zu beginnen.

    2.1.8   Das Parlament betonte dabei, die Harmonisierung bestimmter Gebiete des Privatrechts sei wesentlich für die Vollendung des Binnenmarkts, und die geeignetste Möglichkeit der Harmonisierung bestehe in der Vereinheitlichung umfassender Bereiche des Privatrechts in Form eines europäischen Zivilgesetzbuches.

    2.1.9   Der EWSA hatte bereits 2002 in einer Stellungnahme erklärt: „Die Ausarbeitung eines einheitlichen allgemeinen europäischen Vertragsrechts, beispielsweise in Form einer Verordnung, eine Lösung, die der Ausschuss für die beste hält, um Unterschiede zu vermeiden, könnte längere Fristen und ergänzende Studien erforderlich machen, sollte sich aber auf die bereits von den obengenannten Kommissionen und Institutionen durchgeführten Arbeiten und auf die geltenden internationalen Regeln und Praktiken stützen“ (3).

    2.1.10   In einer späteren Stellungnahme aus dem Jahr 2010 betonte der Ausschuss: „Die Netzgemeinschaft ‚Common Principles of European Contract Law‘ (CoPECL-Netz - Gemeinsame Grundregeln eines europäischen Vertragsrechts) hat vor Kurzem ihren Entwurf für einen Gemeinsamen Referenzrahmen fertig gestellt und der Europäischen Kommission vorgelegt. Mit diesen Regeln erhält der europäische Gesetzgeber ein Muster, das er heranziehen kann, wenn er ein optionelles Instrument einführt, wie es von Kommissionsmitglied REDING befürwortet wird“ (4).

    2.1.11   Der EWSA verwies auch darauf, dass „dem Entwurf des Gemeinsamen Referenzrahmens (DCFR), der allgemeines Vertragsrecht umfasst, (…) nicht die Form eines optionellen Instruments gegeben (wurde). Die Herausgeber des DCFR haben aber in ihrer Einleitung betont, dass er ‚als Grundlage für ein oder mehrere optionale Instrumente‘ genutzt werden könnte.“ Nach Auffassung des EWSA könnte dieser Vorschlag „auch restriktiv umgesetzt werden, indem die Allgemeinen Bestimmungen des DCFR in ein optionelles Instrument eingebracht werden, das nur in spezifischen Bereichen des Vertragsrechts angewendet wird. Hierdurch würden Regelungslücken vermieden, die zwangsläufig auftreten würden, wenn nur Bestimmungen für bestimmte Vertragstypen in Kraft träten.“

    3.   Das neue Grünbuch der Europäischen Kommission

    3.1   In ihrem Grünbuch schlägt die Kommission verschiedene Ansätze vor, um die Kohärenz des Vertragsrechts zu verbessern: Dabei werden folgende Handlungsoptionen genannt:

    Veröffentlichung von (fakultativen) Standard-Vertragsbedingungen im Internet, die im europäischen Binnenmarkt Anwendung finden könnten;

    eine (zwingende oder fakultative) Toolbox, die die EU-Rechtsetzungsorgane bei der Ausarbeitung neuer Rechtsvorschriften heranziehen könnten und die bessere und einheitliche Rechtsvorschriften gewährleistet;

    eine Empfehlung zum europäischen Vertragsrecht an die Mitgliedstaaten, mit der diese aufgefordert werden, dieses europäische Vertragsrecht in ihre innerstaatlichen Rechtsordnungen zu übernehmen, z.T. nach dem Vorbild des in den Vereinigten Staaten praktizierten Modells, wo 50 Bundesstaaten (alle außer einem) freiwillig ein einheitliches Handelsgesetzbuch übernommen haben;

    Einführung eines fakultativen europäischen Vertragsrechts („28. Regime“), das die Verbraucher und Unternehmer für die Regelung ihrer Vertragsbeziehungen wählen können. Diese fakultative Rechtsvorschrift wäre eine Alternative zu den bestehenden einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und müsste in allen Amtssprachen vorliegen. Ihre Anwendung könnte entweder auf länderübergreifende Verträge beschränkt oder auch auf innerstaatliche Verträge ausgedehnt werden. Die Rechtsvorschrift muss ein hohes Verbraucherschutzniveau und die Rechtssicherheit für die gesamte Laufzeit des Vertrages garantieren;

    Harmonisierung der einzelstaatlichen Vertragsrechte durch eine EU-Richtlinie;

    vollständige Harmonisierung des einzelstaatlichen Vertragsrechts durch eine EU-Verordnung;

    Einführung eines Europäischen Zivilrechtsgesetzbuches, das alle einzelstaatlichen Vertragsrechtsregelungen ersetzt.

    3.2   Das Europäische Parlament hat die Idee eines europäischen Vertragsrechts in seiner Entschließung vom 25. November 2009 befürwortet. Auch der ehemalige Binnenmarktkommissar Mario MONTI hat in seinem Bericht über den Binnenmarkt vom 9. Mai 2010 die Vorteile eines fakultativen 28. Regimes für die Verbraucher und die Unternehmen herausgestellt (5).

    3.3   Die Kommission hat am 7. September 2010 die erste Sitzung zum Europäischen Vertragsrecht abgehalten, an der Vertreter von Unternehmer-, Verbraucher- und Juristenverbänden teilnahmen.

    3.4   Die Kommission hat zudem eine Expertengruppe eingesetzt, in der auch das EP mit Beobachtern vertreten ist und die den „Entwurf eines Gemeinsamen Referenzrahmens“ (6) - ein erstes Projekt auf dem Gebiet des europäischen Vertragsrechts, das in den letzten Jahren im Rahmen des 6. FTE-Rahmenprogramms der EU entwickelt wurde, - umsetzen soll.

    3.5   Die Kommission hat eine bis Ende Januar 2011 laufende öffentliche Konsultation zu ihrem Strategiedokument eingeleitet.

    4.   Allgemeine Bemerkungen

    4.1   Der Binnenmarkt der Europäischen Union basiert auf dem jeweiligen Vertragsrecht der Mitgliedstaaten. Der EWSA ist zutiefst darüber beunruhigt, dass die Unternehmen, insbesondere KMU, trotz der Anstrengungen zur Vollendung des Binnenmarkts Schwierigkeiten haben, ihre Waren oder Dienstleistungen grenzüberschreitend anzubieten, da sie sich in jedem der 27 Mitgliedstaaten nach einem anderen Vertragsrecht richten müssen. Nur 8 % aller Verbraucher kaufen online Waren oder Dienstleistungen aus einem anderen Mitgliedstaat.

    4.2   Zum gegenwärtigen Zeitpunkt verursacht das Nebeneinander unterschiedlicher Regelungen den Unternehmen höhere Transaktionskosten. Insbesondere Kleinunternehmen sind nicht in der Lage, von den Skaleneffekten des EU-Binnenmarkts zu profitieren. Das wirkt sich negativ auf die Verbraucher aus, weil mit der Verringerung von grenzüberschreitenden Verkäufen die Wahlmöglichkeiten sinken und die Preise steigen.

    4.3   Zudem können grenzüberschreitende Geschäfte in 61 % der Fälle nicht erfolgreich abgewickelt werden, weil die Anbieter nicht in das Land des Verbrauchers liefern. Dies hängt hauptsächlich mit rechtlichen Hindernissen und der Ungewissheit hinsichtlich des anzuwendenden Rechts zusammen.

    4.4   Um einige dieser Probleme zu lösen und das Potenzial des europäischen Binnenmarktes besser auszuschöpfen, müssen mehr Rechtssicherheit für die Unternehmen - vor allem für kleinere Unternehmen - und einfachere Rechtsvorschriften für die Verbraucher gewährleistet werden, die ein höheres Schutzniveau bieten.

    4.5   Der EWSA ist der Auffassung, dass die Kommission in diesem Bereich mehr unternehmen und über die Maßnahmen im Bereich der justiziellen Zusammenarbeit in Zivilsachen hinausgehen muss. Diese sind zwar notwendig, aber für ein reibungsloses Funktionieren des Binnenmarktes nicht hinreichend.

    4.6   Im europäischen Binnenmarkt gibt es eine Vielzahl von Verträgen, die unterschiedlichen einzelstaatlichen Rechtsvorschriften unterliegen, was zusätzliche Transaktionskosten verursacht, die sich aktuellen Untersuchungen zufolge durchschnittlich auf ca. 15 000 EUR belaufen (7). Vor dem Hintergrund dieser Erfahrungen erscheint die von der Kommission angestoßene Debatte sinnvoll.

    4.7   Verbraucher und Unternehmen, die versuchen, die Vorteile des Binnenmarktes für sich zu nutzen, stoßen dabei auf erhebliche Hindernisse. Die Transaktionskosten (zur Anpassung der Vertragsbedingungen und der Geschäftspolitik an die unterschiedlichen Regelungen sowie zur Übersetzung von Vorschriften) und die Rechtsunsicherheit erschweren es KMU, auf dem Binnenmarkt zu expandieren, und verhindern ein höheres Verbraucherschutzniveau.

    4.8   Ein einheitliches Vertragsrecht könnte als fakultatives Recht (sogenanntes 28. Regime) ausgestaltet werden und wäre äußerst nützlich. In verschiedenen Dokumenten der EU-Kommission und des Europäischen Parlaments wurde auf eine mögliche Anwendung des 28. Regimes verwiesen, hauptsächlich im Zusammenhang mit wichtigen Themen, bei denen die angestrebte vollständige Harmonisierung nur schwer oder gar nicht erreichbar erschien.

    4.8.1   Abgesehen von dem mit der Initiativstellungnahme des EWSA zum Thema „Europäischer Versicherungsvertrag“ (8) angeregten Unterfangen, das von der Projektgruppe „Restatement of European Insurance Contract Law“ (Neuformulierung des europäischen Versicherungsvertragsrechts) aufgegriffen wurde und jüngst in die Veröffentlichung „Principles of European Insurance Contract Law (PEICL)“ (Grundregeln des europäischen Versicherungsvertragsrechts - GEVVR) mündete, hat der europäische Gesetzgeber bisher nur wenige Male einen ähnlichen Ansatz verfolgt, und zwar in den Bereichen Gesellschaftsrecht, Recht des geistigen Eigentums und internationales Privatrecht.

    4.9   Die Einführung von Standardvertragsklauseln würde unter folgenden Bedingungen allen Vertragspartnern zum Vorteil gereichen:

    Den schutzbedürftigsten Vertragspartnern müssen die besten Garantien gegeben werden, und die Ausarbeitung der Standardklauseln muss auf einem möglichst hohen Schutzniveau erfolgen;

    es muss sichergestellt werden, dass die Sozialpartner und alle Vertreter der Zivilgesellschaft - insbesondere Verbraucherschutz- und KMU-Verbände - an den Verhandlungen zur Einführung von Standardvertragsklauseln aktiv beteiligt sind;

    die Vertragsklauseln müssen mit der Richtlinie über missbräuchliche Vertragsbedingungen und der Richtlinie über die Einhaltung der Zahlungsfristen im Geschäftsverkehr im Einklang stehen, um die Initiative für kleine und mittlere Unternehmen in Europa (Small Business Act) vollständig umzusetzen;

    die Vertragsfreiheit muss gewährleistet sein, z.B. durch Empfehlung von mehreren Standardverträgen;

    der Zugang zur Justiz darf nicht eingeschränkt werden;

    die Standardvertragsklauseln müssen überwacht und in bestimmten Zeitabständen überprüft werden.

    4.10   Nach Ansicht des Ausschusses sollten diese Ziele schrittweise angestrebt werden, wobei mit grenzüberschreitenden Kaufverträgen für Handelsgüter als Pilotprojekt begonnen werden könnte, anhand dessen die Koexistenz der verschiedenen rechtlichen Regelungen und deren konkrete Anwendung seitens der Akteure überprüft und effektive Folgenabschätzungen durchgeführt werden können.

    4.11   Dabei kommt insbesondere den verschiedenen materiellrechtlichen Definitionen Bedeutung zu:

    Juristische Personen,

    Definition von „Verbraucher“ und „Unternehmer“,

    unlautere Vertragsbedingungen,

    Pflicht zur Vorabinformation über Verträge für Waren und Dienstleistungen,

    Informationspflicht im Falle des Vertragsschlusses mit einem benachteiligten Vertragspartner,

    Rechtsmittel bei Verletzung der Informationspflichten,

    Lieferung - Zeitpunkt der Lieferung - Zusammenhang mit dem Gefahrenübergang,

    Fristen und Verfahren für die Beurteilung der Vertragsmäßigkeit und Rangfolge der Rechtsbehelfe bei nicht vertragsgemäßer Leistung,

    Fälle, in denen ein Rücktritt vom Vertrag möglich ist,

    Unterrichtung des Verkäufers von Mängeln, die vom Käufer festgestellt wurden/hätten festgestellt werden müssen,

    Widerrufsrecht: Anwendungsbereich, Ausübung des Widerrufsrechts, Bedenkzeit und Widerrufsfrist,

    verschuldensunabhängige Haftung,

    Einbeziehung des entgangenen Gewinns und des realen Verlusts,

    Produzentenhaftung und Beweislast,

    elektronischer Geschäftsverkehr.

    4.12   Der EWSA könnte eine Mischung aus nicht gesetzgeberischen und gesetzgeberischen Maßnahmen vorschlagen, um

    die Kohärenz des Gemeinschaftsrechts auf dem Gebiet des Vertragsrechts zu erhöhen,

    die Ausarbeitung EU-weiter Allgemeiner Geschäftsbedingungen zu fördern,

    eingehender zu untersuchen, die ob Probleme des europäischen Vertragsrechts nicht-sektorspezifische Lösungen erfordern.

    4.13   Nach Ansicht des EWSA sollte das europäische Vertragsrecht parallel zu den einzelstaatlichen Vertragsrechtsregelungen bestehen und Standardbestimmungen und -bedingungen sowie die Möglichkeit der Inanspruchnahme des 28. Regimes garantieren.

    4.14   In jedem Fall gibt es bei der Anwendung des Übereinkommens von Rom (9) zahlreiche Herausforderungen und neue Probleme (z.B. elektronische Geschäftspartner mit entsprechendem Einfluss auf das Vertragsrecht) sowie neue juristische Fragen.

    4.15   Der Anwendungsbereich der „gemeinsamen Toolbox“ für ein fakultatives europäisches Vertragsrecht des „neuen fakultativen fortgeschrittenen Regimes“ sollte sich nach Ansicht des EWSA zunächst probeweise nur auch auf grenzüberschreitende Warenkaufverträge erstrecken.

    4.16   Nach Ansicht des EWSA sollte mehr Kohärenz zwischen den horizontalen und vertikalen Vorschriften sichergestellt werden, wobei insbesondere Bedarf an transparenten, klaren und einfachen Vorschriften besteht. Dies gilt nicht nur für Juristen und ihre Fähigkeit zur Übernahme der neuen Vorgaben, sondern auch und vor allem für kleinere Unternehmen und den Durchschnittsverbraucher, für die komplizierte und undurchsichtige Rechtsvorschriften einen Mehraufwand an Zeit und Geld bedeuten.

    Brüssel, den 19. Januar 2011

    Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

    Staffan NILSSON


    (1)  Die Gemeinschaftsmethode beruht auf dem Gedanken, dass dem allgemeinen Interesse der Bürgerinnen und Bürger am besten gedient ist, wenn die Gemeinschaftsinstitutionen ihre Rolle im Beschlussfassungsprozess unter Wahrung des Subsidiaritätsprinzips umfassend wahrnehmen.

    (2)  Europa 2020 - Eine Strategie für intelligentes, nachhaltiges und integratives Wachstum. KOM(2010) 2020 endg.

    (3)  ABl. C 241 vom 7.10.2002, S. 1.

    (4)  ABl. C 21 vom 21.01.2011, S. 26.

    (5)  ABl. C 21 vom 21.01.2011, S. 26.

    (6)  Der Gemeinsame Referenzrahmen ist ein langfristiges Projekt, mit dem den Rechtsetzungsorganen der EU (Kommission, Rat und Europäisches Parlament) ein Instrument beziehungsweise ein Leitfaden für die Überprüfung bestehender und die Ausarbeitung neuer Rechtsvorschriften im Bereich des Vertragsrechts an die Hand gegeben werden soll. Dieses Instrument könnte Grundsätze des Vertragsrechts, die Bestimmung von wichtigen Begriffen und Musterklauseln enthalten. Im Rahmen des 6. Rahmenprogramms hat die Generaldirektion Forschung im Bereich Sozial- und Geisteswissenschaften ein Netz zur Erarbeitung gemeinsamer Grundsätze eines neuen europäischen Vertragsrechts (Common Principles of European Contract Law - CoPECL) eingerichtet, an dem mehr als 150 führende Wissenschaftler und zahlreiche auf dem Gebiet des Vertragsrechts tätige Einrichtungen und Organisationen aus allen Mitgliedstaaten der EU beteiligt sind. Als Endergebnis seiner Arbeiten im Zeitraum 2005 bis 2009 legte das Netz den angeführten „Entwurf eines Gemeinsamen Referenzrahmens“ vor.

    (7)  http://www.europe.org.

    (8)  ABl. C 157 vom 28.6.2005, S. 1.

    (9)  Übereinkommen über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht (Rom, 19. Juni 1980).


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