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Document 52009AE1210

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (Neufassung) KOM(2008) 820 endg. — 2008/0243 (COD)

ABl. C 317 vom 23.12.2009, p. 115–119 (BG, ES, CS, DA, DE, ET, EL, EN, FR, IT, LV, LT, HU, MT, NL, PL, PT, RO, SK, SL, FI, SV)

23.12.2009   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 317/115


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (Neufassung)“

KOM(2008) 820 endg. — 2008/0243 (COD)

(2009/C 317/22)

Berichterstatterin: An LE NOUAIL-MARLIÈRE

Der Rat beschloss am 1. April 2009, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 262 des EG-Vertrags um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (Neufassung)

KOM(2008) 820 endg. — 2008/0243 (COD).

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft nahm ihre Stellungnahme am 25. Juni 2009 an. Berichterstatterin war An LE NOUAIL MARLIÈRE.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 455. Plenartagung am 15./16. Juli 2009 (Sitzung vom 16. Juli) mit 154 gegen 6 Stimmen bei 7 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen

1.1.   Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss begrüßt, dass die Kommission die sog. Dublin-II-Verordnung weiter entwickeln möchte, um die Leistungsfähigkeit des Systems zu erhöhen und bei der Anwendung des Verfahrens die Wahrung der Rechte der Personen, die um internationalen Schutz ersuchen, sicherzustellen sowie auf Situationen zu reagieren, in denen die Aufnahmekapazitäten bestimmter Mitgliedstaaten unter besonderem Druck stehen und diese Länder deshalb nicht das erforderliche Schutzniveau gewährleisten können.

1.2.   Der Ausschuss begrüßt und unterstützt die Absicht, einen effektiven Zugang zum Asylverfahren zu gewährleisten, sowie die Tatsache, dass jeder zuständige Mitgliedstaat dazu verpflichtet wird, den Schutzbedarf von Asylbewerbern, die ihm überstellt werden, umfassend zu prüfen.

1.3.   Der Ausschuss anerkennt die Fortschritte im Kommissionsvorschlag hinsichtlich der Gewährleistung höherer Schutzstandards, insbesondere durch die bessere Information der Asylbewerber über den Stand der Prüfung ihres Antrags; bezüglich der Sprache bzw. sprachlichen Form der Information über den Stand eines Antrags oder einer Überstellung meldet er allerdings Vorbehalte an. Da die Information die Form einer Benachrichtigung hat und mit Einspruchsrechten und Fristen verbunden ist, sollten Personen, die internationalen Schutz beantragen, stets in ihrer Muttersprache bzw. in einer Sprache, die sie zu verstehen angeben, unterrichtet werden, was auch den Einsatz eines vereidigten Dolmetschers oder eines Rechtsübersetzers sowie eines von den Gerichten oder vom Antragsteller selbst bestellten Verteidigers erforderlich machen kann.

1.4.   Personen, die um internationalen Schutz ersuchen, sollten automatisch unentgeltliche Verteidigung und unentgeltlichen rechtlichen Beistand erhalten.

1.5.   Der Ausschuss begrüßt die Ausweitung der humanitären Klauseln auf Ermessensklauseln, fordert jedoch, den Anwendungsbereich genauer abzustecken, damit die Ermessens- und Souveränitätsklauseln nicht den Interessen und dem Schutz der Antragsteller zuwiderlaufen.

1.6.   Der Ausschuss unterstreicht die Notwendigkeit einer individuellen Untersuchung der Situation eines jeden Antragstellers, und zwar auch in der Phase der Bestimmung der Zuständigkeit des Mitgliedstaats im Hinblick auf eine umfassende Prüfung des Antrags. Auch muss der subsidiäre Schutz in Betracht gezogen werden, wenn die notwendigen Voraussetzungen für eine Zuerkennung des Status eines Konventionsflüchtlings nicht erfüllt sind (und auch nur dann).

1.7.   Der Ausschuss wiederholt seine Empfehlung an die Mitgliedstaaten und die Europäische Union, nicht die Liste der sog. sicheren Drittstaaten zu verwenden, solange keine gemeinsame, den Menschenrechtsorganisationen, dem Europäischen Parlament und den nationalen Parlamenten vorgelegte Liste erstellt wurde; dies gilt insbesondere in der Phase der Bestimmung des für die Prüfung des Antrags zuständigen Mitgliedstaats.

1.8.   Der Ausschuss bedauert, dass eine nicht gerichtlich angeordnete Ingewahrsamnahme von Asylbewerbern nicht als inakzeptable Praxis bezeichnet wird.

1.9.   Der Ausschuss fordert dazu auf, entsprechend den Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte den „Rechtsbehelf“ systematisch als „Rechtbehelf mit aufschiebender Wirkung im Falle der erzwungenen oder sog. freiwilligen Rückkehr“ zu kennzeichnen.

1.10.   Der Ausschuss empfiehlt, sich die Erfahrungen der auf dem Gebiet der Menschenrechte tätigen Nichtregierungsorganisationen zunutze zu machen und diesen den Zugang zu Personen, die um internationalen Schutz ersuchen, zu ermöglichen. Gleichzeitig sollten die Asylbewerber Hilfe in Anspruch nehmen können. Ihrerseits sollten die Mitgliedstaaten die Kompetenzen der NRO nutzen können, um gegebenenfalls an Bildungsprogrammen teilzunehmen, die sich an die für die Bearbeitung von Schutzanträgen zuständigen Sacharbeiter richten, und zwar auch in der entscheidenden Phase der Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats. Schließlich ist es angezeigt, die lokale Dimension zu berücksichtigen und den lokalen und regionalen Gebietskörperschaften die Möglichkeit zu geben, auf die Hilfe und Unterstützung durch die zuständigen NRO zurückzugreifen.

1.11.   Der Ausschuss empfiehlt den Mitgliedstaaten, 1.) gegen Kriminelle im Bereich des Menschenhandels aktiver vorzugehen und die internationalen Instrumente zur Bekämpfung der Kriminalität (darunter die beiden Zusatzprotokolle des UN-Übereinkommens gegen die grenzüberschreitende organisierte Kriminalität) zu ratifizieren, 2.) von ihren Listen der sicheren Drittstaaten jene Länder, die diese Instrumente und die Genfer Flüchtlingskonvention nicht ratifiziert haben, zu streichen, 3.) den Schutz und die Straffreiheit der Opfer von Schleusern und Menschenhändlern sicherzustellen, indem ihre Rechte hinsichtlich des internationalen Schutzes besser gewahrt werden, wenn sie um Asyl oder Schutz ersuchen und sobald die Behörden hiervon Kenntnis haben, sowie 4.) eine entsprechende Schulung der zuständigen Beamten zu gewährleisten.

1.12.   Vertraulichkeit und Verwaltung personenbezogener Daten

Der EWSA begrüßt die Vorschläge, die Datensicherheit im Rahmen der EURODAC-Verordnung (KOM(2008) 825 endg./3) zu stärken, einschließlich der Einführung der Pflicht der einzelnen Mitgliedstaaten, einen Sicherheitsplan zu erstellen, der u.a. zum Ziel hat, einen physischen Datenschutz zu gewährleisten, Unbefugten den Zugriff zu verweigern und das nichtgenehmigte Verwenden, Abrufen, Kopieren oder Eingeben von Daten zu verhindern (1). Das besondere Schutzbedürfnis von Asylbewerbern gegenüber Risiken im Zusammenhang mit der Veröffentlichung von Daten erfordert hohe Vertraulichkeits- und Sicherheitsstandards.

Auch andere Bestimmungen über eine effizientere Datenlöschung werden vom Ausschuss begrüßt, da sie gewährleisten, dass sensible Informationen nicht länger als nötig gespeichert werden, insbesondere nicht über den Zeitpunkt der Ausstellung eines Aufenthaltstitels oder der Ausreise einer Person aus den Mitgliedstaaten hinaus.

1.13.   Schutz der Flüchtlinge in den Nachbarländern der EU

Der Ausschuss fordert die EU auf, die Behandlung und individuelle Prüfung der Fälle der Asylbewerber nicht Ländern zu übertragen, die die Genfer Flüchtlingskonvention (2) oder ihr Zusatzprotokoll (3) nicht ratifiziert haben.

2.   Einführung und Zusammenfassung des Kommissionsvorschlags

2.1.   Die Entwicklung des gemeinsamen europäischen Asylsystems umfasst zwei unterschiedliche Phasen. Die erste Phase begann mit dem Europäischen Gipfel von Tampere (1999) infolge des Inkrafttretens des Amsterdamer Vertrags, der der Einwanderungs- und Asylpolitik eine Gemeinschaftsdimension verlieh, und endete 2005.

2.2.   In dieser ersten Phase konnten Asylrichtlinien erarbeitet und die Grundlagen für eine gewisse Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten geschaffen werden.

2.3.   Die zweite Phase der Schaffung eines gemeinsamen europäischen Asylsystems begann mit dem 2004 verabschiedeten Haager Programm, in dem festgelegt wurde, dass die wichtigsten Ziele dieses Systems durch neue Instrumente und Maßnahmen zur stärkeren Harmonisierung und zur Verbesserung der Schutzstandards bis 2010 erreicht werden sollten.

2.4.   Vor der Erarbeitung neuer Initiativen veröffentlichte die Kommission 2007 ein Grünbuch  (4), das den verschiedenen europäischen Institutionen, den Mitgliedstaaten und der Zivilgesellschaft vorgelegt wurde (5) und auf dessen Grundlage die Kommission anschließend eine Asylstrategie entwickelte. Darin werden die von der Kommission geplanten Maßnahmen zur Verwirklichung der zweiten Phase des gemeinsamen europäischen Asylsystems aufgeführt.

2.5.   Die Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates vom 18. Februar 2003 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist (nachfolgend „Dublin-Verordnung“ genannt (6)), deren Neufassung die Kommission in dieser Mitteilung vorschlägt, war bereits Gegenstand einer Stellungnahme des EWSA (7).

2.6.   Hauptziel der Neufassung ist es, die Leistungsfähigkeit des Systems zu stärken und höhere Schutzstandards für Personen, die dem Dublin-Verfahren unterliegen, zu gewährleisten. Das Dublin-Verfahren dient im Wesentlichen der Bestimmung des Mitgliedstaats, der zuständig ist für die Prüfung eines Antrags auf Asyl oder subsidiären Schutz oder internationalen Schutz im Sinne der Genfer Konvention von 1965, des New Yorker Protokolls von 1967, der „Aufnahmerichtlinie“ 2003/9/EG des Rates vom 27. Januar 2003 und der (derzeit ebenfalls überarbeiteten) „Anerkennungsrichtlinie“ 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004. Darüber hinaus zielt die Neufassung darauf ab, Situationen, in denen die Aufnahmekapazitäten der Mitgliedstaaten besonders hohem Druck ausgesetzt sind, besser bewältigen zu können.

2.7.   Die allgemeinen Grundsätze der bestehenden Dublin-Verordnung bleiben unverändert, insbesondere das Prinzip, wonach für die Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz in erster Linie der Mitgliedstaat zuständig ist, der bei der Einreise des Asylbewerbers und dessen Aufenthalt in den Hoheitsgebieten der Mitgliedstaaten maßgeblich beteiligt war. Ausnahmen zum Schutz der Einheit der Familie bleiben davon unberührt.

2.8.   Unverändert bleiben auch die wesentlichen Pflichten der Mitgliedstaaten untereinander sowie die Bestimmungen, die die Pflichten der Mitgliedstaaten gegenüber Asylbewerbern betreffen, die dem Dublin-Verfahren unterliegen, soweit sich diese auf den Ablauf der Verfahren im Verhältnis der Mitgliedstaaten untereinander beziehen oder notwendig sind, um die Übereinstimmung mit anderen Asylrechtsakten zu gewährleisten Die bestehenden Verfahrensgarantien werden verbessert, um ein höheres Schutzniveau zu gewährleisten, aber die neuen Bestimmungen zielen lediglich darauf ab, den besonderen Bedürfnissen der Personen, die dem Dublin-Verfahren unterliegen, besser zu entsprechen und gleichzeitig Schutzlücken zu schließen.

Um die Konformität mit der „Anerkennungsrichtlinie“ 2004/83/EG zu gewährleisten, wird diesem Neufassungsvorschlag zufolge der Anwendungsbereich der Verordnung auf die Personen ausgeweitet, die subsidiären Schutz beantragt haben oder genießen, während sich die ursprüngliche Verordnung (EG) Nr. 343/2003 nur auf Asylbewerber erstreckte. Es werden zudem einige Bestimmungen verbessert, um den reibungslosen Ablauf des Verfahrens und des Systems zur Bestimmung der Zuständigkeit der einzelnen Mitgliedstaaten zu gewährleisten. Gleichzeitig werden die Rechtsgarantien für Personen, die internationalen Schutz beantragen, gestärkt und ihnen eine bessere Verteidigung ihrer Rechte ermöglicht.

An Bedeutung gewinnen auch die Maßnahmen zur Aufrechterhaltung der Einheit der Familie und zum Schutz unbegleiteter Minderjähriger und „anderer schutzbedürftiger Personen“.

Um zu vermeiden, dass bei besonders hohem Druck auf Mitgliedstaaten mit begrenzten Aufnahme- und Absorptionskapazitäten die Überstellungen gemäß der Dublin-Verordnung die Belastung dieser Länder weiter erhöhen, wird schließlich ein neues Verfahren eingeführt, das die Aussetzung der Überstellungen gemäß der Dublin-Verordnung ermöglicht.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1.   Dieser Vorschlag ist sowohl Teil eines Bündels von Maßnahmen, die im Rahmen der Asylstrategie zur Schaffung eines gemeinsamen europäischen Asylsystems angekündigt wurden (8), als auch Teil der vom Ausschuss befürworteten Harmonisierungsanstrengungen und trägt den Mängeln Rechnung, die im Zuge der Anhörung zum Grünbuch über das künftige gemeinsame europäische Asylsystem aufgedeckt wurden. Es ist aber darauf hinzuweisen, dass der Vorschlag nicht das Prinzip in Frage stellt, das besagt, dass für die Prüfung eines Asylantrags der Mitgliedstaat zuständig ist, der bei der Einreise des Asylbewerbers oder dessen Aufenthalt maßgeblich beteiligt war (abgesehen von Ausnahmen). Die Kommission selbst möchte an diesem Prinzip substanziellere Änderungen vornehmen, ohne jedoch Fristen zu nennen (Zusammenfassung der Folgenabschätzung SEK(2008) 2962/2963-2, Kapitel „Begleitung und Bewertung“, Absatz 3). Das Prinzip würde die Grundlage für die Zuweisung der Prüfungszuständigkeit nach dem Ort der Antragstellung bilden (KOM(2008) 820 endg. Begründung, Abschnitt 2 „Anhörung von interessierten Kreisen“, Absatz 3).

3.2.   Der Ausschuss stellt fest, dass die Position der Kommission mit dem Standpunkt der meisten Mitgliedstaaten übereinstimmt, erinnert aber auch daran, dass er sich selbst seit 2001 nachdrücklich dafür ausspricht, dass der Asylbewerber das Land wählen kann, in dem „er seinen Antrag stellt (…), wenn bei dieser Wahl kulturelle und soziale Gründe ausschlaggebend waren, die auch für eine raschere Integration entscheidend sind (9). Er merkt auch an, dass sich seine Ansichten zum künftigen gemeinsamen europäischen Asylsystem (10) mit denen „zahlreicher Organisationen der Zivilgesellschaft“ und denen des UNHCR decken.

3.3.   Trotz seines Vorbehalts gegen das Prinzip begrüßt der Ausschuss, dass ein neues Verfahren vorgesehen ist, um die Überstellungen gemäß der Dublin-Verordnung auszusetzen, wenn der zuständige Mitgliedstaat dadurch zusätzlich belastet würde.

3.4.   Nach Auffassung des Ausschusses lassen diese Maßnahmen erkennen, dass bessere Rechts- und Verfahrensgarantien angestrebt werden, um die Achtung der Grundrechte der Asylbewerber zu gewährleisten.

3.5.   Der Ausschuss bedauert, dass die Ingewahrsamnahme von Asylbewerbern nicht als inakzeptable Praxis bezeichnet wird (ausgenommen sind Fälle, in denen den betreffenden Asylbewerbern betrügerische Absichten oder Verschleppungsmanöver gerichtlich nachgewiesen wurden). Er bedauert auch, dass die Ingewahrsamnahme zwar auf eindeutige „Ausnahmefälle“ beschränkt wird, die zugrunde liegenden Kriterien aber den betreffenden Mitgliedstaaten einen allzu großen Ermessensspielraum lassen und die Verteidiger der Antragsteller zum Rückgriff auf aufwändige und langwierige Verfahren gezwungen sind.

3.6.   Der Ausschuss billigt die systematische Verankerung der Möglichkeit des Rechtsbehelfs bei allen Entscheidungen — insbesondere bei solchen, die eine „Überstellung“ zur Folge haben dürften. Er ist der Auffassung, dass hier von einem Rechtsbehelf „mit aufschiebender Wirkung“ die Rede sein muss, damit diese - entsprechend den Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte — ihre volle Wirkung als Rechtsgarantien erzielen.

4.   Besondere Bemerkungen

4.1.   Erwägungsgründe

4.1.1.   In Bezug auf die Einheit der Familie (12) sollte die gemeinsame Bearbeitung der Anträge der Mitglieder einer Familie nicht nur dazu dienen, „dass die Mitglieder einer Familie nicht voneinander getrennt werden“, sondern auch dazu, die Familienzusammenführung für Personen, die um internationalen Schutz ersuchen, unter Beachtung der individuellen Rechte der einzelnen Antragsteller (namentlich Antragstellerinnen) zu gewährleisten.

4.1.2.   Der Ausschuss unterstützt mit Nachdruck den Vorschlag, dass jeder Mitgliedstaat von den Zuständigkeitskriterien abweichen kann, insbesondere aus humanitären Gründen (14).

4.1.3.   Der Rechtsbehelf bei einer Überstellung in den zuständigen Mitgliedstaat (16, 17) muss aufschiebende Wirkung haben, da sonst dem Ziel seiner Wirksamkeit zuwidergehandelt würde (11).

4.1.4.   In Einklang mit der Genfer Flüchtlingskonvention darf die Ingewahrsamnahme von Asylbewerbern (18) nur in „eindeutig definierten Ausnahmen“ erfolgen. Im Widerspruch zu den Erwägungsgründen des vorgeschlagenen Texts werden diese Ausnahmen hier jedoch nicht eindeutig definiert. Der Ausschuss ist der Auffassung, dass es nur dann möglich sein sollte, einen Asylbewerber in Gewahrsam zu nehmen, wenn er seinen Antrag gestellt hat, nachdem ihm bereits eine Abschiebungsanordnung zugestellt wurde.

4.2.   Gegenstand und Definitionen (Kapitel I, Artikel 1 und 2)

4.2.1.   Der Ausschuss bezweifelt die Zweckmäßigkeit der Aufnahme des Begriffs „Fluchtgefahr“ (Artikel 2, Buchstabe l) in die Reihe der Definitionen, da dieser Begriff im nachfolgenden Text der Neufassung der Verordnung dazu dient, die Fälle von „Gewahrsam“ zu bestimmen. In jedem Falle ist es notwendig, die „auf objektive gesetzlich festgelegte Kriterien gegründete Annahme“, dass sich eine Person dem Vollzug eines Überstellungsbeschlusses durch Flucht entziehen wird, einzuschränken und zu bestimmen, dass diese Kriterien - in Einklang mit der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten - unter Wahrung der Rechte der Verteidigung von einem zuständigen Gericht beurteilt worden sein müssen.

4.3.   Allgemeine Grundsätze und Schutzgarantien (Kapitel II, Artikel 3 bis 6)

Recht auf Information

4.3.1.   Der Asylbewerber muss über sein Recht auf „einen Rechtsbehelf gegen einen Überstellungsbeschluss“ sowie über die Mittel zur Wahrnehmung dieses Recht informiert werden - und nicht nur über „die Möglichkeit zur Einlegung eines Rechtsbehelfs“ (Artikel 4 Absatz 1 Buchstabe e).

4.3.2.   Nach Auffassung des Ausschusses lässt die Einschränkung auf die Formulierung „Die Informationen (….) werden (…) in einer Sprache mitgeteilt, von der angenommen werden darf, dass der Antragsteller sie versteht“ den Behördenvertretern einen Ermessensspielraum, auch wenn nicht gewährleistet ist, dass diese über die in dieser Hinsicht erforderlichen Sprachkenntnisse verfügen (Artikel 4 Absatz 2). Die Formulierung sollte vielmehr lauten: „Die Informationen (…) werden in einer Sprache mitgeteilt, die der Antragsteller zu verstehen angibt.“

Garantien für Minderjährige

4.3.3.   Die Bestimmung „Das Wohl des Kindes ist in allen Verfahren (…) eine vorrangige Erwägung“ (Artikel 6 Absatz 1) sollte um den Ausdruck „gemäß Artikel 3 Absatz 1 des Internationalen Übereinkommens über die Rechte des Kindes“ ergänzt werden, damit diese Erwägung vor Gericht eingeklagt werden kann.

Abhängige Angehörige (Artikel 11 Absatz 1)

4.3.4.   Im Interesse der Einheitlichkeit des Texts sollte der Ausdruck „Asylbewerber“ durch „Person, die internationalen Schutz beantragt“ ersetzt werden.

4.3.5.   Die Forderung, dass der Antragsteller seinen Wunsch „schriftlich kundgetan haben“ muss, ist dazu angetan, die Ausdrucksmöglichkeiten des Antragsstellers zu beschränken, was dem Tenor des Texts widerspricht. Richtiger sollte es heißen: „Dieser Antrag kann in jeder Form gestellt werden, die seine Registrierung durch die Behörden ermöglicht (Schreiben, Gespräch, Fragebogen)“.

Ermessensklauseln (Kapitel IV, Artikel 17)

4.3.6.   Der Ausschuss begrüßt, dass „eine Ablehnung des Gesuchs [durch den Staat, der um Aufnahme ersucht wurde] (…) zu begründen“ ist (Artikel 17 Absatz 2 Unterabsatz 3). Es bedarf seiner Auffassung nach folgender Präzisierung: „Geht innerhalb von zwei Monaten keine Antwort ein, so fällt dem ersuchten Staat die Aufgabe der Prüfung des Antrags zu“.

Aufnahme- und Wiederaufnahmeverfahren (Kapitel VI, Artikel 20 bis 31)

4.3.7.   Der Ausschuss ersucht die Mitgliedstaaten, ein Wiederaufnahmegesuch so bald wie möglich zu stellen (Artikel 23 Absatz 2), aber stets innerhalb der von der Kommission empfohlenen Frist (zwei Monate bei EURODAC, drei Monaten in den anderen Fällen).

4.3.8.   Um dem Antragsteller möglichst umfangreiche und ihm verständliche Informationen zu bieten, reicht es nicht aus, dass die Mitteilung in einer Sprache erfolgt, „von der angenommen werden darf, dass die Person sie versteht“ (Artikel 25 Absatz 1). Unter den gleichen Bedingungen wie für Artikel 4 Absatz 2 ist folgende genauere Formulierung zu verwenden: „Die Mitteilung muss in einer Sprache erfolgen, die der Antragsteller zu verstehen angibt.“

Anm.: Es ist zu präzisieren, dass der Rechtsbehelf aufschiebende Wirkung hat (Artikel 25 Absatz 2 und Artikel 26 Absatz 1), wie bereits oben ausgeführt (Erwägungsgründe 16 und 17):

4.3.9.   Der Ausschuss hält es für widersprüchlich, einerseits das Recht auf Rechtsbehelf (mit aufschiebender Wirkung) für einen Antragsteller, gegen den ein Überstellungsbeschluss vorliegt, vorzuschlagen und andererseits in Betracht zu ziehen, dass der Verbleib der betreffenden Person im Hoheitsgebiet bis zum Abschluss der gerichtlichen Überprüfung möglicherweise nicht erlaubt wird (Artikel 26 Absatz 3 und Artikel 26 Absatz 4).

4.3.10.   Im Interesse des aus der Genfer Flüchtlingskonvention hervorgegangenen Grundsatzes, wonach kein Staat eine Person nicht allein deshalb in Gewahrsam kann, weil sie internationalen Schutz beantragt hat (Artikel 27 Absatz 1), schlägt der Ausschuss vor, Artikel 27 Absatz 3 vor Artikel 27 Absatz 2 zu stellen und damit den Alternativlösungen einen höheren Stellenwert zu verleihen.

4.3.11.   Der Ausschuss begrüßt, dass klargestellt wird, dass nur begleitete Minderjährige in Gewahrsam genommen werden können (Artikel 27 Absatz 10).

Brüssel, den 16. Juli 2009

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Mario SEPI


(1)  Siehe Artikel 19 (KOM(2008) 825 endg./3).

(2)  Genf 1951.

(3)  New York 1967.

(4)  KOM(2007) 301 endg. vom 6. Juni 2007.

(5)  Dazu äußerte sich der EWSA in seiner Stellungnahme vom 12.3.2008 zum „Grünbuch über das künftige gemeinsame europäische Asylsystem“; Berichterstatterin: An LE NOUAIL MARLIÈRE (ABl. C 204 vom 9.8.2008).

(6)  Siehe Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates vom 18.2.2003 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist (ABl. L 50 vom 25.2.2003, S. 1).

(7)  Siehe Stellungnahme des EWSA vom 20.3.2002 zum „Vorschlag für eine Verordnung des Rates zur Festlegung von Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines Asylantrags zuständig ist, den ein Staatsangehöriger eines dritten Landes in einem Mitgliedstaat gestellt hat“, Berichterstatter: Sukhdev SHARMA (ABl. C 125 vom 27.5.2002).

(8)  Der EWSA wurde zu den an der EURODAC-Verordnung vorgenommenen Änderungen (KOM(2008) 825 endg.) nicht angehört. Diese Verordnung (EG) Nr. 2725/2000 des Rates vom 11. Dezember 2000 ist eine direkte Ergänzung der Dublin-Verordnung.

(9)  Siehe insbesondere:

die Stellungnahme des EWSA vom 20.3.2002 zu dem „Vorschlag für eine Verordnung des Rates zur Festlegung von Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines Asylantrags zuständig ist, den ein Staatsangehöriger eines dritten Landes in einem Mitgliedstaat gestellt hat (Dublin II)“ (KOM(2001) 447 endg.), Berichterstatter: Sukhdev SHARMA (ABl. C 125 vom 27.5.2002, S. 28-31);

die Stellungnahme des EWSA vom 12.3.2008 zum „Grünbuch über das künftige gemeinsame europäische Asylsystem“; Berichterstatterin: An LE NOUAIL MARLIÈRE (ABl. C 204 vom 9.8.2008, S. 77-84).

(10)  Grünbuch über das künftige gemeinsame europäische Asylsystem (KOM(2007) 301 endg.).

(11)  Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in der Rechtssache „Gebremedhin gegen Frankreich“ vom 26.4.2007: „Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten“ des Europarates von 1950, Artikel 3 und 13, irreparabler Schaden bei Eintritt des Falls der Folter oder Misshandlung, Rechtsbehelf mit aufschiebender Wirkung; Absätze 66 und 67: http://cmiskp.echr.coe.int/tkp197/view.asp?action=html&documentId=816069&portal=hbkm&source=externalbydocnumber&table=F69A27FD8FB86142BF01C1166DEA398649 [Anm.d. Übers.: Das Urteil liegt nicht auf Deutsch vor].


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