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Document 62014CJ0088

Kommission / Parlament und Rat

Rechtssache C‑88/14

Europäische Kommission

gegen

Europäisches Parlament

und

Rat der Europäischen Union

„Nichtigkeitsklage — Verordnung (EU) Nr. 1289/2013 — Art. 1 Nrn. 1 und 4 — Verordnung (EG) Nr. 539/2001 — Art. 1 Abs. 4 Buchst. f — Art. 290 AEUV — Aussetzung der Befreiung von der Visumpflicht — Einfügung einer Fußnote — Änderung des Gesetzgebungsakts“

Leitsätze – Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 16. Juli 2015

  1. Gerichtliches Verfahren – Vorbringen neuer Angriffs- und Verteidigungsmittel im Laufe des Verfahrens – Erweiterung eines bereits vorgetragenen Klagegrundes – Zulässigkeit

    (Verfahrensordnung des Gerichtshofs, Art. 127 Abs. 1)

  2. Organe der Europäischen Union – Ausübung der Zuständigkeiten – Der Kommission übertragene Befugnis zum Erlass von delegierten Rechtsakten oder Durchführungsrechtsakten – Ermessen des Unionsgesetzgebers – Grenzen – In den Art. 290 und 291 AEUV geregelte Voraussetzungen

    (Art. 290 AEUV und 291 AEUV)

  3. Organe der Europäischen Union – Ausübung der Zuständigkeiten – Der Kommission übertragene Befugnis zum Erlass von delegierten Rechtsakten oder Durchführungsrechtsakten – Änderung eines Gesetzgebungsakts – Geltungsbereich – Verordnung Nr. 539/2001 – Wiedereinführung der Visumpflicht für zuvor befreite Drittstaatsangehörige – Einfügung einer Fußnote in den Anhang der Verordnung, in der darauf hingewiesen wird, dass die Befreiung von der Visumpflicht ausgesetzt ist – Einbeziehung

    (Art. 290 Abs. 1 AEUV und 291 Abs. 2 AEUV; Verordnung Nr. 539/2001 des Rates, Art. 1 Abs. 2 und 4 Buchst. f sowie Anhänge I und II)

  1.  Siehe Text der Entscheidung.

    (vgl. Rn. 13)

  2.  Der Unionsgesetzgeber verfügt über ein Ermessen, wenn er entscheidet, der Kommission eine delegierte Befugnis nach Art. 290 Abs. 1 AEUV oder eine Durchführungsbefugnis nach Art. 291 Abs. 2 AEUV zu übertragen. Dieses Ermessen muss jedoch unter Beachtung der in den Art. 290 AEUV und 291 AEUV geregelten Voraussetzungen ausgeübt werden.

    Die Übertragung einer delegierten Befugnis dient nach Art. 290 Abs. 1 AEUV dem Erlass von Vorschriften, die sich in einen rechtlichen Rahmen einfügen, wie er durch den Basisgesetzgebungsakt definiert ist.

    Im Rahmen der Ausübung der ihm übertragenen Durchführungsbefugnis hat das betreffende Organ dagegen den Inhalt des Gesetzgebungsakts zu präzisieren, um seine Umsetzung unter einheitlichen Bedingungen in allen Mitgliedstaaten sicherzustellen. Die Kommission kann bei der Ausübung einer Durchführungsbefugnis, anders als bei den Befugnissen, die sie im Rahmen der Ausübung einer delegierten Befugnis hat, den Gesetzgebungsakt weder ändern noch ergänzen, auch nicht in seinen nicht wesentlichen Teilen.

    Für die Beantwortung der Frage, ob der zu erlassende Rechtsakt unter Art. 290 AEUV oder unter Art. 291 AEUV fällt, kommt es weder auf das Bestehen noch auf den Umfang eines der Kommission im Gesetzgebungsakt eingeräumten Ermessens an. Aus dem Wortlaut des Art. 290 Abs. 1 AEUV ergibt sich nämlich, dass die Rechtmäßigkeit der Entscheidung des Unionsgesetzgebers, der Kommission eine delegierte Befugnis zu übertragen, allein davon abhängt, ob die Rechtsakte, die dieses Organ auf der Grundlage dieser Befugnisübertragung zu erlassen hat, allgemeine Geltung haben und ob sie Vorschriften des betreffenden Gesetzgebungsakts, die nicht wesentlich sind, ergänzen oder ändern.

    (vgl. Rn. 28-32)

  3.  Der Unionsgesetzgeber hat der Kommission die Befugnis übertragen, Anhang II der Verordnung (EG) Nr. 539/2001 des Rates vom 15. März 2001 zur Aufstellung der Liste der Drittländer, deren Staatsangehörige beim Überschreiten der Außengrenzen im Besitz eines Visums sein müssen, sowie der Liste der Drittländer, deren Staatsangehörige von dieser Visumpflicht befreit sind, im Sinne von Art. 290 Abs. 1 AEUV zu ändern. Diese Änderung kann nur im Rahmen der Ausübung einer delegierten Befugnis im Sinne von Art. 290 Abs. 1 AEUV vorgenommen werden und nicht im Rahmen einer Durchführungsbefugnis im Sinne von Art. 291 Abs. 2 AEUV.

    Ein nach Art. 1 Abs. 4 Buchst. f der Verordnung Nr. 539/2001 in der durch die Verordnung Nr. 1289/2013 geänderten Fassung ergangener Rechtsakt hat nämlich die Wirkung, dass während eines Zeitraums von 12 oder 18 Monaten eine Visumpflicht für alle Staatsangehörigen eines in der Liste in Anhang II dieser Verordnung aufgeführten Drittlands in Bezug auf jene Aufenthalte wiedereingeführt wird, die nach dem Wortlaut von Art. 1 Abs. 2 der Verordnung von einer solchen Pflicht befreit sind. Für alle diese Staatsangehörigen bewirkt somit der nach Art. 1 Abs. 4 Buchst. f dieser Verordnung erlassene Rechtsakt, dass der normative Inhalt des fraglichen Gesetzgebungsakts, und sei es auch nur vorübergehend, geändert wird. Denn mit Ausnahme ihres vorübergehenden Charakters sind die Wirkungen des nach dieser Bestimmung erlassenen Rechtsakts in allen Punkten identisch mit den Wirkungen, die sich aus der förmlichen Überführung der Nennung des betreffenden Drittlands von Anhang II dieser Verordnung in deren Anhang I ergeben. Die in der genannten Bestimmung vorgesehene Einfügung einer Fußnote neben dem Namen des betreffenden Drittlands in Anhang II dieser Verordnung zeugt vom Willen des Unionsgesetzgebers, den auf der Grundlage dieser Bestimmung erlassenen Rechtsakt in die Verordnung Nr. 539/2001 selbst aufzunehmen.

    (vgl. Rn. 31, 37, 42-44, 46)

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