Choose the experimental features you want to try

This document is an excerpt from the EUR-Lex website

Document 52016AE6275

    Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum „Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über präventive Restrukturierungsrahmen, die zweite Chance und Maßnahmen zur Steigerung der Effizienz von Restrukturierungs-, Insolvenz- und Entschuldungsverfahren und zur Änderung der Richtlinie 2012/30/EU“ (COM(2016) 723 final — 2016/0359 (COD))

    ABl. C 209 vom 30.6.2017, p. 21–27 (BG, ES, CS, DA, DE, ET, EL, EN, FR, HR, IT, LV, LT, HU, MT, NL, PL, PT, RO, SK, SL, FI, SV)

    30.6.2017   

    DE

    Amtsblatt der Europäischen Union

    C 209/21


    Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum „Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über präventive Restrukturierungsrahmen, die zweite Chance und Maßnahmen zur Steigerung der Effizienz von Restrukturierungs-, Insolvenz- und Entschuldungsverfahren und zur Änderung der Richtlinie 2012/30/EU“

    (COM(2016) 723 final — 2016/0359 (COD))

    (2017/C 209/04)

    Berichterstatter:

    Antonello PEZZINI

    Mitberichterstatterin:

    Franca SALIS-MADINIER

    Befassung

    Europäisches Parlament, 16.1.2017

    Europäischer Rat, 25.1.2017

    Rechtsgrundlage

    Artikel 114 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

    Zuständige Fachgruppe

    Binnenmarkt, Produktion, Verbrauch

    Annahme in der Fachgruppe

    9.3.2017

    Verabschiedung auf der Plenartagung

    29.3.2017

    Plenartagung Nr.

    524

    Ergebnis der Abstimmung

    (Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

    220/2/7

    1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

    1.1.

    Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) unterstützt den Vorschlag für eine Richtlinie über präventive Restrukturierungsrahmen und eine zweite Chance und legt daher die Vorschläge der organisierten Zivilgesellschaft vor, die diesen Vorschlag inhaltlich ergänzen.

    1.2.

    Angesichts des Inhalts und der Notwendigkeit, die Vorschriften für den Binnenmarkt zu vollenden, legt der EWSA nahe, dem Vorschlag die Form einer Verordnung zu geben und keine Scheu vor einer größtmöglichen Harmonisierung der bestehenden Systeme zu haben.

    1.3.

    Der EWSA drängt darauf, die Verpflichtung der Unternehmensleitung, die Beschäftigten vorab und während der Verhandlungen zu unterrichten und anzuhören, in der Richtlinie förmlich zu präzisieren. Vor allem in den Phasen der frühzeitigen Restrukturierung ist stärker auf die Interessen der Arbeitnehmer zu achten. Ebenso muss beim Insolvenzverfahren explizit auf Artikel 5 Absatz 2 der Richtlinie 2001/23/EG Bezug genommen werden, um die diesbezüglichen Rechte der Arbeitnehmer zu wahren.

    1.4.

    Der EWSA fordert die Kommission auf, in der Richtlinie die Vorschrift zur „Antizipation“ von Insolvenzen mittels der Abfassung eines Verhaltenskodexes als Grundprinzip aufzunehmen. Zu diesem Zweck schlägt der EWSA vor, den Grundsatz des ordnungsgemäßen „social warning“ (Sozialalarm) in die Richtlinie aufzunehmen.

    1.5.

    Der EWSA empfiehlt, in die Richtlinie den übergeordneten Grundsatz aufzunehmen, dass in allen Mitgliedstaaten im Falle einer Insolvenz allen Arbeitnehmern der Status vorrangiger Gläubiger gewährt wird. Zudem schlägt der EWSA die Schaffung eines nationalen Fonds (sofern noch nicht vorhanden) zur Versicherung gegen Risiken vor, der in allen Mitgliedstaaten die Zahlung der Löhne der Beschäftigten sicherstellt. Ein solcher Fond, wie er bereits in einigen Mitgliedstaaten besteht, könnte durch entsprechende Beiträge der Arbeitgeber finanziert werden. Die Staaten könnten an der Verwaltung dieses Fonds mitwirken und als Garanten fungieren.

    1.6.

    Der EWSA empfiehlt der Kommission, zügig Modalitäten und Fristen für die rechtzeitige Erkennung der Schwierigkeiten eines Unternehmens auszumachen.

    1.7.

    Die freien Berufe, Sachverständigen und Angehörigen der Rechtsberufe, die in diesem Bereich befasst werden, müssen über eine angemessene gemeinsame Ausbildung und ausgiebige Erfahrungen verfügen, um auf diesem bislang wenig sondierten Terrain arbeiten zu können.

    1.8.

    Die Kriterien der Vertrauenswürdigkeit von Unternehmern im Zusammenhang mit redlichem beruflichem Verhalten, die mit entsprechenden, von den Behörden erstellten Bescheinigungen belegt werden müssen, sind zu überprüfen. Solche Bescheinigungen rechtfertigen die Inanspruchnahme der zweiten Chance.

    1.9.

    Der EWSA fordert, in der Richtlinie als unerlaubte Praxis zu bezeichnen, wenn die Unternehmensleitung das Insolvenzverfahren zur Verweigerung von Arbeitnehmerrechten missbraucht. Daher ist dem betreffenden Unternehmensleiter der Zugang zu einem Moratorium oder einer zweiten Chance zu verwehren.

    1.10.

    Der EWSA begrüßt, dass den Gerichten, die nur in Notfällen eingreifen, eine subsidiäre Rolle zugedacht wird.

    1.11.

    Der EWSA unterstreicht den gesellschaftlichen Wert eines Unternehmens und das Engagement dafür, es dank schlanker, erschwinglicher und zügiger Verfahren am Laufen zu halten. Dies steht im Einklang mit den Werten des EU-Vertrags (Artikel 3) und des guten Glaubens des Unternehmers.

    2.   Die Regelungen für Unternehmensinsolvenzen in der EU

    2.1.

    Das Europäische Parlament und der Rat der Europäischen Union haben am 20. Mai 2015 die Verordnung (EU) 2015/848 über Insolvenzverfahren in verschiedenen Mitgliedstaaten (im Folgenden „die Verordnung“) erlassen.

    2.2.

    In der neuen Rechtsvorschrift wurden die neuen Vorstellungen über die Ziele des Konkursrechts berücksichtigt, denen zufolge die Konkursverfahren nicht mehr nur ausschließlich unter dem Aspekt der Liquidation, sondern als Instrument verstanden werden, die organisierte Ressourcenstruktur des Unternehmens zu erhalten — also auch das Recht auf Arbeit der Angestellten — und wo immer möglich den Fortbestand des Unternehmens zu sichern.

    2.3.

    In den verschiedenen Mitgliedstaaten, in denen die Restrukturierungsverfahren Vorrang vor Liquidationsverfahren haben, liegt die Beitreibungsrate bei 83 % anstatt bei 57 % (1).

    2.3.1.

    Außerdem ist die Verfahrensdauer (2) in den verschiedenen Staaten sehr unterschiedlich und variiert zwischen wenigen Monaten und mehreren Jahren.

    2.3.2.

    Zahlreiche Unterschiede bestehen auch bezüglich der Möglichkeit, Zugang zu Restrukturierungsverfahren vor der Insolvenzerklärung zu bekommen.

    2.3.3.

    Jüngste Studien (3) haben gezeigt, dass die Vorschriften des Insolvenzrechts nicht vollkommen geeignet sind und übermäßige Unterschiede zwischen dem einzelstaatlichen Recht bestehen, wodurch der Kapitalfluss im Binnenmarkt behindert wird.

    2.4.

    Für die Unternehmer, deren Chancen für das wirtschaftliche Überleben in den ersten fünf Jahren bei ca. 50 % (4) liegen, besteht das Ziel darin, in evidenten Krisenzeiten auf ein Moratorium zurückgreifen und anschließend den Erlass ihrer Schulden im Zeitraum von höchsten drei Jahren erhalten zu können. Damit werden die Stigmata des Scheiterns beseitigt und redliche Unternehmer zu einem zweiten Versuch ermuntert.

    2.5.

    Ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur Schaffung eines einheitlichen europäischen Raums des Rechts ist die Einrichtung eines elektronischen Systems zur Verknüpfung der sogenannten Insolvenzregister. Diese müssen bis Juni 2015 in jedem Mitgliedstaat eingerichtet werden und über das Europäische Justizportal unentgeltlich zugänglich sein.

    2.6.

    Nach Aussage der Kommission scheitern jedes Jahr in Europa 200 000 Unternehmen, was zum Verlust von 1,7 Mio. Arbeitsplätzen führt. Dies ließe sich häufig vermeiden, wenn wirksamere Insolvenz- und Restrukturierungsverfahren zur Verfügung stünden.

    2.7.

    Bei der Überprüfung der Umsetzung der Empfehlung der Europäischen Kommission von 2014 bezüglich Umstrukturierung und zweite Chance hat sich ergeben, dass unbeschadet der Reformen im Bereich Insolvenz die Vorschriften immer noch uneinheitlich und in einigen Staaten nach wie vor unwirksam oder inexistent sind. Im Aktionsplan zur Schaffung einer Kapitalmarktunion von 2015 wurde eine Gesetzgebungsinitiative im Bereich Unternehmensinsolvenzen einschließlich Bestimmungen zu einer frühen Restrukturierung und zweiten Chance angekündigt.

    2.8.

    Die Kommissionsinitiative sollte auch im Licht der verschiedenen Empfehlungen gesehen werden, die der EWSA zur Verdeutlichung u. a. folgender Punkte vorlegt:

    die Unterschiede zwischen dem einzelstaatlichen Insolvenzrecht können zu ungerechtfertigten Wettbewerbsvor- oder -nachteilen führen;

    die Frage der Insolvenzregelungen muss unter dem Aspekt des Arbeitsrecht gesehen werden, da unterschiedliche Definitionen für die Begriffe „Arbeit“ und „abhängig Beschäftigte“ die Rechte der Arbeitnehmer in der EU im Falle einer Insolvenz beeinträchtigen können;

    die fehlende Harmonisierung bezüglich der Rangfolge der Gläubiger kann die Vorhersehbarkeit des Ausgangs von Gerichtsverfahren verringern;

    die Insolvenzverfahren sollten von eventuellen Gläubigern oder nur einem Gläubiger nicht missbräuchlich eingesetzt oder instrumentalisiert werden können;

    es müssen Maßnahmen zur Verhinderung der Wahl des günstigsten Gerichtsstandorts ergriffen werden.

    3.   Die Kommissionsvorschläge

    3.1.

    Der Kommissionsvorschlag, der auf Artikel 53 und 114 AEUV basiert, konzentriert sich auf drei wesentliche Elemente:

    gemeinsame Grundsätze bezüglich der Rahmen für rechtzeitige Restrukturierung, die den Unternehmen dabei behilflich sind, ihre Tätigkeit fortzusetzen und Arbeitsplätze zu erhalten;

    Vorschriften, die den Unternehmern ermöglichen, mittels eines Erlassens ihrer Schulden innerhalb von höchstens drei Jahren in den Genuss einer zweiten Chance zu kommen;

    Maßnahmen der Mitgliedstaaten zur Steigerung der Wirksamkeit von Insolvenz-, Umstrukturierungs- und Schuldenerlassverfahren, um die Dauer und die übermäßigen Kosten der Verfahren zu senken, Rechtsunsicherheiten für Gläubiger und Anleger zu beseitigen und die Beitreibungsraten unbeglichener Schulden zu steigern.

    3.2.

    Die neuen Vorschriften enthalten einige Grundsätze zur Gewährleistung kohärenter und wirksamer Rahmen für Insolvenz und Umstrukturierung in der gesamten EU:

    Unternehmen in finanziellen Schwierigkeiten, insbesondere KMU, haben Zugang zu Frühwarnsystemen mit der Funktion, eine Verschlechterung der Geschäftslage zu erkennen und eine frühzeitige Restrukturierung sicherzustellen;

    die präventiven und flexiblen Restrukturierungsrahmen müssen für eine Vereinfachung der Gerichtsverfahren in puncto Fristen, Kosten und Komplexität sorgen;

    maximal vier Monate Aufschubfrist für Schuldner vor der Anwendung von Vollstreckungsmaßnahmen, um Verhandlungen im Hinblick auf eine wirksame Restrukturierung zu ermöglichen;

    keine Möglichkeit für ablehnende Gläubiger und Minderheitsaktionäre, Restrukturierungspläne zu blockieren, jedoch unter voller Wahrung ihrer legitimen Interessen;

    Schutz der neuen Finanzierungen und Zwischenfinanzierungen, um die Möglichkeiten für wirksame Restrukturierungen zu erhöhen;

    Gewährleistung des vollen arbeitsrechtlichen Schutzes während präventiver Restrukturierungsmaßnahmen im Einklang mit den bestehenden EU-Rechtsvorschriften für Arbeitnehmer;

    einheitliche Ausbildung und Weiterbildung der Insolvenzverwalter und der Richter in der EU;

    umfassender Einsatz der neuen Informationstechnologien für Vorgänge, Zustellungen und Mitteilungen über das Internet, um effizientere und verschlankte Verfahren für Insolvenz, Restrukturierung und Gewährung einer zweiten Chance sicherzustellen.

    3.3.

    Im neuen Richtlinienvorschlag werden zudem Aspekte eines Verfahrens „bei laufendem Unternehmen“ erwogen, bei dem der Unternehmer die Kontrolle über die Geschäftstätigkeiten behält bzw. eine automatische Aussetzung gewährt wird. In diesem viermonatigen Zeitraum ist es den Gläubigern nicht gestattet, einzelne Maßnahmen zur Beitreibung von Forderungen zu ergreifen.

    4.   Besondere Bemerkungen zu dem Kommissionsvorschlag

    4.1.    Titel I: Entschuldung

    4.1.1.

    Was die fakultative Anwendung der vorgeschlagenen Regelung für die Entschuldungsverfahren von Verbraucherkrediten betrifft, spricht sich der EWSA — wie bereits in zahlreichen von ihm zu diesem Thema verabschiedeten Stellungnahmen — mit Nachdruck gegen eine solche Möglichkeit aus. Sie widerspricht der von ihm vertretenen Forderung, dass unbedingt eine Sonderregelung für die Verbraucherüberschuldung erforderlich ist.

    4.2.    Titel II: Prävention und Warnmechanismen

    4.2.1.

    Der EWSA ist der Auffassung, dass die Reichweite und der Anwendungsbereich der Richtlinie (Art der Unternehmen, Zahl der Beschäftigten) präzisiert werden sollte. Besondere Aufmerksamkeit ist dabei den KMU und ihrem Einfluss auf die lokale Wirtschaft zu widmen.

    4.2.2.

    Es besteht weitgehendes Einvernehmen darüber, dass Unternehmen bei der rechtzeitigen Restrukturierung unterstützt werden müssen, damit sie Arbeitsplätze erhalten und ihren Wert behalten können, auch zur Unterstützung redlicher Unternehmer.

    4.2.3.

    Es wäre sinnvoll und zweckmäßig zu definieren, nach welchen Kriterien Unternehmensleiter als „redlich“ bezeichnet werden können. Solche objektiven Kriterien müssen in der Richtlinie festgelegt und formalisiert werden. Ferner ist das Phänomen taktischer Insolvenzverfahren nicht zu unterschätzen, die zur Umgehung gesetzlicher Verpflichtungen eingesetzt werden und Arbeitnehmer ihrer Rechte berauben. Zur Abschreckung vor dem Einsatz solcher Praktiken muss den betreffenden Unternehmern ein Moratorium und eine zweite Chance verwehrt werden.

    4.2.4.

    Die Arbeitnehmer und die Gewerkschaften müssen in allen Phasen mittels einer wirksamen und rechtzeitigen Anhörung und Unterrichtung kontinuierlich eingebunden werden. Die Arbeitnehmervertreter und die Gewerkschaften müssen das Recht haben, alternative Lösungen zur Rettung der Arbeitsplätze vorzuschlagen und auf Sachverständige zurückzugreifen.

    4.2.5.

    Ein sich mit gemeinsamen und vertretbaren Eckpunkten abzeichnender Rahmen für frühzeitige Restrukturierung sollte einem gemeinsamen und einheitlichen, auf Unionsebene vereinbarten Protokoll entsprechen.

    4.2.6.

    Der EWSA schlägt vor, in allen Mitgliedstaaten Verfahren zur Schaffung eines einzelstaatlichen Fonds zur Risikobündelung vorzusehen, der die Zahlung der Gehälter der Beschäftigten in allen Mitgliedstaaten sicherstellt. Ein solcher Fonds könnte durch entsprechende Arbeitgeberbeiträge finanziert werden. Die Staaten könnten an der Verwaltung dieses Fonds mitwirken und als Garanten fungieren (5).

    4.2.7.

    Um Arbeitsplätze zu erhalten und Entlassungen zu vermeiden, muss das „social warning“ (Sozialalarm) unterstützt werden, d. h. die Verpflichtung des Unternehmens, bei Schwierigkeiten des Unternehmens alle betroffenen Parteien rechtzeitig zu informieren und zu warnen. Eine solche Maßnahme, die für jeden spezifischen Fall angemessen einzusetzen ist, wird überdies ein sinnvoller Nachweis bei der eindeutigen Ermittlung des redlichen und sozial verantwortlichen Verhaltens des Unternehmers darstellen.

    4.2.7.1.

    Die Kultur des Austauschs mit den Arbeitnehmervertretern, den Gewerkschaftsverbänden, anderen Vertretungsorganisationen oder anderen Interessenträgern ist zu fördern.

    4.2.8.

    Es muss das Ziel verfolgt werden, das Eingreifen der Gerichts-/Verwaltungsbehörden zu verringern, die häufig verfrüht angerufen werden, um mit drastischen Lösungen zu intervenieren.

    4.2.9.

    Auf nationaler und europäischer Ebene sollte der Grundsatz der angemessenen Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmervertreter (EWG Richtlinie 2009/38/EG) angewandt werden. Ihre Rechte und ihr Schutz müssen gewährleistet sein, wenn sie eine Warnung aussprechen, denn häufig nehmen sie Störungen im Unternehmen als erste wahr („whistleblower as means of prevention“).

    4.2.10.

    Artikel 3 Absatz 3 muss geklärt werden. Insbesondere sollten die Parameter spezifiziert werden, auf deren Grundlage die Unternehmen vom Vorwarnmechanismus ausgeschlossen werden könnten (Zahl der Beschäftigten, Gesamtumsatz usw.).

    4.3.    Titel III: Präventive Restrukturierungsrahmen.

    4.3.1.

    Verwirklichung eines günstigen und proaktiven allgemeinen Rahmens auf der Grundlage der Harmonisierung der Erfahrungen und Verfahren.

    4.3.2.

    Zur Erfüllung der inhaltlichen Vorgaben von Artikel 114 AEUV, d. h. der Vollendung des Binnenmarkts, muss die Kommission auch mittels delegierter Rechtsakte dafür sorgen, dass die heute zwischen den einzelnen Mitgliedstaaten sehr unterschiedlichen Insolvenzverfahren harmoniert werden.

    4.3.3.

    Auf Unionsebene müssen ebenso angemessene Vorinsolvenz-Verfahren vorgeschlagen und harmonisiert werden, die den Ursachen der Behinderung des normalen Geldflusses, die mitunter auf Zahlungsverzögerungen zurückzuführen sind, Rechnung tragen sollten (6).

    4.3.4.

    Es sollten Regeln für das richtige Verhalten von Auftraggebern und Dienstleistungserbringern aufgestellt werden, die maximale Fristen für die Zahlung der Leistungen vorsehen.

    4.3.5.

    In anderen Fällen sind die Gründe politischer Natur und liegen außerhalb des Vermögens des Unternehmers.

    4.3.6.

    Der Schutz der neuen Finanzierungen und der Zwischenfinanzierungen muss durch gemeinsame und in den verschiedenen Staaten einheitlich wirkenden Vorschriften und Verfahren gewährleistet werden, mit denen auch die legitimen Standpunkte der Minderheiten gewahrt werden können.

    4.3.7.

    Einige regionale Gebietskörperschaften in der EU haben bereits paritätische Gremien (7) eingerichtet, die rechtzeitig eingreifen sollen, wenn sich Handlungsbedarf bezüglich Unterstützung von in Schwierigkeiten geratenen Unternehmen abzeichnet (8).

    4.3.8.

    Es wäre sinnvoll, eine Untersuchung über solche Einrichtungen zu erstellen und zweckmäßige Lehren aus den maßgeblichen Erfahrungen zu ziehen.

    4.3.9.

    Mit der Schaffung paritätischer Einrichtungen mit umfangreichen Zuständigkeiten, einer klaren Zukunftsvision und einer eindeutigen sozialen Orientierung könnten sich die Mängel in puncto Antizipation oder innovativer Strategien überwinden lassen, die die Arbeitswelt insgesamt geschwächt und zur Wirtschaftskrise beigetragen haben, die Europa in unterschiedlicher Intensität seit 2008 durchlebt.

    4.3.10.

    Die Instrumente sowohl der frühzeitigen Restrukturierung als auch der „zweiten Chance“ sind für denjenigen Unternehmer von Vorteil, der die Verfahren zur Warnung und Antizipation respektiert hat und sie zu nutzen wünscht. Beide haben das Ziel, die Voraussetzungen für die Einbeziehung der Gläubiger (in erster Linie die Arbeitnehmer und die Gewerkschaften) zu schaffen.

    4.3.10.1.

    Aus diesem Grund ist es wichtig, dass der Unternehmer, der Zugang zu diesen nützlichen Instrumenten wünscht, seinen Gesprächspartnern (Arbeitnehmern, Gewerkschaften, Gläubiger im Allgemeinen, zur Beilegung der Krise benannte Stellen) unverzüglich sämtliche Bucheinträge in seinem Besitz (Bilanzen und entsprechende Anlagen, Bankunterlagen, Versicherungsdokumente, Lagerbuchhaltung usw.) zur Verfügung stellt, um jedwede Kontrolle über die eigenen Aktivitäten zu gestatten.

    4.3.10.2.

    Dies entspräche nicht nur dem Grundsatz der Transparenz, sondern würde auch einigen in dem Richtlinienentwurf geforderten und ihm zugrunde liegenden Grundprinzipien wirksam werden lassen.

    4.3.10.3.

    Der unmittelbare Zugang zu allen Unterlagen des Unternehmens könnte Folgendes gestatten:

    das Verständnis seitens aller beteiligter Akteure der tatsächlichen wirtschaftlichen Lage des Unternehmens, um so bald wie möglich die zur Überwindung der Krise geeigneten Maßnahmen auszumachen;

    die angemessene Unterrichtung der Gläubiger (Arbeitnehmer und andere, auch mittels ihrer eigenen Sachverständigen) bei der Teilnahme an den Verhandlungen über die Annahme des Plans und/oder den vorgeschlagenen alternativen Maßnahmen, um sich eine Meinung bilden oder eine informierte Wahl über die verschiedenen Teile des Restrukturierungsplans treffen zu können (Artikel 8);

    die angemessene Unterrichtung der Fachleute (Artikel 17 Absatz 3) sowie der Justizbehörden und der entsprechenden Sachverständigen (Artikel 13), wenn sie um eine Bewertung der Restrukturierungspläne gebeten werden;

    eine korrektere Bewertung der Redlichkeit des Unternehmers (Artikel 22 Absatz 1), da sich aus der Prüfung der Unterlagen ersehen lässt, wie es zur Verschuldung des Unternehmer gekommen ist (ob er in gutem Glauben oder bösgläubig gehandelt hat) und ob das Verfahren rechtzeitig nach den ersten Anzeichen der Krise im Unternehmen eingeleitet worden ist.

    4.3.11.

    Die Folgenabschätzung für die Restrukturierung sollte auch die Auswirkungen auf die Arbeitsplätze berücksichtigen. Sind diese frühzeitig bekannt, können angemessene Maßnahmen zur Erhaltung von Beschäftigung ergriffen werden wie bezüglich Weiterbildung und Ausbau der Qualifikationen der Arbeitnehmer.

    4.3.12.

    In Bezug auf Kapitel 5 Artikel 18 sollte es der Unternehmensleitung untersagt werden, die Vermögenswerte des Unternehmens unter das Niveau abzusenken, das für die Begleichung der gegenüber den Beschäftigten aufgelaufenen Verpflichtungen notwendig ist.

    4.4.    Titel IV: Zugang zur Entschuldung (zweite Chance)

    4.4.1.

    Der EWSA hat in seiner Stellungnahme zu den auch für diese Stellungnahme gültigen Insolvenzverfahren vom Jahr 2013 u. a. betont, dass

    die angeführte „zweite Chance“ denjenigen Unternehmern eingeräumt werden sollte, die ihre Lehren aus dem Scheitern gezogen haben und in der Lage sind, auf der Grundlage eines überdachten unternehmerischen Konzepts wieder auf die Beine zu kommen;

    die Arbeitnehmer eines besseren Schutzes bedürfen und in allen Mitgliedstaaten den Status bevorrechtigter Gläubiger erhalten sollten;

    die systematische Anrufung der Gerichte nicht der beste Lösungsweg ist. Er hat die Kommission aufgefordert, über die Schaffung neuer Gremien nachzudenken;

    er begrüßt, dass die Mitgliedstaaten verpflichtet werden, die Verfahren für die öffentliche Bekanntmachung von entsprechenden Gerichtsentscheidungen durch ein elektronisches Register zu verbessern.

    4.4.2.

    Die den Unternehmern nach dem ersten Fehlschlag vorbehaltenen Vorschriften über die zweite Chance müssen klarer und in allen EU-Mitgliedstaaten einheitlich sein, wie in Artikel 114 über den Binnenmarkt verankert, und sie benötigen die Zustimmung der Vertreter der abhängig Beschäftigten, die durch den ersten Misserfolg des Unternehmers weder geschädigt noch benachteiligt worden sind.

    4.4.3.

    Viel zu häufig haben die starren Verfahren in zahlreichen Mitgliedstaaten zu mitunter drastischen Maßnahmen seitens der Konkursverwalter geführt.

    4.4.4.

    Die in allen EU-Mitgliedstaaten homogen und offen durchzuführenden Maßnahmen müssen dazu führen, dass die alte Rolle der Insolvenzverwalter in eine neue Rolle der „Fürsprecher der Beschäftigungsentwicklung“ umgewandelt wird. Dafür ist eine umfassende und tiefgreifende kulturelle und technische Vorbereitung erforderlich, und dazu sollen auch die vom Europäischen Justizportal vorgesehenen und durch die Verordnung (EU) 2015/848 verstärkten IT-Prozesse beitragen.

    4.4.5.

    Begrüßt wird der vorgeschlagene vereinfachte Zugang zur zweiten Chance. Diesbezüglich ist es wichtig, dass ein überschuldeter Unternehmer nach Ablauf der betreffenden Fristen entschuldet werden kann, ohne dass ein neuer Antrag bei einer Justiz- oder Verwaltungsbehörde gestellt werden muss (Artikel 20 Absatz 2).

    4.5.    Titel V: Maßnahmen zur Steigerung der Effizienz der Verfahren

    4.5.1.

    Es wäre sinnvoll, dass die Aus- und Weiterbildung der „Mitglieder der Justiz- und Verwaltungsbehörden, die mit Sachen im Bereich Restrukturierung, Insolvenz und zweite Chance befasst sind“ direkt von der Kommission (oder durch Agenturen) organisiert wird.

    4.5.2.

    Die Anforderungen für das in der EU tätige Fachpersonal müssen harmonisiert werden: für sie müssen Mindeststandards vorgesehen werden bezüglich Ausbildung und Berufsqualifikationen, Registrierung, Haftung und Berufskodex.

    4.5.3.

    Erforderlich sind Instrumente für: die interne Überwachung, Rechnungslegungspraktiken, Berichtwesen und Kontrolle im Sinne effizienterer Verfahren.

    4.6.    Titel VI: Monitoring der Verfahren

    4.6.1.

    Wie in Ziffer 4.3.10.1 hervorgehoben, kann nur ein rascher und uneingeschränkter Zugang zu den Unterlagen des Unternehmens die Echtheit und Vollständigkeit der zu erhebenden Daten gewährleisten, um die Wirksamkeit des Monitoring der Verfahren zu steigern (Artikel 29).

    4.6.2.

    Die Klarheit und Vollständigkeit der Unterlagen muss in den Durchführungsbestimmungen nach Maßgabe der Verordnung (EU) Nr. 182/2011 bekräftigt werden.

    Brüssel, den 29. März 2017

    Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

    George DASSIS


    (1)  Weltbank, Index „Doing business“, 2016.

    (2)  Vgl. SWD(2016) 0357 final.

    (3)  https://webcast.ec.europa.eu/insolvency-conference; http://ec.europa.eu/justice/civil/files/insolvency/impact_assessment_en.pdf

    COM(2015) 468 final, 30.9.2015 (Insolvenz auf S. 27-28); SWD(2015) 183 final, 30.9.2015 (Insolvenz auf S. 73-78) et.al.

    (4)  Vgl. Flash Eurobarometer 354 (2012), aus dem auch hervorgeht, dass 43 % der Europäer aus Angst vor dem Scheitern kein Unternehmen gründen würden.

    (5)  Ein solcher Vorschlag wurde bereits 1764 von Cesare Beccaria in seiner Abhandlung „Von den Verbrechen und den Strafen“ vorgelegt.

    (6)  Laut Untersuchungen der Akademie Avignon gehen 30 % der Unternehmensschließungen auf Zahlungsverzögerungen zurück.

    (7)  Sie sind besetzt mit Fachleuten der Regionalverwaltungen, Vertretern des Kreditgewerbes und den Sozialpartnern.

    (8)  Siehe z. B. das Gremium zur Überwachung und Unterstützung von in Schieflage geratenen Unternehmen, das die Autonome Region Sizilien (Dezernat für Produktionstätigkeit) im März 2016 eingerichtet hat.


    Top