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Document 52013IE1748

    Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Rolle und Zukunft der Freien Berufe in der europäischen Zivilgesellschaft 2020 (Initiativstellungnahme)

    ABl. C 226 vom 16.7.2014, p. 10–16 (BG, ES, CS, DA, DE, ET, EL, EN, FR, HR, IT, LV, LT, HU, MT, NL, PL, PT, RO, SK, SL, FI, SV)

    16.7.2014   

    DE

    Amtsblatt der Europäischen Union

    C 226/10


    Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Rolle und Zukunft der Freien Berufe in der europäischen Zivilgesellschaft 2020 (Initiativstellungnahme)

    2014/C 226/02

    Berichterstatter: Arno METZLER

    Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss am 14. Februar 2013, gemäß Artikel 29 Absatz 2 seiner Geschäftsordnung eine Initiativstellungnahme zu folgendem Thema zu erarbeiten:

    Rolle und Zukunft der Freien Berufe in der europäischen Zivilgesellschaft 2020

    (Initiativstellungnahme) (1).

    Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion und Verbrauch nahm ihre Stellungnahme am 10. Februar 2014 an.

    Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 497. Plenartagung am 25./26. März 2014 (Sitzung vom 25. März) mit 210 gegen 8 Stimmen bei 11 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

    1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

    1.1.

    Die Systematik der Freien Berufe ist, gesellschaftliche Anpassungen vorausgesetzt, zukunftsgeeignet, einen wesentlichen Beitrag zur qualitativ hochwertigen Aufgabenwahrnehmung im Bereich soziale Güter wie Gesundheit, zur Aufgabenwahrnehmung im Bereich staatlicher Vorsorge, zum Schutz von Bürgerrechten als auch zur wirtschaftlichen Prosperität zu leisten. Freie Berufe sind Element jeder demokratischen Gesellschaft und stellen erhebliches Wachstumspotenzial für Beschäftigung und BIP dar.

    1.2.

    Der Begriff des „Freien Berufs“ wird in einigen EU Mitgliedstaaten nicht verwendet. Die Systematik sowie die mit ihr verknüpften gesellschaftlichen Probleme und Lösungen existieren EU-weit. Dabei werden verschiedentlich Mängel in der Durchführung von Aufsicht und Qualitätssicherung beklagt, die regelmäßig Vollzugsdefizite als Ursache haben und keine Systemfehler darstellen.

    1.3.

    Sowohl „rules-based regulation“ als auch „principles-based regulation“ sind geeignet, eine optimale Regulierung der Freien Berufe zu erreichen.

    1.4.

    Die Erbringung freiberuflicher Dienstleistungen ist durch eine Informationsasymmetrie zwischen Leistungserbringer und Leistungsempfänger bestimmt. Die Dienstleistungen berühren existenzielle Fragen von Leben, Gesundheit, Recht oder wesentliche wirtschaftliche Fragen. Der Leistungserbringer muss daher besonders hohen fachlichen und ethischen Anforderungen genügen.

    1.5.

    Für bestimmte Berufe existiert in nicht wenigen Ländern eine Preisregulierung. Diese kann dem Verbraucherschutz dienen. Preisregulierungen sind besonders rechtfertigungsbedürftig und so auszugestalten, dass sie Gemeinwohlinteressen und nicht einer bestimmten Interessengruppe dienen.

    1.6.

    In allen Mitgliedstaaten vertreten Berufsverbände oder Berufskammern, die Interessen ihres Berufs, wirken beratend und zum Teil gestaltend an und in der staatlichen Regulierung mit und garantieren durch eine ständige und konkrete Zusammenarbeit mit den Institutionen auch den Schutz der allgemeinen Interessen der Bürger und des Staats. Die Verwaltungsvereinfachung ist eine Priorität der Freiberufler, aufgrund derer sie immense Investitionen in Human- und Finanzressourcen tätigen, für die sie vom Staat keinerlei finanzielle Entschädigung erhalten.

    1.7.

    Die EU-Mitglieder gestalten und überwachen die Selbstverwaltung in den jeweiligen Staaten. Dabei müssen sie Konflikte zwischen Regulierungsberechtigung und Interessenvertretung ausschließen und die Einhaltung der Verbrauchererwartung in Bezug auf Kenntnis, Ethik und Gepräge der Leistungserbringer sichern.

    1.8.

    Der Beitrag der Freien Berufe zum reibungslosen Funktionieren der Verwaltung, Politik und Wirtschaft eines Mitgliedstaats ist auf nationaler und europäischer Ebene anerkannt, weil sie zur Modernisierung und Effizienz der öffentlichen Verwaltung und der Dienstleistungen für die Bürger und Verbraucher beitragen.

    1.9.

    Die Freien Berufe sind entscheidend für die Beschäftigungsmöglichkeiten junger Menschen, die sich für eine Zukunft im Bereich des freien Unternehmertums und für Investitionen in ihre eigenen Kenntnisse entscheiden. Freiberufler müssen die gesetzlichen Bestimmungen und/oder tarifrechtlichen Normen in Bezug auf ihre Angestellten und in Bezug auf die Jugendlichen einhalten, die bei ihnen eine Ausbildung, ein Praktikum, eine Lehre oder Weiterbildung absolvieren.

    2.   Von den artes liberales zum wissensgestützten Dienstleister

    2.1.

    Der Begriff des „Freien Berufs“ greift zurück auf den Begriff der „artes liberales“, mit dem in der Antike Tätigkeiten wie die des Lehrers, des Rechtsanwaltes, des Baumeisters, des Architekten oder des Ingenieurs sowie des Arztes bezeichnet wurden. Dabei war die Ausübung der „artes liberales“ Privileg der freien Bürger- und Adelsschicht.

    2.2.

    Seit dem 19. Jahrhundert definierte sich der „Freie Beruf“ nicht mehr über das personale Medium der „Freien Geburt“, sondern über die ausgeübte Tätigkeit.

    2.3.

    Bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts hatten bestimmte Freie Berufe eine besondere Staatsnähe entwickelt. Dies hinderte sie an einer unabhängigen Aufgabenwahrnehmung, was zugleich eine gesellschaftliche Geringschätzung zur Folge hatte. Besonders Rechtsanwälte, über deren Ernennung und Versetzung z. T. die Gerichte entschieden, waren hiervon betroffen. Auch die Dienstaufsicht und Disziplinargewalt lag zum Teil bei den Gerichten.

    2.4.

    Unter dem Einfluss des Liberalismus bildeten sich im 19. Jahrhundert in verschiedenen EU-Ländern ein Standesbewusstsein der Freien Berufe und eigene, staatsunabhängige Standesorganisationen. So löste sich die Anwaltschaft aus der staatlichen Einwirkung. Die akademische Ärzteschaft konnte ebenso eine begrenzte Freiheit von staatlicher Regelung und Kontrolle ihres Berufs erreichen.

    2.5.

    Die Aufgaben der Berufszulassung, der Ordnung des Berufs und der Berufsaufsicht übernahmen häufig Standesorganisationen. Später wurde die Rechtsetzung den Selbstverwaltungsorganisationen/Berufskammern übertragen.

    2.6.

    Der heutige Begriff des Freien Berufs ist eine soziologische Beschreibung.

    2.7.

    Merkmale eines Freien Berufs sind die Erbringung einer hochwertigen ideellen Dienstleistung mit ausgesprochen intellektuellem Charakter auf der Grundlage einer höherwertigen (akademischen) Ausbildung, eine Gemeinwohlbindung der Dienstleistung, eine fachlich und wirtschaftlich unabhängige Aufgabenwahrnehmung, die persönliche, eigenverantwortliche und fachlich unabhängige Leistungserbringung, das Bestehen eines besonderen Vertrauensverhältnisses zwischen Auftraggeber und Auftragnehmer, die Zurückstellung des Interesses maximaler Gewinnerzielung gegenüber dem Interesse des Auftragnehmers an einer optimalen Betreuung sowie die Bindung an genaue und strenge berufsrechtliche, berufsethische Regelungen.

    2.8.

    Eine Tätigkeit kann auch dann als freiberuflich eingeordnet werden, wenn bestimmte Merkmale nicht vorliegen, aber die Kerneigenschaften erfüllt werden. So steht der Einordnung als freiberufliche Tätigkeit in vielen Staaten nicht entgegen, dass sie in einem Anstellungsverhältnis erbracht werden, die fachliche Unabhängigkeit aber gewahrt bleibt. Der EWSA stellt fest, dass es eine Diversifizierung der Freien Berufe sowie der Kammern oder Organisationen gegeben hat, in denen ihre Aktivitäten innerhalb des Systems der Freien Berufe in Europa geregelt werden. Die neuen Freien Berufe, z. B. Psychologe, Sozialarbeiter, Steuerberater, Schuldnerberater, Landvermesser und Vermittler, die nicht in allen Ländern als Freie Berufe angesehen werden, müssen dementsprechend Teil des Konzepts sein.

    2.9.

    In den Mitgliedstaaten wird der Begriff des Freien Berufs unterschiedlich weit verstanden, in einigen fehlt er. In manchen Staaten zählt nur ein Kernbereich von Berufen zu den Freien Berufen: Heilberufe, Beratungsberufe wie Rechtsanwälte, Steuerberater und Wirtschaftsprüfer, Arbeitsberater, Ingenieure- und Architekten. In anderen Mitgliedstaaten werden darüber hinaus auch künstlerische Tätigkeiten zu den Freien Berufen gezählt.

    2.10.

    Allen Mitgliedstaaten gemeinsam ist es zu verhindern, dass das maßgebliche Kennzeichen der Freien Berufe, die Informationsasymmetrie zwischen Anbieter und Dienstleistungsempfänger, ausgenutzt wird. Die von Freiberuflern angebotenen Dienstleistungen sind komplex und erfordern ein hohes Maß an Expertenwissen. Dem Dienstleistungsempfänger fehlt es daher an hinreichenden Informationen, Fachkenntnis und Erfahrungswissen, um bei der Auswahl des Anbieters und nach Empfang der Dienstleistung die Qualität der angebotenen Dienstleistung zu beurteilen.

    2.11.

    Freie Berufe sind daher Vertrauensberufe. Bedingt durch die Informationsasymmetrie muss der Dienstleistungsempfänger darauf vertrauen, dass der Anbieter dieses Informationsdefizit nicht zu seinen Gunsten ausnutzt, sondern ihm die auf seine Bedürfnisse abgestimmte, bestmögliche Dienstleistung zukommen lässt. Der Dienstleistungsempfänger gibt damit bei der Beauftragung einen Vertrauensvorschuss. Fachliche Mindeststandards und die Einhaltung berufsethischer Richtlinien sind die geeigneten Instrumente, um das Vertrauen des Dienstleistungsempfängers zu schützen.

    3.   Regulierungen und ihre Zwecksetzung

    3.1.

    Die Mitgliedstaaten verfolgen bei der Regulierung der Freien Berufe im Grundsatz zwei unterschiedliche Regulierungstechniken, den sogenannten prinzipienbasierten Regelungsansatz („principles-based regulation“) und einen proskriptiv und präskriptiv geprägten Regelungsansatz („rules-based regulation“).

    3.2.

    Die Regulierung der Freien Berufe fasst die moralischen Bedingungen der Berufsausübung sowie die standesethischen Normen zusammen. In ihnen kommt die soziale Verantwortung der Freien Berufe zum Ausdruck. Die Summe aller berufsethischen Normen wird als Deontologie bezeichnet.

    3.3.

    Die „principles-based regulation“ ist gekennzeichnet durch die Formulierung abstrakter berufsrechtlicher Grundsätze, welche im Einzelfall konkretisiert werden müssen („outcomes-based regulation“). Auf welchem Weg der Normunterworfene im Einzelfall die gesetzten Ziele erreicht, liegt hingegen in seinem Ermessen. Die „rules-based regulation“ ist demgegenüber kasuistisch angelegt.

    3.4.

    Beide Regulierungsansätze haben Vor- und Nachteile. Sie erfüllen aber das Grundprinzip des gesellschaftlichen Anliegens, unabhängigen Rat und Unterstützung zu erhalten. Dabei können sich Problemstellung und Lösung im Zeitablauf verändern, was eine Anpassung von Regeln oder die Schaffung neuer erfordert.

    3.5.

    Die turnusgemäße Überprüfung von Regeln durch die EU ist hierbei hilfreich und sollte auch national eingerichtet werden. So können alte Freie Berufe „befreit“ (z. B. beim Bau) und erforderlichenfalls neue Regeln eingeführt werden, die sich auf die neuen Freien Berufe beziehen (z. B. Informationsgewinnung oder Kreditwirtschaft).

    4.   Wirtschaftliche Aspekte

    4.1.

    Die Freien Berufe leisten einen bedeutenden Beitrag zur Schaffung und dem Erhalt wichtiger gesellschaftlicher Infrastruktur. Rund jeder sechste Selbstständige ist in einem freiberuflich geprägten Wirtschaftszweig tätig; Tendenz steigend. Gleiches gilt für jeden sechsten Arbeitnehmer.

    4.2.

    Die Anzahl und der Anteil der selbstständigen Frauen in freiberuflich geprägten Wirtschaftszweigen sind im Beobachtungszeitraum 2008-2012 gestiegen. Der Anteil liegt mit rund 45 % deutlich über dem Anteil selbstständiger Frauen in der Gesamtwirtschaft (31,1 %).

    4.3.

    Die freiberuflich geprägten Wirtschaftszweige tragen mehr als jeden 10. Euro zur Bruttowertschöpfung bei. Der Rückgang der Wertschöpfung fiel im Krisenjahr 2009 in den freiberuflich geprägten Wirtschaftszeigen moderater aus als in der Summe über alle Wirtschaftszweige. EU-Zahlen: „Unternehmensberatungen“ und „Ingenieurbüros“ jeweils 600.000 Unternehmen 550.000 Unternehmen „Rechtsberatung“ und „Wirtschaftsprüfung“, „Architekturbüros“, Werbung und Marktforschung 315.000 bzw. 270.000 Unternehmen.

    4.4.

    In Anbetracht des Wachstumspotenzials und des Beschäftigungsanteils dieses Berufsstands — es handelt sich zum größten Teil um sichere und hochqualifizierte Arbeitsplätze — sollte die ausgeprägte unternehmerische Komponente der Freien Berufe anerkannt und gefördert werden. Der EWSA begrüßt die Tatsache, dass die Kommission freiberuflich tätige Personen als Unternehmer anerkennt und den Berufsstand etwa durch Einbeziehung in die Programme zur Förderung der Entwicklung und Wettbewerbsfähigkeit von KMU unterstützen will. Ein solcher Ansatz setzt voraus, dass die strukturellen Bedingungen für die Ausübung Freier Berufe untersucht und verbessert werden, wie dies auch in der Richtlinie über Dienstleistungen im Binnenmarkt gefordert wird. Die Entwicklung der Freien Berufe darf sich nicht auf Einzelunternehmer oder Alleinselbstständige beschränken. Sie müssen sich gegen das Problem der Scheinselbständigkeit abgrenzen.

    5.   Ethik und Gewinnstreben

    5.1.

    Den Freien Berufen ist in allen Mitgliedstaaten ein Gemeinwohlbezug immanent. Die Heilberufe und die psychologischen sowie sozialen Berufe unterhalten eine Infrastruktur zur Sicherstellung der Gesundheit der gesamten Bevölkerung.

    Die rechts- und steuerberatenden Berufe sind im demokratischen Rechtsstaat Teil der Freiheitsrechte. Zusammen mit dem Berufsstand der Wirtschaftsprüfer sichern sie zudem den reibungslosen Ablauf der Wirtschaftsprozesse. Den Berufen kommt damit auch ein unmittelbarer Grundrechtsbezug zu.

    5.2.

    Aus dem Gemeinwohlbezug der Freien Berufe folgt zugleich eine besondere ethische Verantwortung. Rechts- und steuerberatenden Berufe sowie Wirtschaftsprüfer dienen dem Rechtsstaat und schützen darüber hinaus die Vermögensinteressen ihrer Mandanten. Sozialarbeiter und Psychologen sorgen für ein Klima, das von Inklusion und von einer größeren beziehungstechnischen, psychologischen und sozialen Stabilität für die europäischen Bürgerinnen und Bürger geprägt ist. Architektur- und Ingenieurberufe schützen die Gemeinschaft vor Gefahren, die von Bauwerken und technischen Einrichtungen ausgehen und fördern die Innovationskraft der Gesellschaft sowie die Lebensqualität der Menschen durch die Weiterentwicklung von infrastrukturtechnischen Einrichtungen und technischen Neuentwicklungen. Künstlerische Berufe dienen der Pflege und der Gestaltung der Kultur. Dies sowie die beschriebene Informationssymmetrie setzen eine hochwertige Ausbildung voraus sowie besonders hohe ethische Anforderungen.

    5.3.

    Der besondere Gemeinwohlbezug freiberuflicher Dienstleistungen und die sich daraus ergebenden zwingenden Voraussetzungen für die Leistungserbringung bedürfen einer Absicherung durch zwingende Berufsregelungen und einen Katalog allgemein anerkannter ethischer Verhaltensnormen bezogen auf den jeweiligen Beruf. Ein Mindestmaß an Regulierung findet sich deshalb in allen Mitgliedstaaten. Der EWSA empfiehlt allen Kammern, Organisationen und Verbänden Freier Berufe, Kodizes und ethische Normen festzulegen sowie feste Ethikkommissionen innerhalb der verschiedenen Berufe einzurichten.

    5.4.

    Soweit noch keine berufsethischen Kodizes bestehen, sollten die Berufsvertretungen solche für ihren Mitgliedstaat als unverbindliche Berufsleitbilder formulieren. Darüber hinaus sollten die jeweiligen Berufskammern und Berufsverbände europäische Ethikkodizes erstellen, um die hohen Anforderungen an freiberufliche Dienstleistungen europaweit herauszustellen und zu sichern. Die Schaffung von Verhaltenskodizes wird durch Art. 37 der Dienstleistungsrichtlinie (2) gefördert. Aus der Bedeutung freiberuflicher Dienstleistungen für den Mandanten und dem besonderen Vertrauen, welches der Leistungsempfänger dem Leistungserbringer entgegenbringen muss, folgt zugleich zwingend die persönliche Leistungserbringung.

    5.5.

    Die persönliche Vertrauensbeziehung zwischen Leistungsempfänger und Leistungserbringer sowie die betroffenen höchstpersönlichen Rechtsgüter machen einen gesetzlichen Geheimnisschutz, ein gesetzliches Zeugnisverweigerungsrecht sowie ein Aussageverbot des Leistungserbringers und seiner Mitarbeiter unausweichlich. Diese sind Kennzeichen eines freiheitlichen Rechtsstaates.

    5.6.

    Freiberufliche Dienstleistungen, welche die Kernbereiche des öffentlichen Interesses berühren, müssen flächendeckend erbracht werden, z. B. ärztliche Versorgung, soziale und psychologische Dienste, Apotheken und Rechtsrat auch in ländlichen Regionen.

    5.7.

    Die genannten Anforderungen setzen voraus, dass die Freiberufler gemäß ihren ethischen Grundsätzen stets der Qualität ihrer Dienstleistung Vorrang gegenüber der Gewinnmaximierung einräumen.

    5.8.

    Die Fortentwicklung des Berufsrechts der Freien Berufe darf daher nicht allein auf ökonomischen Überlegungen ausgerichtet sein. Die Sicherung einer flächendeckenden, hochqualifizierten und höchsten Qualitätsanforderungen genügenden Leistungserbringung muss das Ziel einer jeden Regulierung sein. Es ist immer zu prüfen, ob bestehende Regulierungen zur Sicherung der genannten Ziele geeignet sind oder in Wahrheit anderweitigen Interessen dienen.

    6.   Anforderungen in Gegenwart und Zukunft an Freie Berufe und deren Profil

    6.1.

    Es sollte eine europaweit einheitliche Definition des Freien Berufs geschaffen werden. Die Definition sollte nur die allgemeinen Merkmale des Freien Berufs enthalten sowie die Kategorien Freier Berufe benennen. Das Entstehen neuer Freier Berufe darf durch eine Definition nicht verhindert werden. Als Vorbild könnte hier der Entwurf einer Charta der Freien Berufe dienen, der von verschiedenen europäischen Berufsorganisationen unter Federführung des Council of European Dentists (CED) erarbeitet worden ist.

    6.2.

    Zusätzlich zu den berufsübergreifenden nationalen Organisationen und zu den berufsübergreifenden europäischen Vertretungen sollte in jedem Mitgliedstaat für die jeweiligen Freien Berufe eine Berufsorganisation eingerichtet sein — sofern das nicht bereits von den Berufskammern wahrgenommen wird —, welche berufsethische Grundsätze zusammenfasst, veröffentlicht und weiterentwickelt. Diese Organisation sollte auch für die Einhaltung der berufsethischen Grundsätze durch den Berufsstand verantwortlich sein.

    6.3.

    Die hohen ethischen Anforderungen an die Erbringung freiberuflicher Dienstleistungen bedürfen auch in Zukunft der Sicherung durch konkrete Leitbilder und klar definierte ethische Grundsätze. Hierzu stehen normierte und sanktionierbare Berufsregelungen ebenso zur Verfügung wie berufsethische Verhaltenskodizes. Dies stärkt das Verbrauchervertrauen.

    6.4.

    Neben der Sicherung fachlicher und ethischer Anforderungen an die Erbringung freiberuflicher Dienstleistungen muss auch die Wettbewerbsfähigkeit und Innovationskraft der Freien Berufe erhalten und gestärkt werden. Ihre Herausforderung besteht derzeit darin, die voneinander abweichenden einzelstaatlichen Rechtsvorschriften zu bewältigen und mit den Kollegen in anderen Mitgliedstaaten im Rahmen eines immer stärker integrierten Binnenmarkts in Wettbewerb treten zu können.

    6.5.

    Berufsrechtliche Regelungen müssen mit den europäischen Grundfreiheiten, insbesondere mit der Dienstleistungsfreiheit, der Niederlassungsfreiheit und dem Recht auf Freizügigkeit, vereinbar sein. Berufsrechtliche Regelungen müssen daher diskriminierungsfrei wirken, einem zwingenden Grund des Allgemeinwohls dienen und verhältnismäßig sein. Sie müssen zudem mit dem jeweiligen nationalen Recht vereinbar sein. Dieses sollte bestimmte Aufgaben an besondere Qualifikationen binden.

    6.6.

    Bei der Erbringung freiberuflicher Dienstleistungen werden höchstpersönliche Rechtsgüter der Leistungsempfänger oft einer besonderen Gefährdung ausgesetzt. Dieses Gefahrenpotenzial macht es notwendig, den Berufszugang zu reglementieren und hohe Anforderungen an eine Berufszulassung zu stellen. Dies betrifft neben der Ausbildung auch weitere persönliche Merkmale wie eine gute Reputation, Gesundheitskontrolle oder den Verzicht auf eine gleichzeitige, unvereinbare Tätigkeit. Auf EU-Ebene wird dieses Erfordernis durch die Berufsqualifikationsrichtlinie (3) sowie durch Spezialvorschriften wie die Richtlinien für Ärzte und Zahnärzte sowie die Richtlinie für Rechtsanwälte (4) oder die Abschlussprüferrichtlinie (5) angemessen berücksichtigt.

    6.7.

    In nahezu allen Mitgliedstaaten sind Freiberufler zur regelmäßigen Fortbildung (Continuing Professional Development, CPD) verpflichtet. Unterschiede bestehen in der Überprüfung der Fortbildungsmaßnahmen und bei den Folgen einer nicht erfolgten ordnungsgemäßen Fortbildung. Vor dem Hintergrund immer komplexerer Sachverhalte, der ständigen Weiterentwicklung technischer Verfahren in Medizin und Technik sowie des ständigen Anwachsens nationaler und internationaler Rechtsnormen ist es Aufgabe der Freien Berufe, eine effektive Weiterbildung aller Berufsangehörigen sicherzustellen.

    6.8.

    In den meisten Mitgliedstaaten können die Angehörigen Freier Berufe nahezu unbeschränkt berufliche Kooperationen mit Angehörigen anderer Berufe eingehen. In einigen Mitgliedstaaten werden aber der Gesellschafterkreis auf ausgewählte Freie Berufe begrenzt, bestimmte Mehrheitserfordernisse bei Gesellschaftern, Stimmrechten oder Geschäftsführern vorgeschrieben und die Kapitalbeteiligung Dritter ausgeschlossen. Diese Bestimmungen sind ein mögliches Mittel zur Abwehr einseitiger ökonomischer Zielvorgaben bei der Ausübung eines Freien Berufs.

    6.9.

    Die Beteiligung von Mitgliedern anderer Berufe an einer freiberuflichen Kooperation kann zu Konflikten mit dem Geheimnisschutz sowie mit Zeugnisverweigerungsrechten führen. Hier muss sichergestellt werden, dass durch die Beauftragung einer freiberuflichen Kooperation der Schutz des Mandanten, Klienten oder Patienten nicht herabgesetzt wird. Solche Friktionen können wirksam durch eine Beschränkung des Gesellschafterkreises vermieden werden.

    7.   Verbraucherschutz und Selbstverwaltung

    7.1.

    In allen Mitgliedstaaten gibt es eine Verwaltung Freier Berufe durch Staat, Berufskammern oder Berufsverbände. Das Konzept der Selbstverwaltung ist als freiberufliches Organisationsprinzip in vielen Mitgliedstaaten untrennbar mit dem Gedanken der Freiberuflichkeit verbunden.

    7.2.

    Bei der Selbstverwaltung gibt es in den Mitgliedstaaten zwei unterschiedliche Konzepte. Nach einem Konzept vertreten die Berufsverbände und Kammern als freiwilliger Zusammenschluss die Interessen ihres Berufs. Sie wirken dabei beratend an der (staatlichen) Regulierung des Berufs mit. Zudem geben sie die Berufsauffassung über die Standards einer professionellen Berufsausübung in Ethikkodizes wieder. Nach dem anderen Konzept übernehmen die Berufskammern zudem als Teil der mittelbaren Staatsverwaltung öffentliche Aufgaben bei der Berufszulassung und der Berufsaufsicht. Die Selbstverwaltung stellt sich nicht gegen eine staatliche Verwaltung, sie erfüllen vielmehr gemeinsame Funktionalitäten.

    7.3.

    Die freiberufliche Selbstverwaltung vermittelt zwischen dem Freiheitsrecht der Berufsangehörigen vor staatlicher Einwirkung auf die Berufsausübung und dem Regelungsanspruch des Staates. Die eigene Rechtsetzung durch die Berufsangehörigen setzt deren Freiheitsanspruch gegenüber staatlichen Eingriffen durch, gewährleistet aber gleichzeitig eine Sicherung der Gemeinwohlbindung und dient somit Leistungsempfängern und Verbrauchern.

    7.4.

    Die freiberufliche Selbstverwaltung setzt das Subsidiaritätsprinzip um, nach dem eine Aufgabe immer durch die sachnächste Stelle wahrgenommen werden soll. Die Berufsangehörigen zeichnen sich durch besonderen Sachverstand aus und sind damit die sachnächste Instanz zur Verwaltung und Regulierung Freier Berufe. Sie nutzt das Prinzip der Wettbewerberkontrolle.

    7.5.

    Die freiberufliche Selbstverwaltung und Selbstregulierung schränkt ihrerseits die Berufsausübung ihrer Mitglieder ein. Sie sind Akte mittelbarer Staatsverwaltung und bedürfen der staatlichen Kompetenzübertragung. Jede freiberufliche Selbstverwaltung und Selbstregulierung ist ihrerseits gebunden an die Grundfreiheiten, das nationale Recht sowie an das europäische und nationale Kartellrecht.

    7.6.

    Funktionsvoraussetzung für Selbstverwaltung ist in Ländern, in denen dies nach geltendem Recht möglich ist, die Pflichtmitgliedschaft. Dieser Eingriff in die Freiheit der Berufsausübung ist durch ein überwiegendes Gemeinwohlinteresse gerechtfertigt.

    7.7.

    Die Vorschriften über die Pflichtmitgliedschaft müssen so ausgestaltet sein, dass die Dienstleistungsfreiheit und die Niederlassungsfreiheit nicht beeinträchtigt werden. Geeignete Instrumente sind die Anerkennung von Registrierungen eines anderen Mitgliedstaats oder (kostenlose) Registrierungen, wenn eine Mitgliedschaft in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union vorliegt.

    7.8.

    Auch 2020 ist von einem Spannungsverhältnis zwischen staatlichen und Individualinteressen sowie vom Bedarf nach unabhängigem Rat und Unterstützung auszugehen. Das Institut des Freien Berufs ist absehbar auch dann noch funktionsfähig, wenn ihm eine zeitgerechte Aktualisierung gewährt wird, mit der Wesenskerne, komparativer Wissensvorsprung, Unabhängigkeit/Transparenz und darauf fußend Vertrauen nicht eingeschränkt werden.

    Brüssel, den 25. März 2014.

    Der Vorsitzende des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

    Henri MALOSSE


    (1)  Im Rahmen der Erarbeitung der vorliegenden Stellungnahme beauftragte der EWSA das Europäische Zentrum für Freie Berufe der Universität zu Köln mit der Durchführung einer Studie zum Thema „The State of Liberal Professions Concerning their Functions and Relevance to European Civil Society“ [„Die Lage der freien Berufe in ihrer Funktion und Bedeutung für die europäische Zivilgesellschaft“] (EESC/COMM/05/2013), die kurz vor der Fertigstellung steht.

    (2)  Richtlinie 2006/123/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2006 über Dienstleistungen im Binnenmarkt, ABl. L 376, S. 36 ff.

    (3)  Richtlinie 2005/36/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 7. September 2005 über die Anerkennung von Berufsqualifikationen, ABl. L 255, S. 22 ff.

    (4)  Richtlinie 77/249/EWG des Rates vom 22. März 1977 zur Erleichterung der tatsächlichen Ausübung des freien Dienstleistungsverkehrs der Rechtsanwälte, ABl. L 78, S. 17, und Richtlinie 98/5/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Februar 1998 zur Erleichterung der ständigen Ausübung des Rechtsanwaltsberufs in einem anderen Mitgliedstaat als dem, in dem die Qualifikation erworben wurde, ABl. L 77 S. 36.

    (5)  Richtlinie 2006/43/EG des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinien 78/660/EWG und 83/349/EWG des Rates und zur Aufhebung der Richtlinie 84/253/EWG des Rates, ABl. L 157, S. 87 ff.


    ANHANG

    zu der Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

    Folgende abgelehnte Änderungsanträge erhielten mindestens ein Viertel der abgegebenen Stimmen (Art. 39 Abs. 2 der Geschäftsordnung):

    a)   Ziffer 1.1

    Ändern:

     

    1.1

    Die Systematik der Freien Berufe ist, gesellschaftliche Anpassungen vorausgesetzt, zukunftsgeeignet, einen wesentlichen Beitrag zur qualitativ hochwertigen Aufgabenwahrnehmung im Bereich soziale Güter wie Gesundheits- und psychosoziale Dienste, zur Aufgabenwahrnehmung im Bereich staatlicher Vorsorge, zum Schutz von Bürgerrechten und -freiheiten als auch zur wirtschaftlichen Prosperität zu leisten. Freie Berufe sind Element jeder demokratischen Gesellschaft und stellen erhebliches Wachstumspotenzial für Beschäftigung und BIP dar; sie zeichnen sich darüber hinaus durch die Fähigkeit aus, sich ständig an die Bedürfnisse der europäischen Bürgerinnen und Bürger anzupassen.

    Begründung

    Erfolgt mündlich.

    Abstimmungsergebnis

    Ja-Stimmen

    :

    56

    Nein-Stimmen

    :

    128

    Stimmenthaltungen

    :

    30

    b)   Ziffer 6.9

    Ändern:

     

    6.9

    Die Beteiligung von Mitgliedern anderer Berufe an einer freiberuflichen Kooperation kann zu Konflikten mit dem Geheimnisschutz sowie mit Zeugnisverweigerungsrechten führen. Hier muss sichergestellt werden, dass durch die Beauftragung einer freiberuflichen Kooperation der Schutz des Mandanten, Klienten oder Patienten nicht herabgesetzt wird. Die Vertraulichkeit als ethischer Wert muss bei der Ausübung aller Freien Berufe Vorrang haben. Solche Durch die Wahrung der ethischen Werte können solche Friktionen können wirksam durch eine Beschränkung des Gesellschafterkreises vermieden werden.

    Begründung

    Erfolgt mündlich.

    Abstimmungsergebnis

    Ja-Stimmen

    :

    80

    Nein-Stimmen

    :

    116

    Stimmenthaltungen

    :

    27


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