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Document 52002IE0195

Stellungnahme des Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema "Die Beziehungen der EU zu Lateinamerika und zur Karibik"

ABl. C 94 vom 18.4.2002, p. 43–50 (ES, DA, DE, EL, EN, FR, IT, NL, PT, FI, SV)

52002IE0195

Stellungnahme des Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema "Die Beziehungen der EU zu Lateinamerika und zur Karibik"

Amtsblatt Nr. C 094 vom 18/04/2002 S. 0043 - 0050


Stellungnahme des Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema "Die Beziehungen der EU zu Lateinamerika und zur Karibik"

(2002/C 94/10)

Der Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss auf seiner Plenartagung am 28. Februar 2001 gemäß Artikel 23 Absatz 3 seiner Geschäftsordnung eine Stellungnahme zu dem vorgenannten Thema abzugeben.

Die mit der Vorbereitung der Arbeiten beauftragte Fachgruppe Außenbeziehungen nahm ihre Stellungnahme am 28. Januar 2002 an. Berichterstatter war Herr Gafo Fernández.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 38. Plenartagung am 20. und 21. Februar 2002 (Sitzung vom 21. Februar) mit 92 gegen 2 Stimmen folgende Stellungnahme.

1. Einleitung: Vorgeschichte

1.1. Die Beziehungen zwischen der Europäischen Union und Lateinamerika und der Karibik begannen mit der Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft 1957. Dabei wurden zunächst auf bilateraler Ebene vor allem wirtschaftliche Bande geknüpft, d. h., zu jedem einzelnen Land Lateinamerikas und der Karibik entstanden individuelle Handelsbeziehungen, die sich anfangs teilweise recht schwierig gestalteten.

1.2. Von 1970 bis Anfang der 90er Jahre war Europa bzw. die Europäische Union vor allem damit beschäftigt, drei Erweiterungen zu bewältigen, die zur Verdoppelung der Anzahl der Mitgliedstaaten führten, beträchtliche kulturelle und wirtschaftliche Unterschiede zur Folge hatten und die Gemeinschaftsinstitutionen, die ursprünglich für eine kleinere Anzahl homogenerer Mitgliedstaaten ausgelegt waren, in Bedrängnis brachten. Aufgrund der Energiekrisen 1973 und 1979 mussten ferner eine tiefgreifende Umstrukturierung der europäischen Industrie und eine damit einhergehende massive Zunahme der Arbeitslosenzahlen bewältigt werden, wobei das auf Solidaritätsgrundsätzen beruhende Sozialschutzsystem ursprünglich nicht für dergestalt hohe Arbeitslosenquoten konzipiert worden war. Die Europäische Union war in diesen Jahren somit mehr mit sich selbst als mit der Außenwelt beschäftigt.

1.3. Jedoch zeichneten sich erste Änderungen ab. Zunächst wurde mit den Staaten Afrikas, der Karibik und des Pazifiks das Abkommen von Lomé unterzeichnet, mit dem ein wirtschaftlich ausgerichtetes solidarisches Instrument geschaffen wurde, das aber auch schon die Anfänge einer sozialen Dimension aufwies. Gleichzeitig nahmen die einzelnen Mitgliedstaaten der Europäischen Union Handels- und Kooperationsbeziehungen mit zahlreichen Ländern Lateinamerikas und der Karibik auf, die zwar untereinander nicht koordiniert waren, doch die europäische Präsenz in der Region verstärkten. Im Keim entstand daraus eine Strategie der Europäischen Union gegenüber Lateinamerika und der Karibik, die sich auf drei Aktionslinien stützte: die Entwicklungszusammenarbeit als zentrales Element, die Gewährung von Handelsvorteilen über das allgemeine Präferenzsystem und die Bemühung um eine gewisse subregionale Harmonisierung dieser Maßnahmen. Ab 1984 entstanden reguläre institutionelle Beziehungen mit den zentralamerikanischen Staaten über den sog. Dialog von San José und ab 1990 über die sog. Rio-Gruppe und die "Erklärung von Rom". Die Europäische Union betrachtet Lateinamerika und die Karibik immer stärker als potentielle wirtschaftliche und politische Partner in einer globalisierten Welt.

1.4. Auf Seiten Lateinamerikas und der Karibik begünstigte die wirtschaftliche Orientierung der 70er Jahre, die relativ protektionistisch auf die Ersetzung von Einfuhren durch einheimische Produkte ausgerichtet war, eine Entwicklung, bei der Europa als historisch verbunden und vertraut, doch als wirtschaftlich und politisch entfernt angesehen wurde. Darauf folgten die sog. verlorenen 80er Jahre, in denen das Scheitern der vorherigen makroökonomischen Politik mit einem starken Anstieg der Kreditkosten zusammentraf; in Verbindung mit einer sehr hohen staatlichen Auslandsverschuldung in der gesamten Region im Verhältnis zum Exporteinkommen führte dies zu internationalen Zahlungsmoratorien, die der Region den Zugang zu neuen öffentlichen oder privaten Finanzierungsmöglichkeiten verwehrten. Gleichzeitig gerieten zahlreiche lateinamerikanische und karibische Länder in einen Teufelskreis aus Diktaturen, Volksaufständen und Guerillabewegungen. Aufgrund des Zusammenbruchs der Demokratie wurde es unmöglich, eine Lösung durch den Aufbau eines sozialen Dialogs zu finden.

1.5. Anfang der 90er Jahre kam eine radikale Veränderung. Erstens wurde die Europäische Union durch den Beitritt Portugals und Spaniens stärker politisch für diese Region sensibilisiert. Zweitens eröffnete die Unterzeichnung des Vertrags von Asunción, durch den der Mercosur (Mercado Común del Sur) errichtet wurde, die Möglichkeit der Schaffung regionaler Integrationsmechanismen und die Aussicht auf eine indirekte Wiederbelebung ähnlicher, zumindest auf Papier bereits existierender Gruppierungen wie des Anden-Pakts oder des Zentralamerikanischen Gemeinsamen Marktes. Drittens führte der Erfolg des argentinischen Konvertibilitätsplans und die vorangegangenen chilenischen Liberalisierungsbemühungen zur Verlagerung des Schwerpunkts auf makroökonomische Stabilität und auf die Öffnung von wirtschaftlichen Schlüsselbereichen für den Privatsektor, die zuvor dem öffentlichen Sektor vorbehalten waren. Diese neue wirtschaftliche Ausrichtung eröffnete den europäischen Unternehmen günstige Gelegenheiten, Fuß zu fassen, zumal sich die Politiken makroökonomischer Disziplin und wirtschaftlicher Liberalisierung in der gesamten Region ausbreiteten. Viertens, und aus Sicht der Menschen besonders wichtig, bewirkte die Stärkung bzw. die Rückkehr der Demokratie in vielen Ländern und die Unterzeichnung von Friedensvereinbarungen mit zahlreichen Guerillabewegungen die Beendigung jahrzehntelanger Aufstände und latenter Bürgerkriege. Nachdem sie mit sich selbst ins Reine gekommen waren, konnten sich Lateinamerika und die Karibik dem Rest der Welt öffnen.

1.6. Höhepunkt dieser Entwicklung und gegenseitigen Annäherung war das erste Gipfeltreffen der europäischen und lateinamerikanischen Staats- und Regierungschefs im Juni 1999 in Rio de Janeiro. In einer Schlusserklärung wurde eine Partnerschaft zwischen den beiden Regionen und ein Aktionsplan zur Umsetzung dieser Partnerschaft erarbeitet. Dieser Aktionsplan soll auf dem zweiten Gipfeltreffen überarbeitet werden, das anlässlich des spanischen Ratsvorsitzes im ersten Halbjahr 2002 in Madrid stattfinden wird. Die zentralen Grundsätze dieser Partnerschaft sind:

i) ein intensiverer politischer Dialog;

ii) stabile Wirtschafts- und Finanzbeziehungen, die auf einer umfassenden und ausgewogenen Liberalisierung von Handel und Kapitalverkehr beruhen;

iii) eine dynamische Zusammenarbeit in Schlüsselbereichen wie Bildung, Soziales und Kultur sowie in der wissenschaftlichen und technologischen Entwicklung.

1.7. Einen besonderen Anteil am Erfolg des Gipfeltreffens von Rio hatte die Beteiligung der Zivilgesellschaft an diesem Prozess. Das Zusammentreffen der Vertreter der Zivilgesellschaft aus der EU, Lateinamerika und der Karibik unter der Schirmherrschaft des Europäischen WSA in Rio de Janeiro machte es möglich, dass den Ansichten und Anliegen der Zivilgesellschaft auf dem Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs Gehör verschafft wurde und sie ein angemessenes Echo in der Schlusserklärung fanden. Die Initiativstellungnahme des Europäische WSA zum Thema "Die Beziehungen der Europäischen zu Lateinamerika und zur Karibik - der interregionale wirtschaftliche und soziale Dialog" war ein wichtiger Ausgangspunkt für die Debatten im Rahmen dieses Forums der Zivilgesellschaft.

1.8. Für diesen Aktionsplan wurden während des finnischen EU-Ratsvorsitzes in Tuusula 11 bereits in den Jahren zuvor erörterte Schlüsselprioritäten festgelegt, in deren Rahmen dann in dem Zeitraum zwischen 1995 und 1999 1,093 Mrd. EUR aufgewendet wurden. Über den Follow-up des Aktionsplans wurden keine Einzelheiten veröffentlicht, abgesehen von dem Hinweis in der Mitteilung der Kommission über die Folgemaßnahmen zum ersten Gipfeltreffen(1), dass eine biregionale hochrangiger Beamter eingesetzt worden sei und dass Ministertreffen stattfinden sollten; bislang hat es zwei solcher Ministertreffen gegeben, im Februar 2000 in Vilamoura und im März 2001 in Santiago de Chile. Ansonsten entsteht insbesondere in Anbetracht der Entschließungen von Santiago de Chile der Eindruck, dass die Bemühungen um eine Vertiefung der Beziehungen im Einklang mit dem Aktionsplan von Rio de Janeira doch etwas nachgelassen haben.

1.9. In ihrer Mitteilung schlug die Kommission im Vorfeld der Gipfels in Madrid drei prioritäre Aktionsbereiche vor:

- Förderung und Schutz der Menschenrechte;

- Förderung der Informationsgesellschaft;

- Bekämpfung sozialer Ungleichgewichte.

Für diese Aktionsbereiche sollen Schlussfolgerungen ausgearbeitet werden, die auf dem besagten Gipfeltreffen in Spanien im Jahr 2002 erörtert werden sollen.

1.9.1. Im Zusammenhang mit der ersten Aktionslinie nannte die Kommission eine Reihe prioritärer Bereiche, u. a. die Förderung und den Schutz der sozialen, wirtschaftlichen und politischen Rechte, und schlug die Errichtung eines EU-Lateinamerika/Karibik-Diskussionsforums vor.

1.9.2. Für die zweite Aktionslinie - Informationsgesellschaft - schlug die Kommission die Aufstellung eines Gemeinschaftsprogramms @LIS(2) vor, das ausschließlich auf die lateinamerikanischen Länder, nicht aber auf die Unterzeichnerstaaten des Cotonú-Abkommens, ausgerichtet ist und drei Zielsetzungen verfolgt:

- Förderung des Dialogs zwischen den Regierungen, Institutionen, dem Privatsektor und den Verbrauchern;

- Ausbau der Interkonnektivität der Bildungs- und Forschungsgemeinschaften der beiden Regionen;

- Praktische Umsetzung der Ergebnisse von Demonstrationsvorhaben in den Bereichen Kommunalverwaltung, Fernunterricht, Bildung, kulturelle Vielfalt, öffentliche Gesundheit und soziale Integration.

Dieses Programm wurde jüngst von der Europäischen Kommission angenommen und mit einer Mittelausstattung von 63 Mio. EUR versehen.

1.9.3. Mit Blick auf den Abbau der sozialen Ungleichgewichte verfolgt die Europäische Union zwei Aktionslinien:

i) zum einen die auf die hochverschuldeten armen Länder ausgerichtete Initiative HIPC, die eine koordinierte Schuldenerleichterung seitens der Gläubigerländer anstrebt, um die jegliche Entwicklung hemmende Schuldenlast abzubauen;

ii) zum anderen die "soziale Initiative", die eine Modernisierung und bessere Wirksamkeit der Kooperationsmaßnahmen anstrebt, um durch den Austausch von Erfahrungen und bewährten Praktiken zum Abbau des Sozialgefälles und zur Unterstützung der schwächsten Bevölkerungsgruppen in diesen Ländern beizutragen.

1.10. Der Anfang 2001 im Rahmen des "Alles außer Waffen"-Abkommens gefasste Beschluss bekräftigt außerdem, dass die EU eine weitere Öffnung der Grenzen für die am wenigsten entwickelten Länder ernst nimmt. Doch reicht dies bei weitem nicht aus. Eine Öffnung der Grenzen für verarbeitete landwirtschaftliche Erzeugnisse wäre wahrscheinlich erfolgreicher gewesen. Im Übrigen wurden die Handelsvorteile für Entwicklungsländer in Form von zollfreien Importkontingenten für unverarbeitete landwirtschaftliche Erzeugnisse in den vergangenen Jahren zu weniger als 80 % ausgenutzt (vgl. Angaben von OECD und WTO). Dies relativiert das "Alles außer Waffen"-Abkommen ein wenig. Der Grund für das Nichtausnutzen der Exportmöglichkeiten in die EU liegt vor allem in den immer höheren Anforderungen der EU an die Lebensmittelsicherheit. Dennoch hat die Europäische Union im Rahmen der WTO-Verhandlungen konkrete Schritte unternommen, um die Verhandlungsposition der Entwicklungsländer in der WTO zu stärken. Auch übersteigen Investitionen des Privatsektors in Lateinamerika die öffentliche Entwicklungshilfe derzeit um ein Vielfaches.

1.11. Zum Abschluss dieser Bilanz der bisherigen Beziehungen zwischen der Europäischen Union und Lateinamerika und der Karibik muss noch auf fünf aktuelle Themen eingegangen werden: erstens die jüngste politische und wirtschaftliche Entwicklung in den Ländern Lateinamerikas und der Karibik; zweitens der aktuelle Stand der "Enterprise of the Americas"-Initiative und ihres zentralen Elementes, der amerikanischen Freihandelszone (FTAA); drittens, und damit verbunden, die nordamerikanische Freihandelszone (NAFTA); viertens die Beziehungen zwischen Lateinamerika und den Mitgliedstaaten des Asien-Pazifik-Wirtschaftsforums (APEC); und schlussendlich die Perspektiven der Wiederaufnahme der WTO-Ministerrunde und die kollektive Rolle Lateinamerikas und der Karibik gegenüber derselben.

1.12. Die innere Lage der lateinamerikanischen Länder und der Stand der regionalen Integrationsbemühungen kann nur als kritisch bezeichnet werden. Nach einem lang andauernden Zeitraum der Stärkung der Demokratie und der zunehmenden Zusammenarbeit zwischen den Ländern griff die 1997 in Asien entstandene Krise weltweit um sich und zerstörte einen Großteil der erzielten Fortschritte. In einigen Ländern übernahmen populistische Parteien die Regierung, in anderen Ländern fanden Wahlen in einem Klima großer politischer und sozialer Unsicherheit statt, es kam zu glücklicherweise nur kurz andauernden militärischen Auseinandersetzungen zwischen benachbarten Ländern - allgemein ist eine erhebliche Zunahme der sozialen Spannungen zu verzeichnen und die Aussicht auf eine Beendigung bewaffneter Konflikte innerhalb einiger Länder sind wieder in weite Ferne gerückt. Darüber hinaus ächzen viele Länder unter einer ungeheuren Schuldenlast, die ihre Möglichkeiten eines wirtschaftlichen Wiederaufschwungs beschneidet bzw. dazu führt, dass ihnen von außen außerordentlich strenge Anpassungsprogramme auferlegt werden. In Zentralamerika kommt noch hinzu, dass durch eine fürchterliche Reihe von Naturkatastrophen zehn Jahre wirtschaftlichen Fortschritts ausgelöscht worden sind. In Bezug auf die regionale Integration hat dies zu enormen Schwierigkeiten für den Mercosur geführt sowie zu einer Verlangsamung der zentralamerikanischen Integration und einem erneuten Nachlassen des Engagements im Rahmen der Anden-Gemeinschaft. Lediglich in den karibischen Staaten scheint sich über die letzten Jahre keine Verschlechterung der Lage ergeben zu haben, allerdings weisen sie nach wie vor hohe Armutsquoten auf. Man könnte also sagen, dass Lateinamerika und die Karibik an einem Scheideweg ihrer Geschichte stehen und die Europäische Union nun eine Schlüsselrolle bei der Förderung der in den 90er Jahren begonnenen Entwicklung der Demokratisierung, des wirtschaftlichen Wachstums und der Verbesserung der sozialen Lage übernehmen kann.

1.13. Die Entwicklung der panamerikanischen Beziehungen, deren wichtigstes Element die 1994 vom damaligen Präsidenten Bill Clinton lancierte "Enterprise for the Americas"-Initiative ist, erfuhr in den letzten Monaten nach der Amtsübernahme durch Präsident Bush neue Impulse, die dann auf dem Gipfeltreffen von Quebec Gestalt annahmen. Wichtigstes Ergebnis dürfte der Entwurf des amerikanischen Freihandelsabkommens (FTAA) sein, das gemäß der Erklärung von Quebec spätestens im Jahr 2006 in Kraft treten soll. Seit dem Gipfel von Miami 1994 wurden erhebliche technische Fortschritte erzielt, und trotz großer politischer Vorbehalte vor allem seitens Brasiliens, dass ein panamerikanisches Abkommen die subregionalen Integrationsbemühungen unterlaufen könnte, hat diese Entwicklung durch den Gipfel von Quebec sowie durch die jüngst durch den US-Kongress bewilligte "präsidentielle Exekutivgewalt" bzw. "fast track procedure" einen großen politischen Impuls erhalten. Die Americas-Initiative ist vor allem politisch und wirtschaftlich ausgerichtet und berührt soziale Aspekte nur am Rande.

1.14. Durch die kürzliche Einführung des US-Dollars als Landeswährung in einigen lateinamerikanischen Staaten (Ecuador und El Salvador und ferner Panama, das den Dollar seit seiner Unabhängigkeit Anfang des 20. Jahrhunderts benutzt) sowie - bis vor wenigen Wochen - die "currency board"-Regelung mit vollständiger Dollarkonvertibilität in Argentinien verleihen dem Dollar eine Vormachtstellung in den Wirtschaftsbeziehungen, die weit über seine eigentliche handels- und investitionspolitische Bedeutung hinausgeht. Außerdem verzichten die Länder, die sich für eine Dollarisierung entscheiden, auf eine eigenständige Währungspolitik.

1.15. Aus den Erfahrungen mit dem nordamerikanischen Freihandelsabkommen (NAFTA) lässt sich auf die Auswirkungen eines künftigen FTAA auf die Beziehungen zwischen Lateinamerika und der Europäischen Union schließen. Ungeachtet aller Übergangsfristen und Sicherheitsvorkehrungen löste das Inkrafttreten dieses Abkommens 1994 unmittelbar eine massive Umleitung der Handelsströme aus, sowohl bezüglich der Ausfuhren der EU nach Mexiko (Ersetzung durch Direkteinfuhren oder Einfuhren aus Drittländern über die USA und Kanada) als auch, langsam aber sicher, bezüglich der europäischen Ausfuhren in die USA und nach Kanada, die durch die zunehmende Herstellung arbeitsintensiver Erzeugnisse in Mexiko in den sog. "empresas maquiladoras" (ausländische Montageunternehmen) ersetzt wurden. Die Unterzeichnung des Freihandelsabkommens mit Mexiko, das im Jahr 2000 in Kraft trat, hat den vorherigen Zustand wiederhergestellt.

1.16. Vor der Krise 1997 waren viele Staaten an der amerikanischen Pazifikküste von den Wirtschaftsentwicklungsmodellen zahlreicher asiatischer Länder fasziniert. Die traumatische Erfahrung der Krise 1997, die die wirtschaftlichen Schwächen dieses Entwicklungsmodells und das völlige Fehlen der im westlichen Kulturkreis verankerten sozialen Wertvorstellungen zu Tage brachten, hat die Anziehungskraft dieses Modells erheblich geschmälert. Es ist allerdings durchaus denkbar, dass die wirtschaftlichen Beziehungen zu den betroffenen Regionen in Asien und Ozeanien mittelfristig wiederbelebt werden, jedoch dürften sie kaum das vor 1997 anvisierte Ausmaß erreichen.

1.17. Das Scheitern der WTO-Ministerrunde in Seattle 1999 rückte einen zweifachen Aufstand ins Licht der Öffentlichkeit: Zum einen wehrten sich die am Wohlstand gemessenen kleinen und mittleren Länder dagegen, wie seinerzeit bei dem Ministertreffen in Marrakesch erneut Liberalisierungsfristen und -maßnahmen vorgeschrieben zu bekommen; zum zweiten forderte die noch in ihren Anfängen begriffene und mit korporativen Interessen verbundene Plattform der Zivilgesellschaft die politischen Entscheidungsträger auf, die berechtigten Anliegen der Gesellschaft stärker zu berücksichtigen und den Verhandlungsprozess transparenter zu gestalten.

1.18. Es liegt auf der Hand, dass die Zivilgesellschaft in den lateinamerikanischen und karibischen Ländern derzeit nicht über die organisatorischen Grundlagen verfügt, um sich in einer demokratischen Gesellschaft den ihr zustehenden Platz und eine wirksame Handlungsweise zu sichern; die Europäische Union kann hierzu einen Beitrag leisten. Die Strategie der Europäischen Union im Rahmen der Folgemaßnahmen zum Gipfeltreffen von Rio zielt jedoch in diese Richtung, und so steht zu hoffen, dass die Zivilgesellschaft in Lateinamerika und der Karibik in naher Zukunft eine wesentlich aktivere Rolle spielen wird. Die Regierungspositionen werden vor allem von dem Bemühen beeinflusst, nicht die relativen Vorteile aufs Spiel zu setzen, die zahlreiche Länder derzeit im Rahmen des APS und des Drogen-APS genießen, und von der Aussicht auf eine globale Verhandlungsrunde, in der alle Sektoren und insbesondere die Landwirtschaft erörtert werden sollen. Von einigen Seiten, insbesondere Brasilien, werden Vorbehalte bezüglich der zerstörerischen Auswirkungen einer multilateralen Handelsliberalisierung auf die laufenden regionalen Integrationsbemühungen geäußert. Keine Regierung hat bisher klar und öffentlich Stellung zu den sozialen und ökologischen Begleitmaßnahmen der Handelsliberalisierung Stellung bezogen, doch herrschen Befürchtungen, dass diese für eine asymmetrische Marktabschottung der besser entwickelten Länder genutzt werden könnten.

1.19. Dieses Kapitel über die bisherigen Beziehungen zwischen der Europäischen Union, Lateinamerika und der Karibik lässt sich wie folgt zusammenfassen:

1.19.1. Lateinamerika und die Karibik stehen an einem kritischen Punkt ihrer politischen, wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung. Sie müssen die demokratischen Werte stärken, die Armut und soziale Ausgrenzung bekämpfen und Möglichkeiten finden, subregionale Integrationsmodelle mit der panamerikanischen Handelsintegration sowie mit handelspolitischen und partnerschaftlichen Beziehungen zur Europäischen Union zu vereinbaren und dies dann auch noch mit dem multilateralen Handelsliberalisierungsprozess im Rahmen der WTO verbinden.

1.19.2. Die Europäische Union muss ihrerseits die Bedeutung und vorrangige Stellung Lateinamerikas und der Karibik im Rahmen ihrer globalen Strategie bekräftigen und dementsprechend adäquate Mittel bereitstellen; sie muss eine echte Partnerschaft mit einer wichtigen wirtschaftlichen und handelspolitischen Dimension aufbauen, die von grundlegenden sozialen und kulturellen Werten geprägt ist, und letztendlich diese Partnerschaft in das größere Beziehungsgefüge des transatlantischen Dialogs und des multilateralen Handelsliberalisierungsprozesses integrieren.

1.19.3. Sowohl die Europäische Union als auch Lateinamerika und die Karibik müssen sich klar machen, dass eine strategische Zusammenarbeit zwischen unseren Regionen, die unser Potential stärkt und unsere Angriffspunkte verringert, die Chance bietet, unsere jeweilige individuelle Stellung im neuen weltwirtschaftlichen Rahmen zu festigen. Gemeinsam werden wir stark und weniger verletzlich sein.

2. Schlüsselelemente der Partnerschaft zwischen der Europäischen Union und Lateinamerika und der Karibik

2.1. Das Partnerschaftskonzept muss allen Aspekten der Beziehungen zwischen den beiden Regionen zugrunde liegen. Dazu gehören auch Bürgernähe, Öffentlichkeitswirksamkeit und Akzeptanz seitens der Bürger. Davon ausgehend muss die Partnerschaft auf folgenden Grundsätzen aufbauen:

2.2. Auf einer Beziehung zwischen gleichgestellten Partnern unter Anerkennung der spezifischen Charakteristiken jedes Landes und jeder Region, wobei davon ausgegangen wird, dass die Verhandlungen nicht absolut gleichwertige Konzessionen auf beiden Seiten zum Ziel haben.

2.3. Auf einer nachhaltigen Entwicklung, die konkrete mittel- und langfristige Ergebnisse anstrebt.

2.4. Auf einem Ansatz, der weit über das reine Zusammenlegen von Produktionspotential oder eine bloße Marktöffnung hinausgeht und den wirtschaftlichen Wettbewerb zwischen den beiden Regionen fördert.

2.5. Auf der organisierten Zivilgesellschaft, um die Bürger an diesem gemeinsamen Projekt zu beteiligen. Beide Seiten erachten die - ökonomischen, sozialen, kulturellen und politischen - Menschenrechte von Minderheiten, insbesondere der Urbevölkerung, als wirklich wichtige Frage. Nach Jahrhunderten der Ausgrenzung ist es nunmehr Zeit für Versöhnung, Einbeziehung und Wohlstand für alle.

2.6. Auf der gegenseitigen Förderung des Potentials der beiden Regionen auf internationaler Ebene und dem Beitrag zu einem neuen, kulturell und sozial gerechteren internationalen Gleichgewicht, das die verschiedenen Gesellschaftsmodelle respektiert.

2.7. Auf der Schaffung einer echten europäischen und lateinamerikanischen Gemeinschaft der Nationen unter Anerkennung der Unterschiede zwischen den Regionen und Ländern, die demokratisch, sozial gerecht und wirtschaftlich leistungsfähig ist, Konzepte für beispielsweise Migration oder Kultur bietet und der Zivilgesellschaft einen entscheidenden Einfluss zugesteht.

3. Die strategische Ausrichtung der Beziehungen der Europäischen Union zu Lateinamerika und der Karibik

3.1. Allgemeine Aspekte

3.1.1. Als erstes muss eine klar umrissene und auf Dauer angelegte Strategie mit einem konkreten Aktions- und Zeitplan festgelegt werden, um den Eindruck der Unbeständigkeit, der diesen Beziehungen in den letzten Jahren anhaftete, auszuräumen.

3.1.2. Die Strategie muss auf den Überlegungen des Aktionsplans von Rio aufbauen, der während des finnischen EU-Ratsvorsitzes in Tuusula bestätigt wurde, sollte aber soweit wie möglich auf andere Bereiche ausgedehnt werden.

3.1.3. Sie muss auf subregionalen Strategien aufbauen, bei denen die verschiedenen, von der EU angebotenen politischen, wirtschaftlichen und kooperativen Möglichkeiten an den Einzelfall angepasst werden.

3.1.4. Sie muss dauerhaft der Notwendigkeit Rechnung tragen, eine nachhaltige Entwicklung für beide Regionen zu erreichen, die sich auf einen ausgewogenen Handel sowie auf die zunehmende Nutzung umweltverträglicher europäischer Technologien und auf sozial und wirtschaftlich vertretbare Bedingungen stützt.

3.1.5. Sie muss auf den zentralen Werten der Europäischen Union und insbesondere dem europäischen Sozialmodell aufbauen, das die Aspekte der freien Marktwirtschaft mit dem sozialen Dialog und der Beteiligung der Bürger über die Zivilgesellschaft vereinbart und weit über reine Freihandelsvereinbarungen hinausgeht.

3.1.6. Sie sollte die subregionale Integration in Lateinamerika nach dem Vorbild des EU-Modells insoweit fördern, als diese über die in dem FTAA-Abkommen prioritär vorgesehene Entwicklung der Handelsbeziehungen hinausgeht.

3.1.6.a Dazu bedarf es der Stärkung des institutionellen Gefüges und der Funktions- und Kontrollmechanismen des Staates und der öffentlichen Verwaltung auf allen Ebenen sowie der Bereitstellung angemessener Haushaltsmittel, damit der Staat die ihm in diesem Kontext zustehende grundlegende Rolle ausfuellen kann.

3.1.7. Jeder Institution und jedem Organ der Europäischen Gemeinschaft kommt beim Aufbau dieser Partnerschaft eine spezifische Rolle zu. Dem Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss stellt sich somit die Aufgabe, seine Erfahrungen beim Aufbau oder bei der Stärkung verschiedener vergleichbarer Einrichtungen - beispielsweise dem Beratenden Forum des Mercosur - zur Verfügung zu stellen, die auf subregionaler Ebene oder in verschiedenen lateinamerikanischen oder karibischen Staaten bereits bestehen oder in der Errichtung begriffen sind. Es ist daher unerlässlich, dass die wirtschaftlichen und sozialen Gruppen der beiden Regionen aktiv mitwirken und in die Entwicklung dieser Strategie einbezogen werden.

3.1.8. Es sollte die Möglichkeit geprüft werden, ein spezifisches Gremium mit der Begleitung dieser Beziehungen sowie mit der Durchführung von eventuell erforderlichen konkreten Maßnahmen zu beauftragen.

3.2. Beziehungen zu Mexiko

3.2.1. In wirtschaftlicher Hinsicht muss die Strategie der Europäischen Union vor allem darauf abzielen, das Potential des Freihandelsabkommens umfassend zu entwickeln und dieses Abkommen an die Veränderungen anzupassen, die sich möglicherweise durch die verschiedenen Handelsabkommen, die zwischen Mexiko und Zentralamerika ausgehandelt werden, sowie durch den Einfluss einer letztendlichen Unterzeichnung des FTAA-Abkommens auf das nordamerikanische Freihandelsabkommen (NAFTA) ergeben könnten.

3.2.2. In sozialer Hinsicht kann die Europäische Union offenkundig zur Schaffung eines neuen Rahmens für einen sozialen Dialog zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern beitragen, der den Veränderungen, die in den letzten Jahren in Mexiko auf nationaler und internationaler Ebene stattgefunden haben, Rechnung trägt.

3.2.3. Mit Blick auf die Zivilgesellschaft als solche sind Ansätze erforderlich, die an die Voraussetzungen in Mexiko angepasst sind, wo es sowohl hohe Marginalisierungsquoten als auch Integrationsprobleme verschiedener Minderheiten gibt. Die Europäische Union, die in einem gewissen Maße ebenfalls mit diesen Problemen zu kämpfen hat, kann sich die mexikanischen Erfahrungen mit der Bewältigung dieser Probleme zunutze machen.

3.3. Beziehungen zu Zentralamerika und der Karibik

3.3.1. Unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten muss sich die bisherige Zusammenarbeit von den vorrangig im kleinen Maßstab durchgeführten Aktionen lösen und einem regionalstrategischen Ansatz zuwenden, der in Zusammenarbeit mit den wirtschaftlichen und sozialen Akteuren entwickelt wird, wirtschaftlich und ökologisch nachhaltig ist, die Wirtschafts- und Handelsbeziehungen zwischen den verschiedenen Ländern verstärkt und regionenübergreifende Initiativen wie beispielsweise den Puebla-Panama-Plan unterstützt.

3.3.2. Auf sozialer Ebene müssen die wirtschaftlichen und sozialen Organisationen unterstützt werden, damit sie zum einen ihre Regierungen in wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht beraten und damit die Übernahme und Durchführung der grundlegenden IAO-Übereinkommen ermöglichen können, und zum anderen über die Entwicklung des sozialen Dialogs zum Wiederaufbau von Gesellschaften beitragen können, die vor allem in Zentralamerika durch das Klima der Gewalt der letzten Jahrzehnte geprägt sind.

3.3.3. Entsprechend müssen auch andere zivilgesellschaftliche Akteure in diesen Ländern gestärkt werden, damit sie zur Festigung der Demokratie, zur Wahrung der grundlegenden Menschenrechte und zur Orientierung dieser Länder hin zu einem dauerhaften Wachstum und zur Umverteilung des Wohlstandes und damit zum Abbau der hohen Armuts- und Marginalisierungsquoten beitragen können.

3.4. Beziehungen zur Anden-Gemeinschaft

3.4.1. Auf wirtschaftlicher Ebene ist vor allem makroökonomische Stabilität und die Konsolidierung der freien Marktwirtschaft anzustreben, um populistischen Wirtschaftspolitiken vorzubeugen, die die Region erneut in die bereits in den 70er Jahren gescheiterten Experimente stürzen würden; daher muss für die Stärkung der Institutionen der öffentlichen Verwaltung und für die Verbesserung der Transparenz der Verwaltungsabläufe gesorgt werden.

3.4.2. Auf sozialer Ebene müssen die zum großen Teil seit jeher fest verankerten Arbeitnehmer- und Arbeitgebervereinigungen unterstützt und modernisiert werden, um sowohl allen Formen der Gewalt gegenüber ihren führenden Persönlichkeiten und deren Familien vorzubeugen als auch Pseudopartizipationsformen zu verhindern, die im Widerspruch zu den grundlegenden IAO-Übereinkommen stehen und die Festigung eines echten sozialen Dialogs unterlaufen. Die Europäische Union muss sämtliche ihr zur Verfügung stehenden Mittel nutzen, um dazu beizutragen, dass dieser Gewalt ein Ende gesetzt wird, und um die vollständige Einhaltung der internationalen Übereinkommen auf diesem Gebiet zu fördern.

3.4.3. Die Lage in Bezug auf die Zivilgesellschaft als solche ist zwar in jedem der fünf Länder dieser Region verschieden, doch ist es unerlässlich, das Klima der bewaffneten Gewalt zu überwinden und die traditionellen Formen der bürgerlichen Partizipation wiederherzustellen bzw. einzuführen, um der Region eine Zukunft garantieren zu können. Nur durch eine solche Organisation der Bürger können die schwerwiegenden Probleme gelöst werden, die die gesamte Region seit über 30 Jahren lähmen.

3.5. Beziehungen zum Mercosur und zu Chile

3.5.1. Unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten ist es in einer globalisierten Welt eindeutig unmöglich, regionale Integrationspläne ohne eine Abstimmung der grundlegenden wirtschaftlichen Parameter zu verfolgen. Dringendste Aufgabe ist es daher, die Konsolidierung des Mercosur sowohl hinsichtlich der Außenzollaspekte als auch bezüglich des Aufbaus eines Binnenmarktes sowie der Suche nach einem neuen Koordinierungsrahmen der makroökonomischen Politiken, der die in den letzten drei Jahren erlittenen asymmetrischen Schocks ausgleicht, zu unterstützen. Dazu ist es ferner erforderlich, dass der Mercosur eine breitere institutionelle Basis erhält. Gleichzeitig müssen die rechtlichen und administrativen Voraussetzungen für die notwendigen dauerhaften produktiven ausländischen Direktinvestitionen geschaffen werden.

3.5.2. Auf sozialer Ebene besteht die offenkundige Notwendigkeit, die Sozialpartner an diesem komplexen Prozess der wirtschaftlichen Konvergenz zu beteiligen. Dabei können die in dieser Region niedergelassenen europäischen Unternehmen eine führende Rolle im sozialen Dialog übernehmen, wie gleichzeitig das Beratende Forum des Mercosur auf regionaler Ebene und die Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorganisationen auf nationaler Ebene eine zentrale Rolle bei der Konsolidierung des Mercosur übernehmen müssen.

3.5.3. Mit Blick auf die Zivilgesellschaft ist offenkundig, das der Mercosur-Gedanke in den führenden politischen Kreisen entstand, von den Sozialpartnern angenommen und den Bürgern nur unzureichend vermittelt wurde. Wie in Europa in den 70er Jahren muss den Bürgern der einzelnen Staaten die Begeisterung für eine gemeinsame Zukunft vermittelt werden, und dies kann allein über die in der Gesellschaft verankerten Organisationen erfolgen.

4. Die Rolle der Zivilgesellschaft der Europäischen Union, Lateinamerikas und der Karibik in diesem Prozess

4.1. Die bisherigen Beziehungen zwischen den beiden Regionen waren bisher vor allem politischer Natur, und trotz der unbestreitbaren kollektiven Vorteile wurde die Öffentlichkeit nur unzulänglich informiert, sodass die Bürger weder an den erforderlichen Maßnahmen beteiligt waren noch auf dem Weg über ihre Vertretungsorgane ihre Standpunkte darlegen konnten. Außerdem fehlen in zahlreichen Bereichen allgemeine statistische Angaben, sodass die Auswirkungen der Tätigkeiten der Europäischen Union auf diese Länder nur schwierig festzustellen und zu bemessen sind.

4.2. Der Wirtschafts- und Sozialausschuss setzte sich daher für das Treffen der Vertreter der Zivilgesellschaft in den Tagen vor dem Gipfel von Rio de Janeiro 1999 ein; er plant eine Wiederholung dieser Initiative vom 17. bis 19. April 2002 im Vorfeld des zweiten Gipfels im Mai 2002 in Madrid.

4.3. Für dieses zweite Treffen der Vertreter der Zivilgesellschaft sind jedoch eine Reihe vorbereitender Arbeiten erforderlich, um sicherzustellen, dass die Diskussionen und die Schlussfolgerungen, die dem Gipfel der Staats- und Regierungschefs übermittelt werden, tatsächlich die mehrheitlichen Meinungen der Bürger und ihre prioritären Anliegen widerspiegeln und vor allem ein Arbeitsprogramm für die Zukunft beinhalten, das sicherstellt, dass diese Treffen nicht nur sporadisch stattfinden und im Einklang mit dem der Mitteilung beigefügten Aktionsplan abgewickelt werden.

4.3.a Dies sollte bewirken, dass dieses Treffen im Vorfeld der Gipfel der Staats- und Regierungschefs institutionalisiert wird und dass die Themen auf der Tagesordnung dieser Treffen sowohl die prioritären Anliegen der Zivilgesellschaft beinhalten als auch im Zusammenhang mit den auf dem betreffenden Gipfel anstehenden sozioökonomischen Themen stehen.

4.4. Nach Ansicht des Ausschusses sollten die folgenden Maßnahmen daher vorab in Absprache mit den Wirtschafts- und Sozialräten und vergleichbaren Einrichtungen in Informationsplänen und in den thematischen Dokumenten erörtert werden, die im Einklang mit der Tagesordnung des Gipfels der Staats- und Regierungschefs in Madrid erstellt werden.

4.5. Wie bereits geltend gemacht wurde, sind Informationen und aktive Beteiligung der Zivilgesellschaft über sämtliche Wirtschafts- und Sozialpartner unerlässlich für die Stärkung der Demokratie, des zivilen Friedens und des wirtschaftlichen Wohlstandes. Ohne die Mitwirkung der Zivilgesellschaft und ohne einen ausreichenden sozialen Dialog können die bei der wirtschaftlichen und handelspolitischen Integration erzielten Fortschritte weder von Dauer sein, noch kann ihre Nachhaltigkeit durch die Kapazitäten der Länder selbst gewährleistet werden.

4.6. Über viele Jahrzehnte hinweg hat Europa das sog. "Europäische Sozialmodell" geschaffen, das auf dem Konzept des Wohlstands und der Solidarität für alle aufbaut sowie auf der von hohem Sozialschutz und vom sozialen Dialog geprägten Marktwirtschaft, der Daseinsvorsorge für alle und einem Subsidiaritätsprinzip, das sowohl die effizienteste Aufteilung der Zuständigkeiten zwischen den verschiedenen Verwaltungsebenen beinhaltet als auch die leistungsorientierte Aufteilung der Aufgaben zwischen dem Staat und dem Privatsektor.

4.7. Der Erfahrungsschatz der Europäischen Union und insbesondere das "Europäische Sozialmodell" können einen wertvollen Beitrag zu der Debatte darüber liefern, wie die Nachhaltigkeit dieser Beziehungen am besten gewährleistet werden kann. Die lateinamerikanischen und karibischen Staaten können ihrerseits die Europäische Union lehren, wie Vitalität und Ideenreichtum trotz schwierigster Umstände bewahrt werden können, und Europa an ihrem multiethnischen und multikulturellen Reichtum sowie an ihrer Fähigkeit teilhaben lassen, diese Werte in eine junge, auf Fortschritt und Gerechtigkeit ausgerichtete Gesellschaft zu integrieren.

5. Erste Überlegungen im Hinblick auf die Erarbeitung der Erklärung des zweiten Treffens der Vertreter der Zivilgesellschaft aus Europa, Lateinamerika und der Karibik

Bei der Anhörung in Santiago de Chile mit Vertretern aus Lateinamerika und der Karibik konnten verschiedene Themen im Hinblick auf die anstehende Erklärung im Rahmen des zweiten Treffens der Zivilgesellschaft herauskristallisiert werden. Es handelt sich um folgende Themen:

5.1. Die Vertretungsorganisationen der Zivilgesellschaft sind ein Kernelement der demokratischen und sozialen Stärkung in beiden Regionen und müssen daher aktiv und wirksam an den politischen Verhandlungen beteiligt werden.

5.2. Angesichts der wirtschaftlichen und sozialen Verletzlichkeit Lateinamerikas und der Karibik müssen Mittel und Wege gefunden werden, um ein nachhaltiges Wirtschaftswachstum und eine gerechtere Verteilung des geschaffenen Wohlstandes zu gewährleisten und die unverhältnismäßig hohen Armuts- und Ausgrenzungsquoten zu verringern.

5.3. Der soziale und darauf aufbauend zivile Dialog müssen als wichtige Begleitinstrumente für den Aufbau einer gerechteren und solidarischeren Gesellschaft gefördert werden.

5.4. Die Notwendigkeit, den lateinamerikanischen und karibischen Staaten die Entscheidung für dasjenige Modell der internationalen wirtschaftlichen Integration, das ihren Interessen am besten dient, frei zu überlassen und die Möglichkeit, bestimmte asymmetrische Vereinbarungen in Bezug auf gegenseitige Konzessionen auszuhandeln, die diese größere wirtschaftliche und soziale Verletzlichkeit berücksichtigen.

5.5. Das wichtige Erfordernis, dass die Europäische Union und die lateinamerikanischen und karibischen Staaten aktive politische Maßnahmen entwickeln in Bereichen wie Migration, allgemeine Schulbildung und Ausbildung von Führungskräften, Umsetzung von Modellen nachhaltiger Entwicklung, einem umfassenderen und verbesserten Technologietransfer usw.

5.6. Die Notwendigkeit, Möglichkeiten zur Stärkung sämtlicher zivilgesellschaftlicher Organisationen zu finden, ohne ihre Handlungsfreiheit zu beschränken, und dadurch die Errichtung von Dialogforen auf nationaler Ebene zu ermöglichen, die dann später auf regionale und internationale Ebene ausgedehnt werden könnten.

5.7. Auf der Grundlage dieses nationalen und regionalen Dialogs Förderung der Errichtung von Wirtschafts- und Sozialräten oder vergleichbaren Einrichtungen, die diesen Dialog formalisieren und institutionalisieren und seine wirksame Integration in die für die Zivilgesellschaft relevanten Gesetzgebungs- und Beschlussfassungsverfahren ermöglichen.

6. Prioritäre Massnahmen im Hinblick auf die Organisation des zweiten Zusammentreffens der Vertreter der Zivilgesellschaft aus Europa, Lateinamerika und der Karibik

6.1. Informationsmaßnahmen: Aufbau einer eigenen Website, die Verbindungen zu allen in Rio de Janeiro vertretenen zivilgesellschaftlichen Organisationen bietet und über die Bemerkungen und Vorschläge entgegengenommen werden können. Ergänzend dazu könnte alle zwei Monate ein elektronisches Bulletin veröffentlicht werden. Ferner müssten die Delegationen der Europäischen Union in den verschiedenen Ländern zur Zusammenarbeit aufgefordert werden, um in jedem Land weitere Organisationen zu mobilisieren.

6.2. Aktionen auf dem Weg über die Wirtschafts- und Sozialräte oder vergleichbaren Einrichtungen sowohl der Europäischen Union als auch der auf regionaler oder nationaler Ebene bestehenden: Ziel wäre es, die organisierte Präsenz der Zivilgesellschaft in diesen Ländern zu stärken und über ihre Teilnahme an diesem Treffen einen allseitigen Mehrwert zu schaffen.

6.3. Erarbeitung von vier Dokumenten über die zentralen, die Zivilgesellschaft direkt angehenden Aspekte, die auf der Tagesordnung des Gipfels der Staats- und Regierungschefs in Madrid stehen. In einem weiteren Dokument sollte die nachhaltige Entwicklung in den beiden Regionen erörtert werden sowie die Möglichkeit der Durchführung gemeinsamer Aktionen und des Austauschs bewährter Verfahrensweisen.

Brüssel, den 21. Februar 2002.

Der Präsident

des Wirtschafts- und Sozialausschusses

Göke Frerichs

(1) KOM(2000) 670 endg.

(2) Alliance for the Information Society.

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