Choose the experimental features you want to try

This document is an excerpt from the EUR-Lex website

Document 52001IE1487

Stellungnahme des Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema "Veränderte weltwirtschaftliche Rahmenbedingungen: neue wirtschaftspolitische Herausforderungen für die Europäische Union"

ABl. C 48 vom 21.2.2002, p. 79–82 (ES, DA, DE, EL, EN, FR, IT, NL, PT, FI, SV)

52001IE1487

Stellungnahme des Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema "Veränderte weltwirtschaftliche Rahmenbedingungen: neue wirtschaftspolitische Herausforderungen für die Europäische Union"

Amtsblatt Nr. C 048 vom 21/02/2002 S. 0079 - 0082


Stellungnahme des Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema "Veränderte weltwirtschaftliche Rahmenbedingungen: neue wirtschaftspolitische Herausforderungen für die Europäische Union"

(2002/C 48/19)

Der Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss auf seiner Plenartagung am 17. und 18. Oktober 2001 gemäß Artikel 23 Absatz 3 der Geschäftsordnung, eine Stellungnahme zu dem vorgenannten Thema zu erarbeiten.

Die mit der Vorbereitung der Arbeiten beauftragte Fachgruppe Wirtschafts- und Währungsunion, wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt nahm ihre Stellungnahme am 12. November 2001 an. Berichterstatterin war Frau Konitzer.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 386. Plenartagung am 28. und 29. November 2001 (Sitzung vom 28. November) mit 46 Ja-Stimmen und 3 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme.

1. Die Ausgangslage

1.1. Die Wirtschaftsentwicklung der EU im Jahr 2000 war so günstig wie es seit mehr als einem Jahrzehnt nicht mehr beobachtet worden war. Das BIP-Wachstum lag bei knapp 3 1/2 %. Die Beschäftigung stieg kräftig (1,7 %), so dass die Arbeitslosigkeit im Vergleich zum Vorjahr um einen vollen Prozentpunkt auf 8,3 % der Erwerbspersonen sinken konnte. Damit war nach einem Maximum von 11,1 % (1994) das Niveau vor der Rezession von 1992/1993 praktisch wieder erreicht. Trotz der hohen Ölpreise lag die Inflationsrate nur knapp über 2 % und das außenwirtschaftliche Gleichgewicht konnte als gewährleistet angesehen werden.

1.2. Diese günstige Entwicklung war sowohl auf anhaltende strukturpolitische Bemühungen zurückzuführen, das Funktionieren der Waren- und Dienstleistungsmärkte sowie der Arbeits- und Kapitalmärkte zu verbessern als auch auf entscheidende Fortschritte bei der Stärkung der makroökonomischen Bedingungen für Wachstum und Beschäftigung, die seit der letzten Rezession und insbesondere im Hinblick auf die Verwirklichung der Wirtschafts- und Währungsunion realisiert worden waren(1).

1.3. Die Hoffnung, diese günstige Entwicklung ununterbrochen über eine Reihe von Jahren fortsetzen zu können - wie es für die Lösung des Beschäftigungsproblems der EU notwendig wäre -, wurde jedoch im Laufe des Jahres 2001 enttäuscht.

1.4. In der Tat, im Herbst des Jahres 2001 wird deutlich, dass das BIP-Wachstum der EU im 3. Quartal wohl zum Stillstand gekommen oder sogar negativ ist und dass für das Jahr 2001 insgesamt mit einem Wirtschaftswachstum von deutlich weniger als 2 % gerechnet werden muss(2) Dies bedeutet auch, dass die Arbeitslosenquote nicht mehr sinkt, sondern möglicherweise in den Jahren 2001 und 2002 wieder ansteigt.

1.5. Die Ursachen für diese negative Entwicklung liegen im wesentlichen außerhalb der Gemeinschaft, ihr Umfang und die Stärke der Abhängigkeit der EU von weltwirtschaftlichen Entwicklungen wurde jedoch unterschätzt. Im wesentlichen ist auf folgende Faktoren hinzuweisen: ein Entzug von Kaufkraft innerhalb der EU durch die gestiegenen Ölpreise (verstärkt durch die Wechselkursentwicklung des Dollars) und durch den kurzfristig kräftigen Anstieg der Nahrungsmittelpreise, der Ausfall von Exportnachfrage durch die scharfe Wachstumsverlangsamung in den USA und die weltweite Synchronisierung der Wachstumsschwäche. Die Folgen der Attentate vom 11. September 2001 verstärken diese Effekte nicht nur durch ihre unmittelbaren Auswirkungen in den USA und weltweit (Fluggesellschaften, Tourismus, Versicherungen, höhere Aufwendungen für Sicherheit), sondern auch durch negative Auswirkungen auf das Vertrauen der Unternehmen und der Konsumenten, die noch durch unvorhersehbare Ereignisse im Zusammenhang mit dem Feldzug gegen den Terrorismus verschärft werden können.

1.6. Für die europäischen Volkswirtschaften kommt es jetzt entscheidend darauf an, diese mit Vertrauensverlust einhergehende Schwächephase möglichst schnell zu überwinden und den Weg zu dem höheren langfristigen Wachstumspfad einzuschlagen, den sich der Europäische Rat mit der in Lissabon im Frühjahr 2000 beschlossenen Strategie zum Ziel gesetzt hat.

2. Möglichkeiten und Grenzen der Wirtschaftspolitik

2.1. Die vorstehend beschriebenen Faktoren haben zwar im Prinzip nur einen temporären Charakter und stellen die grundlegenden Fortschritte, die in den 90-er Jahren bei der Gesundung der europäischen Wirtschaft erzielt wurden, nicht in Frage. Jedoch muss auch deutlich gesagt werden, dass die Erreichung des Ziels der Vollbeschäftigung wiederum ein Stück weiter in die Ferne gerückt ist.

2.2. Es muss daher gefragt werden, welchen Beitrag die Wirtschaftspolitik zu einer rascheren Überwindung der gegenwärtigen Schwierigkeiten leisten kann. Diese Frage zu stellen bedeutet nicht, die Illusion zu nähren, die Wirtschaftspolitik könne jeden äußeren Schock voll abfedern und Wachstum und Beschäftigung per Dekret erzwingen. Es handelt sich auch nicht darum, die strukturpolitischen Bemühungen und die grundlegende Ausrichtung der makroökonomischen Politik auf Preisstabilität und auf Wahrung der großen Gleichgewichte in Frage zu stellen. Es handelt sich vielmehr darum zu prüfen,

- wie das makroökonomische Policy-mix der neuen Situation am besten angepasst werden kann und

- ob die Verfahren zur Koordinierung der Wirtschaftspolitik weltweit und innerhalb der EU und der Eurozone im Hinblick auf die Verwirklichung des optimalen Policy-mix verbessert werden können.

3. Ein der neuen Situation besser angepasstes makroökonomisches Policy-mix

3.1. In der gegenwärtigen Situation kommt es letztlich darauf an, im Rahmen des wachsenden Kapazitätsspielraums die Binnennachfrage und die internationale Nachfrage zu stärken, ohne die Preis- und Kostenentwicklung negativ zu beeinflussen und ohne die auch für ein dauerhaftes Wachstum (und somit für das Ziel der Vollbeschäftigung) unerlässliche mittelfristige Konsolidierung der öffentlichen Haushalte in Frage zu stellen. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass der wirtschaftspolitische Ansatz auf einer klaren Analyse der Weltwirtschaft, der Situation in der europäischen Gemeinschaft und der Währungsunion insgesamt beruht, und dass er in seiner Richtung und seinem Umfang glaubwürdig ist, so dass das Vertrauen der Verbraucher und der Unternehmen in die künftige Wirtschaftsentwicklung rasch wieder gestärkt wird.

3.2. Für sich gesehen ist der Spielraum jedes einzelnen Bereichs der makroökonomischen Politik (Geldpolitik, Politik der öffentlichen Finanzen und Lohnpolitik) eher begrenzt.

3.2.1. Die Geldpolitik kann gelockert werden, um die allgemeine Wirtschaftspolitik zu unterstützen (Art. 105 - 1 des EG-Vertrages), wenn die Inflationserwartung sinkt. Dies ist in einem gewissen Umfang - auch international abgestimmt - schon geschehen. Weitere, möglicherweise notwendige Schritte hängen stark davon ab, wie das Verhalten der Haushaltspolitik und der Lohnpolitik eingeschätzt wird.

3.2.2. Die Haushaltspolitik darf ihre mühsam erworbene mittelfristige Glaubwürdigkeit nicht aufs Spiel setzen. Dies ist unter anderem auch wichtig im Hinblick auf die Entwicklung der langfristigen Zinsen und auf ein ausgewogenes Verhältnis von Ersparnis und Investition in dem für die Erreichung des Ziels der Vollbeschäftigung unerlässlichen mittelfristigen Wachstumsprozess. Die Einhaltung dieser Bedingung schließt jedoch nicht aus, dass in der gegenwärtigen Situation - sicherlich nach Ländern unterschiedlich - die automatischen Stabilisatoren in der Gemeinschaft und insbesondere in der Währungsunion einen gewissen Beitrag zur Stabilisierung der wirtschaftlichen Entwicklung leisten können. Dieser Beitrag könnte in einem gewissen Umfang ergänzt werden durch die Verstärkung z. B. von Infrastrukturinvestitionen (gegebenenfalls in öffentlich-privater Partnerschaft) und Abgabensenkungen, die beide ohnehin mit dem angestrebten mittelfristigen Wachstumsprozess einhergehen müssen. Allerdings besteht für den Beitrag der Haushaltspolitik zum gesamtwirtschaftlichen Policy-mix in der Gemeinschaft und in der Währungsunion eine zusätzliche Schwierigkeit: anders als die Geldpolitik ist die Haushaltspolitik in der Gemeinschaft und der Währungsunion aus wohlerwogenen Gründen nicht zentralisiert, sondern bleibt in nationaler Verantwortung. Der Beitrag der Haushaltspolitik zum Policy-mix der Währungsunion insgesamt ist allerdings eine Frage des Gemeinschaftsinteresses, das in der gegenwärtigen Situation nach Auffassung des Wirtschafts- und Sozialausschusses der EU nicht ausreichend artikuliert wird.

3.2.3. Auch der Spielraum der Lohnpolitik der Sozialpartner im Rahmen des gesamtwirtschaftlichen Policy-mix ist für sich gesehen eng begrenzt. In nach Ländern und Bereichen unterschiedlichen Verfahren entscheiden die Sozialpartner gleichzeitig über die gesamtwirtschaftliche Entwicklung der Kosten und der Einkommen der Arbeitnehmer. Hierdurch wird die gesamtwirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit, die Rentabilität und die Entwicklung der Verbrauchsnachfrage entscheidend beeinflusst. Trotz der Einrichtung des makroökonomischen Dialogs (Köln-Prozess) bleibt die Berücksichtigung dieser Einflussgröße auf das makroökonomische Policy-mix der Gemeinschaft und der Währungsunion unzureichend; hier besteht Bedarf sowohl nach einer besseren Ausgestaltung des makroökonomischen Dialogs auf Ratsebene als auch nach einer besseren Artikulierung des Gemeinschaftsinteresses.

3.3. Das zur Überwindung der gegenwärtigen Wachstumsschwäche und der Rezessionsgefahr notwendige entspannte makroökonomische Policy-mix in der Gemeinschaft und der Währungsunion setzt sowohl eine bessere Artikulierung des Gemeinschaftsinteresses als auch ein vernünftiges Maß an gegenseitigem Vertrauen in die Berechenbarkeit und das rationale Verhalten der Akteure der Geld-, Haushalts- und Lohnpolitik voraus. Hiermit werden wichtige Fragen des Inhalts und der Effizienz der Koordinierung der Wirtschaftspolitik angesprochen.

4. Inhalt und Effizienz der Koordinierung der Wirtschaftpolitik in der Gemeinschaft und in der Wahrungsunion

4.1. Trotz der Fortschritte bei der Gesundung der Wirtschaft der Gemeinschaft und trotz der vielfältigen, allerdings zum Teil auch bürokratischen, Koordinierungsprozeduren und "Prozessen" hat die Gemeinschaft ein grundlegendes Problem bei der Definition des angemessenen makroökonomischen Policy-mix und seiner Anpassung an sich ändernde interne und externe Bedingungen. Es kann gezeigt werden, dass die Rezession von 1992/1993 weitgehend auf Fehler in der Definition des Policy-mix (Falsche Einschätzung des Börsencrashs 1987, Überhitzung 1988/1989, Fehler bei der Finanzierung der deutschen Einheit) zurückzuführen ist und dass auch anlässlich der Wachstumsverlangsamungen von 1995/1996 (Mexikokrise, ungenügend glaubwürdige Haushaltspolitik in einer Reihe von Mitgliedstaaten, Währungsturbulenzen) und von 1999 (Asien- und Russlandkrise) eine unzureichende bzw. verspätete Anpassung des Policy-mix vorlag. In den USA hingegen wurde und wird die Geld- und auch die Haushaltspolitik rascher und besser der jeweiligen Situation angepasst. Hier liegt einer der wichtigsten Gründe, warum das Wachstum der EU über die 90-er Jahre hinweg deutlich hinter dem der USA zurückblieb.

4.2. Angesichts der neuerlichen weltweiten Wachstumsverlangsamung sollte versucht werden, die Fehler der Vergangenheit - soweit wie möglich - zu vermeiden. Die Verwirklichung der Währungsunion und die damit einhergehende Unmöglichkeit von internen Währungsturbulenzen ist in diesem Zusammenhang überaus hilfreich. Entscheidende Mängel bestehen jedoch weiterhin - trotz der vielfältigen Prozeduren und Gremien - insbesondere in folgenden Bereichen:

a) Die an den Bedürfnissen der Währungsunion ausgerichtete Diagnose und Vorausschätzung der wirtschaftlichen Entwicklung und die öffentliche Diskussion der sich ergebenden wirtschaftspolitischen Optionen für die Gemeinschaft und die Währungsunion bleibt verbesserungsbedürftig.

b) Die Rolle der EU-Kommission, umfassende Vorschläge zur Wirtschaftspolitik im Allgemeinen und zum makroökonomischen Policy-mix im Besonderen zu formulieren, die nicht von nationalen oder von Gruppeninteressen bzw. Ideologien, sondern allein vom Gemeinschaftsinteresse und vom Interesse der optimalen Wirtschaftsentwicklung in der Währungsunion bestimmt sind, muss gestärkt werden. Dies gilt insbesondere auch für die Beiträge der Haushaltspolitik und der Lohnpolitik zum makroökonomischen Policy-mix, wobei die Souveränität der Mitgliedstaaten und die Autonomie der Tarifvertragsparteien zu respektieren ist.

c) Der Dialog zwischen den Akteuren des Policy-mix sollte besser institutionalisiert und transparenter gestaltet werden. Dies gilt sowohl für die regelmäßigen Sitzungen der Präsidenten der EZB, der Eurogruppe und des zuständigen Kommissionsmitgliedes als auch für den makroökonomischen Dialog, der inhaltlich zu verbessern ist. In beiden Gruppen sollte die Rolle des Kommissionsvertreters als Vertreter des Gemeinschaftsinteresses gestärkt werden. Der Wirtschafts- und Sozialausschuss der EU ist in der Lage, einen substantiellen Beitrag zu den Arbeiten des makroökonomischen Dialogs zu leisten und sollte in angemessener Weise konsultiert werden.

5. Die nächsten Schritte

Der Wirtschafts- und Sozialausschuss der EU hält es für erforderlich, dass

a) die Kommission in den nächsten Wochen über die Erklärung des Europäischen Rates von Gent hinausgehende konkrete Vorschläge vorlegt, wie die Wirtschaftspolitik und das makroökonomische Policy-mix in der Gemeinschaft und der Währungsunion an die geänderten weltwirtschaftlichen Rahmenbedingungen angepasst werden soll; hierbei sollte klar formuliert werden, welche Beiträge von den einzelnen Akteuren erwartet werden;

b) die Diskussion über die Mitteilung der Kommission vom 7. Februar 2001(3) über die "Verstärkung der Koordination der Wirtschaftspolitik innerhalb der Euro-Zone" im Rat und in der Öffentlichkeit wieder aufgenommen wird, damit es möglich rasch zu pragmatischen aber wirksamen Verbesserungen in diesem Bereich kommt;

c) in der nächsten Zeit eine Diskussion geführt wird über die Art und Weise, wie in einer Vertragsrevision im Hinblick auf die Erweiterung der Gemeinschaft die Bestimmungen zur Wirtschaftspolitik und zur Artikulation des wirtschaftspolitischen Gemeinschaftsinteresses effizienter gestaltet werden können.

Brüssel, den 28. November 2001.

Der Präsident

des Wirtschafts- und Sozialausschusses

Göke Frerichs

(1) Vgl. auch: ABl. C 139 vom 11.5.2001, S. 51 (ECO/041), ABl. C 139 vom 11.5.2001, S. 60 (ECO/042), ABl. C 139 vom 11.5.2001, S. 72 (ECO/046), ABl. C 139 vom 11.5.2001, S. 79 (ECO/054), ABl. C 221 vom 7.8.2001, S. 177 (ECO/065).

(2) Die neuen Vorausschätzungen der EU-Kommission werden am 21. November 2001 vorgelegt.

(3) KOM(2001) 82 endg.

Top