Elektronische Beweismittel in Strafverfahren
ZUSAMMENFASSUNG DES DOKUMENTS:
Verordnung (EU) 2023/1543 über Europäische Herausgabeanordnungen und Europäische Sicherungsanordnungen für elektronische Beweismittel in Strafverfahren und für die Vollstreckung von Freiheitsstrafen nach Strafverfahren
Richtlinie (EU) 2023/1544 zur Festlegung einheitlicher Regeln für die Benennung von benannten Niederlassungen und die Bestellung von Vertretern zu Zwecken der Erhebung elektronischer Beweismittel in Strafverfahren
WAS IST DER ZWECK DER VERORDNUNG UND DER RICHTLINIE?
Die Verordnung (EU) 2023/1543 zielt darauf ab:
- den nationalen Justizbehörden, die an Strafverfahren beteiligt sind, zu ermöglichen, dass sie Diensteanbieter*, die in der Europäischen Union (EU) Dienstleistungen anbieten, anweisen, elektronische Beweismittel vorzulegen oder aufzubewahren, unabhängig davon, wo sich die Daten befinden;
- den grenzüberschreitenden Zugang zu elektronischen Beweismitteln zu erleichtern und zu beschleunigen und ihre Löschung zu verhindern, bei gleichzeitiger Gewährleistung des Rechtsschutzes von Personen, deren Daten abgefragt werden.
Die Richtlinie (EU) 2023/1544 verpflichtet bestimmte Diensteanbieter, die in der EU Dienstleistungen anbieten, über benannte Niederlassungen oder bestellte Rechtsvertreter in der EU zu verfügen, damit sie Anordnungen nationaler Behörden zum Zwecke der Sammlung elektronischer Beweismittel in Strafverfahren entgegennehmen und befolgen können.
WICHTIGE ECKPUNKTE
Die Verordnung (EU) 2023/1543 gilt für Diensteanbieter, die eine oder mehrere der folgenden Kategorien von Diensten in der EU anbieten:
- elektronische Kommunikation;
- Internet-Domänennamen und IP-Nummern;
- Kommunikations-, Speicher- und Verarbeitungsdienste.
Die Verordnung gilt nicht für Anbieter von:
- Finanzdienstleistungen (d. h. Bank-, Kredit-, Versicherungs- und Rückversicherungsdienstleistungen, betriebliche oder private Altersvorsorge, Wertpapiere, Investmentfonds, Zahlungs- und Anlageberatung);
- Dienstleistungen ausschließlich innerhalb ihres eigenen EU-Mitgliedstaates.
Europäische Herausgabeanordnungen* und Europäische Sicherungsanordnungen* können nur ausgestellt werden:
- während eines Strafverfahrens und zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung von mindestens vier Monaten;
- für bestimmte Daten, über die Diensteanbieter verfügen (siehe Schlüsselbegriffe).
Die Behörde, die eine Europäische Herausgabeanordnung erlässt, muss die Person, deren Daten angefordert werden, darüber informieren. In der Regel muss dies unverzüglich geschehen; es kann jedoch verzögert werden, wenn dies beispielsweise die Ermittlungen gefährden würde. Die Person kann die Rechtmäßigkeit der Anordnung vor einem Gericht des anordnenden Mitgliedstaats anfechten (Recht auf wirksame Rechtsbehelfe).
Zertifikate über Europäische Herausgabe- oder Sicherungsanordnungen
- Ein Richter, ein Gericht, ein Ermittlungsrichter oder – bei den am wenigsten einschneidenden Datenkategorien -– ein Staatsanwalt kann eine Europäische Herausgabe- oder Sicherungsanordnung erlassen.
- Die Anordnungen können direkt an den Diensteanbieter in einem anderen Mitgliedstaat übermittelt werden, ohne dass die Behörden dieses Landes vorher eingeschaltet werden müssen.
Europäische Herausgabeanordnungen:
- müssen für das Strafverfahren erforderlich sein und in einem angemessenen Verhältnis dazu stehen;
- müssen die Rechte des Verdächtigen oder Beschuldigten respektieren;
- können nur unter den gleichen Bedingungen wie in einem vergleichbaren innerstaatlichen Fall erlassen werden;
- müssen weitere Bedingungen erfüllen, einschließlich der gewährten Immunitäten oder Vorrechte und der Feststellung und Beschränkung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit im Zusammenhang mit der Pressefreiheit oder der Freiheit der Meinungsäußerung, je nachdem, ob sie Teilnehmer-, Identifizierungs-, Verkehrs- oder Inhaltsdaten anfordern;
- enthalten spezifische Informationen, wie die ausstellende Behörde, den Adressaten, die angeforderten Daten und den Zeitraum, die anwendbaren strafrechtlichen Bestimmungen des ausstellenden Mitgliedstaats und eine Zusammenfassung des Falles;
- sind in der Regel an den Diensteanbieter gerichtet, der die Kontrolle über die personenbezogenen Daten besitzt (für die Verarbeitung Verantwortlicher).
Europäische Sicherungsanordnungen:
- müssen notwendig und verhältnismäßig sein, um die Entfernung, Löschung oder Änderung von Daten zu verhindern, die später möglicherweise angefordert werden;
- können für alle Straftaten ausgestellt werden, wenn sie unter denselben Bedingungen für einen ähnlichen innerstaatlichen Fall hätten ausgestellt werden können;
- enthalten spezifische Informationen, wie die ausstellende Behörde, den Adressaten, die angeforderten Daten und den Zeitraum, die anwendbaren strafrechtlichen Bestimmungen des ausstellenden Mitgliedstaats.
Die Anordnungen werden direkt durch ein Zertifikat über eine Europäische Herausgabeanordnung (European Production Order Certificate, EPOC) oder ein Zertifikat über eine Europäische Sicherungsanordnung (European Preservation Order Certificate, EPOC-PR) an die benannte Niederlassung oder den gesetzlichen Vertreter eines Dienstleisters gerichtet.
Erfüllung der Zertifikate über eine Europäische Herausgabeanordnung
Adressaten:
- müssen nach Erhalt einer EPOC unverzüglich handeln, um die angeforderten Daten aufzubewahren;
- müssen die Daten innerhalb von 10 Tagen übermitteln;
- müssen die Daten in dringenden Fällen innerhalb von acht Stunden übermitteln (obwohl die Daten nicht verwendet werden dürfen, wenn ihre nationale Behörde in bestimmten Fällen Einwände gegen das EPOC erhebt);
- müssen sowohl die Anordnungs- als auch die Vollstreckungsbehörde informieren, wenn sie der Ansicht sind, dass das EPOC die Immunitäten oder Vorrechte oder die Vorschriften über die Feststellung oder Beschränkung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit im Zusammenhang mit der Pressefreiheit oder der Freiheit der Meinungsäußerung beeinträchtigen könnte.
Sie müssen der ausstellenden Behörde unverzüglich erklären, wenn sie die Daten aus einem der folgenden Gründe nicht vorlegen können.
- Das EPOC ist unvollständig, enthält offensichtliche Fehler oder enthält unzureichende Informationen. Die Behörde hat fünf Tage Zeit, um zu antworten.
- Die Daten sind aufgrund von Umständen, die sich dem Einfluss der Behörde entziehen, nicht verfügbar. Wenn die Behörde zustimmt, setzt sie den Adressaten in Kenntnis.
- Es gibt einen anderen Grund für die Nichteinhaltung, etwa wenn die Anordnung mit dem Recht eines Nicht-EU-Landes kollidiert, in dem die Daten gespeichert sein könnten.
Erfüllung der Zertifikate über eine Europäische Sicherungsanordnung
Adressaten:
- müssen nach Erhalt eines EPOC unverzüglich handeln, um die angeforderten Daten aufzubewahren;
- bewahren die Daten 60 Tage lang auf – wobei die ausstellende Behörde die Aufbewahrungsfrist um weitere 30 Tage verlängern kann – woraufhin die Aufbewahrungszeit endet, es sei denn, die ausstellende Behörde hat in der Zwischenzeit, beispielsweise im Wege der Rechtshilfe, ein weiteres Ersuchen um Herausgabe oder Aufbewahrung der Daten für weitere 30 Tage gestellt;
- können gegen die Anordnung aus denselben Gründen wie bei einem EPOC Einspruch erheben (d. h. Immunitäten oder Vorrechte, unvollständige oder offensichtliche Fehler, Umstände, die sich ihrer Kontrolle entziehen, sonstige Gründe).
Mitteilung an einen anderen Mitgliedstaat
Bei einigen Europäische Herausgabeanordnungen für Verkehrs- oder Inhaltsdaten erhalten die Behörden in dem Mitgliedstaat, in dem der Anbieter eine Niederlassung oder einen gesetzlichen Vertreter hat (Vollstreckungsbehörden), die Anordnung zur gleichen Zeit wie der Anbieter. Sie können sie aus den folgenden Gründen ablehnen.
- Die angeforderten Daten sind durch Immunitäten oder Vorrechte geschützt oder fallen unter Vorschriften zur Bestimmung oder Einschränkung der Pressefreiheit oder der Freiheit der Meinungsäußerung, die im Vollstreckungsstaat gelten.
- Die Anordnung:
- hat möglicherweise eine offensichtliche Verletzung der Grundrechte der Person, deren Daten angefordert werden, zur Folge;
- verstößt gegen den Grundsatz, dass eine Person für eine Straftat, für die sie bereits innerhalb der EU rechtskräftig freigesprochen oder verurteilt wurde, nicht erneut strafrechtlich verfolgt werden kann (ne bis in idem).
- Das in der Anordnung angeführte Verhalten stellt im Vollstreckungsstaat keine Straftat dar.
Abgelehnte Anordnungen werden zurückgezogen. Die Vollstreckungsbehörde kann jedoch nur gegen die Übermittlung bestimmter Daten Einspruch erheben. Solange bis die Vollstreckungsbehörde einen Ablehnungsgrund vorbringt, können die Anordnungen geändert werden.
Sanktionen und Durchsetzung
- Die Mitgliedstaaten müssen wirksame, verhältnismäßige und abschreckende finanzielle Sanktionen für die Nichteinhaltung der Vorschriften verhängen. Diese können bis zu 2 % des gesamten weltweiten Jahresumsatzes des Dienstleisters betragen.
- Die ausstellenden Behörden können die Vollstreckungsbehörden um die Durchsetzung der Anordnung ersuchen, wenn der Diensteanbieter ohne Angabe akzeptabler Gründe einer EPOC innerhalb der Frist oder einer EPOC-PR nicht nachkommt.
Die gesamte schriftliche Kommunikation zwischen den nationalen Behörden und den benannten Niederlassungen oder gesetzlichen Vertretern der Diensteanbieter erfolgt über ein sicheres und zuverlässiges dezentrales IT-System. Die Anhänge der Verordnung enthalten die zu verwendenden Formulare.
Die Europäische Kommission
- erlässt Durchführungsrechtsakte und delegierte Rechtsakte;
- muss bis zum 18. August 2026 ein Programm für das Monitoring der Leistungen, Ergebnisse und Auswirkungen der Verordnung erstellen;
- muss die Verordnung bis zum 18. August 2029 bewerten.
Richtlinie (EU) 2023/1544
Die Richtlinie gilt für Diensteanbieter von:
- elektronischer Kommunikation;
- Internet-Domänennamen und IP-Nummern;
- Kommunikations-, Speicher- und Verarbeitungsdiensten.
Die Richtlinie gilt nicht für Anbieter von:
- Finanzdienstleistungen (d. h. Bank-, Kredit-, Versicherungs- und Rückversicherungsdienstleistungen, betriebliche oder private Altersvorsorge, Wertpapiere, Investmentfonds, Zahlungs- und Anlageberatung);
- Dienstleistungen ausschließlich innerhalb ihres eigenen Mitgliedstaates.
Anbieter, die ihre Dienstleistungen in der EU anbieten, müssen bis zum 18. August 2026 mindestens einen Adressaten benennen oder ernennen – entweder eine benannte Niederlassung (wenn sie in der EU niedergelassen sind) oder einen gesetzlichen Vertreter (wenn sie es nicht sind), um sicherzustellen, dass sie an sie gerichtete Anordnungen erhalten und ihnen nachkommen können.
Die Mitgliedstaaten müssen
- Regeln für Sanktionen bei Nichteinhaltung festlegen;
- eine oder mehrere zentrale Behörden benennen, die die ordnungsgemäße Anwendung der Richtlinie sicherstellen.
Die Kommission wird die Richtlinie bis zum 18. August 2029 bewerten.
WANN TRETEN DIE VERORDNUNG UND DIE RICHTLINIE IN KRAFT?
Die Verordnung tritt am 18. August 2026 in Kraft.
Die Richtlinie musste bis 18. Februar 2026 in nationales Recht umgesetzt werden.
HINTERGRUND
Elektronische Beweismittel – digitale Daten wie E-Mails, Textnachrichten und Verkehrsdaten – sind schätzungsweise in 85 % aller strafrechtlichen Ermittlungen in der EU von Bedeutung. Die Daten befinden sich oft in einem anderen Land als dem, in dem die Straftat begangen wurde, sei es ein Terroranschlag, Cyberkriminalität, Hasspost im Internet oder die Verbreitung von Material über den Missbrauch von Kindern, und sind einfach zu löschen.
Weiterführende Informationen:
SCHLÜSSELBEGRIFFE
Diensteanbieter. Im Zusammenhang mit dieser Rechtsvorschrift jede Einrichtung, die elektronische Kommunikation, Internet-Domänennamen, IP-Nummern und -Adressen oder Datenspeicherdienste anbietet.
Europäische Herausgabeanordnung. Eine Gerichtsentscheidung, die die Übermittlung von elektronischen Beweismitteln anordnet.
Europäische Sicherungsanordnung. Eine Gerichtsentscheidung, die die Aufbewahrung elektronischer Beweismittel anordnet, welche im Bedarfsfall angefordert werden können.
HAUPTDOKUMENTE
Verordnung (EU) 2023/1543 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Juli 2023 über Europäische Herausgabeanordnungen und Europäische Sicherungsanordnungen für elektronische Beweismittel in Strafverfahren und für die Vollstreckung von Freiheitsstrafen nach Strafverfahren (ABl. L 191 vom 28.7.2023, S. 118-180).
Richtlinie (EU) 2023/1544 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Juli 2023 zur Festlegung einheitlicher Regeln für die Benennung von benannten Niederlassungen und die Bestellung von Vertretern zu Zwecken der Erhebung elektronischer Beweismittel in Strafverfahren (ABl. L 191 vom 28.7.2023, S. 181-190).
Letzte Aktualisierung: 17.11.2023